Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP Frank Borina · Susanne Mertins D D G LARP D U T Über das Für und Wider der Darstellung sexueller Gewalt im LARP wird häufig und emotional diskutiert. Trotzdem ist zu vermuten, dass sich die Mehrheit der LARPer in Deutschland bisher nicht mit dieser Materie auseinandergesetzt hat. Dieser Artikel soll dabei helfen, die Problematik des Themas zu erfassen und eine einfache, aber sinnvolle Lösung zu präsentieren, die von Gegnern wie Befürwortern der Darstellung sexueller Gewalt im LARP praktiziert werden kann. Viele Leser werden vermutlich nur ungläubig den Kopf schütteln. Wer macht denn so was? Eine gute Frage. Gespielte Vergewaltigungen, auch als rein zwischen NSCs dargestellte Szenen, gibt es im LARP nur selten. Aber sie kommen von Zeit zu Zeit vor, sei es, dass eine Spielleitung glaubt, dieses als Mittel zur Charakterisierung eines besonders grausamen Schurken einsetzen zu müssen, oder weil ein Spieler meint, damit demonstrieren zu können, was für ein harter und gemeiner Kerl sein Charakter doch sei. Zusätzlich kommt es immer wieder zu Szenen, in denen Sätze wie Ach ja, stell Dir vor, ich hätte Deinen Charakter ver gewaltigt/geschändet fallen. Für jemanden, der selbst einmal Opfer einer Vergewaltigung wurde, kann bereits eine einzige derartige überraschende Konfrontation mit einer solchen Szene – auch passiv als reiner Zuschauer – zu viel sein. LARP: Hinter den Kulissen 107 Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP S G Sexuelle Gewalt, im speziellen Vergewaltigung, ist, je nach Betrachter (juristisch, sozial, psychologisch), unterschiedlich definiert; die für unsere Betrachtungen sinnvollste Definition erscheint uns jene: Jede traumatisierende sexuelle Handlung wird als Vergewaltigung betrachtet, unabhängig davon, von wem, an wem, unter welchen Umständen und in welcher Situation sie ausgeübt wird. Charakteristisch ist die Traumatisierung. Letztendlich ist die Definition einer Vergewaltigung Ergebnis der jeweiligen Perspektive. (Heynen 1998, S. 20) Derartige sexuelle Übergriffe haben meist schwerwiegende Auswirkungen auf das geistige und seelische Wohl der betreffenden Person. Es sind vor allem die erlebte Hilflosigkeit, die seelischen und körperlichen Schmerzen und die Scham, die die Opfer noch sehr lange verfolgen. Mit den Folgen – Depressionen, Angstzustände, Panikattacken, posttraumatischer Stress und Suizidversuche, um nur einige zu nennen – haben die Opfer noch lange Zeit zu kämpfen. Auch wenn wesentlich mehr Frauen als Männer Opfer von Vergewaltigungen werden, sind die Folgen für beide Geschlechter gleichermaßen gravierend. Allein 2006 wurden laut Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) in Deutschland über 52.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen, davon knapp 40.000 Vergewaltigungen, sexuelle Missbräuche oder sexuelle Nötigungen. Bei Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen war die Altersgruppe von 18 bis 21 Jahren am stärksten betroffen. Wer genauere und detaillierte Angaben möchte, sei auf die Seite des BKA verwiesen: www.bka.de/pks/index.html Einem solchen Opfer sieht man das Erlebte nicht an. Da sexuelle Gewalt oft verschwiegen wird, ist die Dunkelziffer, also das Verhältnis zwischen der Zahl der statistisch ausgewiesenen und der wirklich begangenen Straftaten, sehr hoch. Spekulationen über die Höhe schwanken beträchtlich, geschätzt wird die Dunkelziffer aber auf das 10- bis 20-fache (!) der zur Anzeige gebrachten Delikte, also zwischen 400.000 und 800.000 pro Jahr. Vermutlich kennen die meisten jemanden, von dem sie nicht wissen, dass er Opfer einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Missbrauchs wurde. 108 LARP: Hinter den Kulissen Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP Den meisten Opfern kann nur mit einer Therapie weitergeholfen werden. Selbst danach können Geräusche, Gerüche oder Handlungen, die das Opfer mit der Vergewaltigung assoziiert, immer noch an die erlebte Situation erinnern und im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Opfer alles nochmals durchleben muss. Nachgespielte Vergewaltigungen im LARP können als derartige Trigger (Erklärung siehe Infokasten) wirken und damit unspezifische Schockreaktionen auslösen. Ein Schock stellt immer eine lebensbedrohliche Situation dar und ist somit auf keinen Fall zu unterschätzen. D G – F, F T . LARP Ein häufig gehörtes Argument, warum gespielte Vergewaltigungen kein Problem sein sollten, ist jenes, dass in Film und Fernsehen sexueller Missbrauch ebenfalls allgegenwärtig sei und in diesem Fall die betroffenen Personen als Zuschauer auch damit zurecht kommen müssten. Allerdings sind die Folgen einer im LARP gespielten Vergewaltigung ungleich gravierender als die Erinnerungen, die durch Film und Fernsehen ausgelöst werden. Warum? Es ist falsch zu glauben, man könnte alle Darstellungsformen von sexueller Gewalt miteinander vergleichen. Bei Filmen oder Theaterstücken z.B. befindet man sich meist innerhalb einer vertrauten Umgebung und Gesellschaft. Man ist räumlich getrennt (Leinwand, Bildschirm) oder kann das, was dort geschieht, aus mehr oder weniger großer Entfernung (Theater) betrachten. Es herrscht also eine Atmosphäre der gefühlten Geborgenheit und vor allem Distanz. Zudem sind einem meist die kommenden Handlungsstränge in soweit bekannt oder vorhersehbar, dass man sich im Zweifel gezielt auf solche Szenen vorbereiten oder gegebenenfalls kritische Filme oder Theaterstücke meiden kann. Bei einem Live-Rollenspiel ist man zum einen aktiver Teilnehmer und Teil des Geschehens und der Szenerie, sowohl was die Intensität der erlebten Situationen als auch, was die gefühlte Bedrohung angeht, und zum anderen hat man keine Ahnung, wie die Szene weiter gestaltet wird. In den meisten Filmen kündigen sich Szenen von sexueller Gewalt ganz klar an, während man auf Live-Rollenspielen, z.B. in dargestellten Visionen oder Träumen, keine Vorwarnung bekommt. LARP: Hinter den Kulissen 109 Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP Als Beispiel: Auch wenn ich in einem längeren LARP-Kampf nicht aktiv mitkämpfe, der Grad der gefühlten Bedrohung und Anspannung ist ungleich höher als bei der Betrachtung einer solchen Szene in Film oder Fernsehen. Diese bedrohliche Grundstimmung und das Gefühl des Mittendrinseins, wie man es auf vielen LARPs erfährt, kann dazu führen, dass die betreffende Person durch diese fehlende Distanz und das gefühlte Miterleben bei der Darstellung sexueller Gewalt einen so genannten Flashback (Erklärung siehe Infokasten) erfährt. Nicht nur die fehlende Distanz, sondern auch die spezifischen körperlichen Reaktionen, die eine betroffene Person zeigt, kann diese schnell zur Hilflosigkeit verurteilen. Viele Opfer fühlen sich wie gelähmt, sobald eine Darstellung sexueller Gewalt angedeutet wird – ein frühes Verlassen der Szenerie oder ein Stopp-Ruf ist also nach Beginn meist nicht mehr möglich. Die Möglichkeiten, bei Film und Theater adäquat zu reagieren, sind für die betreffende Person meist viel leichter realisierbar: Sie können den Fernseher abschalten oder den Saal verlassen. Gefühlter Gruppenzwang und die Gefahr der Bloßstellung auf einem LARP erschweren zusätzlich eine schnelle Handlung oder machen diese gänzlich unmöglich. Wenn 20 Leute bei einer entsprechenden Szene zusehen, und eine Person diese Szene durch einen Stopp-Ruf unterbindet, fallen Schlussfolgerungen recht leicht, und man outet sich indirekt als Opfer einer Vergewaltigung. Kaum ein Opfer spricht gerne darüber oder möchte, dass es durch sein Outing eine Stigmatisierung erfährt. D F, G G LARP Häufig wird aufgeführt, dass im LARP Folter und körperliche Gewalt in Form von Polsterwaffenkämpfen dargestellt würden und es keinen Unterschied zu der Darstellung sexueller Gewalt gäbe. Dies mag ein vom moralischen Standpunkt aus berechtigter Einwurf sein, allerdings gibt es gravierende Unterschiede im Bereich des persönlich Erlebten. F G Für jemanden, der Opfer von Folter wurde, hat die Darstellung einer solchen Szene vermutlich genauso gravierende Folgen wie die Darstellung se110 LARP: Hinter den Kulissen Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP xueller Gewalt für die Betroffenen – man findet sich wieder in der Rolle des hilflosen Opfers. Unterschiede sind allerdings in der Häufigkeit zu finden – viel mehr Menschen in Deutschland wurden Opfer sexueller Gewalt als Opfer von Folter. Da Folter ein sehr breites Spektrum von quälenden Handlungen umfasst, haben wir versucht, die einzelnen Tatbestände für die aktuelle Situation etwas zu entwirren. Laut Amnesty International gibt es in Deutschland keine Fälle von Folter mehr, die von staatlichen Institutionen ausgeht oder Folter in Kriegsgebieten – dies beinhaltet auch die klassische mittelalterliche Folter, wie sie häufig auf LARPs dargestellt wird. Alle weiteren Tatbestände, bei denen Gewalt an hilflosen Personen ausgeübt wird, fallen heute unter schwere Körperverletzung oder Missbrauch von Schutzbefohlenen. Dem BKA wurden 2006 150.000 Fälle von schwerer Körperverletzung gemeldet, allerdings liefert das BKA keine detaillierten Angaben. Viele Schlägereien werden z.B. als schwere Körperverletzung zur Anzeige gebracht, und die Dunkelziffer ist vermutlich deutlich niedriger. Missbrauch von Schutzbefohlenen wird mit 5.000 Fällen pro Jahr angegeben. Dem stehen vermutete 400.000 bis 800.000 Fälle von sexueller Gewalt gegenüber. G G Die Darstellung von Gewalt ist fester Bestandteil von fast allen in Deutschland veranstalteten LARPs. Auch wenn das hart klingt, ein Polsterwaffenkampf ist nichts anderes als die Darstellung einer gewalttätigen Auseinandersetzung. Worin liegt aber der Unterschied zur sexuellen Gewalt? Wenn nicht gerade etwas entschieden falsch läuft, ähnelt ein LARPKampf mehr einer sportlichen Auseinandersetzung als einem tatsächlichen körperlichen Angriff. Auch wenn es gelegentlich zu unschönen oder schmerzhaften Szenen kommen kann (versehentliche Kopftreffer, der Typ gegenüber, der auch nach dem 30. Treffer noch steht usw.), so geht es primär um die Show. Man möchte mit dem Gegenüber eine möglichst gute Vorstellung liefern, die Zuschauern und Beteiligten Spaß macht und eventuell einfach herausfinden, wer der Bessere am Polsterschwert ist. In einem LARP-Kampf sind beide Kämpfer gleichberechtigt – niemand wird in die Rolle des Opfers gedrängt. LARP: Hinter den Kulissen 111 Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP Eine gewalttätige Auseinandersetzung findet zum größten Teil auf der körperlichen Ebene, in sehr schweren Fällen auf der psychischen Ebene, aber niemals auf der Ebene der sexuellen Selbstbestimmung statt. Eine Vergewaltigung hingegen verletzt eine Person immer auf allen drei Ebenen. Zudem – unserer Meinung nach ein entscheidender Unterschied, auch wenn er keine moralische Gültigkeit besitzt – ist der Polsterwaffenkampf ein lange etablierter Bestandteil der allermeisten Cons in Deutschland, das heißt, man weiß, was einen erwartet und so man LARP-Kämpfe ablehnt, kann man gezielt nach Cons suchen, auf denen nicht gekämpft wird. E L Während also Kämpfe Bestandteil der meisten Cons sind oder waren und auch Folter ein häufiges Spielelement darstellt, ist dies definitiv nicht der Fall für sexuelle Gewalt. Sie stellt, wenn sie thematisiert wird, eine Ausnahme dar und kommt somit für unvorbereitete Betroffene völlig unerwartet. Auch eine saloppe Warnung direkt vor einer entsprechenden Szene ist nicht genug – erstens kann das Aussprechen dieser Warnung im allgemeinen Tumult leicht vergessen werden und zweitens möchte kaum ein Betroffener eine Bloßstellung riskieren. Eine einfache Lösung, wie mit diesem heiklen Thema umgegangen werden kann, lautet daher: Organisatoren und Spielleiter eines LARP, egal welches Genres, nehmen zu diesem Thema klar Stellung, z.B. in der Einladung. Mit einer Formulierung im Sinne von Die Darstellung und Thematisierung sexueller Gewalt ist bei uns kein Spielthema und absolut untersagt, schafft man für alle Beteiligten Klarheit und Sicherheit. So weiß jeder, der sich anmeldet, woran er ist. Diejenigen, die eine solche Darstellung ablehnen, können sich sicher sein, nichts dergleichen erleben zu müssen. Zudem würde solch eine Stellungnahme andere Spieler dazu ermutigen, eine derartige Szene gleich zu Beginn zu unterbrechen, so dass eine betroffene Person nicht handeln muss. Die Gruppe kontrolliert sich sozusagen selbst, und die Verantwortung liegt somit nicht mehr allein bei der SL. 112 LARP: Hinter den Kulissen Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP Bewusst wurde in der vorgeschlagenen Formulierung auch die Thematisierung sexueller Gewalt ohne Darstellung einbezogen. Denn auch wenn die Darstellung sexueller Gewalt sehr viel gravierendere Folgen haben kann als deren Thematisierung, so kann diese auch genug schlimme Erinnerungen wecken, um einem Betroffenen das Spiel zu ruinieren – es ist daher sinnvoll, sich als Orga gänzlich dafür oder dagegen zu entscheiden. F Dieser Artikel erhebt mit seinen Aussagen nicht den Anspruch wissenschaftlicher Korrektheit, die aufgeführten Belege aus der einschlägigen Fachliteratur zeigen aber, dass die Annahmen und Schlussfolgerungen nicht aus der Luft gegriffen sind. Wie bereits erwähnt, soll die moralische Komponente außen vor gelassen werden. Jede Orga muss für sich entscheiden, inwieweit sie die Darstellung oder Thematisierung von sexueller Gewalt als Spielelement auf ihren Veranstaltungen mit sich vereinbaren kann und möchte. Allerdings sollte sie ihre Position unbedingt und für Teilnehmer leicht ersichtlich klarstellen. P B Die Posttraumatische Belastungsstörung (Abk.: PTBS) fasst unterschiedliche psychische und psychosomatische Symptome zusammen, die als Langzeitfolgen eines Traumas oder mehrerer Traumata auftreten können, dessen oder deren Tragweite die Strategien des Organismus für eine abschließende Bewältigung überfordert hat. Allermeist zeigt sich eine PTBS in individuell unterschiedlichen Symptomenkomplexen. Charakteristisch für die PTBS sind Albträume, Schlafstörungen sowie das immer wiederkehrende unwillkürliche Nacherleben der bedrohlichen (oder als bedrohlich erlebten) traumatisierenden Situation in so genannten Flashbacks. Diese Flashbacks sind typischerweise sehr LARP: Hinter den Kulissen 113 Die Darstellung sexueller Gewalt im LARP deutlich, ähnlich einer filmischen Aufzeichnung, sie sind von Gerüchen, Geräuschen und Emotionen begleitet. Die plötzlich hereinbrechenden Erinnerungssequenzen können jedoch auch eine andere, subtilere Form annehmen – die auslösende Situation als ein klares Bild tritt hierbei nicht oder nicht voll ins Bewusstsein, wohl aber die damit verbundenen Emotionen und Körperreaktionen: Als Reaktion auf bestimmte persönliche Auslöser (Trigger), die akustisch, visuell, olfaktorisch oder taktil sein können, treten plötzlich starke Gefühle von Angst, Panik, Zittern, Bewusstlosigkeit oder andere Schockreaktionen auf. 114 LARP: Hinter den Kulissen Das Buch Karsten Dombrowski (Hrsg.) LARP: H K A MP Welchen Bezug hatten Lord Byron und Mary Shelley zum Thema LARP? Wieso unterstützt die Bundeszentrale für politische Bildung Live-Rollenspiel? Und was macht man, wenn auf einer Veranstaltung unangemeldet die Presse vor der Tür steht? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich die Autoren der Aufsatzsammlung LARP: Hinter den Kulissen. In elf ausgesuchten Beiträgen wagen sie philosophische und historische Betrachtungen des Hobbys, geben hilfreiche Tipps und Anregungen für Organisatoren und stellen Beispielprojekte vor. Ein Buch für Veranstalter und Interessierte, die der Blick hinter die Kulissen des Live-Rollenspiels reizt. Zusammengestellt und aufbereitet anlässlich der Live-RollenspielKonferenz MittelPunkt 2009. 128 Seiten, Softcover, 14,8 x 21 cm, ISBN 978-3-938922-21-7, 9,90 Euro . - . . - . LARP: Hinter den Kulissen
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