31. Krisen, Mythen, Rituale Elke Mader und Ulrike Davis

31.
Krisen, Mythen, Rituale
Elke Mader und Ulrike Davis-Sulikowski
Krisen sind auf vielfältige Weise mit Mythen und Ritualen verflochten: Mythische Erzählungen thematisieren Krisen, Brüche in der bestehenden Ordnung auf individuellen und kollektiven Ebenen, von Lebenskrisen über Krieg und Gewalt bis zu eschatologischen Topoi wie
Weltuntergang und Welterneuerung. Rituale und Ritualdynamik sind ebenfalls aufs engste
mit diversen Formen und Kontexten von Krisen verbunden: So werden Lebenskrisen häufig
von symbolischen und performativen Handlungen begleitet, politische Rituale stellen ein
wichtiges Element des Umgangs mit Krisen dar, Performanz und Ritualisierung begleiten
Umweltkrisen – unter anderem im Rahmen der spirituellen Ökologie.
Der Workshop legt das Augenmerk auf narrative und performative Dimensionen des praktischen Umgangs mit Krisen und analysiert die krisenhaften Diskurse in diversen regionalen
Kontexten, diskutiert theoretische Perspektiven und ethnographische Beispiele: Wie erfolgt
die Konstruktion von Bedeutung von individuellen oder kollektiven Krisen durch Mythen und
andere populäre Narrationen? Welchen Stellenwert hat Ritualdynamik für die Veränderungen
von Deutungsmustern und sozialen Ordnungen im Zuge von diversen Krisen? In welchem
Zusammenhang stehen Krisen mit Ritualisierungen von Gewalt oder der Macht von Ritualen? Gibt es Bedeutungs- und Darstellungskorrelationen von Krisenarten und ihren Funktionsweisen?
Narration, Performanz und Prozesse von Veränderung und Sinn, zwischen Zusammenbruch
und rigider Stabilisierung, stehen im Zentrum der Auseinandersetzung mit Krisen und werden durch das Prisma von Mythos und Ritual hinterfragt.
Beiträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden. / Contributions can be given in
English or German.
Vorträge:
Wolfgang Kapfhammer, Philipps-Universität Marburg
Die Formkrise. Indigene AlterModernity als Reaktualisierung von Mensch-NaturBeziehungen bei den Sateré-Mawé im brasilianischen Amazonasgebiet
In seinem vieldiskutierten Werk „How Forests Think“ (2013) zeigt Eduardo Kohn auf überzeugende Weise, wie eine amazonische Gesellschaft ihre Handlungsfähigkeit darin findet, in
die emergenten „Formen“ ihrer Waldumwelt „eingehen“ (getting inside) zu können. Gleichzeitig zeigt Kohn, wie diese mythologisch vorgeprägten und vielfach ritualisierten Strategien von
der kolonialen Vergangenheit eingehegt sind. Am Beispiel der Sateré-Mawé des brasilianischen Amazonasgebiets soll überlegt werden, ob nicht solche Einhegungen (restraints) weniger zu Handlungsmacht (agency) als vielmehr zu Pfadabhängigkeiten führen, die in mannigfaltige Krisenausprägungen münden und in einer Krise der Kommunikation mit der Waldumwelt gipfeln. Während Narration und Performanz der großen Riten (Initiation) und ihrer
beiläufigen Anwendung im Alltag (Jagdriten) eine traditionelle Form der Krisenbewältigung
im Sinne der Schaffung einer „Kultur der Achtsamkeit“ bereits anlegen, bildet diese heutzutage das „Transformationsdesign“ für nachhaltige Mensch-Natur-Beziehungen in einer globalisierten AlterModernity in Amazonien.
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Stefanie Kicherer, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Diskutanten, Erdbebenprophetinnen, Besessene. Rationale, liminale und liminoide
Diskursmodi bei der Krisenbewältigung im Bartangtal (Tadschikistan)
Das extrem entlegene Bartangtal im tadschikischen Pamir wurde erst in der späten Sowjetzeit infrastrukturell angebunden. Dadurch zunehmende transformative Einflüsse werden heute, dem ismailitischen Selbstbild als „rationale Konfession“ (mazhab-i aqloni) Rechnung tragend, auf ihre Nützlichkeit hin evaluiert.
Ein derart nüchterner Umgang mit Wandel ist neu: Als 1988 eine Erdbebenserie das Tal erschütterte, deutete man diese im Spiegel alter apokalyptischer Narrative. Pubertierende
Mädchen traten als Prophetinnen auf und mahnten, zur alten Ordnung zurückzukehren. Rituale wurden wiederbelebt, andere neu kreiert. Dabei lassen sich viele für liminale Ausnahmezustände charakteristische Merkmale, wie z.B. Statusumkehrungen feststellen.
Die Bartangi sind sich einig, dass ein solcher Vorfall heute undenkbar wäre – doch ist das
liminale Element aus ihrer diskursiven Verarbeitung von Veränderungen und Krisen verschwunden? Ich vertrete die These, dass dieses von der kollektiven auf eine individuelle
Ebene verlegt wurde: Durch „liminoide Diskursmodi“ wie Humor oder Besessenheit können
kurze liminale Momente evoziert und hierdurch Dinge kommuniziert werden, die im „rationalen Diskursmodus“ unsagbar sind.
Martin Slama, Austrian Academy of Sciences Vienna
Coping with crises through social media: Islamic rituals and the middle-class mythology of love in Indonesia
The paper offers a reading of contemporary uses of social media in Indonesia that emphasises their potentials to cope with crises on personal and societal levels. It further stresses
the close interconnection of these uses with particular Islamic ritual practices and with narratives that can best be grasped as expressions of middle-class mythology, including stories of
romantic love. The latter are particularly expressed in Indonesian films with “What’s Up with
Love?” (Ada Apa Dengan Cinta?, released in 2002) featuring as its most popular example. In
2014, LINE, a Korean-owned instant messaging service, produced a sequel distributed
through social media such as YouTube. The paper analyses LINE’s attempt to appeal to its
middle-class audience by associating its product with romantic love, suggesting that this ideal can more easily be achieved in an interconnected age doing away with personal crisis.
Then, the paper contrasts this image of personalised, secular uses of social media with their
employment in the realm of religion by examining how ritualised forms of Islamic practice,
such as collective Qur’an readings, went online and added ways of how to deal with personal
problems. In conclusion, the paper weaves together the – Islamic and secular – coping strategies in Indonesian middle-class circles as they find their expression in the imaginaries and
practices reinforced by social media.
Stefan Khittel, Universität Wien
Den Frieden verhandeln im Ramadan. Die vorhersehbare Krise und das Ritual des Fastenbrechens auf den Philippinen
Beinahe so lang wie der bewaffnete Konflikt mit den Moros, den muslimischen Gruppen auf
den Philippinen, dauern auch die Versuche, den Frieden durch Verhandlungen zu erreichen.
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Im Ramadan ist das Ritual des Fastenbrechens besonders wichtig. In Zeiten von Friedensverhandlungen bekommt diese Zeremonie eine spezielle Bedeutung als ein Ort, der auch für
den Friedensprozess eine Rolle spielt. Vor allem in den größeren Städten auf Mindanao und
in Manila treffen sich politisch interessierte Muslime aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen und reflektieren über die laufenden Prozesse. Das Fastenbrechen durchbricht und überschreitet ethnische Grenzen innerhalb der heterogenen Gemeinschaft der Muslime.
Christlichen Filipinos und Filipinas nehmen eher selten an diesen Zeremonien teil. Wenn,
dann handelt es sich meist um politische Entscheidungsträger, die mit ihrer Anwesenheit
eine Botschaft senden wollen, selten jedoch an den Gesprächen teilhaben. Das christliche
und das islamische Lager finden selten zueinander, was letztlich dazu führt, dass die oftmals
herbeigeschriebene Krise nicht stattfindet, aber auch die Chance auf einen Durchbruch bei
den Verhandlungen selten genützt werden kann.
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