Manuskript Kulturjournal Kritik. Dialog. Essay Zusammenstellung und Moderation: Martina Boette-Sonner Redaktion: Kulturkritik und Literatur Musik: Deerhunter, "Fading Frontier" [Indigo] Sendedatum: 29. November 2015, 18.05 – 19.30 Uhr Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München Service-Nr.: 01801/102033 (4 Cent/Min.) Fax: 089/5900-3862 [email protected] www.bayern2.de Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2015 MUSIK Herzlich willkommen zum Kulturjournal an diesem Sonntag. „Fading Frontier“ heißt die neue Platte von „Deer Hunter“, einer Indie Popband aus den USA, genauer Atlanta Georgia. „Die Landkarte zum neuen Deerhunter-Album "Fading Frontiers" ist eindrücklich abgesteckt. Einerseits wäre da jene interaktive Landkarte, mit der Bradford Cox die Einflüsse für das aktuelle Werk selbst offenbarte. Dazu gehören unter anderem: R.E.M., Tom Petty, altes Leinen, Pablo Neruda, sein Hund Faulkner, der seelenlose Geruch von neuen Autos und Eistee. “ Andererseits besteht die Gruppe nicht nur aus Cox, dem Gitarristen und Sänger, sondern auch aus Lockett Pundt ebenfalls Gitarre, Josh Fauver am Bass und Moses Archuleta am Schlagzeug. Es ist das sechste Album von Deerhunter seit der Gründung der Band im Jahr 2001. Um geradezu existenzielle Fragen geht es auf diesem Album, was vielleicht damit zusammenhängen könnte, dass Frontmann Bradford Cox 2014 einen schweren Unfall hatte, der ihn in eine Depression stürzte. Nun depressiv ist die Platte nicht, eher nachdenklich und eingängiger als sonst. „Deerhunter“ und „Fading Frontier“ begleiten uns in den nächsten knapp eineinhalb Stunden durch die Sendung. MUSIK kurz hoch Er war Schweizer und lebte in Paris, er war ein Weltregisseur, stammte aus einer jüdischen Familie, war Agnostiker und wollte ursprünglich Musiker werden. Zum Glück brachte er es dann als Theater- und Opernregisseur an allen wichtigen deutschsprachigen Bühnen zu großem Ruhm, er veröffentlichte einen Roman und schrieb Gedichte und leitete zuletzt das Pariser Odeontheater. Luc Bondy, das bekannte er einmal in einem Gespräch für das Kulturjournal in seiner Pariser Wohnung verstand sich als Weltbürger: O-Ton Luc Bondy, der Kosmopolit, der Mann mir vielen Identitäten, ist gestern im Alter von 67 Jahren gestorben. Um Identitäten wird es heute auch im Kulturjournal Seite 2 gehen, und nicht nur weil die AFD, eine zunehmend rechte Partei, auf ihrem Parteitag gestern den Schutz einer „Deutschen Identität“ forderte. Ein weiter Schwachsinn der Alternative für Deutschland. Aber was erwartet Sie noch in unserer Sendung, in Zeiten, in denen Francois Hollande von einem „ hybriden Krieg“ spricht, Schweden unbegleitete jugendliche Flüchtlinge medizinisch auf ihr wahres Alter untersuchen will, Medien unsere „Angst“ erklären und sie damit schüren, Brüssel zu einer Dschihadistenhochburg und zur Hochsicherheitsstadt erklärt wird. Aus Bremen wird berichtet, afrikanische Kinderbanden würden kleinere Überfälle begehen, im Internet werden falsche Anschlagswarnungen verbreitet. Ja sind denn alle verrückt geworden? Deutschland beteiligt sich mit Tornados an Angriffen auf den IS in Syrien. Ja, man muss die wahnsinnigen militanten Islamisten stoppen und ja, man muss aufmerksam sein, denn die Zustände im Nahen Osten sind auch unsere Zustände, die schlechte Integration der Nachkommen, der nach dem französischen Algerienkrieg Eingewanderten Nordafrikaner ist nach wie vor brisant, und ja es werden weiterhin Flüchtlinge aus Kriegs- und Armutsgebieten zu uns kommen. Sicher hilft bei der Lösung dieser Probleme da aber in erster Linie weder Hysterie noch Panikmache, sondern Besonnenheit, Vernunft und einfach Nachdenken. Denn es ist doch gerade die Vernunft und die logische Überlegung, die sich der Westen als eine der Errungenschaften der Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hat. Nachdenken, das wollen wir heute auch wieder tun. Viele treibt zunehmend die Sehnsucht nach dem Authentischen an, nach dem Glaubhaften, dem Wahren. Nur funktioniert das? Und was soll das überhaupt sein „authentisch“? „Authentisch geht nicht. Abschied von einem paradoxen Ideal“ hat Beate Meierfrankenfeld ihren Essay genannt. Wir werden im Gespräch mit dem Soziologen Aladin El- Mafaalani darüber sprechen was Identität von Mensch und Gesellschaft in Zeiten von Migration sein kann. „Wie werden wir bauen, wie wollen wir leben, fragt Moritz Holfelder und macht sich Seite 3 Gedanken über Architektur in Zeiten einer veränderten Gesellschaft. Am Ende würdigen wir Jan Potocki, den unglaublichen, polnischen Forschungsreisenden, Historiker, Romancier und Diplomat. Die Schriftstellerin Christine Wunnicke widmet ihm ein literarisches Portrait zum 200 Todestag. MUSIK Seit langem wird in Deutschland der soziale Wohnungsbau vernachlässigt. Viele Städte verkaufen Häuser und Grundstücke lieber an Investoren, die aus dem Verkauf oder der Vermietung ihrer in der Regel faden Neubauten maximalen Gewinn erzielen wollen. Fest steht, es muss mehr sozialen Wohnungsbau geben, nicht erst seit Flüchtlinge in lebenswertem Wohnraum untergebracht werden müssen. Geringverdiener, eine Beschönigung übrigens für Arme, also Menschen deren Verdienst nicht für eine marktübliche Wohnung reicht, Hartz 4 Empfänger, eine Beschönigung für Arbeitslose, die sie von Verlierern zu Nehmern macht, müssen ebenfalls „WOHNEN“. Was also tun in Zeiten in denen für viele Verantwortliche in Städten und Kommunen dieses Dauerproblem so ungemein plötzlich virulent wird? Und warum hört man so wenig von all den Museen, Stadien und sonstige Repräsentationsbauten entwerfenden sogenannten Stararchitekten? Es gibt Ansätze, das ist die gute Nachricht, funktionalen, günstigen und innovativen Wohnraum zu schaffen. Architekturstudenten verschiedener deutscher Universitäten haben zum Beispiel mobile, nachhaltige schnell zu fertigende Holzhäuser oder pfiffige Module zur originellen Verdichtung vorhandener Häuserlücken entworfen. Vielleicht ist es sogar so, dass durch den Druck, der auf Grund überfüllter Turnhallen und Kasernen durch geflüchtete Menschen entsteht, endlich etwas passiert zum Thema Wohnen und alle davon profitieren. Moritz Holfelder hat interessante Beispiele gefunden. BEITRAG MORITZ HOLFELDER Moritz Holfelder über das Bauen in einer sich verändernden Gesellschaft. Wenn Sie wollen, es gibt noch mehr Informationen zu diesem Beitrag und zur ganzen Seite 4 Sendung im Internet auf der Bayern2 Seite. Das Kulturjournal wird an diesem für alle wichtige Thema dranbleiben und in der nächsten Woche über eine Ausstellung in der Pinakothek der Moderne berichten. Dort werden Projekte des Planungskollektivs Urban Think Tank gezeigt. Im Deutschlandradio brachte Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich das Konzept auf den Punkt, in dem er sagte: „Es geht uns nicht um gezeichnete Architektur, nicht um Papierarchitektur, sondern um unsere Utopien, unsere Ideen, wie man Städte tatsächlich verbessern kann. Städte, die stark fragmentiert sind, in denen die Bevölkerung asymmetrisch in verschiedenen Einkommensgruppen lebt, die sich enorm voneinander unterscheiden." Wohnen und Leben ein wichtiges Thema auch nächste Woche im Kulturjournal. Und jetzt Musik der Indie Popgruppe Deerhunter aus ihrer neuen CD „Fading Frontiers“. MUSIK Sie hören das Kulturjournal in Bayern2. „Die Geschichte ist aber authentisch“, ein solcher Satz soll sowohl die Glaubwürdigkeit als auch die Qualität von literarischen Werken wie von Filmen bezeugen. „Der spielt aber authentisch“ ist ein großes Lob für eine schauspielerische Leistung. Authentische Bilder sind das ist ebenfalls anerkennend gemeint. Feuilleton und Kritik sprechen im Zusammenhang mit Kunst bei Einwänden gern von „Aber das ist ja authentisch“. Menschen sind authentisch und damit irgendwie gut. Was soll das aber sein? Angst vor der Fiktion, vor Bearbeitung von Realität ? Oder ist authentisch ein Synonym für das Wahre? Vor einigen Jahren erzählte mir eine Leipziger Medienprofessorin davon wie sie mit ihren Studierenden darüber diskutierte, dass Dokumentarfilme niemals authentisch sein könnten, da Realität nicht identisch mit ihrer Bearbeitung sei. Irgendetwas stimmt da nicht bei der immer mehr um sich greifenden Sehnsucht nach dem Authentischen. Beate Meierfrankenfeld hat ihren Essay zum Thema deshalb „ Authentisch geht nicht. Abschied von einem paradoxen Ideal“ genannt: Seite 5 BEITRAG BEATE MEIERFRANKENFELD „ Authentisch geht nicht. Abschied von einem paradoxen Ideal“ ein Essay von Beate Meierfrankenfeld im Kulturjournal in Bayern2. Nach der nächsten Musik sprechen wir mit dem Soziologen Aladin El- Mafaalani über das was wir heute unter Identitäten verstehen können und was das überhaupt ist „ Identität“ heute .MUSIK 7 GESPRÄCH Vielen Dank nach Dortmund an Aladin El Mafaalani für das Gespräch. Sie hören das Kulturjournal und "Living my Life" aus der neuen CD "Fading Frontier" der Indie-Popgruppe "Deerhunter". MUSIK Die Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder veranstaltet von nächsten Donnerstag bis Samstag eine Tagung zu Ehren des Kosmopoliten und Freigeistes Jan Potocki. Anlass ist der 200te Todestag . Welche Wertschätzung, der aus einer noblen Familie stammende Exzentriker dort erfährt, kann man aus der Ankündigung des dreitägigen Programms entnehmen: Es beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ethnologie, Geschichts-, Literatur- und Theaterwissenschaften mit seinen Arbeiten. In Vorträgen in deutscher, polnischer und französischer Sprache wird seine Relevanz vor allem auf den Feldern der Ästhetik, der Politik und der Wissenschaften deutlich. Die Tagung trägt den Titel „Mosaik und Labyrinth: Leben und Werk von Jan Potocki“. Das macht neugierig auf den Mann, der neben anderen Projekten auch der erste Pole in einem Fesselballon gewesen sein soll. Mit seinem einzigen Roman „Manuskript trouvé à Saragosse“ „Die Handschrift von Saragossa” erlangte Potocki postumen Ruhm. Die Schriftstellerin Christine Wunnicke, mit ihrem letzten Roman „Der Fuchs und Dr. Shimamura“ auf der Longlist des deutschen Buchpreises und stets eine Liebhaberin skurriler, wunderlicher und versponnener Figuren hat Jan Potocki ein literarisches Portrait gewidmet. Seite 6 BEITRAG CHRISTINE WUNNICKE Christine Wunnicke und ihr literarisches Portrait zum 200ten Todestag des polnischen Universalisten Jan Potocki. Das war unser heutiges Kulturjournal und für das ganze Team verabschiedet sich Martina Boette-Sonner. Die CD „Fading Frontier“ von Deerhunter ist bei 4AD/Beggars Group erschienen. MUSIK Seite 7 ARCHITEKTUR UND FLÜCHTLINGE Von Moritz Holfelder Man ist dieser Tage fast schon froh, wenn sich eine Berufsgruppe nicht zum Thema Flüchtlinge äußert, in einer Zeit, in der sich scheinbar jeder zu Wort meldet, um seine Sicht der Dinge mitzuteilen. Die deutschen Architekten und Stadtplaner haben sich bisher vornehm zurück gehalten. Bravo! Andererseits – hätten nicht gerade sie sich vehement zu Wort melden müssen? Denn – ist es nicht ihre spezielle Aufgabe, Behausungen zu schaffen, in denen Menschen (und nicht nur jene auf der Flucht) eine Heimat finden? Die Frage, wo unsere Flüchtlinge einmal leben sollen, wenn ihnen Asyl gewährt wird, und wo man sie bis dahin unterbringen will, bewegt inzwischen die ganze Republik. So gut wie nie fiel bisher der Name von Shigeru Ban, des japanischen Pritzker-Preisträgers. Der bekam erst letztes Jahr die weltweit höchstdotierte Auszeichnung innerhalb der Architektur – für seinen kreativen Umgang mit umweltfreundlichen und vor allem ungewöhnlichen Bau-Materialien wie Papier und Pappe. 1 ZUSPIELUNG Ban 2000 auf der Expo in Hannover entwarf Shigeru Ban gemeinsam mit Frei Otto, dem Schöpfer des Münchner Olympia-Zeltdachs, den japanischen Pavillon – als temporären experimentellen Skelettbau aus Pappröhren und aus Altpapier. 70 Meter lang und 16 Meter hoch. Shigeru Ban nutzt den papierenen Werkstoff als strukturbildendes Element tatsächlich auch bei der Errichtung von Notunterkünften. Bei entsprechender Verarbeitung sind die Pappröhren mit Durchmessern zwischen 10 und 150 Zentimetern wasserdicht und feuerbeständig. Aber deutlich leichter und billiger als etwa Holz, dazu bieten sie beste Werte in Sachen Wärme-Isolierung. Bereits vor 20 Jahren hat Ban das Voluntary Architects’ Network gegründet, eine Nichtregierungsorganisation mit dem Ziel, in Katastrophengebieten Seite 8 einfache und kostengünstige Behausungen zu schaffen. Aus dieser Initiative resultierten später papiergestützte Häuser, Brücken, Schulen, Konzerthallen und Museen (wie etwa das Centre Pompidou im französischen Metz oder die Kunsthalle in Moskau). Zuerst aber fertigte Ban, meist selbst vor Ort und unterstützt von vielen freiwilligen Helfern, Bauten genau dort, wo sie dringend gebraucht wurden, etwa nach Naturkatastrophen oder kriegerischen Auseinandersetzungen. So war er mit seinen Pappröhren in Ruanda, in Japan, in Taiwan, in der Türkei, in Westindien, in Sri Lanka, in China, in Italien, in Haiti und in Neuseeland. Er baute temporäre Schulen, Kirchen, Familienhäuser – und verbesserte die Situation in Massenunterkünften. So entstanden Behausungen mit einer ganz eigenen Ästhetik: Schön. Einfach. Und vor allem konkurrenzlos billig. Die Menschen wollen meist für immer in seinen eigentlich eben nur temporär gedachten Bauten bleiben, sagt Shigeru Ban – und er fragt sich: Was ist überhaupt ein permanentes und was ein temporäres Gebäude? Er überlegt, ein Gebäude aus Papier könne durchaus dauerhaft sein, wenn die Menschen es liebten. Und eines aus Beton temporär, wenn es nur des öden Profits wegen gebaut worden sei und eben nicht geliebt werde. 2 ZUSPIELUNG Ban 10:53 - /7:05 In Deutschland sind Flüchtlings-Wohncontainer seit Wochen so gut wie ausverkauft. Und wer noch welche bekommt, zahlt bis zu 3.000,- Euro pro Quadratmeter. Die Preise sind explodiert, eben weil Nachfrage da ist und viele Unternehmer ein Geschäft machen wollen. Städte und Gemeinden suchen verzweifelt nach Alternativen. Neu entwickelt wurden Container aus verputzten Beton-Fertigteilen, Shelter genannt und zweckmäßig schlicht. Hier liegt der Quadratmeter-Preis bei rund 1.000,- Euro. Manche Kommunen suchen ihr Glück in der Ständer-Holzbauweise mit ebenfalls vorgefertigten Elementen. Doch die Papier- und Papphäuser von Shigeru Ban sind preislich nicht zu schlagen. Deutlich günstiger als alles Seite 9 andere. In Japan baute Ban sie nach einem Erdbeben auch als kleine ErsatzHäuser mit Bierkästen als Fundamenten. Kosten pro Quadratmeter: Unter 300,Euro. Doch keiner in Deutschland hat sich bisher darum bemüht. Warum sollte das hier nicht auch funktionieren? Shigeru Ban, ein kleiner schüchterner Mann, ist im Internet auf vielen Fotos zu sehen, die zeigen, wie er bei der Erstellung von temporären Behausungen selbst mit Hand anlegt. 3 ZUSPIELUNG Ban, dann VO drüber (schon fertig mit VO) „Ich bin immer wieder enttäuscht von meiner Berufsgruppe. Meistens arbeiten wir für sehr privilegierte Leute. Ich finde aber, Architekten sollten stärker eine soziale Rolle spielen. Ich meine, wir müssen vor allem Menschen in Not das Leben angenehmer machen, sicherer und komfortabler. So habe ich nach Erdbeben weltweit viele meiner Papierhäuser errichtet, in Indien, natürlich in meiner Heimat und auch in Neuseeland. Die Papp-Kathedrale, die ich für die Opfer des Erdbebens in Christchurch gebaut habe, ist inzwischen sogar ein großer Anziehungspunkt für Touristen.“ Der 1964 in Unterfranken geborene und seit neun Jahren in Berlin lebende Architekt Arno Brandlhuber ist ein großer Fan Shigeru Bans. Auch Brandlhuber macht sich Gedanken darüber, wie Menschen in Not wohnen könnten. Inwieweit man eben unterscheiden muss zwischen temporär und permanent? Zurzeit plant er für Hamburg dezentrale Unterkünfte, verteilt über das gesamte Stadtgebiet. Durchmischung ist ihm wichtig. Er fürchtet die Philosophie der zentralen Aufnahmelager am Rand der Städte. Brandlhuber ist frech. Er sagt, er baue gar nicht speziell für die, die bei uns ankämen, sondern er baue sowieso immer für alle. Ihm gehe es prinzipiell um gute Architektur. Mit solchen Aussagen füllt er Hörsäle und Veranstaltungsräume. Brandlhuber, ein experimenteller Minimalist, ist zurzeit einer der hippsten Baukünstler der Republik. Seite 10 4 ZUSPIELUNG Brandlhuber, am Ende über Lachen drüber „Ich kann doch nicht als Architekt irgendeine Bude bauen für irgendeinen Flüchtling, wenn ich nicht selbst drin wohnen wollte. Die ist zwar klein, aber ein Supergerät!“, machte Brandlhuber letzte Woche bei einer Veranstaltung in der TU München seinen Standpunkt klar. Die Flüchtlinge sind für ihn nur Teil eines grundsätzlichen Problems, nämlich des Stillstandes im Wohnungsbau – konzeptionell wie ideologisch. Die Frage, was wir bauen und vor allem wie wir wohnen wollten, sei seit Jahrzehnten nicht mehr überdacht worden. Klar ist: Wir bauen zu teuer. Und die Bodenpreise sind zu hoch, vor allem in Städten wie München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg oder inzwischen auch Berlin. Brandlhuber geht es um eine polyzentral organisierte Stadt, also nicht um eine pyramidale goldene bzw. teure Mitte und dann sozial und Einkommens-mäßig abflachende Ränder. Er widersetzt sich diesen Zuständen mit architektonischen Guerilla-Taktiken. In Berlin hat er gemeinsam mit drei Partnern ein Gelände in einem Gewerbegebiet gekauft und dort betreibt er jetzt eine Fabrik für neue Lebensformen. Gemeinsam mit Flüchtlingen baut er Prototypen des zukünftigen Wohnens. Brandlhuber entwirft und schlägt vor – gemeinsam wird dann variiert. Wichtig ist ihm der nicht determinierte Raum, den sich jeder selbst nach seinen Vorlieben aneignen kann. Ob nun als Flüchtling ganz neu im Land oder als Deutscher hier geboren. Brandlhuber wartet nicht unbedingt auf Genehmigungen für seine Bauvorhaben, nein, er nutzt Gesetzeslücken und traut sich einfach etwas, erklärt er sein Prinzip nach der Veranstaltung in der Münchner TU: 5 ZUSPIELUNG Brandlhuber Arno Brandlhuber propagiert neue hybride Formen. Und er hinterfragt scheinbar unumstößliche Gesetzmäßigkeiten in Zeiten, in denen sowieso nichts mehr sicher und gewiss ist. In Gewerbegebieten darf nicht gewohnt werden. Warum eigentlich nicht? Seite 11 6 ZUSPIELUNG Atmo/Ausstellung Berlinische Galerie, dann drüber Ein langgestreckter Raum mit einer installativen Büro-Skulptur: Ein rund 30 Meter langes Regal steht da und in ihm stehen unzählige Aktenordner mit Unterlagen zu Berliner Bauvorhaben. Dazu kommen noch rund 100 verpackte Architektur-Modelle, die zu Bauwettbewerben eingereicht, aber nie verwirklicht wurden. „The Dialogic City – Berlin wird Berlin“ heißt diese Ausstellung in der Berlinischen Galerie. Eröffnet wurde sie Mitte September zum Auftakt der Berlin Art Week 2015. Noch bis Ende März kann der Besucher das irreal lange Regal entlang schlendern und sich von den beschrifteten Rücken der Aktenordner in architektonische Gedankenwelten versetzen lassen. Berlin könnte nämlich auch ganz anders aussehen. Wie viele unterschiedliche Berlins sind vorstellbar? Wie viele mögliche Städte schlummern in diesen bürokratisch korrekt abgehefteten Unterlagen? Gewissermaßen unter dem Pflaster liegt eine zweite, eine imaginäre Stadt. Und eine dritte. Eine vierte. Eine fünfte. Architekt Arno Brandlhuber hat sich dieses faszinierend komplexe Panoptikum unterschiedlicher unsichtbarer Citys ausgedacht und mit einem Kollegen und einem Grafikdesigner verwirklicht. Dazu sieht und hört man Ausschnitte aus Videoarbeiten von Heinz Emigholz und Christian von Borries, wo es um Gemeinschaft & Individualität geht. Auch um Flüchtlinge. Und keineswegs nur um Berlin. Die Frage ist, auf welche Art und Weise wir mit einer Stadt in Dialog treten? Welche Möglichkeiten des interaktiven Handelns es gibt? 6 ZUSPIELUNG Atmo/Ausstellung Berlinische Galerie hoch, dann drüber Entlang der Wand gegenüber des Regals mit den Aktenordnern hatte Brandlhuber mehrere tausend Exemplare des Buches „Dialogic City“ aufgestapelt, das zur Ausstellung erschienen ist. Jeder Besucher durfte ein Exemplar mit dem silbern glänzenden Cover mitnehmen. Nach kurzer Zeit waren sie alle weg. Auch das ein dialogisches Prinzip. Autoren, Künstler, Architekten, Stadtplaner, Politiker und viele andere äußern sich im Buch zu Seite 12 Fragen wie Boden & Eigentum oder Fremdbild & Eigenlogik. Und Ausstellungsbesucher fühlen sich animiert, das zu lesen. Brandlhuber möchte Stadtdebatten anregen. Das tat er kürzlich auch mit seinem Vorschlag, jedes Wohngebäude in Berlin um eine Etage aufzustocken: Oben könne ein teures Penthaus draufgeschustert werden, vorausgesetzt der Hauseigentümer stelle die gleiche Fläche im Erdgeschoss desselben Hauses für 6 Euro 50 Sozialmiete pro qm dauerhaft zur Verfügung. So gebe es eine soziale Mischung nicht nur im Viertel, sondern bis ins Haus hinein. 80% aller Berliner Hausbesitzer haben dem laut Brandlhuber bei einer Umfrage zugestimmt, 60% stimmten sogar einem freien Belegungsrecht durch die Stadt zu. Das heißt, der Berliner Senat würde für die Miete aufkommen und könnte die Wohnung dann an Migranten, Hartz-4-Empfänger oder wen auch immer vergeben. Brandlhuber geht es neben der Behebung des konkreten Wohnungsmangels vor allem darum, … 7 ZUSPIELUNG Brandlhuber Die Flüchtlinge, die, so Brandlhuber, deutsche Neubürger werden, brauchen, nicht anders als wir alle, bezahlbare Wohnungen. Das Aufstocken von bestehenden Gebäuden würde ziemlich schnell neuen Raum kreieren. Weil im privaten Eigentumsrecht dafür aber erst noch einige juristische Hürden aus dem Weg geräumt werden müssten, macht der Architekt Aufstockungs-Vorschläge auch für Bauwerke in öffentlicher Hand, etwa für das geschwungene Flughafengebäude in Tempelhof. Das kostet den Berliner Senat sowieso schon 16 Millionen Euro pro Jahr für den laufenden Unterhalt. Trotzdem gibt es immer noch kein Nutzungskonzept, und die Kosten für die notwendige Sanierung steigen – je nach Gutachter liegen sie aktuell zwischen 250 und 400 Millionen Euro. Warum also dem Tempelhofer Gebäuderiegel nicht einfach ein achtstöckiges Wohnhaus aufsetzen, sofern man den Denkmalschutz von dem Konzept überzeugen kann? Seite 13 8 ZUSPIELUNG Brandlhuber Die Flüchtlinge, die bisher in ein paar zugigen Tempelhofer Hangars untergebracht sind, könnten gewissermaßen nach oben ziehen. Arno Brandlhuber will über dem alten Flughafengebäude ein offenes Zwischengeschoss frei lassen. Die neuen Wohnungen darüber ruhten dann auf Stelzen und den vorhandenen Treppentürmen: 9 ZUSPIELUNG Brandlhuber In die alten Flughafen-Hallen darunter könnte die gesamte Erschließung eingepasst werden – Schulen, Kindergärten, Parkplätze, Geschäfte, Restaurants, Kinos sowie Chris Dercon mit seinem Ableger der Berliner Volksbühne. Die Generalsanierung würde Sinn machen, das Tempelhofer Feld wäre nach wie vor frei – und die Stadt hätte 3.000 neue Wohnungen. Die könnten ziemlich schnell und sehr kostengünstig gebaut werden, sozusagen als bewohnbarer Rohbau, wie das Arno Brandlhuber bei seinem Atelierhaus in der Brunnenstraße 9 schon vorgemacht hat: Ein purer Sichtbetonbau, den sich jeder selbst ausbauen und umgestalten kann. Große, multifunktionale Räume. Heizung, Installation und Fenster sind drin, der Rest ist Geschmackssache. Fassadenteile teilweise aus Polycarbonat, das mit seiner milchigen Lichtdurchlässigkeit atmosphärische Stimmungen erzeugt, wie das sonst nur in Häusern mit japanischen Papierwänden erlebbar ist. Die übliche Funktionstrennung von Wohnen und Arbeiten hat Arno Brandlhuber hier aufgehoben. Er wohnt über seinem Büro. Und als eigener Bauherr konnte er Bekannte und Freunde mit ins Boot holen, für Baukosten von nur 1.000,Euro pro Quadratmeter. Wer sich also eine eigene Wohnung wünscht, kann sie sich bei Brandlhuber auch leisten: 10 ZUSPIELUNG Brandlhuber Gute Architektur ist mit der Schlüsselübergabe nicht fertig, erst die eigene Erfahrung im Raum stellt Dinge in Frage, weckt Begehrlichkeiten und lässt den Bewohner manches Detail nachbessern. Work in Progress. Seite 14 Das andere Extrem, das der Regularien, der eng gefassten Baugesetze und unverrückbaren Bestimmungen, konnte man diese Woche im Münchner Haus der Architektur erleben. Dorthin hatte der bayerische Ableger des Bundes Deutscher Architekten unter dem Titel „Heimat in der Ferne“ eingeladen. Die Frage des Abends lautete: Wo und wie soll bezahlbarer Wohnraum für Flüchtlinge geschaffen werden? Auch hier ging es darum, Qualität zu sichern, Baukosten niedrig zu halten und Prozesse zu beschleunigen. Nur die Worte waren andere: Gebäudeertüchtigung, Fehlbelegung, Anschlussunterbringung, Wohnbauförderung, Musterflächenbedarfsplan, Brandschutzmaßnahme. Immerhin fiel auch der schöne Begriff der Willkommens-Architektur! Aber man muss das gar nicht gegeneinander ausspielen. Die frechen Visionen eines Arno Brandlhuber klingen einfach verlockender als das brave Behördendeutsch. Dabei sind auch die Mitarbeiter der Regierung von Oberbayern wie etwa die Architektin Lore Mühlbauer voller Empathie bei der Sache: 11 ZUSPIELUNG Mühlbauer (da ist ein Ton drauf, noch wegfiltern) Was Lore Mühlbauer oder die Ministerialrätin Gabriele Engel von der Obersten Baubehörde Bayerns dann erzählten, das beeindruckte. Fakt ist: Schon für den Bedarf der Menschen, die seit langem in Deutschland leben, wurden seit 2009 750.000 Wohnungen zu wenig gebaut. Von den 800.000 Flüchtlingen, die bis Ende des Jahres kommen, wird etwa die Hälfte bleiben. Da geht es dann nicht mehr um Notunterkünfte, sondern um lebenswerten Wohnraum. Von der Erstaufnahme zur Sozialwohnung. Klar wurde: Die zuständigen Behörden tun, was sie können. Viel Muße zum Nachdenken haben sie nicht. Und vor Ort, in Gemeinden und Städten, kippt die Stimmung oft überraschend schnell, wenn Regierungsvertreter wie Lore Mühlbauer um konkrete Hilfe bitten: 12 ZUSPIELUNG Mühlbauer (da ist ein Ton drauf, noch wegfiltern) Ministerialrätin Gabriele Engel ließ keinen Zweifel daran, wie konzeptlos man teilweise aufgrund des enormen Drucks agiert. Auf die Frage, welche Seite 15 Strategien es gebe, Migranten in Gegenden unterzubringen, in denen die Grundstückspreise niedriger seien, also im ländlichen Raum, antwortete sie mit bewundernswerter Offenheit: 13 ZUSPIELUNG Engel Die angebliche Zurückhaltung der Architekten in diesen Fragen hat in den letzten Wochen einige Kommentatoren irritiert. Anfang November titelte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Allein für Flüchtlinge müssen Hunderttausende von Häusern gebaut werden. Der Wohnungsbau entscheidet mit über die Zukunft des Landes. Aber warum schweigen die Baumeister? 14 ZUSPIELUNG Meck …, sagt Andreas Meck, freier Architekt und Hochschullehrer in München. 15 ZUSPIELUNG Meck Die Probleme liegen weniger bei den Architekten als in den Grundvoraussetzungen des Bauens in unserem Land. Die Stadtplanerin Sophie Wolfrum vom Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung der TU München und ihre Studenten beschäftigen sich im Winter-Semester mit einer möglichen Verdichtung der Münchner McGraw-Kaserne. Titel des Projekts: „Einfach Wohnen. zwischen architektonischer festlegung, möglicher mitbestimmung und offenheit zur räumlichen aneignung“. Das prinzipielle Problem, sagt Sophie Wolfrum, ist neben den hohen Bodenpreisen in den Ballungszentren der deutliche Rückgang der öffentlichen Förderung: 16 ZUSPIELUNG Wolfrum Seite 16 Authentisch geht nicht Abschied von einem paradoxen Ideal Von Beate Meierfrankenfeld (Musikakzent) Spr.: Es gibt eine fast magische Eigenschaft, die alle gerne hätten, die einem aber so leicht nicht zugesprochen wird. Der neue Labour-Chef Jeremy Corbyn, Barack Obama und Hannelore Kraft sollen sie besitzen, Justin Bieber dagegen nicht – sagt jedenfalls Rod Stewart, der von sich selbst wohl das Gegenteil annimmt. Dem kühlen Peer Steinbrück wurde sie bescheinigt, als er mitten im harten Wahlkampf öffentlich Tränen vergoss, der kontrollierten Angela Merkel, als sie die mitfühlende Flüchtlingskanzlerin wurde: Authentizität. Ein großes, ein altes Wort – und eines mit neuer Konjunktur: Wähler wollen authentische Politiker, Fans authentische Idole, und sogar die Kunst wird oft gerade dafür geschätzt, nicht künstlich zu sein. Auf Theaterbühnen präsentieren echte Menschen ihre echten Geschichten, Filme werden „nach einer wahren Begebenheit“ gedreht, ein Autor wie Karl Ove Knausgård macht sich einen Namen mit einem Romanprojekt, das in sechs Bänden und über Tausende von Seiten von seinem Leben erzählt. „Authentisch, bis es weh tut“, urteilt die Kritik. Und sie meint das als Lob. Zit.. „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.“ Seite 17 Spr.: Das könnte beinahe von Knausgård stammen, ist aber aus den „Bekenntnissen“ von Jean Jacques Rousseau. „Einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen“ – das wäre noch immer eine passende Definition der Authentizität. Das Authentische wird als das Ureigene gedacht, es ist geworden, nicht gemacht, es folgt keinem Kalkül, sondern ist, was es ist. Gegenbegriffe sind Konvention, Inszenierung oder Image, aber auch Repräsentation, Diskurs, Ironie, Reflexion. Folglich gelten Gefühl, Instinkt oder Tat im Vergleich zum Verstand meist als authentischer. Darin liegt ein Erbe der frühen Wortbedeutung: Im Altgriechischen stand „authentes“ [sprich: „authéntäs“] für den Mörder oder Selbstmörder, den Täter allgemein. Wo einer authentisch ist, zaudert er nicht, sondern handelt, und das sozusagen aus dem Antrieb seines Wesens heraus. Zit.: „Der Wilde lebt in sich selbst, …“ Spr.: … will sagen: authentisch …, Zit.: „… der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben“, Spr.: … schreibt Rousseau in seinem „Diskurs über die Ungleichheit“. Und Martin Heidegger erfand das Substantiv des „Man“ als Bezeichnung für das „Neutrum“ der „Anderen“ und ihre Herrschaft im „alltäglichen Miteinandersein“. In „Sein und Zeit“ heißt es: Zit.: „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ‚die Öffentlichkeit‘ kennen.“ Seite 18 Spr.: Die „Meinung der anderen“, die „Öffentlichkeit“: Das ist der mächtige Antagonist des Authentischen. Darin liegt allerdings etwas Paradoxes, denn zugleich kann man sich Authentizität nicht gut selbst attestieren, sondern nur in eben der „Meinung der anderen“ verdienen. Andererseits – und damit dreht sich das Paradox noch eine Verschraubung weiter – ist derjenige, der sich eines Beobachters bewusst ist, genau nicht mehr authentisch, sondern bereits wieder in einer Rolle. Das Ideal der Authentizität will trotzdem selbst für die öffentlich agierende Politik niemand aufgeben, schließlich scheint es sich gegen Unlauterkeit und Opportunismus zu stemmen, die größten Untugenden der Mediendemokratie. Doch auch diese Annahme hat etwas Widersprüchliches: Authentizität wird stets als Kompliment betrachtet, als Wert an sich, ermöglicht aber gerade keine Bewertung politischer Positionen. Das zeigt der montägliche Blick nach Dresden: Auf der Authentizitäts-Skala rangieren die Pegida-Marschierer sicher weit oben – dass ihre Parolen schon dadurch geadelt würden, daran glauben wohl nur sie selbst. Die Rede vom Authentischen ist ganz prinzipiell keine taugliche Leitidee der Politik: Sie nimmt eine faktische, keine normative Perspektive ein, sie denkt politische Willensbildung als Dynamik des Selbstausdrucks von Gruppen und Strömungen. Damit wäre die politische Arena schlicht ein Kampfplatz, auf dem sich quasi naturhafte Kräfte messen. Natur aber ist etwas kategorial anderes als Politik, denn die muss nicht nur das, was ist, organisieren, sondern auch einen Begriff davon entwickeln, was sein soll. Sie muss Argumente liefern, vielleicht sogar Utopien entwerfen, darüber debattieren, wie sich eine Gesellschaft selbst verstehen will – und welche Seite 19 moralischen Folgen dieses oder jenes Selbstverständnis hätte. Die Berufung auf Authentizität hilft bei all dem nicht weiter. Konkret: Einfach mal ganz authentisch rauszulassen, die vielen Flüchtlinge hier nicht haben zu wollen, ist noch kein politischer Akt, sondern etwas wie das Lamento über einen Juckreiz. Man müsste sich schon die Mühe machen, ein paar grundsätzliche Konsequenzen des Ankratzens gegen diese Befindlichkeit durchzuspielen: Soll es gar kein Asylrecht mehr geben? (Viel Asylrecht, das in Klammern, sieht das Grundgesetz schon jetzt nicht mehr vor.) Soll man Syrien zum sicheren Herkunftsland erklären? Den Flüchtlingsstatus restriktiver zuteilen? Und wie verhielte sich all das zu den Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie, zu individuellen Rechten und Minderheitenschutz zum Beispiel? Und schon wird es wieder so lästig verwickelt, so unauthentisch, verkopft, kodifiziert, bürokratisch. Das Lob des Authentischen dagegen feiert Unmittelbarkeit als Echtheit – und pflegt eine robuste Skepsis gegenüber Ämtern, Institutionen und dem repräsentativen System überhaupt. Berufspolitiker versuchen dem mit manchmal simplen Signalen zu begegnen: Bodenständigkeit, einfacher Sprache oder privaten Botschaften. Auch das hat jedoch einen Haken: Zit.: „Der Volksvertreter kann per Definition nicht authentisch sein. […] Er sollte qua Beruf immer wieder eine andere Perspektive, eine andere Rolle einnehmen als die rein individuelle“, … Spr.: … stellte Christopher Lauer vor einigen Monaten in der ZEIT fest. Lauer war 2011 für die Piraten in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen, Seite 20 jene Partei also, die die Unmittelbarkeit als digital gestützte Transparenz direkt im Parlamentarismus praktizieren wollte. Noch ein Paradox – eines, an dem die Piraten sich aufgerieben haben. Inzwischen ist Lauer kein Mitglied mehr, und zur Forderung der „Volksnähe“ schreibt er 2015: Zit.: „In Deutschland wird von Volksvertretern erwartet, […] so zu tun, als wäre jedes Partikularinteresse ihr ureigenes. […] Ein solches Verhalten ist nicht glaubwürdig, denn die meisten Partikularinteressen widersprechen einander.“ (Musikakzent) Spr.: Politik und authentisch geht also nicht, weder für den Bürgerwillen noch für die Repräsentanten. Und im eigenen, im wirklichen Leben? Wäre es da nicht erstrebenswert, an das wahre Selbst heranzukommen? Das Selbst jenseits der Images, Rollen und Profile? Doch dieses Selbst gibt es nicht. Wir alle sind konstruierte und multiple Wesen, Knotenpunkte von Einflüssen, Bedeutungen, Bildern. Die Psychologie und ihre populären Ableger haben gelehrt, uns selbst als unsere Geschichte zu begreifen, das Ideal der Authentizität sucht also in dieser Geschichte nach Momenten des Unverfälschten. Es ist naheliegend, sie dort zu vermuten, wo egotaktische Berechnung scheitert. Dann wären wir nicht in der Selbstbestimmung, sondern im Schicksal besonders authentisch. Auch das wieder ein Paradox, ein zartdialektisches diesmal: Der ohne falsche Rücksichten agierende authentische Tatmensch wird zum Leidenden, der offenlegt, was ihm widerfahren ist. Seite 21 Die Kultur der „Beichte“ – im Netz, in Talkshows und auch in einem so ambitionierten Projekt wie dem Romanzyklus von Karl Ove Knausgård praktiziert – sucht entsprechend nicht nach persönlicher Schuld, sondern nach existenzieller Verstrickung. Knausgård wird in seinen Büchern auch physisch als Schmerzensmann beglaubigt, der allein durch den Regen marschiert, trinkt, seinen Bruder attackiert, sich autoaggressiv das Gesicht zerschneidet. Und Rousseau schrieb seine „Bekenntnisse“ in bedrängter Lage: Unter anderem, weil er seine fünf Kinder vor dem Findelhaus ausgesetzt hatte, wurde er heftig angefeindet – und wollte seine Handlungsweise aus seiner individuellen Natur heraus erklären. Ein vertrauterer Verwandter des Schicksals ist der Trieb: Nicht wir machen etwas mit ihm, sondern er mit uns. Zugleich ist er eine durch und durch subjektive Macht – die passende Vorlage also für ein Narrativ der Authentizität: Trieb, Blut, Sex und Leidenschaft als realere Realität hinter all den Masken von Selbstkontrolle und sozialen Regeln. Doch was spricht eigentlich für diese Hierarchie der Echtheit? Warum, um alles in der Welt, sollte der Mensch im Affekt mehr er selbst sein als beispielsweise im Diskurs oder in der Beherrschung eines kulturellen Codes? Es gibt einfach dies und das in ihm, Punkt. Nicht einmal das omnipräsente Medienmaterial lässt sich als das Uneigentliche aus einer eigentlichen Identität aussortieren, sondern gehört zu ihr dazu. Die gute Nachricht lautet: Das ist gar nicht schlimm. Statt „Sei du selbst!“ wäre die Maxime: „Erfinde dich neu!“ – und zwar auch im Sekundären, in der Nervosität höchster Empfänglichkeit für alles, was da draußen so passiert. Dass sich darin mindestens so viel Pathos entwickeln lässt wie in der Selbsterforschungsqual, führt ein Autor vor, der auch schon mal die Rasierklinge an die eigene Stirn gelegt hat – allerdings nicht wie Karl Ove Seite 22 Knausgård in einsamer Verzweiflung auf der Kneipentoilette, sondern in einem kalkuliert medialen Akt vor laufender Literaturbetriebskamera: Rainald Goetz. Zit.: „Drin tobte auch schon das unglaubliche, das ungeheuerliche Sozialmonster, 2000-köpfig, alle REDETEN, es peitschten die aus diesen vielleicht ja auch 3000 Köpfen hervorsprühenden Kommunikationen durch die Hallen und Räume, und wer da war, einfach nur körperlich anwesend, wurde ganz automatisch und unwiderstehlich mit hineingerissen in den tosenden Trubel und selbst Teil dieser Kollektivgerätschaft…“ Spr.: So beschreibt Goetz ein gediegenes gesellschaftliches Ereignis wie den Herbstempfang der F.A Z. Der Ton von Goetz-Texten bewegt sich zwischen Rausch und Rede, Tratsch und Theorie, Elan und Bericht, Obsession und Spiel. Sie sind einer ebenso hybriden wie wendigen Subjektivität auf der Spur, die immer in Kontexten steht und sich zugleich ihnen gegenüber behaupten will. Wohltemperiert kommt das nicht daher, sondern durchaus aufgeladen, doch die Unbedingtheit eines solchen Subjekts kann immer nur bedingt sein. Das Authentische gibt es hier höchstens noch als das „Authentoide“, als momentanen Impuls, der sich all der Paradoxien in seinem Anspruch auf Selbstsein bewusst ist, sich nicht zensiert, aber auch nichts Ureigenes zur Entfaltung zu bringen hat. Und der seine epiphanischen „Gegenwärtigkeitsflashs“ schon mal in ungebremstem „Loslabern“ erleben kann – mittendrin in der kommunizierenden „Kollektivgerätschaft“. Für Martin Heidegger war genau die ein großer Entfremdungs-Apparat: Zit.: „Das im Gerede sich haltende Dasein ist […] von den primären und ursprünglich-echten Seinsbezügen zur Welt […] abgeschnitten.“ Seite 23 Spr.: Interessanterweise verbuchte Heidegger auch die Neugier auf der Seite dieses sich ständig entwurzelnden „Modus des In-der-Welt-seins“. Im Goetz-Kosmos dagegen ist Neugier ein – gelegentlich heiß laufender – Motor von Kunst und Leben. Ihr Impetus ist, wenn er „weltwärts“ will, auch „geredewärts“ unterwegs, wie der Schriftsteller es Ende Oktober in seiner Büchnerpreisrede nannte. Und diese Haltung ist gegenüber trotziger Eigentlichkeits-Emphase zweifellos die avanciertere, ausgefuchstere, erwachsenere Position für alle, die expressive Gesten lieben. Wir haben kein echtes Ich – bringen wir es ganz authentoid zur Geltung. Seite 24 Jan Potocki zum 200. Todestag Von Christine Wunnicke Sprecher „Der neunundsiebzigste Band behandelte den Ursprung der Magie in den Zeiten des Zoroaster. Der achzigste war verschiedenen Methoden der Wahrsagung gewidmet wie der Rhabdomantie, der Hydromantie und der Geomantie. Von diesen Lügen kehrte sich Band einundachzig ab und behandelte die Geometrie. Den zweiundachzigsten füllte die Arithmetik, den dreiundachzigsten die Algebra, den vierundachzigsten die Trigonometrie.“ Sprecherin Es war einmal in Salamanca ein Universalgelehrter, Don Diego Hervas, der ein Buch in hundert Bänden schrieb, das alles enthielt, was die Menschheit wusste. Sprecher „... der vierundfünfzigste Band die Geschichte, der fünfundfünfzigste die Mythologie, der sechsundfünfzigste die Chronologie, der siebenundfünfzigste die Biographie ...“ Sprecherin Nach fünfzehn Jahren, nach fünfundvierzigtausend Stunden exakt geplanter Arbeit, war das Werk vollendet. Don Diego ließ die hundert Manuskriptbände schön binden und unternahm zur Feier des Tages eine kleine Reise nach Asturien. Als er nach Hause kam, lag sein Werk in Fetzen im Zimmer verstreut. Sprecher Seite 25 „Die Ratten, vom Duft des Buchbinderleims angelockt, hatten alles geschnappt, zernagt, zerfressen. Als Hervas wieder zu sich kam, sah er einen der Unholde das letzte Blatt der ‚Transzendentalen Geometrie’ in sein Rattenloch zerren.“ Sprecherin In acht Jahren rekonstruierte Don Diego sein Mammutwerk. Kaum war es fertig, stellte er fest, dass Künste und Wissenschaften inzwischen weiter gediehen und seine Abhandlungen längst veraltet waren. Vier weitere Jahre benötigte er, um alles auf den letzten Stand zu bringen. Sprecher „Mein Herr, sagte der Verleger Moreno, gerne übernehme ich Ihre Polymathesis in mein Programm, doch muss ich sie bitten, sie auf fünfundzwanzig Bände zu kürzen.“ Sprecherin Diego Hervas verzichtete auf diesen Buchvertrag. Stattdessen widmete er sich dem hundertundersten Band, der den Ursprung des Bösen behandeln sollte. Zu diesem Zweck stellte er Experimente an, vor allem chemischer Natur. Dann wurde er krank: Nierensteine, Gicht und – Sprecher - eine finstere Melancholie. Sprecherin Er wickelte sich in ein Leichentuch und trank Gift, wohl nach einem Rezept aus dem einunddreißigsten Band seines Buches. Sprecher Seite 26 Und dies war das Ende des Atheisten Don Diego Hervas. **** Trenner „Kratima in Mode Plagal A“, ca. 2:00 *** Sprecherin Die „Handschrift von Saragossa“, der einzige Roman des polnischen Schriftstellers Jan Graf Potocki, ist voll von Fanatikern: Ein Mann tut nichts anderes, als sich zu duellieren und Duellregeln in Listen zu kompilieren. Ein Privatier verbringt seine gesamte Zeit damit, Tinte herzustellen, und raucht dazu täglich exakt 24 Zigaretten. Eine junge Jüdin beschwört allnächtlich die Geister von Castor und Pollux nach allen Regeln der Kabbala, mit dem Zweck, sie zu ehelichen. Ein Herzog widmet sein Leben der Mathematik und fasst sämtliche Belange der menschlichen Seele in Formeln. Sprecher „Das Streben nach Glück entspricht der Auflösung einer Gleichung höheren Grades. Sie kennen, Madame, den letzten Exponenten und wissen, dass er der Quotient aller Wurzeln ist, und bevor Sie die Divisoren erschöpft haben, kommen Sie zu den imaginären Wurzeln. Und darüber vergeht der Tag in einer steten Entzückung des Rechnens und Ausrechnens. So ist es auch mit dem Leben: Dort kommen Sie ebenfalls eines Tages zu den imaginären Zahlen, die Sie als reellen Wert angesehen haben – und doch haben Sie inzwischen Ihr Leben gelebt und sind sogar tätig gewesen!“ Sprecherin Der ganze Roman eine idée fixe: Wie kann man alle Geschichten der Welt in einem einzigen Buch erzählen, wie tief kann man Rahmenhandlungen ineinander verschachteln, wieviele unglaubwürdige Icherzähler passen auf neunhundert Seiten? Seite 27 Sprecher „‚Obschon ich den Worten des Zigeunerhäuptlings aufmerksam gelauscht habe’, ergriff Don Pedro Velasquez das Wort, ‚vermag ich keinen Zusammenhang in ihnen zu entdecken. Ich weiß kaum, wer spricht und wer zuhört. Bald erzählt der Marqués de Val Florida seiner Tochter von seinen Abenteuern, bald erzählt die Tochter des Häuptlings davon, und nun erzählt sie der Häuptling uns. Es ist ein wahrhaftes Labyrinth! Ich finde, man sollte solche Romane nach Art der chronologischen Tafeln in mehreren Spalten schreiben.’“ Sprecherin Dabei beginnt es so einfach. Anfang des 18. Jahrhunderts verirrt sich ein junger wallonischer Offizier in der Sierra Morena und gerät in einer verlassenen Herberge in die Fänge zweier muselmanischer Schwestern, in deren Armen er eine lustige Nacht verbringt. Als er am Morgen aufwacht, liegt er unter einem Galgen, rechts und links flankiert von den verwesenden Leichen zweier Gehenkter. Sprecher Wie die Melodie einer Spieluhr wiederholt sich die Geschichte immer wieder. Immer wieder eine Liebesnacht zu dritt. Immer wieder der Galgen. Die Jüdin landet dort nach einem Rendezvous mit Castor und Pollux. Der mathematische Herzog wird von seiner Stiefmutter und ihrer Zofe verführt, die sich ebenfalls flugs in Gehenkte verwandeln. Auch der Bruder der Kabbalistin bleibt nicht verschont. Es wird zum amüsanten Zeitvertreib, allmorgentlich neue Opfer unter diesem Galgen einzusammeln. Ein paar rote Fäden – der flotte Dreier, der Galgen, die Mathematik, der Fanatismus ... Sprecherin Seite 28 Und das Gegenteil von Fanatismus. Die großen Scheichs der Gomelez wollen den wallonischen Offizier zum Islam bekehren und veranstalten zu diesem Zweck ein Spektakel, das letztendlich neunhundert Seiten füllt – aber schließlich finden sie es eher liebenswert, dass er standhaft katholisch bleibt. Der wallonische Katholik heiratet wohlgemut seine beiden mohammedanischen Cousinen. Die Jüdin, die Castor und Pollux leid ist, will unbedingt einen Muselmanen zum Mann, dann nimmt sie aber den spanischen Mathematiker. Der Ewige Jude, der mit seiner gesamten Lebensgeschichte von Kleopatras Zeiten an aufwartet, stellt sich ebenfalls als Muslim heraus. Und alles ist schlichtweg gelogen. Der ganze Spuk, die ganzen Geschichten, die Teufelinnen und Vampire, die Ehre, die Liebe, die Geometrie – ein einziger Mummenschanz. ‚Die Handschrift von Saragossa’ hat ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Polymathesis des Diego Hervas: Zernagt, zerfressen, zerfetzt, in Fragmenten und Plagiaten ist sie auf uns gekommen, und seit den 1960erJahren und bis heute gibt es einen ganzen – fanatischen! – Zweig der Literatur¬wissenschaft, der immer wieder aufs Neue erfolglos versucht, eine Urfassung zu rekonstruieren. Sprecher Der Teufel kommt auch vor. Er nennt sich 'Don Belial' und spricht sehr sympathisch im Ton der französischen Aufklärung. Die Vernunft ist genauso gelogen wie die Untoten der Sierra Morena. 'Die Handschrift von Saragossa' ist das schönste, frustrierendste Buch der Welt. **** Trenner „Kratima in Mode Plagal A“, ca. 4:40 *** Sprecherin Die tausend Geschichten des „Manuscrit trouvé à Saragosse“ – Potocki schrieb grundsätzlich nur auf Französisch – sind kaum mehr als ein Nachsatz zu einem Seite 29 höchst seltsamen, hektischen Leben. 1761 in der heutigen Ukraine in eines der einflussreichsten polnischen Adelshäuser geboren, verließ der Graf schon mit neun Jahren seine vom Bürgerkrieg zerrissene Heimat. Schulbildung in der Schweiz, Studium in Italien, der Wunsch, Mathematiker zu werden, oder besser Chemiker, Historiker, Politiker, General? Seine Kavalierstour nahm eine untypische Route: Spanien, Marokko, Tunis, Konstantinopel, Ägypten. Auf einem Schiff der Maltheserritter jagte er berbische Piraten im Mittelmeer. Da war er neunzehn. Sein erster wissenschaftlicher Aufsatz analysierte dann den Dialekt der Qazi-Kumuki im russischen Susdal. Er kartografierte den Archipel Liao Tung im Golf von Korea. Er legte ein Lexikon der Ritualformeln an, die tscherkessische Priester benutzen. Er erfand eine Geldprägemaschine und eine neue Methode der hebräisch-assyrischen Synopsis. (Was ist eine Methode der Synopsis? Eine Methode des Sprachvergleichs. Besser Synoptik?) Die slawische Archäologie als systematische Wissenschaft geht auf Potocki zurück, auch eine Inselgruppe im Gelben Meer trug eine Weile seinen Namen. Als Offizier der österreichischen Armee nahm er am bayerischen Erbfolgekrieg teil. Mit dem Luftschiffer Blanchard stieg er in den Himmel über Warschau auf, einen Pudel im Arm und einen türkischen Pagen am Rockzipfel. Als HofOrientalist des russischen Zaren sollte er ein Konzept zur Erschließung der asiatischen Territorien erarbeiten, und verlor sich dort in Details. Sprecher „Da sie hiermit den Gedanken der Seelenwanderung verbinden, halten es die Kalmücken für eine große Ehre, sich nach ihrem Tod von ihren Hunden auffressen zu lassen. Darum füttern sie ihre Hunde auch nie. Gibt es gerade keine Leiche zu fressen, schickt man sie in die Steppe zum Jagen.“ Sprecherin Gut zwanzig Bücher hat Potocki veröffentlicht, meist in der Auflage 100, wie es sich für einen Grandseigneur geziemtE?. Ein kühler Ton. Ein mildes Lächeln. Seite 30 Selbst WIESO SELBST? GIBT ES ANDERSWO AUCH KEINE HERZENSERGÜSSE? (nee, in den anderen Büchern auch nicht; in einem Roman würde man am ehesten Herzensergüsse erwarten, oder? Wäre "auch" klarer? BLEIBT BER DAS SELBST!!! (Martina, ich weiß nicht, was du meinst. Ändere es einfach, wie du möchtest!) in der „Handschrift von Saragossa“, diesem Paradestück der Proto-Romantik, sucht man nach Herzensergüssen vergeblich. Potockis Leidenschaften sind gebrochen, amüsiert, ironisch. Und sie kommen und gehen. Politisch ist er ein Blatt im Wind. Er schließt sich in Paris den Jakobinern an, dann distanziert er sich entnervt von der Revolution, er ist für Napoleon und gegen ihn, für und gegen die Teilung Polens, für und gegen die russische Großmacht. Nur eines vertritt er immer: Die Vernunft. Die Logik. Die schöne, klare Vernunft. ( KLINGT ABER ALLES SEHR UNVERNÜFTIG.. IMMER DAS GEGENTEIL DENKEN IST EIGENTLICH SEHR WIDERSPRÜCHLICH. Genau. Ich glaube an Potockis Vernunft auch nicht wirklich. Aber ich meine "die schöne, klare Vernunft" markiert genug Ironie. Wäre es besser, wenn man "nur an einem hält er standhaft fest" schreibt? (Es stand oben auch schon mal "die Vernunft ist gelogen") JA UND DANN ÄNDERE ES GLEICH SO WIE ES SICH GEHÖRT (ich weiß nicht, wie es "sich gehört"! Möchtest du "die schöne, klare – und immer zweifelhafte - Vernunft" schreiben? Mach einfach, wie du möchtest!) Sprecher „Die Freiheit ist eine Wissenschaft, die studiert sein will. Wer sich blind in sie verliebt, ist gefährlich und ohne Nutzen. Wer möchte einem Arzt vertrauen, der seine medizinische Ignoranz wettmachen will mit einem gewaltigen Eifer, alle Welt zu kurieren? London, im April 1790.“ Sprecherin Seite 31 Niemand wurde recht schlau aus dem Exzentriker Jan Graf Potocki. Gerüchte rankten sich um seine Person, man hielt ihn für einen Hochstapler, einen Geisterbeschwörer, einen Verrückten, für einen Atheisten und Muselmanen was vielleicht nicht ganz abwegig war- für einen Mädchenverderber und Goldmacher. Der junge Arzt Jean-Paul Marat in Paris verliebte sich so sehr in die romantische Person dieses undurchschaubaren Polen, dass er ihn zum Helden eines überschäumenden und sehr schlechten Briefromans machte, der mit dem echten Grafen gar nichts zu tun hatte. Jan Potocki war zweimal verheiratet und hatte sechs Kinder. Sie gediehen allesamt gut und machten standesgemäße Karrieren. Die zweite Ehe wurde 1809 geschieden, da war Potocki Ende 40 und krank: Die Spätfolgen eines tropischen Fiebers, die Syphilis ... Sprecher ... eine finstere Melancholie ... **** Trenner „Kratima in Mode Plagal A“ von Anfang, bisschen unterlegen *** Sprecherin Nach einer diplomatischen Reise nach China veröffentlichte er rasch noch ein paar Bücher, darunter einen archäologischen Atlas von Russland und ein sechsbändiges Werk namens „Prinzipien der Chronologie der zwölf Jahrhunderte, die den ersten olympischen Spielen vorangingen“. Auch richtete er noch einiges Unheil in den Fragmenten der „Handschrift von Saragossa“ an, vielleicht um die Nachwelt zu ärgern. Er hatte sich auf sein Landschloss in Uładówka in Podolien zurückgezogen und schloss dort immer öfter die Fensterläden. Am 30. November, 2., 11. oder 23. Dezember 1815 lud er in der Bibliothek seine Duellpistole und schoss sich eine Kugel in den Kopf. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief, aber eine letzte Handvoll Geschichten. Der Seite 32 Graf, so hieß es, habe monatelang, immer wenn der Ennui ihn plagte, am Deckelknopf seines Samowar gefeilt, bis er die richtige Passform für den Lauf der Pistole hatte. Oder es wurde berichtet, er habe nur die Erdbeere abgeknipst, die den Deckel der Zuckerdose zierte. Wieder andere behaupten, er habe ein wenig Familiensilber einschmelzen und sicherheitshalber gleich zu mehreren Kugeln gießen lassen. Ebenfalls wurde erzählt, dass er das Silber in die Kirche zum Segnen getragen habe, bevor er damit die Pistole lud. Der Freigeist habe sich für einen Vampir oder Werwolf gehalten und wollte sichergehen, dass er nicht nachts aus dem Grab stieg. -stopp- Seite 33
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