„Oftmals vergaß er sich...“ – Aspekte der ‚Heimsuchung` in Thomas

„Oftmals vergaß er sich...“ – Aspekte der ‚Heimsuchung‘ in Thomas Manns Der
Kleiderschrank (1899) und Tristan (1903)
Heng Barone, RWTH Aachen
In seiner autobiografischen Schrift On myself reflektiert Thomas Mann über ein zentrales
Motiv seines Gesamtwerks, indem er auf die frühe Erzählung Der kleine Herr Friedemann
verweist:
Die Hauptgestalt ist ein von der Natur stiefmütterlich behandelter Mensch, der sich auf eine klugsanfte, friedlich-philosophische Art mit seinem Schicksal abzufinden weiß und sein Leben ganz
auf Ruhe, Kontemplation und Frieden abgestimmt hat. Die Erscheinung einer merkwürdig schönen
und dabei kalten und grausamen Frau bedeutet den Einbruch der Leidenschaft in dieses behütete
Leben, die den ganzen Bau umstürzt und den stillen Helden selbst vernichtet.1
Es ist in der hier zitierten Passage die Rede von der von Mann so bezeichneten
‚Heimsuchung‘2, einer scheinbar destruktiven Kraft, die die ästhetisierte Realität des kleinen
Herrn Friedemann radikal irritiert, schließlich vollkommen auslöscht. Ferner wird diese
Irritation als „Einbruch der Leidenschaft“ charakterisiert, sodass eine Substituierung des
Besinnlich-Träumerischen durch das Ungestüm-Rauschhafte erfolgt. Bei genauerem Hinsehen
lässt sich in dieser beschriebenen Konstellation das Gegensatzpaar ‚dionysisch‘ - ‚apollinisch‘
ausmachen, dem sich Friedrich Nietzsche in seiner frühen Arbeit Die Geburt der Tragödie
aus dem Geiste der Musik3 widmet.
Vor dem Hintergrund von Nietzsches Tragödien-Text verfolgt der angestrebte Vortrag das
Ziel, Thomas Manns Denkfigur der ‚Heimsuchung‘ am Beispiel von den Texten Der
Kleiderschrank4 und Tristan5 nachzuspüren. Fragen, die sich stellen, wären etwa: Ist die
Heimsuchung eine genuin negative Kraft oder verbirgt sich hinter ihrer zerstörerischen
Fassade nicht die Möglichkeit künstlerischer Potenz? Tritt die ‚Heimsuchung‘ ausschließlich
in Form von Figuren in Erscheinung? Wenn ja: Sind es immer Frauen, die die ‚Heimsuchung‘
verkörpern, und sind es stets die Männer, die darunter zu leiden haben bzw. daran zugrunde
gehen? Und schließlich: Repräsentiert der Gegensatz des Dionysischen, das Apollinische,
dann das ‚gute‘ Leben?
1 Mann, Thomas: On myself. In: Gesammelte Werke. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn.
Band: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Frankfurt am Main: Fischer 1983, S. 51-93, hier S.
58f. Im Folgenden zitiert als ‚Mann 1983‘.
2 Thomas Mann zur ‚Heimsuchung‘: „[E]s ist die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zerstörender
und vernichtender Mächte in ein gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf Würde und bedingtes Glück
des Fassung verschworenes Leben.“ Mann 1983, S. 59.
3 Friedrich, Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort von Peter
Sloterdijk. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 2000.
4 GKFA II.1.
5 GKFA II.1.
Heng Barone, 1985 in Esch/ Alzette (Luxemburg) geboren, studierte zunächst Germanistik
und Erziehungswissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, seit 2009
Germanistische
und
Allgemeine
Literaturwissenschaft
sowie
Sprach-
und
Kommunikationswissenschaft an der RWTH Aachen. Er schrieb seine Masterarbeit zum
Thema „Poetik der Einkreisung – Horst Bieneks Traumbuch eines Gefangenen, Die Zelle und
Workuta im Spannungsfeld von Erinnerung, Geschichte und Wahrheit“. Zurzeit arbeitet er an
einer Dissertation zum Thema „Transnationale Kindheiten in der Gegenwartsliteratur“ bei
Prof. Dr. Stephan Braese am Lehrstuhl für Europäisch-jüdische Literatur- und
Kulturgeschichte der RWTH Aachen.
Publikationen
–
& Sanna Schulte: Über das Erschreiben und Erfinden von Erinnerungen. Einleitung.
In: Erschriebene Erinnerung. Die Mehrdimensionalität literarischer Inszenierung.
Hrsg. v. Sanna Schulte. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015, S. 9-18.
–
Musealer
Gedächtnisraum
und
Erinnerungsinstallationen.
Erinnerungen
als
räumliches Konzept in Marie Luise Kaschnitzʼ Das Haus der Kindheit. In:
Erschriebene Erinnerung. Die Mehrdimensionalität literarischer Inszenierung. Hrsg. v.
Sanna Schulte. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015, S. 21-48.
–
Poetik der Einkreisung. Horst Bieneks Traumbuch eines Gefangenen, Die Zelle und
Workuta im Spannungsfeld von Erinnerung, Geschichte und Wahrheit. (Oktober 2015/
Tectum Verlag)
–
Zwischen gesellschaftlichem Engagement und poetischer Überwindung. Horst Bieneks
Auseinandersetzung mit dem Exil. (In Vorbereitung/ Königshausen & Neumann)
–
Das Leben als dilettantischer Ästhet? Familie, Glück und Künstlertum in Thomas
Manns Der Bajazzo (In Vorbereitung/ Wellem)
–
„Muschihygieneselbstexperiment“,
„Sexandenkenkaubonbon“,
„Körperausscheid-
ungsrecyclerin“ – Sprachkomik als subversives Potenzial in Charlotte Roches
Debütroman Feuchtgebiete (In Vorbereitung/ Vortrag gehalten am 10.7.2015 auf der
selbst organisierten Konferenz „Provokation und Subversion – Körper und Sexualität
in der Literatur“ in Aachen)