Kritik. Dialog. Essay - Bayerischer Rundfunk

Manuskript
Kulturjournal
Kritik. Dialog. Essay
Zusammenstellung und Moderation: Martina Boette-Sonner
Redaktion: Kulturkritik und Literatur
Musik: Deerhunter, "Fading Frontier" [Indigo]
Sendedatum: 29. November 2015, 18.05 – 19.30 Uhr
Bayern 2-Hörerservice
Bayerischer Rundfunk, 80300 München
Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min.)
Fax: 089/5900-3862
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© Bayerischer Rundfunk 2015
MUSIK
Herzlich willkommen zum Kulturjournal an diesem Sonntag. „Fading Frontier“
heißt die neue Platte von „Deer Hunter“, einer Indie Popband aus den USA,
genauer Atlanta Georgia.
„Die Landkarte zum neuen Deerhunter-Album "Fading Frontiers" ist eindrücklich
abgesteckt. Einerseits wäre da jene interaktive Landkarte, mit der Bradford Cox
die Einflüsse für das aktuelle Werk selbst offenbarte. Dazu gehören unter
anderem: R.E.M., Tom Petty, altes Leinen, Pablo Neruda, sein Hund Faulkner,
der seelenlose Geruch von neuen Autos und Eistee. “ Andererseits besteht die
Gruppe nicht nur aus Cox, dem Gitarristen und Sänger, sondern auch aus
Lockett Pundt ebenfalls Gitarre, Josh Fauver am Bass und Moses Archuleta
am Schlagzeug. Es ist das sechste Album von Deerhunter seit der Gründung
der Band im Jahr 2001. Um geradezu existenzielle Fragen geht es auf diesem
Album, was vielleicht damit zusammenhängen könnte, dass Frontmann
Bradford Cox 2014 einen schweren Unfall hatte, der ihn in eine Depression
stürzte. Nun depressiv ist die Platte nicht, eher nachdenklich und eingängiger
als sonst. „Deerhunter“ und „Fading Frontier“ begleiten uns in den nächsten
knapp eineinhalb Stunden durch die Sendung.
MUSIK kurz hoch
Er war Schweizer und lebte in Paris, er war ein Weltregisseur, stammte aus
einer jüdischen Familie, war Agnostiker und wollte ursprünglich Musiker
werden. Zum Glück brachte er es dann als Theater- und Opernregisseur an
allen wichtigen deutschsprachigen Bühnen zu großem Ruhm, er veröffentlichte
einen Roman und schrieb Gedichte und leitete zuletzt das Pariser
Odeontheater. Luc Bondy, das bekannte er einmal in einem Gespräch für das
Kulturjournal in seiner Pariser Wohnung verstand sich als Weltbürger:
O-Ton
Luc Bondy, der Kosmopolit, der Mann mir vielen Identitäten, ist gestern im Alter
von 67 Jahren gestorben. Um Identitäten wird es heute auch im Kulturjournal
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gehen, und nicht nur weil die AFD, eine zunehmend rechte Partei, auf ihrem
Parteitag gestern den Schutz einer „Deutschen Identität“ forderte. Ein weiter
Schwachsinn der Alternative für Deutschland. Aber was erwartet Sie noch in
unserer Sendung, in Zeiten, in denen Francois Hollande von einem „ hybriden
Krieg“ spricht, Schweden unbegleitete jugendliche Flüchtlinge medizinisch auf
ihr wahres Alter untersuchen will, Medien unsere „Angst“ erklären und sie damit
schüren, Brüssel zu einer Dschihadistenhochburg und zur Hochsicherheitsstadt
erklärt wird. Aus Bremen wird berichtet, afrikanische Kinderbanden würden
kleinere Überfälle begehen, im Internet werden falsche Anschlagswarnungen
verbreitet. Ja sind denn alle verrückt geworden?
Deutschland beteiligt sich mit Tornados an Angriffen auf den IS in Syrien.
Ja, man muss die wahnsinnigen militanten Islamisten stoppen und ja, man
muss aufmerksam sein, denn die Zustände im Nahen Osten sind auch unsere
Zustände, die schlechte Integration der Nachkommen, der nach dem
französischen Algerienkrieg Eingewanderten Nordafrikaner ist nach wie vor
brisant, und ja es werden weiterhin Flüchtlinge aus Kriegs- und Armutsgebieten
zu uns kommen. Sicher hilft bei der Lösung dieser Probleme da aber in erster
Linie weder Hysterie noch Panikmache, sondern Besonnenheit, Vernunft und
einfach Nachdenken. Denn es ist doch gerade die Vernunft und die logische
Überlegung, die sich der Westen als eine der Errungenschaften der Aufklärung
auf die Fahnen geschrieben hat. Nachdenken, das wollen wir heute auch
wieder tun.
Viele treibt zunehmend die Sehnsucht nach dem Authentischen an, nach dem
Glaubhaften, dem Wahren. Nur funktioniert das? Und was soll das überhaupt
sein „authentisch“? „Authentisch geht nicht. Abschied von einem paradoxen
Ideal“ hat Beate Meierfrankenfeld ihren Essay genannt. Wir werden im
Gespräch mit dem Soziologen Aladin El- Mafaalani darüber sprechen was
Identität von Mensch und Gesellschaft in Zeiten von Migration sein kann. „Wie
werden wir bauen, wie wollen wir leben, fragt Moritz Holfelder und macht sich
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Gedanken über Architektur in Zeiten einer veränderten Gesellschaft. Am Ende
würdigen wir Jan Potocki, den unglaublichen, polnischen Forschungsreisenden,
Historiker, Romancier und Diplomat. Die Schriftstellerin Christine Wunnicke
widmet ihm ein literarisches Portrait zum 200 Todestag.
MUSIK
Seit langem wird in Deutschland der soziale Wohnungsbau vernachlässigt.
Viele Städte verkaufen Häuser und Grundstücke lieber an Investoren, die aus
dem Verkauf oder der Vermietung ihrer in der Regel faden Neubauten
maximalen Gewinn erzielen wollen. Fest steht, es muss mehr sozialen
Wohnungsbau geben, nicht erst seit Flüchtlinge in lebenswertem Wohnraum
untergebracht werden müssen. Geringverdiener, eine Beschönigung übrigens
für Arme, also Menschen deren Verdienst nicht für eine marktübliche Wohnung
reicht, Hartz 4 Empfänger, eine Beschönigung für Arbeitslose, die sie von
Verlierern zu Nehmern macht, müssen ebenfalls „WOHNEN“. Was also tun in
Zeiten in denen für viele Verantwortliche in Städten und Kommunen dieses
Dauerproblem so ungemein plötzlich virulent wird? Und warum hört man so
wenig von all den Museen, Stadien und sonstige Repräsentationsbauten
entwerfenden sogenannten Stararchitekten? Es gibt Ansätze, das ist die gute
Nachricht, funktionalen, günstigen und innovativen Wohnraum zu schaffen.
Architekturstudenten verschiedener deutscher Universitäten haben zum
Beispiel mobile, nachhaltige schnell zu fertigende Holzhäuser oder pfiffige
Module zur originellen Verdichtung vorhandener Häuserlücken entworfen.
Vielleicht ist es sogar so, dass durch den Druck, der auf Grund überfüllter
Turnhallen und Kasernen durch geflüchtete Menschen entsteht, endlich etwas
passiert zum Thema Wohnen und alle davon profitieren. Moritz Holfelder hat
interessante Beispiele gefunden.
BEITRAG MORITZ HOLFELDER
Moritz Holfelder über das Bauen in einer sich verändernden Gesellschaft. Wenn
Sie wollen, es gibt noch mehr Informationen zu diesem Beitrag und zur ganzen
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Sendung im Internet auf der Bayern2 Seite. Das Kulturjournal wird an diesem
für alle wichtige Thema dranbleiben und in der nächsten Woche über eine
Ausstellung in der Pinakothek der Moderne berichten. Dort werden Projekte des
Planungskollektivs Urban Think Tank gezeigt. Im Deutschlandradio brachte
Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich
das Konzept auf den Punkt, in dem er sagte: „Es geht uns nicht um gezeichnete
Architektur, nicht um Papierarchitektur, sondern um unsere Utopien, unsere
Ideen, wie man Städte tatsächlich verbessern kann. Städte, die stark
fragmentiert sind, in denen die Bevölkerung asymmetrisch in verschiedenen
Einkommensgruppen lebt, die sich enorm voneinander unterscheiden."
Wohnen und Leben ein wichtiges Thema auch nächste Woche im Kulturjournal.
Und jetzt Musik der Indie Popgruppe Deerhunter aus ihrer neuen CD „Fading
Frontiers“.
MUSIK
Sie hören das Kulturjournal in Bayern2. „Die Geschichte ist aber authentisch“,
ein solcher Satz soll sowohl die Glaubwürdigkeit als auch die Qualität von
literarischen Werken wie von Filmen bezeugen. „Der spielt aber authentisch“ ist
ein großes Lob für eine schauspielerische Leistung. Authentische Bilder sind
das ist ebenfalls anerkennend gemeint. Feuilleton und Kritik sprechen im
Zusammenhang mit Kunst bei Einwänden gern von „Aber das ist ja
authentisch“. Menschen sind authentisch und damit irgendwie gut. Was soll das
aber sein? Angst vor der Fiktion, vor Bearbeitung von Realität ? Oder ist
authentisch ein Synonym für das Wahre? Vor einigen Jahren erzählte mir eine
Leipziger Medienprofessorin davon wie sie mit ihren Studierenden darüber
diskutierte, dass Dokumentarfilme niemals authentisch sein könnten, da
Realität nicht identisch mit ihrer Bearbeitung sei. Irgendetwas stimmt da nicht
bei der immer mehr um sich greifenden Sehnsucht nach dem Authentischen.
Beate Meierfrankenfeld hat ihren Essay zum Thema deshalb „ Authentisch geht
nicht. Abschied von einem paradoxen Ideal“ genannt:
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BEITRAG BEATE MEIERFRANKENFELD
„ Authentisch geht nicht. Abschied von einem paradoxen Ideal“ ein Essay von
Beate Meierfrankenfeld im Kulturjournal in Bayern2. Nach der nächsten Musik
sprechen wir mit dem Soziologen Aladin El- Mafaalani über das was wir heute
unter Identitäten verstehen können und was das überhaupt ist „ Identität“ heute
.MUSIK 7
GESPRÄCH
Vielen Dank nach Dortmund an Aladin El Mafaalani für das Gespräch. Sie
hören das Kulturjournal und "Living my Life" aus der neuen CD "Fading
Frontier" der Indie-Popgruppe "Deerhunter".
MUSIK
Die Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder veranstaltet von
nächsten Donnerstag bis Samstag eine Tagung zu Ehren des Kosmopoliten
und Freigeistes Jan Potocki. Anlass ist der 200te Todestag .
Welche Wertschätzung, der aus einer noblen Familie stammende Exzentriker
dort erfährt, kann man aus der Ankündigung des dreitägigen Programms
entnehmen: Es beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus Ethnologie, Geschichts-, Literatur- und Theaterwissenschaften mit seinen
Arbeiten. In Vorträgen in deutscher, polnischer und französischer Sprache wird
seine Relevanz vor allem auf den Feldern der Ästhetik, der Politik und der
Wissenschaften deutlich. Die Tagung trägt den Titel „Mosaik und Labyrinth:
Leben und Werk von Jan Potocki“. Das macht neugierig auf den Mann, der
neben anderen Projekten auch der erste Pole in einem Fesselballon gewesen
sein soll. Mit seinem einzigen Roman „Manuskript trouvé à Saragosse“ „Die
Handschrift von Saragossa” erlangte Potocki postumen Ruhm. Die
Schriftstellerin Christine Wunnicke, mit ihrem letzten Roman „Der Fuchs und Dr.
Shimamura“ auf der Longlist des deutschen Buchpreises und stets eine
Liebhaberin skurriler, wunderlicher und versponnener Figuren hat Jan Potocki
ein literarisches Portrait gewidmet.
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BEITRAG CHRISTINE WUNNICKE
Christine Wunnicke und ihr literarisches Portrait zum 200ten Todestag des
polnischen Universalisten Jan Potocki. Das war unser heutiges Kulturjournal
und für das ganze Team verabschiedet sich Martina Boette-Sonner. Die CD
„Fading Frontier“ von Deerhunter ist bei 4AD/Beggars Group erschienen.
MUSIK
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ARCHITEKTUR UND FLÜCHTLINGE
Von Moritz Holfelder
Man ist dieser Tage fast schon froh, wenn sich eine Berufsgruppe nicht zum
Thema Flüchtlinge äußert, in einer Zeit, in der sich scheinbar jeder zu Wort
meldet, um seine Sicht der Dinge mitzuteilen. Die deutschen Architekten und
Stadtplaner haben sich bisher vornehm zurück gehalten. Bravo!
Andererseits – hätten nicht gerade sie sich vehement zu Wort melden müssen?
Denn – ist es nicht ihre spezielle Aufgabe, Behausungen zu schaffen, in denen
Menschen (und nicht nur jene auf der Flucht) eine Heimat finden?
Die Frage, wo unsere Flüchtlinge einmal leben sollen, wenn ihnen Asyl gewährt
wird, und wo man sie bis dahin unterbringen will, bewegt inzwischen die ganze
Republik. So gut wie nie fiel bisher der Name von Shigeru Ban, des
japanischen Pritzker-Preisträgers. Der bekam erst letztes Jahr die weltweit
höchstdotierte Auszeichnung innerhalb der Architektur – für seinen kreativen
Umgang mit umweltfreundlichen und vor allem ungewöhnlichen Bau-Materialien
wie Papier und Pappe.
1 ZUSPIELUNG Ban
2000 auf der Expo in Hannover entwarf Shigeru Ban gemeinsam mit Frei Otto,
dem Schöpfer des Münchner Olympia-Zeltdachs, den japanischen Pavillon –
als temporären experimentellen Skelettbau aus Pappröhren und aus Altpapier.
70 Meter lang und 16 Meter hoch.
Shigeru Ban nutzt den papierenen Werkstoff als strukturbildendes Element
tatsächlich auch bei der Errichtung von Notunterkünften. Bei entsprechender
Verarbeitung sind die Pappröhren mit Durchmessern zwischen 10 und 150
Zentimetern wasserdicht und feuerbeständig. Aber deutlich leichter und billiger
als etwa Holz, dazu bieten sie beste Werte in Sachen Wärme-Isolierung.
Bereits vor 20 Jahren hat Ban das Voluntary Architects’ Network gegründet,
eine Nichtregierungsorganisation mit dem Ziel, in Katastrophengebieten
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einfache und kostengünstige Behausungen zu schaffen. Aus dieser Initiative
resultierten später papiergestützte Häuser, Brücken, Schulen, Konzerthallen
und Museen (wie etwa das Centre Pompidou im französischen Metz oder die
Kunsthalle in Moskau). Zuerst aber fertigte Ban, meist selbst vor Ort und
unterstützt von vielen freiwilligen Helfern, Bauten genau dort, wo sie dringend
gebraucht wurden, etwa nach Naturkatastrophen oder kriegerischen
Auseinandersetzungen. So war er mit seinen Pappröhren in Ruanda, in Japan,
in Taiwan, in der Türkei, in Westindien, in Sri Lanka, in China, in Italien, in Haiti
und in Neuseeland. Er baute temporäre Schulen, Kirchen, Familienhäuser –
und verbesserte die Situation in Massenunterkünften. So entstanden
Behausungen mit einer ganz eigenen Ästhetik: Schön. Einfach. Und vor allem
konkurrenzlos billig.
Die Menschen wollen meist für immer in seinen eigentlich eben nur temporär
gedachten Bauten bleiben, sagt Shigeru Ban – und er fragt sich: Was ist
überhaupt ein permanentes und was ein temporäres Gebäude? Er überlegt, ein
Gebäude aus Papier könne durchaus dauerhaft sein, wenn die Menschen es
liebten. Und eines aus Beton temporär, wenn es nur des öden Profits wegen
gebaut worden sei und eben nicht geliebt werde.
2 ZUSPIELUNG Ban 10:53 - /7:05 In Deutschland sind Flüchtlings-Wohncontainer seit Wochen so gut wie
ausverkauft. Und wer noch welche bekommt, zahlt bis zu 3.000,- Euro pro
Quadratmeter. Die Preise sind explodiert, eben weil Nachfrage da ist und viele
Unternehmer ein Geschäft machen wollen. Städte und Gemeinden suchen
verzweifelt nach Alternativen. Neu entwickelt wurden Container aus verputzten
Beton-Fertigteilen, Shelter genannt und zweckmäßig schlicht. Hier liegt der
Quadratmeter-Preis bei rund 1.000,- Euro.
Manche Kommunen suchen ihr Glück in der Ständer-Holzbauweise mit
ebenfalls vorgefertigten Elementen. Doch die Papier- und Papphäuser von
Shigeru Ban sind preislich nicht zu schlagen. Deutlich günstiger als alles
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andere. In Japan baute Ban sie nach einem Erdbeben auch als kleine ErsatzHäuser mit Bierkästen als Fundamenten. Kosten pro Quadratmeter: Unter 300,Euro. Doch keiner in Deutschland hat sich bisher darum bemüht. Warum sollte
das hier nicht auch funktionieren?
Shigeru Ban, ein kleiner schüchterner Mann, ist im Internet auf vielen Fotos zu
sehen, die zeigen, wie er bei der Erstellung von temporären Behausungen
selbst mit Hand anlegt.
3 ZUSPIELUNG Ban, dann VO drüber (schon fertig mit VO)
„Ich bin immer wieder enttäuscht von meiner Berufsgruppe. Meistens arbeiten
wir für sehr privilegierte Leute. Ich finde aber, Architekten sollten stärker eine
soziale Rolle spielen. Ich meine, wir müssen vor allem Menschen in Not das
Leben angenehmer machen, sicherer und komfortabler. So habe ich nach
Erdbeben weltweit viele meiner Papierhäuser errichtet, in Indien, natürlich in
meiner Heimat und auch in Neuseeland. Die Papp-Kathedrale, die ich für die
Opfer des Erdbebens in Christchurch gebaut habe, ist inzwischen sogar ein
großer Anziehungspunkt für Touristen.“
Der 1964 in Unterfranken geborene und seit neun Jahren in Berlin lebende
Architekt Arno Brandlhuber ist ein großer Fan Shigeru Bans. Auch Brandlhuber
macht sich Gedanken darüber, wie Menschen in Not wohnen könnten.
Inwieweit man eben unterscheiden muss zwischen temporär und permanent?
Zurzeit plant er für Hamburg dezentrale Unterkünfte, verteilt über das gesamte
Stadtgebiet. Durchmischung ist ihm wichtig. Er fürchtet die Philosophie der
zentralen Aufnahmelager am Rand der Städte. Brandlhuber ist frech. Er sagt, er
baue gar nicht speziell für die, die bei uns ankämen, sondern er baue sowieso
immer für alle. Ihm gehe es prinzipiell um gute Architektur. Mit solchen
Aussagen füllt er Hörsäle und Veranstaltungsräume. Brandlhuber, ein
experimenteller Minimalist, ist zurzeit einer der hippsten Baukünstler der
Republik.
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4 ZUSPIELUNG Brandlhuber, am Ende über Lachen drüber
„Ich kann doch nicht als Architekt irgendeine Bude bauen für irgendeinen
Flüchtling, wenn ich nicht selbst drin wohnen wollte. Die ist zwar klein, aber ein
Supergerät!“, machte Brandlhuber letzte Woche bei einer Veranstaltung in der
TU München seinen Standpunkt klar.
Die Flüchtlinge sind für ihn nur Teil eines grundsätzlichen Problems, nämlich
des Stillstandes im Wohnungsbau – konzeptionell wie ideologisch. Die Frage,
was wir bauen und vor allem wie wir wohnen wollten, sei seit Jahrzehnten nicht
mehr überdacht worden. Klar ist: Wir bauen zu teuer. Und die Bodenpreise sind
zu hoch, vor allem in Städten wie München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg oder
inzwischen auch Berlin. Brandlhuber geht es um eine polyzentral organisierte
Stadt, also nicht um eine pyramidale goldene bzw. teure Mitte und dann sozial
und Einkommens-mäßig abflachende Ränder. Er widersetzt sich diesen
Zuständen mit architektonischen Guerilla-Taktiken. In Berlin hat er gemeinsam
mit drei Partnern ein Gelände in einem Gewerbegebiet gekauft und dort betreibt
er jetzt eine Fabrik für neue Lebensformen. Gemeinsam mit Flüchtlingen baut
er Prototypen des zukünftigen Wohnens. Brandlhuber entwirft und schlägt vor –
gemeinsam wird dann variiert. Wichtig ist ihm der nicht determinierte Raum,
den sich jeder selbst nach seinen Vorlieben aneignen kann. Ob nun als
Flüchtling ganz neu im Land oder als Deutscher hier geboren. Brandlhuber
wartet nicht unbedingt auf Genehmigungen für seine Bauvorhaben, nein, er
nutzt Gesetzeslücken und traut sich einfach etwas, erklärt er sein Prinzip nach
der Veranstaltung in der Münchner TU:
5 ZUSPIELUNG Brandlhuber
Arno Brandlhuber propagiert neue hybride Formen. Und er hinterfragt scheinbar
unumstößliche Gesetzmäßigkeiten in Zeiten, in denen sowieso nichts mehr
sicher und gewiss ist.
In Gewerbegebieten darf nicht gewohnt werden. Warum eigentlich nicht?
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6 ZUSPIELUNG Atmo/Ausstellung Berlinische Galerie, dann drüber
Ein langgestreckter Raum mit einer installativen Büro-Skulptur: Ein rund 30
Meter langes Regal steht da und in ihm stehen unzählige Aktenordner mit
Unterlagen zu Berliner Bauvorhaben. Dazu kommen noch rund 100 verpackte
Architektur-Modelle, die zu Bauwettbewerben eingereicht, aber nie verwirklicht
wurden. „The Dialogic City – Berlin wird Berlin“ heißt diese Ausstellung in der
Berlinischen Galerie. Eröffnet wurde sie Mitte September zum Auftakt der Berlin
Art Week 2015. Noch bis Ende März kann der Besucher das irreal lange Regal
entlang schlendern und sich von den beschrifteten Rücken der Aktenordner in
architektonische Gedankenwelten versetzen lassen. Berlin könnte nämlich auch
ganz anders aussehen.
Wie viele unterschiedliche Berlins sind vorstellbar? Wie viele mögliche Städte
schlummern in diesen bürokratisch korrekt abgehefteten Unterlagen?
Gewissermaßen unter dem Pflaster liegt eine zweite, eine imaginäre Stadt.
Und eine dritte. Eine vierte. Eine fünfte.
Architekt Arno Brandlhuber hat sich dieses faszinierend komplexe Panoptikum
unterschiedlicher unsichtbarer Citys ausgedacht und mit einem Kollegen und
einem Grafikdesigner verwirklicht. Dazu sieht und hört man Ausschnitte aus
Videoarbeiten von Heinz Emigholz und Christian von Borries, wo es um
Gemeinschaft & Individualität geht. Auch um Flüchtlinge. Und keineswegs nur
um Berlin. Die Frage ist, auf welche Art und Weise wir mit einer Stadt in Dialog
treten? Welche Möglichkeiten des interaktiven Handelns es gibt?
6 ZUSPIELUNG Atmo/Ausstellung Berlinische Galerie hoch, dann drüber
Entlang der Wand gegenüber des Regals mit den Aktenordnern hatte
Brandlhuber mehrere tausend Exemplare des Buches „Dialogic City“
aufgestapelt, das zur Ausstellung erschienen ist. Jeder Besucher durfte ein
Exemplar mit dem silbern glänzenden Cover mitnehmen. Nach kurzer Zeit
waren sie alle weg. Auch das ein dialogisches Prinzip. Autoren, Künstler,
Architekten, Stadtplaner, Politiker und viele andere äußern sich im Buch zu
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Fragen wie Boden & Eigentum oder Fremdbild & Eigenlogik. Und
Ausstellungsbesucher fühlen sich animiert, das zu lesen. Brandlhuber möchte
Stadtdebatten anregen. Das tat er kürzlich auch mit seinem Vorschlag, jedes
Wohngebäude in Berlin um eine Etage aufzustocken: Oben könne ein teures
Penthaus draufgeschustert werden, vorausgesetzt der Hauseigentümer stelle
die gleiche Fläche im Erdgeschoss desselben Hauses für 6 Euro 50
Sozialmiete pro qm dauerhaft zur Verfügung. So gebe es eine soziale Mischung
nicht nur im Viertel, sondern bis ins Haus hinein.
80% aller Berliner Hausbesitzer haben dem laut Brandlhuber bei einer Umfrage
zugestimmt, 60% stimmten sogar einem freien Belegungsrecht durch die Stadt
zu. Das heißt, der Berliner Senat würde für die Miete aufkommen und könnte
die Wohnung dann an Migranten, Hartz-4-Empfänger oder wen auch immer
vergeben. Brandlhuber geht es neben der Behebung des konkreten
Wohnungsmangels vor allem darum, …
7 ZUSPIELUNG Brandlhuber
Die Flüchtlinge, die, so Brandlhuber, deutsche Neubürger werden, brauchen,
nicht anders als wir alle, bezahlbare Wohnungen. Das Aufstocken von
bestehenden Gebäuden würde ziemlich schnell neuen Raum kreieren. Weil im
privaten Eigentumsrecht dafür aber erst noch einige juristische Hürden aus dem
Weg geräumt werden müssten, macht der Architekt Aufstockungs-Vorschläge
auch für Bauwerke in öffentlicher Hand, etwa für das geschwungene
Flughafengebäude in Tempelhof. Das kostet den Berliner Senat sowieso schon
16 Millionen Euro pro Jahr für den laufenden Unterhalt. Trotzdem gibt es immer
noch kein Nutzungskonzept, und die Kosten für die notwendige Sanierung
steigen – je nach Gutachter liegen sie aktuell zwischen 250 und 400 Millionen
Euro.
Warum also dem Tempelhofer Gebäuderiegel nicht einfach ein achtstöckiges
Wohnhaus aufsetzen, sofern man den Denkmalschutz von dem Konzept
überzeugen kann?
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8 ZUSPIELUNG Brandlhuber
Die Flüchtlinge, die bisher in ein paar zugigen Tempelhofer Hangars
untergebracht sind, könnten gewissermaßen nach oben ziehen. Arno
Brandlhuber will über dem alten Flughafengebäude ein offenes
Zwischengeschoss frei lassen. Die neuen Wohnungen darüber ruhten dann auf
Stelzen und den vorhandenen Treppentürmen:
9 ZUSPIELUNG Brandlhuber
In die alten Flughafen-Hallen darunter könnte die gesamte Erschließung
eingepasst werden – Schulen, Kindergärten, Parkplätze, Geschäfte,
Restaurants, Kinos sowie Chris Dercon mit seinem Ableger der Berliner
Volksbühne. Die Generalsanierung würde Sinn machen, das Tempelhofer Feld
wäre nach wie vor frei – und die Stadt hätte 3.000 neue Wohnungen. Die
könnten ziemlich schnell und sehr kostengünstig gebaut werden, sozusagen als
bewohnbarer Rohbau, wie das Arno Brandlhuber bei seinem Atelierhaus in der
Brunnenstraße 9 schon vorgemacht hat: Ein purer Sichtbetonbau, den sich
jeder selbst ausbauen und umgestalten kann. Große, multifunktionale Räume.
Heizung, Installation und Fenster sind drin, der Rest ist Geschmackssache.
Fassadenteile teilweise aus Polycarbonat, das mit seiner milchigen
Lichtdurchlässigkeit atmosphärische Stimmungen erzeugt, wie das sonst nur in
Häusern mit japanischen Papierwänden erlebbar ist.
Die übliche Funktionstrennung von Wohnen und Arbeiten hat Arno Brandlhuber
hier aufgehoben. Er wohnt über seinem Büro. Und als eigener Bauherr konnte
er Bekannte und Freunde mit ins Boot holen, für Baukosten von nur 1.000,Euro pro Quadratmeter. Wer sich also eine eigene Wohnung wünscht, kann sie
sich bei Brandlhuber auch leisten:
10 ZUSPIELUNG Brandlhuber
Gute Architektur ist mit der Schlüsselübergabe nicht fertig, erst die eigene
Erfahrung im Raum stellt Dinge in Frage, weckt Begehrlichkeiten und lässt den
Bewohner manches Detail nachbessern. Work in Progress.
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Das andere Extrem, das der Regularien, der eng gefassten Baugesetze und
unverrückbaren Bestimmungen, konnte man diese Woche im Münchner Haus
der Architektur erleben. Dorthin hatte der bayerische Ableger des Bundes
Deutscher Architekten unter dem Titel „Heimat in der Ferne“ eingeladen. Die
Frage des Abends lautete: Wo und wie soll bezahlbarer Wohnraum für
Flüchtlinge geschaffen werden? Auch hier ging es darum, Qualität zu sichern,
Baukosten niedrig zu halten und Prozesse zu beschleunigen. Nur die Worte
waren andere: Gebäudeertüchtigung, Fehlbelegung, Anschlussunterbringung,
Wohnbauförderung, Musterflächenbedarfsplan, Brandschutzmaßnahme.
Immerhin fiel auch der schöne Begriff der Willkommens-Architektur! Aber man
muss das gar nicht gegeneinander ausspielen. Die frechen Visionen eines Arno
Brandlhuber klingen einfach verlockender als das brave Behördendeutsch.
Dabei sind auch die Mitarbeiter der Regierung von Oberbayern wie etwa die
Architektin Lore Mühlbauer voller Empathie bei der Sache:
11 ZUSPIELUNG Mühlbauer (da ist ein Ton drauf, noch wegfiltern)
Was Lore Mühlbauer oder die Ministerialrätin Gabriele Engel von der Obersten
Baubehörde Bayerns dann erzählten, das beeindruckte. Fakt ist: Schon für den
Bedarf der Menschen, die seit langem in Deutschland leben, wurden seit 2009
750.000 Wohnungen zu wenig gebaut. Von den 800.000 Flüchtlingen, die bis
Ende des Jahres kommen, wird etwa die Hälfte bleiben. Da geht es dann nicht
mehr um Notunterkünfte, sondern um lebenswerten Wohnraum. Von der
Erstaufnahme zur Sozialwohnung. Klar wurde: Die zuständigen Behörden tun,
was sie können.
Viel Muße zum Nachdenken haben sie nicht. Und vor Ort, in Gemeinden und
Städten, kippt die Stimmung oft überraschend schnell, wenn
Regierungsvertreter wie Lore Mühlbauer um konkrete Hilfe bitten:
12 ZUSPIELUNG Mühlbauer (da ist ein Ton drauf, noch wegfiltern)
Ministerialrätin Gabriele Engel ließ keinen Zweifel daran, wie konzeptlos man
teilweise aufgrund des enormen Drucks agiert. Auf die Frage, welche
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Strategien es gebe, Migranten in Gegenden unterzubringen, in denen die
Grundstückspreise niedriger seien, also im ländlichen Raum, antwortete sie mit
bewundernswerter Offenheit:
13 ZUSPIELUNG Engel
Die angebliche Zurückhaltung der Architekten in diesen Fragen hat in den
letzten Wochen einige Kommentatoren irritiert. Anfang November titelte etwa
die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
Allein für Flüchtlinge müssen Hunderttausende von Häusern gebaut werden.
Der Wohnungsbau entscheidet mit über die Zukunft des Landes. Aber warum
schweigen die Baumeister?
14 ZUSPIELUNG Meck
…, sagt Andreas Meck, freier Architekt und Hochschullehrer in München.
15 ZUSPIELUNG Meck
Die Probleme liegen weniger bei den Architekten als in den
Grundvoraussetzungen des Bauens in unserem Land. Die Stadtplanerin Sophie
Wolfrum vom Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung der TU München
und ihre Studenten beschäftigen sich im Winter-Semester mit einer möglichen
Verdichtung der Münchner McGraw-Kaserne. Titel des Projekts: „Einfach
Wohnen. zwischen architektonischer festlegung, möglicher mitbestimmung und
offenheit zur räumlichen aneignung“.
Das prinzipielle Problem, sagt Sophie Wolfrum, ist neben den hohen
Bodenpreisen in den Ballungszentren der deutliche Rückgang der öffentlichen
Förderung:
16 ZUSPIELUNG Wolfrum
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Authentisch geht nicht
Abschied von einem paradoxen Ideal
Von Beate Meierfrankenfeld
(Musikakzent)
Spr.: Es gibt eine fast magische Eigenschaft, die alle gerne hätten, die einem
aber so leicht nicht zugesprochen wird. Der neue Labour-Chef Jeremy
Corbyn, Barack Obama und Hannelore Kraft sollen sie besitzen, Justin
Bieber dagegen nicht – sagt jedenfalls Rod Stewart, der von sich selbst
wohl das Gegenteil annimmt. Dem kühlen Peer Steinbrück wurde sie
bescheinigt, als er mitten im harten Wahlkampf öffentlich Tränen vergoss,
der kontrollierten Angela Merkel, als sie die mitfühlende
Flüchtlingskanzlerin wurde: Authentizität.
Ein großes, ein altes Wort – und eines mit neuer Konjunktur: Wähler
wollen authentische Politiker, Fans authentische Idole, und sogar die
Kunst wird oft gerade dafür geschätzt, nicht künstlich zu sein. Auf
Theaterbühnen präsentieren echte Menschen ihre echten Geschichten,
Filme werden „nach einer wahren Begebenheit“ gedreht, ein Autor wie
Karl Ove Knausgård macht sich einen Namen mit einem Romanprojekt,
das in sechs Bänden und über Tausende von Seiten von seinem Leben
erzählt. „Authentisch, bis es weh tut“, urteilt die Kritik. Und sie meint das
als Lob.
Zit.. „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand
nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen
Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.“
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Spr.: Das könnte beinahe von Knausgård stammen, ist aber aus den
„Bekenntnissen“ von Jean Jacques Rousseau. „Einen Menschen in der
ganzen Naturwahrheit zeigen“ – das wäre noch immer eine passende
Definition der Authentizität. Das Authentische wird als das Ureigene
gedacht, es ist geworden, nicht gemacht, es folgt keinem Kalkül, sondern
ist, was es ist.
Gegenbegriffe sind Konvention, Inszenierung oder Image, aber auch
Repräsentation, Diskurs, Ironie, Reflexion. Folglich gelten Gefühl, Instinkt
oder Tat im Vergleich zum Verstand meist als authentischer. Darin liegt
ein Erbe der frühen Wortbedeutung: Im Altgriechischen stand „authentes“
[sprich: „authéntäs“] für den Mörder oder Selbstmörder, den Täter
allgemein. Wo einer authentisch ist, zaudert er nicht, sondern handelt, und
das sozusagen aus dem Antrieb seines Wesens heraus.
Zit.: „Der Wilde lebt in sich selbst, …“
Spr.: … will sagen: authentisch …,
Zit.: „… der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der
anderen zu leben“,
Spr.: … schreibt Rousseau in seinem „Diskurs über die Ungleichheit“. Und
Martin Heidegger erfand das Substantiv des „Man“ als Bezeichnung für
das „Neutrum“ der „Anderen“ und ihre Herrschaft im „alltäglichen
Miteinandersein“. In „Sein und Zeit“ heißt es:
Zit.: „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als
Seinsweisen des Man das, was wir als ‚die Öffentlichkeit‘ kennen.“
Seite 18
Spr.: Die „Meinung der anderen“, die „Öffentlichkeit“: Das ist der mächtige
Antagonist des Authentischen. Darin liegt allerdings etwas Paradoxes,
denn zugleich kann man sich Authentizität nicht gut selbst attestieren,
sondern nur in eben der „Meinung der anderen“ verdienen. Andererseits –
und damit dreht sich das Paradox noch eine Verschraubung weiter – ist
derjenige, der sich eines Beobachters bewusst ist, genau nicht mehr
authentisch, sondern bereits wieder in einer Rolle.
Das Ideal der Authentizität will trotzdem selbst für die öffentlich agierende
Politik niemand aufgeben, schließlich scheint es sich gegen Unlauterkeit
und Opportunismus zu stemmen, die größten Untugenden der
Mediendemokratie. Doch auch diese Annahme hat etwas
Widersprüchliches: Authentizität wird stets als Kompliment betrachtet, als
Wert an sich, ermöglicht aber gerade keine Bewertung politischer
Positionen. Das zeigt der montägliche Blick nach Dresden: Auf der
Authentizitäts-Skala rangieren die Pegida-Marschierer sicher weit oben –
dass ihre Parolen schon dadurch geadelt würden, daran glauben wohl nur
sie selbst.
Die Rede vom Authentischen ist ganz prinzipiell keine taugliche Leitidee
der Politik: Sie nimmt eine faktische, keine normative Perspektive ein, sie
denkt politische Willensbildung als Dynamik des Selbstausdrucks von
Gruppen und Strömungen. Damit wäre die politische Arena schlicht ein
Kampfplatz, auf dem sich quasi naturhafte Kräfte messen. Natur aber ist
etwas kategorial anderes als Politik, denn die muss nicht nur das, was ist,
organisieren, sondern auch einen Begriff davon entwickeln, was sein soll.
Sie muss Argumente liefern, vielleicht sogar Utopien entwerfen, darüber
debattieren, wie sich eine Gesellschaft selbst verstehen will – und welche
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moralischen Folgen dieses oder jenes Selbstverständnis hätte. Die
Berufung auf Authentizität hilft bei all dem nicht weiter.
Konkret: Einfach mal ganz authentisch rauszulassen, die vielen
Flüchtlinge hier nicht haben zu wollen, ist noch kein politischer Akt,
sondern etwas wie das Lamento über einen Juckreiz. Man müsste sich
schon die Mühe machen, ein paar grundsätzliche Konsequenzen des
Ankratzens gegen diese Befindlichkeit durchzuspielen: Soll es gar kein
Asylrecht mehr geben? (Viel Asylrecht, das in Klammern, sieht das
Grundgesetz schon jetzt nicht mehr vor.) Soll man Syrien zum sicheren
Herkunftsland erklären? Den Flüchtlingsstatus restriktiver zuteilen? Und
wie verhielte sich all das zu den Bedingungen der Möglichkeit von
Demokratie, zu individuellen Rechten und Minderheitenschutz zum
Beispiel?
Und schon wird es wieder so lästig verwickelt, so unauthentisch, verkopft,
kodifiziert, bürokratisch. Das Lob des Authentischen dagegen feiert
Unmittelbarkeit als Echtheit – und pflegt eine robuste Skepsis gegenüber
Ämtern, Institutionen und dem repräsentativen System überhaupt.
Berufspolitiker versuchen dem mit manchmal simplen Signalen zu
begegnen: Bodenständigkeit, einfacher Sprache oder privaten
Botschaften. Auch das hat jedoch einen Haken:
Zit.: „Der Volksvertreter kann per Definition nicht authentisch sein. […] Er sollte
qua Beruf immer wieder eine andere Perspektive, eine andere Rolle
einnehmen als die rein individuelle“, …
Spr.: … stellte Christopher Lauer vor einigen Monaten in der ZEIT fest. Lauer
war 2011 für die Piraten in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen,
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jene Partei also, die die Unmittelbarkeit als digital gestützte Transparenz
direkt im Parlamentarismus praktizieren wollte. Noch ein Paradox – eines,
an dem die Piraten sich aufgerieben haben. Inzwischen ist Lauer kein
Mitglied mehr, und zur Forderung der „Volksnähe“ schreibt er 2015:
Zit.: „In Deutschland wird von Volksvertretern erwartet, […] so zu tun, als wäre
jedes Partikularinteresse ihr ureigenes. […] Ein solches Verhalten ist nicht
glaubwürdig, denn die meisten Partikularinteressen widersprechen
einander.“
(Musikakzent)
Spr.: Politik und authentisch geht also nicht, weder für den Bürgerwillen noch
für die Repräsentanten. Und im eigenen, im wirklichen Leben? Wäre es da
nicht erstrebenswert, an das wahre Selbst heranzukommen? Das Selbst
jenseits der Images, Rollen und Profile?
Doch dieses Selbst gibt es nicht. Wir alle sind konstruierte und multiple
Wesen, Knotenpunkte von Einflüssen, Bedeutungen, Bildern. Die
Psychologie und ihre populären Ableger haben gelehrt, uns selbst als
unsere Geschichte zu begreifen, das Ideal der Authentizität sucht also in
dieser Geschichte nach Momenten des Unverfälschten. Es ist
naheliegend, sie dort zu vermuten, wo egotaktische Berechnung scheitert.
Dann wären wir nicht in der Selbstbestimmung, sondern im Schicksal
besonders authentisch. Auch das wieder ein Paradox, ein zartdialektisches diesmal: Der ohne falsche Rücksichten agierende
authentische Tatmensch wird zum Leidenden, der offenlegt, was ihm
widerfahren ist.
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Die Kultur der „Beichte“ – im Netz, in Talkshows und auch in einem so
ambitionierten Projekt wie dem Romanzyklus von Karl Ove Knausgård
praktiziert – sucht entsprechend nicht nach persönlicher Schuld, sondern
nach existenzieller Verstrickung. Knausgård wird in seinen Büchern auch
physisch als Schmerzensmann beglaubigt, der allein durch den Regen
marschiert, trinkt, seinen Bruder attackiert, sich autoaggressiv das Gesicht
zerschneidet. Und Rousseau schrieb seine „Bekenntnisse“ in bedrängter
Lage: Unter anderem, weil er seine fünf Kinder vor dem Findelhaus
ausgesetzt hatte, wurde er heftig angefeindet – und wollte seine
Handlungsweise aus seiner individuellen Natur heraus erklären.
Ein vertrauterer Verwandter des Schicksals ist der Trieb: Nicht wir machen
etwas mit ihm, sondern er mit uns. Zugleich ist er eine durch und durch
subjektive Macht – die passende Vorlage also für ein Narrativ der
Authentizität: Trieb, Blut, Sex und Leidenschaft als realere Realität hinter
all den Masken von Selbstkontrolle und sozialen Regeln. Doch was spricht
eigentlich für diese Hierarchie der Echtheit? Warum, um alles in der Welt,
sollte der Mensch im Affekt mehr er selbst sein als beispielsweise im
Diskurs oder in der Beherrschung eines kulturellen Codes? Es gibt einfach
dies und das in ihm, Punkt. Nicht einmal das omnipräsente
Medienmaterial lässt sich als das Uneigentliche aus einer eigentlichen
Identität aussortieren, sondern gehört zu ihr dazu.
Die gute Nachricht lautet: Das ist gar nicht schlimm. Statt „Sei du selbst!“
wäre die Maxime: „Erfinde dich neu!“ – und zwar auch im Sekundären, in
der Nervosität höchster Empfänglichkeit für alles, was da draußen so
passiert. Dass sich darin mindestens so viel Pathos entwickeln lässt wie in
der Selbsterforschungsqual, führt ein Autor vor, der auch schon mal die
Rasierklinge an die eigene Stirn gelegt hat – allerdings nicht wie Karl Ove
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Knausgård in einsamer Verzweiflung auf der Kneipentoilette, sondern in
einem kalkuliert medialen Akt vor laufender Literaturbetriebskamera:
Rainald Goetz.
Zit.: „Drin tobte auch schon das unglaubliche, das ungeheuerliche
Sozialmonster, 2000-köpfig, alle REDETEN, es peitschten die aus diesen
vielleicht ja auch 3000 Köpfen hervorsprühenden Kommunikationen durch
die Hallen und Räume, und wer da war, einfach nur körperlich anwesend,
wurde ganz automatisch und unwiderstehlich mit hineingerissen in den
tosenden Trubel und selbst Teil dieser Kollektivgerätschaft…“
Spr.: So beschreibt Goetz ein gediegenes gesellschaftliches Ereignis wie den
Herbstempfang der F.A Z. Der Ton von Goetz-Texten bewegt sich
zwischen Rausch und Rede, Tratsch und Theorie, Elan und Bericht,
Obsession und Spiel. Sie sind einer ebenso hybriden wie wendigen
Subjektivität auf der Spur, die immer in Kontexten steht und sich zugleich
ihnen gegenüber behaupten will. Wohltemperiert kommt das nicht daher,
sondern durchaus aufgeladen, doch die Unbedingtheit eines solchen
Subjekts kann immer nur bedingt sein. Das Authentische gibt es hier
höchstens noch als das „Authentoide“, als momentanen Impuls, der sich
all der Paradoxien in seinem Anspruch auf Selbstsein bewusst ist, sich
nicht zensiert, aber auch nichts Ureigenes zur Entfaltung zu bringen hat.
Und der seine epiphanischen „Gegenwärtigkeitsflashs“ schon mal in
ungebremstem „Loslabern“ erleben kann – mittendrin in der
kommunizierenden „Kollektivgerätschaft“. Für Martin Heidegger war genau
die ein großer Entfremdungs-Apparat:
Zit.: „Das im Gerede sich haltende Dasein ist […] von den primären und
ursprünglich-echten Seinsbezügen zur Welt […] abgeschnitten.“
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Spr.: Interessanterweise verbuchte Heidegger auch die Neugier auf der Seite
dieses sich ständig entwurzelnden „Modus des In-der-Welt-seins“. Im
Goetz-Kosmos dagegen ist Neugier ein – gelegentlich heiß laufender –
Motor von Kunst und Leben. Ihr Impetus ist, wenn er „weltwärts“ will, auch
„geredewärts“ unterwegs, wie der Schriftsteller es Ende Oktober in seiner
Büchnerpreisrede nannte. Und diese Haltung ist gegenüber trotziger
Eigentlichkeits-Emphase zweifellos die avanciertere, ausgefuchstere,
erwachsenere Position für alle, die expressive Gesten lieben. Wir haben
kein echtes Ich – bringen wir es ganz authentoid zur Geltung.
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Jan Potocki zum 200. Todestag
Von Christine Wunnicke
Sprecher
„Der neunundsiebzigste Band behandelte den Ursprung der Magie in den
Zeiten des Zoroaster. Der achzigste war verschiedenen Methoden der
Wahrsagung gewidmet wie der Rhabdomantie, der Hydromantie und der
Geomantie. Von diesen Lügen kehrte sich Band einundachzig ab und
behandelte die Geometrie. Den zweiundachzigsten füllte die Arithmetik, den
dreiundachzigsten die Algebra, den vierundachzigsten die Trigonometrie.“
Sprecherin
Es war einmal in Salamanca ein Universalgelehrter, Don Diego Hervas, der ein
Buch in hundert Bänden schrieb, das alles enthielt, was die Menschheit wusste.
Sprecher
„... der vierundfünfzigste Band die Geschichte, der fünfundfünfzigste die
Mythologie, der sechsundfünfzigste die Chronologie, der siebenundfünfzigste
die Biographie ...“
Sprecherin
Nach fünfzehn Jahren, nach fünfundvierzigtausend Stunden exakt geplanter
Arbeit, war das Werk vollendet. Don Diego ließ die hundert Manuskriptbände
schön binden und unternahm zur Feier des Tages eine kleine Reise nach
Asturien. Als er nach Hause kam, lag sein Werk in Fetzen im Zimmer verstreut.
Sprecher
Seite 25
„Die Ratten, vom Duft des Buchbinderleims angelockt, hatten alles geschnappt,
zernagt, zerfressen. Als Hervas wieder zu sich kam, sah er einen der Unholde
das letzte Blatt der ‚Transzendentalen Geometrie’ in sein Rattenloch zerren.“
Sprecherin
In acht Jahren rekonstruierte Don Diego sein Mammutwerk. Kaum war es fertig,
stellte er fest, dass Künste und Wissenschaften inzwischen weiter gediehen
und seine Abhandlungen längst veraltet waren. Vier weitere Jahre benötigte er,
um alles auf den letzten Stand zu bringen.
Sprecher
„Mein Herr, sagte der Verleger Moreno, gerne übernehme ich Ihre
Polymathesis in mein Programm, doch muss ich sie bitten, sie auf
fünfundzwanzig Bände zu kürzen.“
Sprecherin
Diego Hervas verzichtete auf diesen Buchvertrag. Stattdessen widmete er sich
dem hundertundersten Band, der den Ursprung des Bösen behandeln sollte. Zu
diesem Zweck stellte er Experimente an, vor allem chemischer Natur. Dann
wurde er krank: Nierensteine, Gicht und –
Sprecher
- eine finstere Melancholie.
Sprecherin
Er wickelte sich in ein Leichentuch und trank Gift, wohl nach einem Rezept aus
dem einunddreißigsten Band seines Buches.
Sprecher
Seite 26
Und dies war das Ende des Atheisten Don Diego Hervas.
**** Trenner „Kratima in Mode Plagal A“, ca. 2:00 ***
Sprecherin
Die „Handschrift von Saragossa“, der einzige Roman des polnischen
Schriftstellers Jan Graf Potocki, ist voll von Fanatikern: Ein Mann tut nichts
anderes, als sich zu duellieren und Duellregeln in Listen zu kompilieren. Ein
Privatier verbringt seine gesamte Zeit damit, Tinte herzustellen, und raucht
dazu täglich exakt 24 Zigaretten. Eine junge Jüdin beschwört allnächtlich die
Geister von Castor und Pollux nach allen Regeln der Kabbala, mit dem Zweck,
sie zu ehelichen. Ein Herzog widmet sein Leben der Mathematik und fasst
sämtliche Belange der menschlichen Seele in Formeln.
Sprecher
„Das Streben nach Glück entspricht der Auflösung einer Gleichung höheren
Grades. Sie kennen, Madame, den letzten Exponenten und wissen, dass er der
Quotient aller Wurzeln ist, und bevor Sie die Divisoren erschöpft haben,
kommen Sie zu den imaginären Wurzeln. Und darüber vergeht der Tag in einer
steten Entzückung des Rechnens und Ausrechnens. So ist es auch mit dem
Leben: Dort kommen Sie ebenfalls eines Tages zu den imaginären Zahlen, die
Sie als reellen Wert angesehen haben – und doch haben Sie inzwischen Ihr
Leben gelebt und sind sogar tätig gewesen!“
Sprecherin
Der ganze Roman eine idée fixe: Wie kann man alle Geschichten der Welt in
einem einzigen Buch erzählen, wie tief kann man Rahmenhandlungen
ineinander verschachteln, wieviele unglaubwürdige Icherzähler passen auf
neunhundert Seiten?
Seite 27
Sprecher
„‚Obschon ich den Worten des Zigeunerhäuptlings aufmerksam gelauscht
habe’, ergriff Don Pedro Velasquez das Wort, ‚vermag ich keinen
Zusammenhang in ihnen zu entdecken. Ich weiß kaum, wer spricht und wer
zuhört. Bald erzählt der Marqués de Val Florida seiner Tochter von seinen
Abenteuern, bald erzählt die Tochter des Häuptlings davon, und nun erzählt sie
der Häuptling uns. Es ist ein wahrhaftes Labyrinth! Ich finde, man sollte solche
Romane nach Art der chronologischen Tafeln in mehreren Spalten schreiben.’“
Sprecherin
Dabei beginnt es so einfach. Anfang des 18. Jahrhunderts verirrt sich ein junger
wallonischer Offizier in der Sierra Morena und gerät in einer verlassenen
Herberge in die Fänge zweier muselmanischer Schwestern, in deren Armen er
eine lustige Nacht verbringt. Als er am Morgen aufwacht, liegt er unter einem
Galgen, rechts und links flankiert von den verwesenden Leichen zweier
Gehenkter.
Sprecher
Wie die Melodie einer Spieluhr wiederholt sich die Geschichte immer wieder.
Immer wieder eine Liebesnacht zu dritt. Immer wieder der Galgen. Die Jüdin
landet dort nach einem Rendezvous mit Castor und Pollux. Der mathematische
Herzog wird von seiner Stiefmutter und ihrer Zofe verführt, die sich ebenfalls
flugs in Gehenkte verwandeln. Auch der Bruder der Kabbalistin bleibt nicht
verschont. Es wird zum amüsanten Zeitvertreib, allmorgentlich neue Opfer
unter diesem Galgen einzusammeln. Ein paar rote Fäden – der flotte Dreier,
der Galgen, die Mathematik, der Fanatismus ...
Sprecherin
Seite 28
Und das Gegenteil von Fanatismus. Die großen Scheichs der Gomelez wollen
den wallonischen Offizier zum Islam bekehren und veranstalten zu diesem
Zweck ein Spektakel, das letztendlich neunhundert Seiten füllt – aber
schließlich finden sie es eher liebenswert, dass er standhaft katholisch bleibt.
Der wallonische Katholik heiratet wohlgemut seine beiden mohammedanischen
Cousinen. Die Jüdin, die Castor und Pollux leid ist, will unbedingt einen
Muselmanen zum Mann, dann nimmt sie aber den spanischen Mathematiker.
Der Ewige Jude, der mit seiner gesamten Lebensgeschichte von Kleopatras
Zeiten an aufwartet, stellt sich ebenfalls als Muslim heraus. Und alles ist
schlichtweg gelogen. Der ganze Spuk, die ganzen Geschichten, die
Teufelinnen und Vampire, die Ehre, die Liebe, die Geometrie – ein einziger
Mummenschanz. ‚Die Handschrift von Saragossa’ hat ein ähnliches Schicksal
erlitten wie die Polymathesis des Diego Hervas: Zernagt, zerfressen, zerfetzt, in
Fragmenten und Plagiaten ist sie auf uns gekommen, und seit den 1960erJahren und bis heute gibt es einen ganzen – fanatischen! – Zweig der
Literatur¬wissenschaft, der immer wieder aufs Neue erfolglos versucht, eine
Urfassung zu rekonstruieren.
Sprecher
Der Teufel kommt auch vor. Er nennt sich 'Don Belial' und spricht sehr
sympathisch im Ton der französischen Aufklärung. Die Vernunft ist genauso
gelogen wie die Untoten der Sierra Morena. 'Die Handschrift von Saragossa' ist
das schönste, frustrierendste Buch der Welt.
**** Trenner „Kratima in Mode Plagal A“, ca. 4:40 ***
Sprecherin
Die tausend Geschichten des „Manuscrit trouvé à Saragosse“ – Potocki schrieb
grundsätzlich nur auf Französisch – sind kaum mehr als ein Nachsatz zu einem
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höchst seltsamen, hektischen Leben. 1761 in der heutigen Ukraine in eines der
einflussreichsten polnischen Adelshäuser geboren, verließ der Graf schon mit
neun Jahren seine vom Bürgerkrieg zerrissene Heimat. Schulbildung in der
Schweiz, Studium in Italien, der Wunsch, Mathematiker zu werden, oder besser
Chemiker, Historiker, Politiker, General? Seine Kavalierstour nahm eine
untypische Route: Spanien, Marokko, Tunis, Konstantinopel, Ägypten. Auf
einem Schiff der Maltheserritter jagte er berbische Piraten im Mittelmeer. Da
war er neunzehn. Sein erster wissenschaftlicher Aufsatz analysierte dann den
Dialekt der Qazi-Kumuki im russischen Susdal. Er kartografierte den Archipel
Liao Tung im Golf von Korea. Er legte ein Lexikon der Ritualformeln an, die
tscherkessische Priester benutzen. Er erfand eine Geldprägemaschine und
eine neue Methode der hebräisch-assyrischen Synopsis. (Was ist eine Methode
der Synopsis? Eine Methode des Sprachvergleichs. Besser Synoptik?) Die
slawische Archäologie als systematische Wissenschaft geht auf Potocki zurück,
auch eine Inselgruppe im Gelben Meer trug eine Weile seinen Namen. Als
Offizier der österreichischen Armee nahm er am bayerischen Erbfolgekrieg teil.
Mit dem Luftschiffer Blanchard stieg er in den Himmel über Warschau auf,
einen Pudel im Arm und einen türkischen Pagen am Rockzipfel. Als HofOrientalist des russischen Zaren sollte er ein Konzept zur Erschließung der
asiatischen Territorien erarbeiten, und verlor sich dort in Details.
Sprecher
„Da sie hiermit den Gedanken der Seelenwanderung verbinden, halten es die
Kalmücken für eine große Ehre, sich nach ihrem Tod von ihren Hunden
auffressen zu lassen. Darum füttern sie ihre Hunde auch nie. Gibt es gerade
keine Leiche zu fressen, schickt man sie in die Steppe zum Jagen.“
Sprecherin
Gut zwanzig Bücher hat Potocki veröffentlicht, meist in der Auflage 100, wie es
sich für einen Grandseigneur geziemtE?. Ein kühler Ton. Ein mildes Lächeln.
Seite 30
Selbst WIESO SELBST? GIBT ES ANDERSWO AUCH KEINE
HERZENSERGÜSSE? (nee, in den anderen Büchern auch nicht; in einem
Roman würde man am ehesten Herzensergüsse erwarten, oder? Wäre "auch"
klarer? BLEIBT BER DAS SELBST!!! (Martina, ich weiß nicht, was du meinst.
Ändere es einfach, wie du möchtest!) in der „Handschrift von Saragossa“,
diesem Paradestück der Proto-Romantik, sucht man nach Herzensergüssen
vergeblich. Potockis Leidenschaften sind gebrochen, amüsiert, ironisch. Und
sie kommen und gehen. Politisch ist er ein Blatt im Wind. Er schließt sich in
Paris den Jakobinern an, dann distanziert er sich entnervt von der Revolution,
er ist für Napoleon und gegen ihn, für und gegen die Teilung Polens, für und
gegen die russische Großmacht. Nur eines vertritt er immer: Die Vernunft. Die
Logik. Die schöne, klare Vernunft. ( KLINGT ABER ALLES SEHR
UNVERNÜFTIG.. IMMER DAS GEGENTEIL DENKEN IST EIGENTLICH SEHR
WIDERSPRÜCHLICH. Genau. Ich glaube an Potockis Vernunft auch nicht
wirklich. Aber ich meine "die schöne, klare Vernunft" markiert genug Ironie.
Wäre es besser, wenn man "nur an einem hält er standhaft fest" schreibt? (Es
stand oben auch schon mal "die Vernunft ist gelogen") JA UND DANN
ÄNDERE ES GLEICH SO WIE ES SICH GEHÖRT (ich weiß nicht, wie es "sich
gehört"! Möchtest du "die schöne, klare – und immer zweifelhafte - Vernunft"
schreiben? Mach einfach, wie du möchtest!)
Sprecher
„Die Freiheit ist eine Wissenschaft, die studiert sein will. Wer sich blind in sie
verliebt, ist gefährlich und ohne Nutzen. Wer möchte einem Arzt vertrauen, der
seine medizinische Ignoranz wettmachen will mit einem gewaltigen Eifer, alle
Welt zu kurieren? London, im April 1790.“
Sprecherin
Seite 31
Niemand wurde recht schlau aus dem Exzentriker Jan Graf Potocki. Gerüchte
rankten sich um seine Person, man hielt ihn für einen Hochstapler, einen
Geisterbeschwörer, einen Verrückten, für einen Atheisten und Muselmanen was vielleicht nicht ganz abwegig war- für einen Mädchenverderber und
Goldmacher. Der junge Arzt Jean-Paul Marat in Paris verliebte sich so sehr in
die romantische Person dieses undurchschaubaren Polen, dass er ihn zum
Helden eines überschäumenden und sehr schlechten Briefromans machte, der
mit dem echten Grafen gar nichts zu tun hatte. Jan Potocki war zweimal
verheiratet und hatte sechs Kinder. Sie gediehen allesamt gut und machten
standesgemäße Karrieren. Die zweite Ehe wurde 1809 geschieden, da war
Potocki Ende 40 und krank: Die Spätfolgen eines tropischen Fiebers, die
Syphilis ...
Sprecher
... eine finstere Melancholie ...
**** Trenner „Kratima in Mode Plagal A“ von Anfang, bisschen unterlegen ***
Sprecherin
Nach einer diplomatischen Reise nach China veröffentlichte er rasch noch ein
paar Bücher, darunter einen archäologischen Atlas von Russland und ein
sechsbändiges Werk namens „Prinzipien der Chronologie der zwölf
Jahrhunderte, die den ersten olympischen Spielen vorangingen“. Auch richtete
er noch einiges Unheil in den Fragmenten der „Handschrift von Saragossa“ an,
vielleicht um die Nachwelt zu ärgern. Er hatte sich auf sein Landschloss in
Uładówka in Podolien zurückgezogen und schloss dort immer öfter die
Fensterläden. Am 30. November, 2., 11. oder 23. Dezember 1815 lud er in der
Bibliothek seine Duellpistole und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Er
hinterließ keinen Abschiedsbrief, aber eine letzte Handvoll Geschichten. Der
Seite 32
Graf, so hieß es, habe monatelang, immer wenn der Ennui ihn plagte, am
Deckelknopf seines Samowar gefeilt, bis er die richtige Passform für den Lauf
der Pistole hatte. Oder es wurde berichtet, er habe nur die Erdbeere
abgeknipst, die den Deckel der Zuckerdose zierte. Wieder andere behaupten,
er habe ein wenig Familiensilber einschmelzen und sicherheitshalber gleich zu
mehreren Kugeln gießen lassen. Ebenfalls wurde erzählt, dass er das Silber in
die Kirche zum Segnen getragen habe, bevor er damit die Pistole lud. Der
Freigeist habe sich für einen Vampir oder Werwolf gehalten und wollte
sichergehen, dass er nicht nachts aus dem Grab stieg.
-stopp-
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