a. Univ.-Prof. Dr. Georg Hans Neuweg Gesundheits risiko Lehrerberuf? a. Univ.-Prof. Dr. Georg Hans Neuweg Leiter der Abteilung für Wirtschaftsund Berufspädagogik an der Johannes Kepler Universität Linz [email protected] Abstract Obwohl der Lehrerberuf in Teilen der Öffentlichkeit oft als Schonberuf dargestellt wird, sind hohe Belastung und psychische Erschöpfung vieler Lehrkräfte empirisch gut belegt. Der Beitrag referiert Daten zum Belastungserleben von Lehrkräften und geht sowohl bedingungs- als auch personenbezogenen Prädiktoren dieses Belastungserlebens nach. Als solche können vor allem eine hohe Arbeitsbelastung, insbesondere durch das Verhalten schwieriger Schülerinnen und Schüler, große Klassen und eine hohe Unterrichtsverpflichtung, geringe emotionale Stabilität, Extraversion und Verträglichkeit sowie spezifische berufliche Verhaltens- und Erlebnismuster identifiziert werden. Der Schlussteil des Beitrags wendet sich möglichen Präventions- und Interventionsmaßnahmen zu. Folgt man einem verbreiteten Aphorismus, dann haben Lehrkräfte vormittags recht und nachmittags frei; davon erholen sie sich während langer Ferien. In scharfem Kontrast dazu stehen Selbstauskünfte, in denen Lehrkräfte ihren Beruf als durchaus belastend beschreiben, sowie Medienberichte, in denen von einer hohen Burnout-Gefährdung von Lehrerinnen und Lehrern die Rede ist. Vor diesem Hintergrund widmet sich der folgende Beitrag dem Belastungserleben von Lehrkräften (Abschnitt 1) und seinen möglichen Ursachen (Abschnitte 2 und 3) sowie den wichtigsten Präventionsund Interventionsansätzen (Abschnitt 4). 1. Das Belastungserleben von Lehrkräften: relativ erschöpft, aber ziemlich zufrieden Hohe Belastung und Beanspruchung und eine ausgeprägte psychische Erschöpfung vieler Lehrkräfte sind sehr gut belegt. In verschiedenen Stichproben berufstätiger Lehrer wurde unter Einsatz psychologischer Testverfahren (z. B. Maslach Burnout Inventory) ein Burnout-Prozentsatz von 15–28 % ermittelt (SOSNOWSKY-WASCHEK 2013, S. 118). In kaum einem anderen Berufsfeld existieren vergleichbar hohe psychosomatische Beschwerden, oft mit der Folge krankheitsbedingter Frühpensionierung (CRAMER & BINDER 2015; LEHR 2014a, S. 948). Das deutsche Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) befragen in Deutschland im 6-Jahres-Intervall ca. 20 000 Erwerbstätige telefonisch u. a. zu ihren Arbeitsbedingungen und -belastungen. Diese Erwerbstätigenbefragung erlaubt einen Berufsgruppenvergleich. Unter anderem wird die selbsteingeschätzte psychische Erschöpfung erfragt: „Sagen Sie mir bitte, ob die folgenden gesundheitlichen Beschwerden bei Ihnen während oder unmittelbar nach der Arbeit häufig auftreten“ (Items: Kopfschmerzen; nächtliche Schlafstörungen; Magen- und Verdauungsbeschwerden; allgemeine Müdigkeit, Mattigkeit oder Erschöpfung; Nervosität oder Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit). Eine Reanalyse der im Jahre 2012 erhobenen Daten zeigt, dass die selbsteingeschätzte psychische Erschöpfung von Lehrkräften im Vergleich zu anderen Berufen hochsignifikant höher ist (CRAMER, MERK & WESSELBORG, 2014). Dabei scheint es, als wäre nicht speziell der Umgang mit Schülerinnen und Schülern, sondern die Interaktionskomponente an sich belastend. Das Personal in anderen sozialen Berufen (Sozialarbeiter, Sozial- und Heilpädagogen, Erzieher, Altenpfleger, Familienpfleger, Kinderpfleger, Arbeits- und Berufsberater u. ä.) artikuliert sich in der Befragung nämlich vergleichbar erschöpft. Die Befundlage zur Frage, wie sich die Befindlichkeit mit dem Dienstalter verändert, ist widersprüchlich. Während SCHAARSCHMIDT und KISCHKE aus der Potsdamer Studie (vgl. dazu 3.2) eine progressive Verschlechterung der Beanspruchungssituation über die Berufsjahre berichten (SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 90), bilanziert GEHRMANN (2013, S. 180) über mehrere Studien, dass der Anteil zufriedener Lehrkräfte einerseits, sich ausgebrannt fühlender Lehrkräfte andererseits vom Lebens- und Dienstalter unabhängig zu sein scheint. Danach liegt der Anteil der als beruflich sehr belastet Zeichnenden stabil bei ca. 25 bis 30 %; bis zu 70 % der Lehrerschaft kommen mehr oder weniger zufrieden durch den Berufsverlauf. Mehrere Studien zeigen, dass (deutsche) Lehrkräfte trotz hohen Belastungserlebens mit ihrer Berufswahl und ihrem Beruf mehrheitlich zufrieden sind (GEHRMANN 2013, S. 178). Auch in den BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragungen unterscheidet sich die berichtete Arbeitszufriedenheit (Beispielitem: „Wie zufrieden sind Sie mit Art und Inhalt der Tätigkeit?“) nicht signifikant von der in anderen sozialen oder sonstigen Berufen (CRAMER, MERK & WESSELBORG, 2014). 2. Bedingungsbezogene Faktoren: Arbeitsbelastung, schwierige Schülerinnen und Schüler, große Klassen, viele Stunden Depressive Störungen sind multifaktoriell bestimmt (LEHR 2014a, S. 951); welche Faktoren den vergleichsweise größten Einfluss auf die Belastung und Beanspruchung von Lehrkräften haben, ist bislang unklar (KRAUSE, DORSEMAGEN & BAERISWYL 2013, S. 64; CRAMER, MERK & WESSELBORG 2014, S. 153). Als Hauptursache für Befindensbeeinträchtigungen werden einerseits häufig Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Bewältigungsstile verantwortlich gemacht (KRAUSE & DORSEMAGEN 2014, S. 987). Ebenso wichtig wie dieser eher klinisch-psychologische Blick ist jedoch die stärker arbeitswissenschaftlich ausgerichtete Identifikation belastender objektiver Merkmale des Arbeitsplatzes und der Rahmenbedingungen der Berufsarbeit. Im Folgenden wird auf generelle arbeitsplatz- bzw. bedingungsbezogene, im nächsten Abschnitt auf personenbezogene Prädiktoren des Beanspruchungserlebens eingegangen. Die Analyse der Daten aus den BIBB/ BAuA-Erwerbstätigenbefragungen (CRAMER, MERK & WESSELBORG, 2014) weist die erlebte Arbeitsbelastung im Sinne externer Anforderungen als wichtigen Prädiktor aus (Beispielitems: „Wie häufig kommt es bei Ihrer Arbeit vor, dass Sie bis an die Grenzen Ihrer Leistungsfähigkeit gehen müssen?“, „Wie häufig kommt es bei Ihrer Arbeit vor, dass Dinge von Ihnen verlangt werden, die Sie nicht gelernt haben oder die Sie nicht beherrschen?“). Diese ist im Lehramt weitaus stärker als in sonstigen Berufen, andere soziale Berufe eingeschlossen. Über wichtige Facetten dieser Belastung gibt die Potsdamer Lehrerstudie Aufschluss; die Lehrkräfte geben als die belastendsten Bedingungen das Verhalten schwieriger Schülerinnen und Schüler, wissenplus 5–14/15 15 @ Wissenschaft | Forschungsbeiträge große Klassen und den Umfang der Unterrichtsverpflichtung an (SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 91, 93). Den BIBB/BAuAErwerbstätigenbefragungen ist außerdem zu entnehmen, dass die Lärmbelastung (Einzelitem: „Wie häufig arbeiten Sie bei Lärm?“) im Lehramt weitaus stärker als in anderen sozialen Berufen und dort wiederum stärker als in anderen Berufen ist, im Vergleich zur Arbeitsbelastung aber nur schwache prädiktive Bedeutung für psychische Erschöpfung hat (CRAMER, MERK & WESSELBORG, 2014). Die hohe Arbeitsbelastung wird vermutlich nicht nur durch die im Berufsgruppenvergleich unauffällige Arbeitszufriedenheit zum Teil kompensiert. Auch eine hohe soziale Unterstützung (gute Zusammenarbeit im Kollegium, wechselseitige fachliche und emotionale Hilfe) hat positive Effekte auf die Gesundheit von Lehrkräften (SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 91; KRAUSE & DORSEMAGEN 2014). Sie wurde in den BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragungen ebenfalls erfasst (Beispielitem: „Wie oft bekommen Sie Hilfe und Unterstützung von Kollegen, wenn Sie diese brauchen?“). Es zeigt sich, dass sich die soziale Unterstützung – entgegen verbreiteter Annahmen – nicht von der in anderen Berufen oder anderen sozialen Berufen unterscheidet (CRAMER, MERK & WESSELBORG, 2014). 3. Personenbezogene Faktoren: emotionale Stabilität, Extra version, Verträglichkeit und Distanzierungsfähigkeit 3.1 Der Einfluss der Persönlichkeit Ein aktuelles internationales Review, in das insgesamt 21 Studien eingingen, weist eindeutig auf Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit, gefasst über das etablierteste Modell, das sog. Fünf-Faktoren-Modell („Big Five“), und subjektiver Beanspruchung hin (CRAMER & BINDER 2015). Vor allem hohe Neurotizismus-Werte (Facetten: Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, soziale Befangenheit, Impulsivität, Verletzlichkeit) sind klare Hinweise auf erhöhtes Beanspruchungserleben und Burnout-Risiko. 20 der 21 Studien finden entsprechende Zusammenhänge. Neurotische Personen erweisen sich nicht nur im Lehrerberuf vermutlich schon aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenschaften (z. B. geringes Selbstwertgefühl, irrationaler Perfektionismus, pessimistische Einstellungen) als beansprucht. Hinzu kommt, dass 16 wissenplus 5–14/15 Abbildung 1: Vier Beanspruchungsmuster (aus: SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 84) Ängstlichkeit soziale Interaktion hemmt, der Lehrerberuf aber hohe sozial-kommunikative Anforderungen stellt. Daten aus Österreich zeigen, dass die emotionale Stabilität von Lehramtsstudierenden nur etwa im Bevölkerungsdurchschnitt liegt (MAYR 2012, S. 7) – ein angesichts der Belastungen im Beruf offenkundig problematischer Befund. Als günstig erweisen sich in 13 von 21 Studien hohe Werte im Bereich Extraversion (Facetten: Herzlichkeit, Geselligkeit, Durchsetzungsvermögen, Aktivität, Erlebnishunger, Frohsinn). Die positive Deutung von Ereignissen, die Fähigkeit, sich Unterstützung von anderen zu holen, Kontaktfreude und Durchsetzungsfähigkeit helfen vermutlich bei der Bewältigung der schulischen Anforderungen im Klassen- und im Konferenzzimmer. Ein großer Freundeskreis oder Aktivitäten in Vereinen erleichtern zudem das Herstellen einer Work-Life-Balance und sind zugleich soziale Unterstützungssysteme. MAYR berichtet für Österreich Daten, die erfreulicherweise zeigen, dass Lehramtsstudierende im Durchschnitt deutlich extravertierter sind als die Durchschnittsbevölkerung (MAYR 2012, S. 7). Zumindest in 10 von 21 Studien deutet Verträglichkeit (Facetten: Vertrauen, Freimütigkeit, Altruismus, Entgegenkommen, Bescheidenheit, Gutherzigkeit) auf ein geringeres Beanspruchungserleben und Burnout-Risiko hin. Gewissenhaftigkeit scheint eine ambivalente Eigenschaft zu sein. In 11 Studien ist sie Indikator für ein geringeres Beanspruchungserleben. Es wurden aber auch gegenteilige Effekte gefunden, wohl weil höhere Gewissenhaftigkeit auch zu überhöhtem Arbeitsengagement führen kann. Offenheit für neue Erfahrungen als fünfter und letzter Faktor scheint Belastungserleben nicht vorhersagen zu können. 3.2 Der Einfluss arbeitsbezogener Verhaltens- und Erlebensmuster Eng mit der Person verwoben, aber weniger stabil als die „Big Five“ sind die von SCHAARSCHMIDT (vgl. SCHAARSCHMIDT 2011; SCHAARSCHMIDT & KISCHKE, 2013) mithilfe eines auf elf Merkmale bezogenen Fragebogenverfahrens herausgearbeiteten arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster, die sich auf das persönliche Bewältigungsverhalten beziehen (Abb. 1): Muster G (Gesundheit) – hohe Anstrengung, positive Emotionen – ist gekennzeichnet durch Ehrgeiz und deutliches, aber nicht exzessives Arbeitsengagement bei gleichzeitig erhalten gebliebener Distanzierungsfähigkeit, durch offensive Problembewältigung, eine geringe Resignationstendenz und ein hohes Maß an innerer Ruhe. Muster S (Schonung) – geringe Anstrengung, positive Emotionen – ist gekennzeichnet durch geringes Arbeitsengagement und sehr hohe Distanzierungsfähigkeit. Dahinter steht aber nicht Resignation, sondern eine relativ hohe innere Ruhe und Ausgeglichenheit und ein positives Lebensgefühl, dessen Quelle bevorzugt außerhalb der Arbeit gesucht wird. a. Univ.-Prof. Dr. Georg Hans Neuweg Risikomuster A (Selbstüberforderung) – überhöhtes Engagement, negative Emotionen – ist durch sehr hohe Verausgabungsbereitschaft, hohes Perfektionsstreben und gleichzeitig sehr geringe Distanzierungsfähigkeit und ein geringes Maß an innerer Ruhe und Ausgeglichenheit gekennzeichnet. Die Person erlebt sich als relativ erfolgreich im Beruf bei allerdings vergleichsweise geringer Lebenszufriedenheit; nicht selten werden Lehrer dieses Typs wegen ihrer hohen Einsatzbereitschaft besonders geschätzt. sind zwar überzufällig häufig. Aber offenbar kann Leistungszurückhaltung ebenfalls zum Gesundheitsrisiko werden, weil auch Übergänge von Muster S auf Muster B vorkommen (SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 87, 91 f.). Fatalerweise zeigen sich ungünstige Muster außerdem schon vor dem Berufseintritt. Bei Lehramtsstudierenden und Referendaren ist der Anteil des Risikomusters B (je 25 %), vor allem aber der des S-Musters (31 bzw. 29 %) hoch (ebd., S. 90). Risikomuster B (Burnout) – geringe Anstrengung, negative Emotionen – ist gekennzeichnet durch geringes Arbeitsengagement bei zugleich geringer Distanzierungsfähigkeit. Resignation und negative Emotionen herrschen vor. Die Person versucht, irgendwie „über die Runden“ zu kommen, Verhalten und Erleben entsprechen den Symptomen eines fortgeschritteneren Burnouts. 4. Präventions- und Interventionsmöglichkeiten Im Rahmen der Potsdamer Lehrerstudie wurden insgesamt mehr als 20 000 Lehrkräfte und etwa 8000 Vertreterinnen und Vertreter anderer Berufe untersucht. Im Vergleich mit anderen Berufen, die ebenfalls durch eine erhöhte psychosoziale Beanspruchung gekennzeichnet sind, zeigt sich, dass für Lehrkräfte die ungünstigste Musterverteilung besteht (Abb. 2). Der Anteil an Personen mit Risikomuster A oder B liegt bei knapp 60 %. Frauen haben höhere Anteile in den Risikomustern A und B. Bemerkenswerterweise führt der Weg nicht immer vom „Brennen“ zum „Ausbrennen“. Übergänge vom A- zum B-Muster Die zentrale Maßnahme der Verhältnisprävention ist die Verminderung der subjektiven Arbeitsbelastung. Ansatzpunkt sind dabei einerseits die generellen Rahmenbedingungen des Berufs, z. B. in Form einer Verringerung der Klassengrößen, einer Reduktion der Lehrverpflichtung oder einer Entlastung der Lehrkräfte von der Fülle kaum mehr bewältigbarer erzieherischer Aufgaben. Naheliegend sind dabei auch Nachbesserungen in der Lehrerbildung, hier unter anderem in den Bereichen Klassenführung und Selbstmanagement. Andererseits sind die Abläufe an der je konkreten Schule in den Blick zu nehmen. Die Verbesserung des sozialen Klimas an der Schule, die Erhöhung der wechselseitigen fachlichen und emotionalen Unterstützung im Kollegium und durch die Schulleitung, die Optimierung der Informationsflüsse, eine gerechte Arbeitsverteilung und eine positive Fehlerkultur, parti- Abbildung 2: Die Bewältigungsmuster im Berufsvergleich (aus: SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 90) zipative und transparente Entscheidungsfindung und eine generell hohe Führungsqualität sind hier bedeutsame Faktoren. Ein interessanter Ansatz der Konkretisierung von Maßnahmen am Schulstandort besteht in der Gestaltung moderierter eintägiger pädagogischer Tage an den Schulen. Dabei werden Entlastungsideen gesammelt und konkrete Verbesserungen vom Kollegium geplant, die danach umgesetzt werden. KRAUSE & DORSEMAGEN (2014, S. 1005 f.) nennen eine Reihe interessanter Beispiele für positive Interventionen, die in ihren Projekten an schweizerischen und deutschen Schulen entstanden sind, so etwa: feste Sitzordnung im Lehrerzimmer auflösen; geschlossenes Auftreten im Kollegium bei Veranstaltungen mit Eltern, gezielt zu zweit Elternsprechstunden durchführen; Regeln zum Umgang mit E-Mails festlegen; Ausbau von kollegialer Beratung, Teamteaching, wohlwollende Unterrichtsbesuche und Supervision. Weil es sich bei den Big-Five-Dimensionen, vor allem auch bei den kritischen Faktoren Neurotizismus und Extraversion, um relativ stabile Dispositionen handelt, liegt eine Verbesserung der Eignungsüberprüfung schon vor Aufnahme eines Lehramtsstudiums nahe. Als Grundvoraussetzungen „sind neben emotionaler Stabilität und einer aktiv-offensiven Haltung den Lebensanforderungen gegenüber vor allem Stärken im sozial-kommunikativen Bereich gefordert. Und dazu zählen prosoziale Einstellung, Sensibilität und Rücksichtnahme, zugleich aber auch die Fähigkeit zur Durchsetzung und Selbstbehauptung“ (SCHAARSCHMIDT & KISCHKE 2013, S. 94). Auch GEHRMANN geht davon aus, dass es vor allem Personmerkmale sind, die zu Überlastungserscheinungen führen, und hält daher die Rekrutierung für den zentralen Ansatzpunkt: „Mindestens zwei Drittel der Lehrerschaft gelingt es [...] dauerhaft, Zufriedenheit aus ihrer beruflichen Autonomie und den kollegi alen Kontexten zu gewinnen und Kraft zu schöpfen aus dem Kontakt mit Schülern für die Verstetigung der beruflichen Anforderungsprofile. Bis zu einem Drittel der Lehrerschaft gelingt dies nicht auf Dauer. [...] D. h., ein Teil der für die Anforderungsprofile des Berufes nötigen Akteure wird potentiell falsch rekrutiert. Diese sind es womöglich auch, die sich im Berufsverlauf immer wieder als sehr belastet und beansprucht ausweisen und potentielle Problemfälle in Schulen ausmachen.“ (GEHRMANN 2013, S. 186). In den Händen der Lehrkraft selbst schließlich liegen Maßnahmen der Verhal- wissenplus 5–14/15 17 @ Wissenschaft | Forschungsbeiträge tensprävention. Sie setzen entweder „innen“, an der Regulation des Emotionshaushaltes, an oder „außen“ beim Versuch, auf die Umgebung entsprechend einzuwirken (zur Unterscheidung zwischen emotionsu. problemorientierten Strategien vgl. KRAUSE, DORSEMAGEN & BAERISWYL 2013). Zur Gruppe der emotionsorientierten Strategien gehören z. B. Entspannungstechniken, Stressbewältigungstrainings, Sport oder Supervision. Problemorientierte Strategien sind z. B. das Erlernen einer bestimmten Technik der Klassenführung und generell die Arbeit an der eigenen fachlichen und erzieherischen Kompetenz, die sich in der Potsdamer Lehrerstudie vor allem bei Risikomuster B als problematisch herausgestellt hat. Der geneigten Leserschaft sei abschließend der Hinweis auf eine Publikation Jochen GRELLs nicht vorenthalten (GRELL 1998). Seine Ratschläge zur Aufrechterhaltung der seelischen Gesundheit zielen durchgängig auf mentale Selbststeuerung und Selbstbehandlung durch aktives Stimmungsmanagement, Selbstfürsorge und Bewegung. Freude, so GRELLs These, komme nicht von selbst, sondern: „Sich freuen ist eine Tätigkeit.“ (GRELL 1998, S. 233). Das ist zwar insbesondere langfristig kein geeigneter Ersatz für Maßnahmen der Verhältnisprävention und darf nicht entpolitisierend wirken. Es erinnert aber in sympathischer Weise daran, dass wir Selbstverantwortung übernehmen können, noch bevor „die Verhältnisse“ sich endlich ändern. Literatur CRAMER, C. & BINDER, K. (2015). Zusammenhänge von Persönlichkeitsmerkmalen und Beanspruchungserleben im Lehramt. Ein internationales systematisches Review. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18 (1), doi. 10.1007/ s11618-014-0605-3. CRAMER, C., MERK, S. & WESSELBORG, B. (2014). Psychische Erschöpfung von Lehrerinnen und Lehrern. Repräsentativer Berufsgruppenvergleich unter Kontrolle berufsspezifischer Merkmale. Lehrerbildung auf dem Prüfstand 7 (2), S. 138–156. GEHRMANN, A. (2013). Zufriedenheit trotz beruf licher Beanspruchungen? Anmerkungen zu den Befunden der Lehrerbelastungsforschung. In M. Rothland (Hrsg.) (2013) (S. 175–190). GRELL, J. (1998). Es gibt doch Rezepte für guten Unterricht. In J. FREUND, H. GRUBER & W. WEIDINGER (Hrsg.), Guter Unterricht – Was ist das? Aspekte von Unterrichtsqualität (S. 225–242). Wien: ÖBV. KRAUSE, A. & DORSEMAGEN, C. (2014). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf – Arbeitsplatz- und bedingungsbezogene Forschung. In E. Terhart, H. Bennewitz & M. Rothland (Hrsg.), Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (2., überarb. u. erw. Auf l.) (S. 987–1013). Münster: Waxmann. KRAUSE, A., DORSEMAGEN, C. & BAERISWYL, S. (2013). Zur Arbeitssituation von Lehrerinnen und Lehrern: Ein Einstieg in die Lehrerbelastungs- und -gesundheitsforschung. In M. Rothland (Hrsg.) (2013) (S. 61–80). LEHR, D. (2014a). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf – Gesundheitliche Situation und Evidenz für Risikofaktoren. In E. Terhart, H. Bennewitz & M. Rothland (Hrsg.), Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (2., überarb. u. erw. Auf l.) (S. 947–967). Münster: Waxmann. LEHR, D. (2014b). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf – Präventions- und Inter-ventionsansätze in der personenbezogenen Forschung. In E. Terhart, H. Bennewitz & M. Rothland (Hrsg.), Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (2., überarb. u. erw. Auf l.) (S. 968–986). Münster: Waxmann. MAYR, J. (2012). Lehrer/in werden in Österreich. Empirische Befunde zum Lehramtsstudi-um. In T. Hascher & G. H. Neuweg (Hrsg.), Forschung zur (Wirksamkeit der) Lehrer/innen/bildung (S. 1–29). Münster: Lit. ROTHLAND, M. (Hrsg.) (2013). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle – Be- funde – Interventionen (2., vollst. überarb. Auf l.). Wiesbaden: Springer. SCHAARSCHMIDT, U. (2011). Lehrinnen und Lehrer zwischen Belastung und Entlastung. In H. Berner & R. Isler (Hrsg.), Lehrer-Identität – Lehrer-Rolle – Lehrer-Handeln (S. 105–123). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. SCHAARSCHMIDT, U. & KISCHKE, U. (2013). Beanspruchungsmuster im Lehrerberuf. Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus der Potsdamer Lehrerstudie. In M. Rothland (Hrsg.) (2013) (S. 81–97). SOSNOWSKY-WASCHEK, N. (2013). Burnout – kritische Diskussion eines vielseitigen Phänomens. In M. Rothland (Hrsg.) (2013) (S. 117–135.) (Vor)wissenschaftliches Arbeiten mit Schülern und Schülerinnen der BHS: die Diplomarbeit NEU und ihre didaktische Begleitung aus Sicht einer wirtschaftspädagogischen Wissenschaftspraxis Univ.-Prof. Dr. Annette Ostendorf Leiterin des Instituts für Organisation und Lernen Bereich Wirtschafts pädagogik und Personalentwicklung Universität Innsbruck [email protected] Abstract Die Diplomarbeit ist ein neues Element der Reife- und Diplomprüfung an den österreichischen berufsbildenden höheren Schulen (BHS). In diesem Beitrag werden im ersten Teil der Charakter und der Bildungsauftrag einer BHS-Diplomarbeit genauer herausgearbeitet. Es wird erläutert, in welcher Weise sie als spezifische Text sorte interpretiert werden kann, worin sie sich von universitären Abschlussarbeiten unterscheidet, wie ein Praxisbezug inte 18 wissenplus 5–14/15 griert werden kann und dass eine Zusammenarbeit der Lehrkräfte unterschiedlicher Fachgebiete und Jahrgangsstufen hilfreich wäre. Im zweiten Abschnitt geht es dann um die konkreten Aufgaben der Betreuung von BHS-Diplomarbeiten. Entlang eines Phasenmodells werden Empfehlungen und Besonderheiten aus Sicht einer wirtschaftspädagogischen Wissenschaftspraxis begründet. 1. Über den Sinn und Nutzen einer Diplomarbeit an BHS Der Schultypus berufsbildende höhere Schule, den ich in diesem Beitrag insbesondere in der Ausprägung der Handelsakademie (HAK) fokussieren möchte, umfasst einen doppelten Bildungsauftrag. Zum einen geht es um die Erlangung der Studierfähigkeit mit der entsprechenden Notwendigkeit der Berücksichtigung allgemeinbildender Fächer und zum anderen soll eine volle kaufmännische Berufsbefähigung erreicht werden, die eine unmittelbare Aufnahme eines angemessenen Beschäftigungsverhältnisses möglich macht. Letzteres wurde, zusätzlich zum Schwerpunkt des Fachunterrichts, vor allem durch die Integration von „Brückenelementen“ zur betrieblichen Praxis wie Übungsfirma, Projektunterricht, Betriebspraktikum und der Projektarbeit unterstützt. Im Rahmen der Einführung der Diplomarbeit NEU als verbindliches Element der neuen Diplom- und Reifeprüfung mit explizit (vor-)wissenschaftlichem Charakter scheint nun die Studierfähigkeit der Schüler/innen wieder stärker betont zu werden. „Die Neukonzeption der Bestimmun-
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