16 FASTENSERIE – TEIL II 21.02.2016 - Sonntagsblatt Nr. 8 FASTENSERIE – TEIL II 21.02.2016 - Sonntagsblatt Nr. 8 17 ANREGUNGEN Kennst du Menschen in deiner Umgebung, die innerlich blind sind, die ihre Situation nicht richtig einschätzen, die mit verbundenen Augen durchs Leben gehen? Wie eine Hebamme die Geburt des neuen Menschen unterstützt, so hilft der Lehrer mit seinen Fragen, dass der Schüler die Welt mit neuen Augen sieht und so innerlich erneuert wird. Wie könntest du ihnen die „Da ist etwas, das dich betrifft“ Augen öffnen, damit sie der Wahrheit ins Auge sehen können? Was ist der Schlüssel, mit dem du das Leben, das in ihnen steckt, aufschließen kannst? Wie kannst du in ihnen Leben wecken? Was möchte in ihnen zum Fließen kommen? Hast du Worte des Lebens in dir? Wie kannst du sie weitergeben? Und wem kannst du sie weitergeben? „Unwissende lehren“ ist das zweite Werk der Barmherzigkeit. Es bedeutet, einen anderen mit der Weisheit seiner eigenen Seele in Berührung zu bringen. Lehren bedeutet, eine Furche in den Acker der Seele zu graben. Foto: FOTOLIA/DUSAN KOSTIC GEBET Barmherziger und guter Gott, wir tappen oft im Finstern herum. ir sagen manchmal, ein anderer W Barmherzigkeit. Er möchte den Schüle- aus dem Herzen kommen. Dann belehre dern das ihn in Berührung bringt mit der würde sich als Lehrer aufspielen, er rinnen und Schülern, die unwissend sind, ich nicht, sondern wir sprechen miteinan- Weisheit seiner eigenen Seele. Wenn wir Wir gehen unseren Weg, würde uns immer belehren. Das ist für uns die Augen öffnen, damit sie mehr sehen, der. Wir führen nicht nur ein Gespräch, auf diese Weise lehren, die Augen öffnen wissen aber nicht, wohin er eher unangenehm. So dürfen wir das zwei- damit sie besser sehen. Lehren ist vor al- sondern, wie Friedrich Hölderlin das aus- für die Weisheit, die in jedem schon be- geht. Wir achten nicht auf die te geistige Werk der Barmherzigkeit nicht lem eine Augenschule. Lehren geschieht gedrückt hat: Wir werden ein Gespräch. reitliegt, dann vollziehen wir ein Werk der Schritte, die wir gehen. verstehen. Unwissend ist ein Mensch, der jedoch normalerweise über das Wort. Die noch nicht gesehen hat, der etwas nicht Worte sind wie Schlüssel, die die Augen gesehen hat. Und lehren kommt von ei- öffnen. Aber damit Worte die Augen öff- ner gotischen Wurzel „lais“, die bedeu- nen, bedarf es des Gesprächs und nicht des Der griechische Philosoph Sokrates hat tet: „Ich weiß, ich habe gesehen, ich habe Geredes. das Lehrersein als Hebammenkunst ver- Der Dichter Ernst Hello sagte einmal: standen. Wie eine Hebamme die Geburt „Wer ein Wort des Lebens besitzt und es des neuen Menschen unterstützt, so hilft nicht weitergibt, der gleicht einem Men- der Lehrer mit seinen Fragen, dass der schen, der zur Zeit der Hungersnot Korn Sende uns deinen Engel der nachgespürt.“ Unwissende lehren heißt also nicht, dass ich mich über den andern „Reden“ und „sprechen“ stelle. Vielmehr geht es darum, dem, der Teil II Barmherzigkeit. Den Unwissenden lehren Wie eine Hebamme heißt, Worte des Lebens zu sprechen, die das Leben im andern hervorlocken. Öffne du uns die Augen, damit wir achtsam unsere Wege gehen, damit wir wissen, worauf es ankommt. etwas nicht gesehen hat, die Augen zu öff- Wir unterscheiden im Deutschen zwischen Schüler die Welt mit neuen Augen sieht im Speicher hat und die Hungrigen an sei- Klarheit, damit er alles, nen, gleichsam zu sagen: „Schau, sieh her. „reden“ und „sprechen“. Reden heißt: et- und so innerlich erneuert wird. Sokrates ner Schwelle umsinken lässt.“ was unseren Blick trübt, Da ist etwas, das dich betrifft, das wichtig was begründen, etwas rechtfertigen. Doch hat die richtigen Fragen gestellt. Das deut- für dich ist.“ Ich belehre nicht, sondern ich im Reden liegt die Gefahr, dass wir auf den sche Wort Frage kommt von „Furche“. zeige ihm etwas, damit er es mit eigenen andern einreden, ihn überreden, ihm et- Sokrates hat den andern nicht ausgefragt, Augen anschaut. was bereden. Wenn wir viel reden, gibt es sondern eine Furche in den Acker seiner Ich kann dem andern nur Worte des nur ein Gerede. Seele gegraben, damit sein Acker Frucht Lebens geben, wenn ich sie selbst erprobt Wie ein Lehrer klärt und uns klar erkennen Worte schenken lässt, was du von uns willst. Amen. trägt. Auf die Frage sollen wir antworten. habe, wenn mir diese Worte selbst Leben Sprechen kommt von „bersten“. Es bricht Antwort kommt von „anti“, das meint: Im geschenkt haben. Solche Worte weiter- Wir können auch sagen, die Aufgabe des aus mir heraus. Ein Gespräch entsteht Angesicht des andern gebe ich ihm ein zuschenken, ist ein Werk der Barmherzig- Lehrers in der Schule ist ein Werk der nur, wenn ich spreche, wenn meine Worte Wort, nicht ein Wort, das ihn belehrt, son- keit. In der nächste Ausgabe: Das dritte Werk: „Zweifelnden recht raten“
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