Im Tal der Treue, 20. Dezember 2015

Fokus
sonntagszeitung.ch | 20. Dezember 2015
Karin Gehrig, 45: Probleme auf die Platte bringen
Im Tal
der Treue
Walserdorf: Die Bewohner leben eng aufeinander
Samichlaus zu Besuch: Ein Sack voller Lob
Das Schild über der Theke gibt den
Tarif durch: «Wer mit der Wirtin
zänkt, der wird gehängt.» Gemeint
ist Karin Gehrig, Besitzerin des
Restaurants Dreitannen in Nieder­
wald VS. «Mein Mann D
­ avid wit­
zelt manchmal, er werde wohl als
Erster dran glauben», sagt Gehrig.
Aber auch sie scherzt nur. Tatsäch­
lich leben die beiden in einer äus­
serst harmonischen Ehe.
Seit 10 Jahren führen die Geh­
rigs die Dorfbeiz Dreitannen in ei­
nem traditionellen Walserhaus aus
dem 17. Jahrhundert. «Wir verbrin­
gen 24 Stunden zusammen», sagt
die Wirtin, «wir stehen zusammen
auf, essen zusammen, verbringen
den ganzen Tag hier in der Beiz,
in der Freizeit gehen wir Ski fah­
ren oder wandern.»
Das sei schon speziell, sagt Geh­
rig. «Unsere Freunde fragen uns,
wie wir das schaffen, so viel Zeit
miteinander zu verbringen und so
wenig zu streiten.» Umso mehr
vermisse sie ihren Mann im Mo­
ment. Er befindet sich für einen
längeren Spitalaufenthalt im Kan­
tonsspital Basel.
Abmachung mit Ehemann: Kein
Tag endet ohne Gutenachtkuss
Das Eheglück der Gehrigs ist die
Regel. Das Gommer Tal, wo die
Rhone noch ein Wildbach ist, hat
die niedrigste Scheidungsrate der
Schweiz. Die Gemeinde Bitsch (der
Name geht auf einen gleichnami­
gen Ort im mittelalterlichen Loth­
ringen zurück und hat keine an­
gelsächsische Herkunft) an einem
Ende des Tals kommt in den letz­
ten 50 Jahren auf eine Rate von 19
Scheidungen bei 100 Ehen; Ober­
goms, am anderen Talende, auf 11
Scheidungen bei 100 Ehen. Zur
Einordnung: Seit 1969 haben sich
in der Schweiz 1,86 Millionen Ehe­
paare das Jawort gegeben; 640 000
Paare liessen sich wieder scheiden.
Mehr als jede dritte Ehe wurde also
aufgelöst.
Aber es geht noch besser als in
Bitsch und Obergoms. Im Gom­
mer Tal der Treue liegen die bei­
den einzigen Gemeinden der
Schweiz, in denen sich noch nie je­
mand hat scheiden lassen: Bister
und Niederwald. Es sind kleine
Der grösste Sohn Niederwalds: Hotel-Tycoon César Ritz
Martin Mutter, 53: Hochzeitsjubiläum verschwitzt
Dörfer. Niederwald hatte vor fünf­
zig Jahren über 150 Einwohner.
Heute sind es nur noch 50. Schon
wegen der Bevölkerungsentwick­
lung werden in diesen Gemeinden
also nur wenige Hochzeiten gefei­
ert. Angesichts der steigenden
Scheidungsquoten ist es trotzdem
erstaunlich, dass sich in den letzten
50 Jahren hier noch nie jemand hat
scheiden lassen. Und wohl auch in der
Zeit zuvor nicht. Von vor 1969 hat das
Bundesamt für Statistik keine Zah­
len. Was ist das Geheimnis der Nie­
derwaldner und Bister? Warum hat
sich hier noch kein Ehepaar getrennt?
Karin Gehrig sitzt in der Drei­
tannen am Stammtisch und faltet
die Hände im Schoss. Aus dem
Fenster blickt man auf den Eingang
der katholischen Dorfkirche St. Theo­
dul. Gehrig sagt: «Wir leben hier
sehr eng aufeinander. Natürlich
führt das zu Streit. Aber auch dazu,
dass wir den Streit sehr schnell bei­
legen.» Sie habe mit ihrem Mann
eine Abmachung: «Kein Tag endet
ohne Gutenachtkuss.» Ob ­kleinere
oder gröbere Probleme, alles m
­ üsse
bis zum Abend auf die Platte. Geh­
rig wischt zweimal sanft mit der
flachen Hand über die Tisch. «Sonst
kann ich nicht r­ uhig schlafen.»
Natürlich spiele auch die Reli­
gion eine Rolle, sagt Gehrig. So sei
es zum Beispiel schwierig, wenn
jemand aus dem Dorf ein unehe­
liches Kind zur Welt bringe. Spe­
Weniger Heiraten, mehr
Scheidungen in der Schweiz
10 Anzahl Heiraten/Scheidungen
pro 1000 Einwohner
7,5
Heiraten
5
2,5
Scheidungen
0
1872
Willi, 55, und Caroline Diezig, 53: Geheimnis der langen Ehe für sich behalten
«Bis der Tod euch scheidet»
ist in Niederwald und Bister kein leeres
Versprechen – in diesen beiden
Walliser Gemeinden hat sich noch nie
ein Ehepaar getrennt
Niederwald: Alles, was ein Fremder wissen muss
Barnaby Skinner (Text)
und Michele Limina (Fotos)
19
1904
1936
1968
2000
SoZ web; Quelle: BFS
ziell für die Kinder selber. Es sei
etwas, das man lieber unter den
Teppich kehre und nicht in der
­Öffentlichkeit thematisiere.
Karin und ihr Mann David Geh­
rig kannten sich vor ihrer Heirat
schon seit dem Kindergarten. Doch
erst eines Abends im Ausgang in
der Happy Bar in Fiesch seien sie
sich nähergekommen. Ein Jahr spä­
ter standen sie vor dem Altar. «Es
war ein sonniger Maitag», sagt
­Gehrig, «so, wie es sein sollte.»
­Gestresst habe sie nur, dass sich die
Fotografin verspätete; die Haare,
das Make-up, das Kleid perfekt ge­
richtet, aber niemand, um die
Hochzeitsbilder zu machen.
Diezig wiederholt die Frage und
sagt: «Vielleicht liegt es daran, dass
es ein Geheimnis ist. Würden wir es
lüften, wäre das vielleicht gar nicht
so gut.» Das Ehepaar lacht.
Für die Wissenschaft ist die tiefe­
re Scheidungsquote in ländlichen
Gebieten kein Zufall. Und schon gar
kein Geheimnis. Der renommierte
Psychologe Guy Bodenmann von
der Universität Zürich, Initiator des
Projekts Paar­life zur Bewältigung
von Beziehungsstress, sagt: «Die
Hauptursachen für Scheidungen
sind überall die gleichen, egal ob
Stadt oder Land: schwierige Persön­
lichkeitsmerkmale oder die Unter­
schiedlichkeit der beiden Partner.»
Ob diese Faktoren scheidungsrele­
vant werden, hängt für Bodenmann
vom Stress eines Paares ab; Ereig­
nisse wie Umzüge, Arbeitslosigkeit
eines Partners, Behinderung, Wie­
dereinstieg ins Berufsleben, Geld­
probleme, Pensionierung oder das
Kennenlernen eines neuen Partners.
Davon seien auch die Ehepaare
von Bister und Niederwald nicht
gefeit. Bodenmann erklärt die
rekordtiefen Scheidungsraten im
Walliser Tal deshalb eher mit schei­
dungserschwerenden Bedingun­
gen – wie etwa der fehlenden
Anonymität. «Auf dem Land
herrscht eine höhere soziale Kon­
trolle, und dadurch eine stärkere
Soziale Abhängigkeit wird durch
katholischen Glauben verstärkt
Caroline und Willi Diezig gaben
sich vor 26 Jahren das Jawort. Sie
heirateten in der St.-Theodul-Kir­
che in Niederwald. Danach tran­
ken sie mit den rund 100 Gästen
auf dem Dorfplatz bis spät in die
Sommernacht Weisswein. Das
Ehepaar wohnt heute wenige
Schritte von der Kirche entfernt.
Aus ihrem Fenster blicken sie
auf die Statue von César Ritz, die
Weltberühmtheit des Ortes Nie­
derwald. Ritz wanderte 1867 im
Alter von 17 Jahren nach Paris aus,
später nach London und eröffnete
in der britischen Hauptstadt das
berühmte 5-Stern-Hotel The Ritz
am Piccadilly Circus. Noch heute
wird sein Geburtshaus von Tou­
risten und Hoteliers aus der gan­
zen Welt besucht. Der Mann präg­
te gar die englische Sprache. Das
englische Adjektiv «ritzy» bedeu­
tet luxuriös oder prunkvoll.
Caroline und Willi Diezig sind
weniger herumgekommen. Was sie
nicht weiter stört. «Für uns war im­
mer klar, dass wir hier bleiben», sa­
gen sie. «Wir geniessen Ruhe, Luft
und die Nähe zur Familie.» Die
53-Jährige arbeitet als Pflegerin.
Der 55 -Jährige ist Elektromonteur
bei der Regionalbahn. Beim Besuch
des Ehepaars liest Willi an seinem
freien Nachmittag im Wohnzim­
mer die Zeitung. Caroline backt
Weihnachtsguezli. Sie sei noch am
Ausprobieren und müsse sich noch
an den neuen Ofen gewöhnen. Sie
bietet deshalb keine Guezli an.
«Was ist das Geheimnis der gu­
ten Ehen in Niederwald?» Willi
emotionale und finanzielle Abhän­
gigkeit der Partner. Diese werde
noch durch den katholischen Glau­
ben verstärkt.»
Hinzu komme in Bister und
Niederwald die Tatsache, dass sich
keine Paare in den letzten 50 Jah­
ren haben scheiden lassen. So fal­
le es jedem wohl noch schwerer,
der Erste zu sein, diese Regel zu
brechen. Bodenmann sagt: «Äus­
Die Geschichte
digital aufbereitet
dok.sonntagszeitung.ch
sere Bedingungen sind oft ebenso
stabilisierend wie innere Faktoren,
beispielsweise die Liebe.»
Mittlerweile sitzt der frühere
Gemeindepräsident von Nieder­
wald, Martin Mutter, 53, am
Stammtisch im Restaurant Drei­
tannen. Der gelernte Bodenleger
und seine Frau feierten kürzlich
den zwanzigsten Hochzeitstag. Der
Handwerker gibt zu, das Jubiläum,
die Porzellanhochzeit, vollkom­
men verschwitzt zu haben. Zu sei­
ner Verteidigung sagt er: «Das ist
für uns nicht so wichtig. Meine Frau
hat ihn auch vergessen.»
Doch er lässt nicht stehen, dass
Romantik in ihrer Beziehung kei­
nen Platz mehr hätten. «Ich glau­
be, es ist wichtig, einander Raum
zu lassen», sagt Mutter, «ich fahre
zum Beispiel lieber Ski als meine
Frau. Sie geht lieber nach Brig ins
Kino.» Viel wichtiger seien die Sa­
chen, die man zusammen tue. Die
gelte es umso mehr zu geniessen.
Mutter richtet zwischen Dau­
men und Zeigefinger zwei Häuf­
chen Schnupftabak, zieht eines
durch das rechte, das andere durch
das linke Nasenloch. Er sagt: «In
den Bergen haben wir eine kleine
Hütte, rund eine Stunde Marsch
vom Dorf.» Dorthin würde sich das
Ehepaar regelmässig für einige Tage
zurückziehen – am liebsten im
Sommer, ohne Handy, ohne Fern­
seher, nur sie beide.
Liegt es also einfach an der Berg­
luft von Niederwald, dass sich kei­
ne Ehepaare trennen? Wie viele sich
bis in den Tod treu geblieben sind,
zeigt ein Spaziergang auf dem
Dorffriedhof vor der St.-TheodulKirche. Beinahe alle Gräber sind mit
Ehepaaren belegt. Auch der 1918
verstorbene Luxushotelier César
Ritz ist dort zu finden. Nach lang­
jährigen Aufenthalten in London
und Paris liess er sich in seinem Hei­
matdorf begraben. Dass seine Frau
Marie-Luise gleich daneben liegt, ist
in Niederwald eine Selbstverständ­
lichkeit.
Städtische Agglomerationen sind scheidungsfreudiger
Adlikon 221
0
Kreuzlingen
Basel
Zürich
Anzahl Scheidungen
auf 100 Hochzeiten
im Zeitraum von
1969 bis 2014
Luzern
BERN
Sion
221
Bellinzona
Genf
Lugano
St.-Theodul-Kirche in Niederwald: Treue bis ins Grab
Lesebeispiel Wegen vieler Zuzüge
kommt Adlikon ZH auf 221 Scheidungen
auf hundert Hochzeiten. Damit ist es
schweizweit das scheidungsfreudigste Dorf.
Bister 0
Niederwald 0
SoZ web; Quelle: BFS