11 6. Ehescheidung und Wiederheirat im Alten Testament Der Scheidebrief (5. Mose 24,1-4) Innerhalb des Alten Bundes gab es die Möglichkeit, dass sich der Mann von seiner Frau scheiden lassen konnte. Das diesbezügliche Gebot steht im Zusammenhang mit verschiedenen Vorschriften nach dem Muster »WennDann-Aber«, z. B: Wenn ihr Gelübde ablegt, dann haltet sie ein oder wenn ihr an einem Weinberg bzw. Getreidefeld vorbeikommt, dann dürft ihr Trauben essen bzw. Ähren pflücken, aber kein Gefäß bzw. keine Sichel benutzen1. Dementsprechend heißt es dann: Wenn ein Mann seiner Frau einen Scheidebrief gegeben hat, dann kann er sie nicht wieder zurücknehmen. Dementsprechend erscheint der Scheidebrief als Zugeständnis; er war nicht verboten, sondern ausdrücklich erlaubt, aber wenn er ausgestellt wurde, dann galten bestimmte Einschränkungen. Der Zusammenhang beweist aber auch, dass die Ehe nicht mit einem Gelübde vor Gott verbunden war, sonst würde ja die Vorschrift über den Scheidebrief gegen die über das Gelübde drei Verse zuvor verstoßen. Scheidung wäre dann eine Sünde, weil durch sie ein Gelübde gebrochen würde. Der Scheidebrief, den der Ehemann seiner Frau bei ihrer Entlassung aus seinem Haus mitzugeben hatte, sollte deutlich machen, dass sie nicht ausgerissen und untreu geworden ist. Im Unterschied dazu genügt es heute noch bei Moslems, dass der Mann dreimal sagt: »Ich verstoße dich!« Seit Jahrhunderten kann sich ein Mann in einem arabischen Land durch ein gesprochenes Wort von seiner Frau scheiden lassen. Die so geschiedene Frau ist berechtigt, ihre Kleidung mitzunehmen, und der Mann kann ihr nichts von dem nehmen, was sie am Leib trägt. Deshalb bekommen Münzen im Kopfschmuck, Ringe und Halsketten in diesem Augenblick der Not für die geschiedene Frau eine so große Bedeutung... Zweifellos waren in nichtjüdischen Ländern zur Zeit des Alten Testaments derlei Scheidungsbräuche gang und gäbe. Deshalb schränkte das mosaische Gesetz die Macht des Ehemannes, sich von seiner Frau ohne weiteres scheiden zu lassen, ein, indem es von ihm forderte, ihr einen schriftlichen Scheidebrief zu geben (vgl. 5. Mose 24,1)... Es ist wichtig, dass nach jüdischem Gesetz die Sünde des Ehebruchs nichts mit dem Thema Scheidung zu tun hatte.2 Das alttestamentliche Gebot hatte also die Funktion, Unrecht einzudämmen. Durch den Scheidebrief stand weder seiner noch ihrer Wiederverheiratung etwas im Wege, sie wurde normalerweise erwartet. Der Mann sollte 5.Mose 23,22-26 Fred H. Wight, Manners and Customs of Bible Lands, Moody Press, 1989, S. 125 in: Paula Sandford, Heilung für die Gefühle der Frau,Gottfried Bernhard Verlag, Solingen 1994, S. 180f. 1 2 12 sich die Scheidung von seiner Frau allerdings reiflich überlegen, da sie danach für ihn als unrein bzw. unberührbar galt, sodass eine erneute Heirat mit der verstoßenen Ehefrau nach ihrer zweiten Ehe ausgeschlossen war. Das Recht auf Scheidung hatte im Judentum grundsätzlich nur der Mann: Der Mann, der die Scheidung vorbringt, gleicht nicht der Frau, die geschieden wird; die Frau wird entfernt mit ihrem Willen und gegen ihren Willen; der Mann aber entfernt sie nur mit seinem Willen. 3 Die Formulierung Wenn er etwas Anstößiges gefunden hat deutet auf einen gravierenden Scheidungsgrund hin, was aber nicht näher umrissen wird. Während also in den Evangelien nur Unzucht als Grund genannt wird, gab es im Alten Bund verschiedene (gravierende) Scheidungsgründe außer Ehebruch. Denn auf Ehebruch stand die Todesstra- Während also in den fe4. Der Tod des Ehebrechers ermöglichte dem Hin- Evangelien nur Unterbliebenen eine neue Ehe. Das ist alttestamentli- zucht als Grund gecher Schriftstandard. Wenn man bedenkt, in wievieler nannt wird, existierte Hinsicht wir uns in Kirchen und Gemeinden eher auf im Alten Bund Ehealttestamentlichem Niveau bewegen, zum Beispiel in scheidung aus verder Betonung des Zehnten oder einer Ein-Mann- schiedenen Gründen außer Ehebruch. bzw. Priester-Leiterschaft, erscheint die vehemente Abgrenzung vom Alten Testament beim Thema Ehescheidung als inkonsequent. Jesus kritisierte nicht den Scheidebrief selbst, sondern den leichtfertigen Umgang damit. Aus den gravierenden Gründen für eine Scheidung waren nämlich inzwischen beliebige geworden. Jesus ist nicht gekommen, um für Israel das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen5. »Bis dass der Tod euch scheide« (Römer 7,2-3) Auch Paulus bestätigt, dass die Gebote selbst heilig, also von Gott inspiriert, ausgewogen und gerecht sind. Einige Verse vorher illustriert er anhand einer durch Tod bzw. Ehebruch beendeten Ehe einer Frau 6, was eine rechtmäßige und was eine unrechtmäßige Befreiung vom Gesetz ist. Die Frau wurde natürlich nicht in jedem Fall eine Ehebrecherin genannt, wenn sie zu Lebzeiten ihres ersten Mannes einen anderen heiratete; dann nämlich nicht, wenn sie von ihrem Mann einen Scheidebrief erhalten hatte und daraufhin erneut heiratete. Das Thema von Römer 7 ist aber insgesamt das Gesetz und nicht die christliche Ehe bzw. Scheidung. Dieser Abschnitt lehrt nicht, dass allein der Tod eines Ehepartners dem anderen Partner eine Talmud-Traktate Ketuba 7,9f. und mJebamot 14,1, in August Strobel, Zürcher Bibelkommentare, S.121 4 5.Mose 22,22-24 5 Matthäus 5,17 6 Römer 7,2-3.12 3 13 Wiederheirat erlaubt, denn hier geht es überhaupt nicht um die Lehre von Scheidung und Wiederheirat. Sowohl Christus selbst als auch Paulus haben dieses Thema an anderer Stelle behandelt.7 Der ganze Text ist eine Illustration für die Befreiung vom Gesetz aus der den Römern vertrauten Perspektive des Alten Testaments. Durch die Keule des daraus konstruierten Scheidungs- und Wiederheiratsverbotes für Christen wird sie ins glatte Gegenteil verkehrt. Will man für das Thema Scheidung dennoch aus diesem Abschnitt Erkenntnisse gewinnen, sollte man auch hier genau hinsehen bzw. hinhören: In Vers 2 ist von einer Frau die Rede, die einem Mann unterstellt ist 8. Das griechische Wort bleibt in vielen Übersetzungen völlig unberücksichtigt oder wird nur mit verheiratet wiedergegeben. Wörtlich bedeutet das: unter einem Mann befindlich9, weshalb es im Mülheimer NT die unter den Mann gestellte Ehefrau, bei J. A. Bengel Das Weib nämlich, das unter dem Manne ist und im Konkordanten NT die Frau, die einem Mann untersteht, heißt. Dadurch wird klar, dass die Frau natürlich nicht an den Ehemann gebunden ist und ihm untersteht, nachdem er sie ent- oder verlassen hat. Da Paulus den Römern ein Bild aus dem Gesetz gibt, bedeutet es in der Anwendung auf Christen, dass die Frau eines Mannes, der selbst die Ehe gebrochen hat, frei für eine neue Ehe ist. Denn im Alten Bund wäre er gesteinigt worden und gestorben wäre, sodass sie frei vom Gesetz ist und keine Ehebrecherin ist, wenn sie eines anderen Mannes wird (Vers 3). Sie wird also nicht eine Ehebrecherin genannt, weil der Mann noch lebt, der sie verlassen, entlassen oder betrogen hat, wenn sie noch einmal heiratet. Eine Ehebrecherin und entsprechend ein Ehebrecher ist, wer sich beim Bestehen seiner Ehe auf ein außereheliches Verhältnis einlässt. Unzutreffend und leider zu oft wurden diese Verse als Beleg für das Scheidungsverbot verbunden mit den Worten »bis dass der Tod euch scheide« herangezogen. Es stimmt ja, dass eine Frau im Alten Testament bis zu ihrem Tod an den Mann gebunden war, es sei denn, er hat ihr einen Scheidebrief gegeben. Dann wurde sie nämlich nicht eine Ehebrecherin genannt (und gesteinigt). Der Mann wiederum wurde nicht ein Ehebrecher genannt, wenn er zu Lebzeiten seiner ersten Frau der Mann einer anderen wurde, da er ja mit dem Scheidebrief seine erste Ehe legal beenden konnte. Diese Möglichkeit hatte die Frau normalerweise nicht. Daran sehen wir, dass sich eine zu unbedarfte Übertragung auf den Mann und erst recht eine Verallgemeinerung für den Neuen Bund verbietet. Kommentar zu Römer 7,2-3 von John Mac Arthur, Studienbibel, Schlachter Version 2000, Bielefeld 2002 8 griechisch υπανδρος / hypandros aus υπο / hypo und ανδρος / andros 9 Rienäcker, Sprachlicher Schlüssel, Gießen/Basel 1980, S.328 und Langenscheidt: dem Manne unterworfen 7 14 Hasst Gott Ehescheidung wirklich? Genau genommen regelt 5. Mose 24,1 lediglich, wie der Scheidebrief angewendet werden soll. Das entspricht Formulierungen, die z. B. die Speiseopfer näher bestimmen10. Weder diese Speiseopfer noch den Scheidebrief hat Gott befohlen. Deshalb stellt Jesus klar, dass der Scheidebrief lediglich ein Zugeständnis war11. Daraus wurde jedoch im Laufe der Jahrhunderte eine leicht zu handhabende Regel, bei der man sich scheinbar auf göttliches Recht berufen konnte. Diesen Verfall, der sogar in Priesterfamilien Einzug hielt beklagt Gott durch den Propheten Maleachi. Die Untreue der Priester zeigte sich in der Vernachlässigung ihres Lehrdienstes, aber auch in der Heirat mit Ungläubigen bzw. der Untreue der Frau der Jugend gegenüber12. Insofern kann man sicherlich sagen, dass Gott Ehescheidungen verabscheut, die ihren Grund in der Untreue haben und dann mit dem Scheidebrief legalisiert werden. Aber kann Gott wirklich etwas hassen, was Er durch Mose (wenn auch als Zugeständnis) Seinem Volk ermöglicht und im Gesetz verankert hat? 13 Die Frage muss gestellt werden, weil u.a. mit diesem Vers immer wieder die Unauflösbarkeit der Ehe begründet wird. Heinzpeter Hempelmann z.B. zitiert diesen Vers auf 145 Seiten nicht weniger als 15 mal und bezeichnet ihn als Fundamentalaussage14 zum Thema Scheidung, obwohl er im Unterschied zu etlichen anderen Stellen aus dem Alten Testament 15 kein einziges Mal im Neuen Testament zitiert oder überhaupt erwähnt wird. Dennoch ist es erhellend, ihn genauer zu untersuchen; und das wäre auch all denen ans Herz zu legen, die im Unterschied zu mir die Wichtigkeit dieser Stelle für das Thema Scheidung betonen. Man staunt nicht schlecht, wenn man sich Maleachi 2,16 im Hebräischen und in den verschiedensten Übersetzungen betrachtet. Egal wie mächtig man des Hebräischen ist, wird man gerne zugeben, dass dieser Vers und die vorausgehenden alles andere als leicht zu übersetzen und eindeutig auszulegen sind16. Allein das wäre ein Grund, ihn nicht als Schriftbeweis heranzuziehen. Die unverwechselbare hebräische Form für ich hasse bzw. ich 3.Mose 1,1; 2,1.4; 3,1 Matthäus 19,7-8 12 Maleachi 2,7-15 13 Maleachi 2,16 14 Heinzpeter Hempelmann, Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat, Verlag der Liebenzeller Mission 2003, S.59 15 siehe Tabelle 1, S. 242 16 »Ein hinsichtlich der Überlieferung des hebräisch Wortlautes schwieriger Text«, Klaus Grünwaldt zu Maleachi 2,10-16 in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Verlag Traugott Bautz, Herzberg 1993, Band V, Spalten 615-619; die Elberfelder Bibel bezeichnet Maleachi 2,15 als »schwierige Textstelle« (Fußnote 26). 10 11 15 habe gehasst in der 1. Person findet sich an vielen Stellen im Alten Testament17, wo sowohl Gott als auch Menschen sagen: Ich hasse bzw. hasste. Die durch das Zitat im Neuen Testament 18 vielleicht bekannteste Stelle steht 27 Verse vorher in Maleachi 1,3, wo es heißt: Esau habe ich gehasst. In Maleachi 2,16 fehlt dieses ich; dennoch legen viele mit der Übersetzung ich hasse dieses Wort Gott in den Mund (u.a. Elberfelder, Schlachter, Menge, Bruns, Gute Nachricht, Hoffnung für alle). Dabei kommen nur zwei Übersetzungen infrage: Entweder er hat gehasst oder hassend, was ungefähr auf das gleiche hinausläuft und mit dem späteren er bedeckt mit Frevel sein Kleid zusammenpasst. Luther hat die 3. Person berücksichtigt, nur wenige haben sich für hassend bzw. mit Hass entschieden und sind damit der griechischen19 und der lateinischen Übersetzung20 gefolgt (u.a. Buber-Rosenzweig, Einheitsübersetzung, Pattloch). Eine Übersicht der verschiedenen Übersetzungen befindet sich im Anhang21. Entscheidet man sich für hassend oder aus Hass zu entlassen, dann wird damit ausgesagt, dass es in Gottes Augen Unrecht ist, mit oder aus Hass zu entlassen - ein auch aus neutestamentlicher Sicht wertvoller Gedanke. Es ist aber naheliegender, diese Form wie an den anderen Stellen, an denen sie vorkommt, mit er zu übersetzen22. Daraus ergibt sich jedoch noch ein ganz anderer Sinn, nämlich: Er hasste zu entlassen, sprach der HERR, der Gott Israels, und deckte Unrecht auf sein Kleid (Übersetzung des Autors). Hier stellt sich dann die Frage: Wer ist mit er gemeint? Ich glaube, dass von Abraham die Rede ist, dem es sehr missfiel, Hagar fortzuschicken bzw. zu verstoßen23, was aber Sara und Gott von ihm verlangten. Abraham ist dann auch der im vorausgehenden Maleachi 2,15 angesprochene Eine, der damit anfing, der Frau seiner Jugend und seines Bundes untreu zu werden. Was erstrebte der Eine? Warum schlief Abraham mit Sarahs ägyptischer Magd? Was wollte er damit erreichen? Nachkommenschaft von Gott. Selbst Abraham brachte sich also in eine Situation, in der er etwas tat, was er eigentlich hasste. Umso mehr sollen sich die Israeliten sich davor hüten, ihre israelitischen Frauen zu entlassen und ausländische Frauen zu nehmen. hebräisch שׂנאbzw. שׂנאתי1. Person Singular Perfekt in Jeremia 44,4; Amos 5,21; 6,8; Sacharja 8,17; Psalm 26,5;31,7;101,3;119,104.113.128.163; Sprüche 5,12; 8,13; Prediger 2,17.18 18 Römer 9,13 19 Septuaginta (Abk. LXX): μισησας / misäsas = Partizip Aorist 20 Vulgata: cum odio = mit Hass 21 Tabelle 2, S. 243 22 hebräisch שׂנאin 5.Mose 12,13;16,22; Sprüche 6,16 (jeweils Gott hasst); 2. Samuel 13,22 (Abschalom hasste) 23 1.Mose 21,11.14 (LB), dort dasselbe Verb שׁלח/schalach für entlassen wie in Maleachi 2,16 und 5.Mose 24,1 17 P 16 Bevor man diese zugegeben ungewohnte Auslegung 24 als abwegig abtut, sollte man sich auf die Suche nach einer Alternative machen. Sie sollte nicht nur grammatikalisch akzeptabel sein und die Frage beantworten, wer in Vers 16 gemeint ist, sondern auch die erheblichen Schwierigkeiten bei der Auslegung der vorangehenden Verse auflösen. Die Auflösung der Mischehen durch Esra und Nehemia So wie Eltern es durchaus hassen können, eine angekündigte Strafe konsequent durchziehen zu, kann auch Gott eine unumgängliche Scheidung hassen. Obwohl Gott sicher (wie Abraham) Scheidung grundsätzlich verabscheut, fordert Er sie durch Maleachis Zeitgenossen Esra und Nehemia. Die Auflösung hunderter Mischehen mit ausländi- Die Untreue Gott geschen Frauen bedeutete, dass diese Frauen mit Schei- genüber führte zu debrief entlassen und weggeschickt wurden, und das den Mischehen. Ihre nicht, weil sie Ehebrecherinnen waren, sondern Auflösung war aus lediglich weil sie einem anderen Volk bzw. Gott Gottes Sicht das kleiangehörten25. Hier werden wieder Gottes Prioritäten nere Übel und eine erkennbar. Der Bund mit Ihm ist hier der höhere notwendige Maßnahme. Wert, der gefährdet war und den es zu schützen galt. Die Untreue Ihm und Seinem Gesetz gegenüber führte zu Mischehen. Deren Auflösung war aus Gottes Sicht das kleinere Übel und eine ebenso notvolle wie heilsame Maßnahme. Da es Gott dabei um den Erhalt Seines Volkes Israel ging, ist davon auszugehen, dass die nun geschiedenen Israeliten Zweitehen eingingen und erneut Familien gründeten. An anderer Stelle wird beschrieben, wie Gott selbst an den Punkt kam, dem untreuen und unbußfertigen Israel den Scheidebrief zu geben. So hat es Jeremia es in der prophetischen Rede formuliert 26. Allerdings erweist der Herr sich nicht nur als Herr des Sabbats, sondern auch des Scheidebriefs, indem Er entgegen der Anordnung an die Israeliten Juda als bereits entlassene Frau wieder annimmt27. "Die letzten Worte werden auf Abraham gedeutet, der die Hagar verstieß, weil er Samen Gottes ... suchte." in: Dr. theol. Reiner-Friedemann Edel, Hebräisch-Deutsche Präparation zu den Kleinen Propheten II, S. 103 25 Esra 10,10-19; Nehemia 13,1-3.23-31 26 Jeremia 3,6-10, siehe S. 195 27 Jeremia 3,1, siehe S. 195 24 17 7. Die Lehre Jesu über Scheidung und Wiederheirat Eine gute Schriftauslegung berücksichtigt das Prinzip der fortschreitenden Offenbarung, das der ganzen Bibel und der Geschichte Gottes mit sterblichen Menschen innewohnt. So gibt es auch innerhalb des Neuen Testaments Lehrthemen, die sich fortschreitend entfalten und insofern sowohl eine historische als auch inhaltliche Dynamik besitzen. Die unter der Inspiration des Heiligen Geistes entstandenen Evangelien enthalten verschiedene Schwerpunkte, die für unterschiedliche Lesergruppen gedacht waren. Ich nehme in den darin enthaltenen Jesus-Worten über Ehescheidung eine inhaltliche Weiterentwicklung von Lukas über Markus zu Matthäus wahr. Die unterschiedlichen Versionen sind für mich nicht Widerspruch, sondern Ergänzung. Sicherlich hat Jesus über einzelne Themen nicht nur ein einziges Mal, sondern zu verschiedenen Gelegenheiten zu verschiedenen Menschen Unterschiedliches und doch Übereinstimmendes und sich Ergänzendes gesagt. Deshalb möchte ich in der eben erwähnten Reihenfolge, ergänzt durch zwei Abschnitte aus dem Johannes-Evangelium, die entsprechenden Evangelienstellen durchgehen und dann ausführlicher auf das MatthäusEvangelium als Ganzes eingehen. Was will Jesus erreichen, was will Er verhindern? Bei allem Abwägen einzelner Evangelienstellen sollte man sich bemühen, immer wieder die Grundanliegen Jesu und der Autoren des Neuen Testamentes ins Auge zu fassen. Was war Sein Fokus, worauf lag deren Augenmerk? Wenn wir uns diese Frage stellen, haben wir bei diesem Thema die richtige Blickrichtung. Jesus wollte den Menschen die ursprünglichen Gedanken Gottes über die Ehe nahebringen und die Bedeutung der Treue und die Gefahr der Untreue bereits im Herzen betonen. Jesus fordert immer zum Glauben heraus und zeigt in der Bergpredigt, wie wichtig Gott bei all unserem (auch frommen) Tun die Haltung unseres Herzens ist. Das ist der Grund, weshalb sich Jesus gegen eine damals übliche leichtfertige Scheidungspraxis wendet. Sie basierte zwar auf dem seit Mose erlaubten Scheidebrief, wurde aber zur Absegnung ehebrecherischer und niedriger Motive missbraucht. Scheidung war legitim, auch wenn offensichtlich negative Entwicklungen im Zusammenhang mit der Anwendung dieses Gesetzes einhergingen. Das gibt es auch heute, dass Gesetzeslücken egoistisch ausgenutzt und Vorschriften gegen die Intention des Gesetzgebers angewandt werden. Ebenso mutet es eigenartig an, wenn Christen einen Weg suchen, der äußerlich legitim, unter Berücksichtigung der 18 Motive aber alles andere als Gott wohlgefällig ist. Das kann dazu führen, dass christliche Ehepartner in den Ehebruch getrieben werden, damit die Ehe »wegen Unzucht«28 geschieden werden kann, oder dass ein ungläubiger Ehepartner vom gläubigen Teil dazu gebracht Die »Liebesehe« gibt es sodass der von eigentlich erst seit dem wird, die Scheidung ein-zureichen, 29 Paulus erlaubte Scheidungsgrund anwendbar ist. 19. Jahrhundert Das Ergebnis ist dann, dass zwar dem Buchstaben des Gesetzes entspre-chend verfahren, dessen Ziel aber verfehlt wird. Für solche Auswüchse sind zu enge Lehren über Scheidung und Ehebruch mitverantwortlich. Wenn solch ein Vorgehen akzeptiert wird, sind wir kein bisschen weiter als da-mals, als das Gesetz gegen Gottes Das Ergebnis ist dann, Absichten miss-braucht wurde. Dahin kann es kommen, wenn dass zwar dem Buchman vom Buchstaben und einzelnen Versen her denkt. Wer die staben des Gesetzes Intention eines Gesetzes nicht mehr wahr-nimmt, verfehlt leicht entsprechend verfahdas Ziel. Die missbräuchli-che Bezugnahme auf den Wortlaut ren, dessen Ziel aber eines Gesetzes oder einer Bibelstelle kann insofern im Einzelfall verfehlt wird. sogar zur Sünde werden, weil sie am Ziel Gottes insgesamt vorbeigeht, Seine Absichten missachtet und nicht aus dem Glauben, sondern aus dem Unglauben kommt30. Beim Geben (ob es nun der Zehnte oder etwas anderes ist) ist Gottes tieferes Ziel, uns frei vom Mammon zu machen und uns zu lehren, aus Seiner Versorgung zu leben und vertrauensvoll in Sein Reich zu investieren. Dabei kann eine Wurzel alles Bösen, die Geldliebe31, herausgerissen werden. Der junge Reiche, dem Jesus begegnete, bewegte sich einwandfrei im Rahmen des Gesetzes. Dennoch merkte er, dass ihm Vollkommenheit fehlt. Das griechische Wort für Vollkommenheit ist abgeleitet von dem Wort für Ziel.32 Vollkommenheit im neutestamentlichen Sinn heißt nicht, perfekt zu sein und sich im Rahmen des Gesetzes zu bewegen, sondern das Ziel zu erreichen, dem Wesen und den Absichten Gottes nahezukommen. Das geschieht nicht in dem oben geschilderten Fall einer fast zynischen Beachtung des Gesetzes bei gleichzeitiger Abwendung des Herzens von Gott. Das ist auch die Gefahr von gesetzlicher Verkündigung und Lehre, die einerseits unter Druck und Verdammnis bringt und andererseits zur Heuchelei anstiftet. Im Umgang mit dem Gesetz und der Bibel kann man grundsätzlich auf zwei Seiten vom Pferd fallen, entweder in die Jauchegrube der falsch verstandecausa Matthäi = außer wegen Hurerei, Matthäus 19,9 Privilegium Paulinum = Wenn aber der Ungläubige sich scheidet, so scheide er sich, 1. Korinther 7,15 30 Römer 14,23 31 1.Timotheus 6,10 32 τελειοτης / teleiotäs von τελος / telos 28 29 19 nen Freiheit oder in das Dornengestrüpp der engstirnigen Gesetzlichkeit. Beides führt am Ziel vorbei. Der Schutz der Frau (Lukas 16,18) Lukas 16,18 ist die Grundaussage Jesu zum Thema Scheidung. Jesus wendet sich grundsätzlich gegen das in seiner Zeit leichtfertig praktizierte Entlassen der Frau und bezeichnet es als Ehebruch, wenn die Ehefrau weIm Umgang mit dem gen einer anderen Frau entlassen wird. Zur Gesetz und der Bibel Grundintention dieses Evangeliums gehört, dass kann man grundsätzlich der griechische Arzt Lukas mehr als die anderen auf zwei Seiten vom Evangelisten das Wohl benachteiligter und verPferd fallen, entweder in achteter Volksgruppen vor Augen hatte. Von der die Jauchegrube der Weihnachtsgeschichte an bis zum Bericht über falsch verstandenen Freiheit oder in das Dornen- die Auferstehung Jesu betont Lukas die Zuwengestrüpp der engstirni- dung Gottes in Jesus insbesondere zu Kindern, Armen, Kranken und eben auch Frauen. Das gen Gesetzlichkeit. stand im Kontrast zur gesellschaftlichen Realität im gesamten römischen Reich. Lukas hebt die soziale Dimension des Evangeliums und das Wirken des Messias gegen Ungerechtigkeit hervor 33. Das beinhaltete auch Warnrufe an die arglosen Reichen. Auch der Vers über Ehescheidung ist eingebettet in vorausgehende und folgende warnende Worte über den unsozialen und götzendienerischen Umgang mit Geld. In den Worten über Scheidung ist daher Jesu vorrangiges Anliegen erkennbar, die in der jüdischen Gesellschaft zum Verschiebegut degradierten Frauen zu schützen - daher dieses klare und kompromisslose Wort, das keine Ausnahme nennt. Insbesondere wenn das Wegschicken der Frau mit der Heirat einer anderen in einem Atemzug geschieht, nennt Jesus das Ehebruch: Jeder, der entlässt und heiratet, bricht Ehe. Die von Lukas verwendeten Verbformen drücken (wie in Markus 10,12) eine Gleichzeitigkeit von entlassen und heiraten aus. Es kommt immer wieder im Neuen Testament vor, dass die Aussage zweier Partizipien eine bestimmte Konsequenz ergibt, zum Beispiel: Jeder, der weitergeht und nicht in der Lehre des Christus bleibt, hat Gott nicht 34. Beide Elemente, die im Deutschen mit einem Nebensatz aufgelöst werden, gehören für die Aussage zusammen.35 Wörtlich heißt es also: Jeder seine Frau Entlassende und eine andere Heiratende bricht Ehe. Warum? Weil in dem Fall ein vorhandenes Band Die bekanntesten Beispiele dafür sind barmherzige Samariter (10,30-35), reicher Kornbauer (12,16-21), großes Abendmahl (14,16-24), reicher Mann und armer Lazarus (16,19-31), bittende Witwe (18,2-6) 34 2. Johannes 9; andere Beispiele dafür sind Matthäus 7,26; Lukas 6,47; Johannes 6,40; 11,26 35 Mehr über die Verwendung von Partizipien in den Versen über Scheidung und den im griechischen differenzierten Zeitstufen und Aktionsarten in der Tabelle 10 des Anhangs S. 252 33 20 und Ein-Fleisch-Sein gewaltsam gelöst, das heißt gebrochen wird. Man bedenke aber, dass nicht jeder Entlassende die Ehe bricht, so wie ja auch nicht jeder Heiratende die Ehe bricht, sondern jeder Entlassende und Heiratende. Deshalb bedeutet ein neuer Partner als Trennungsgrund immer Ehebruch. Daher sind die von Matthäus und Paulus genannten Gründe Unzucht und ungläubiger Partner hier nicht erwähnenswert, da ein Entlassen oder Verlassen in diesen Fällen nicht wegen eines neuen Partners geschieht und auch nicht unmittelbar zu einer neuen Ehe führt bzw. führen soll. Wie erwähnt stellte Jesus die Legitimität des Scheidebriefs nicht generell infrage, sondern dessen Missbrauch. Das ehebrecherische Verhalten von Juden, die leichtfertig ihre Frauen in die Wüste schickten, war für alle offensichtlich, aber scheinbar vom mosaischen Gesetz abgedeckt. Nach der Formulierung36 in Lukas 16,18 war dieses Verhalten jedoch nicht nur eine leidige Fehlentwicklung des Scheidebrief-Paragraphen, sondern ein direkter Verstoß gegen eines der Zehn Gebote. Die zweite Vershälfte über das Heiraten einer vom Mann entlassenen Frau zeigt37 allerdings, dass man auch später in den Ehebruch eines anderen hineingezogen werden kann. Daher ist es angemessen, vor dem Heiraten Geschiedener genau die Vorgeschichte und sehr gewissenhaft den Stand der Dinge zu prüfen. Das vielfach irrtümlich hineingelesene kategorische Jeder, der ... fehlt aber hier wie auch in Matthäus 19 und Markus 10. Im Zusammenhang mit Scheidung kommt dieses Wort außerdem in der provozierenden Frage der Pharisäer vor: Ist es … erlaubt, aus jeder beliebigen Ursache seine Frau zu entlassen?38 Da Jesus dies offensichtlich verneint, dürfen wir nicht ins andere Extrem fallen und an die Stelle von aus jeder Ursache erlaubt ein aus jeder Ursache verboten setzen. Nach Lukas spricht Jesus allerdings jeden schuldig, der seine Frau entlässt, um eine andere zu heiraten. In Matthäus 5,32 betrifft das Wort Jesu jeden, der seine Frau wegschickt, ohne dass dabei Unzucht eine Rolle spielt. Es heißt aber nicht, dass der Mann dann selbst die Ehe bricht; er verleitet vielmehr seine ungerechtfertigt entlassene Frau zum Ehebruch. Wie bei Lukas ist auch hier die zweite Vershälfte nicht mehr genauso kategorisch formuliert. Hartherzigkeit (Markus 10,1-12) Das Markus-Evangelium ist der Überlieferung nach39 vom Neffen des Barnabas und ehemaligen Reisebegleiter von Paulus unter dem Einfluss der Verwendung von moicheuo wie beim Zitat der Zehn Gebote statt moichaomai, siehe S. 97 durch die Vorzeitigkeit des Partizips Perfekt απολελυμενην / apolelymenän 38 Matthäus 19,3 39 nach Eusebius von Cäsarea (Kirchengeschichte, 2.Buch, 15.Kapitel), der sich auf Klemens und Papias, den Bischof von Hierapolis, beruft 36 37 21 Predigten des Petrus in Rom geschrieben worden40. Während das Wort Jesu über die Scheidung bei Lukas völlig unabhängig von einer bestimmten Begebenheit steht, ist es hier (wie in Matthäus 19) in die Diskussion über den Scheidebrief eingebettet. In ihr spricht der Herr zunächst über Hartherzigkeit und dann über Gottes Absichten mit der Ehe seit der Schöpfung. Daher wird man diesem Text und der Intention Jesu nicht gerecht, wenn man sich nur auf die letzten Verse »stürzt« und daraus allein die Lehre über Scheidung (und Wiederheirat) ableitet. In Markus 10,5 bezeichnet Jesus den Scheidebrief immerhin als Gebot, das wegen Hartherzigkeit eine Erlaubnis zur Entlassung ermöglicht. In der Tat spielt bei Scheidungen Hartherzigkeit eine große Rolle. Das heißt aber nicht, dass jede Entlassung bzw. Scheidung nach 5. Mose 24 Ehebruch und Sünde ist. Wir sollten uns nicht anmaßen, so wie Gott die Herzen zu kennen und etwas als Sünde zu deklarieren, was von Jesus nicht generell verneint wurde. Gott erkennt ehebrecherische Motive und Gedanken ohnehin, ob nun in, vor oder nach einer Ehe. Wir dürfen nicht in das Fahrwasser der falsch motivierten Fragestellung der Pharisäer geraten. Wer fragt: »Darf man sich scheiden lassen?«, muss sich die Gegenfrage gefallen lassen, ob es wirklich darum geht, ehrlich in der Schrift zu forschen und Gottes ewige Absichten zu erkennen, um sie auf aktuelle Lebensfragen anzuwenden. Eine Diskussion zu führen, die letzten Endes nur zum Ziel hat, ein Fehlverhalten zu verurteilen oder zu rechtfertigen, geht an der Intention Jesu vorbei. Die unterschiedlichen Versionen bei Matthäus und Markus brauchen sich nicht zu widersprechen und können als Ergänzung verstanden werden. Ein möglicher Ablauf dieser Begebenheit befindet sich im Anhang 41. Wie bei Lukas spricht die Verbform in Vers 12 bei entlassen in derselben Zeitform wie heiraten für einen unmittelbaren Zusammenhang des Einen mit dem Anderen, sodass es heißen müsste: Und falls sie, entlassend ihren Mann, einen anderen heiratet, bricht sie Ehe.42 Auch im nächsten Vers 14 folgt aus der ersten Handlung die zweite: Als aber Jesus es sah, wurde er unwillig.43 In der Übersetzung »Hoffnung für alle« heißt der Vers 12: Wenn sich ein Mann von seiner Frau trennt, um eine andere zu heiraten, dann ist das Ehebruch. Wie wir sehen, fehlt in diesem Vers zwischen entlassen und heiraten das beide Verben verbindende und. Dieses »und« wird im DeutKolosser 4,10; Apostelgeschichte 15,39; 1.Petrus 5,13 Tabelle 11, S. 253 42 Mit der von Markus verwendeten Form wird zwar oft die Vorzeitigkeit eines Vorgangs beschrieben, aber auch die Gleichzeitigkeit, wenn die punktuelle einmalige Aktion betont werden soll. 43 Eine kleine Auswahl aus der Fülle von Hunderten möglicher Beispiele im NT hierfür mit dem Augenmerk auf dem Markus-Evangelium ist in der Tabelle 12 des Anhangs S. 254f. aufgeführt. 40 41 22 schen oft eingefügt. Das hat etliche Kommentatoren auf den Gedanken gebracht, dass das Eingehen einer weiteren Ehe immer Ehebruch ist, egal ob sie wenige Monate oder Jahrzehnte nach der Trennung begann. Im Zuge dieser Auslegung öffnet sich für Christen, die ihr Ehe- und Scheidungsdesaster endlich verarbeitet und überwunden haben, mit dem Eingehen einer rechtmäßigen und womöglich heilenden neuen Ehe der Abgrund der Hölle. Der Akzent der Worte Jesu liegt jedoch nicht auf etwas, was irgendwann in der Zukunft geschieht (Wiederheirat), sondern auf der Hartherzigkeit, die eine bestehende Ehe zerstört und durch die ein Partner den anderen innerlich oder äußerlich von sich stößt. Den Pharisäern nimmt Jesus die Illusion, sich auf den von Mose zugestandenen Scheidebrief berufen zu können. Denn Jesus lässt alle damals üblichen Gründe für eine Scheidung - außer Unzucht - nicht gelten. Das war für damalige Verhältnisse eine enorme EinIm Zuge dieser Ausleschränkung und bedeutete gleichzeitig eine gung öffnet sich für Aufwertung der Frau. Wir haben längst gemerkt, Christen, die ihr Ehe- und dass die Worte Jesu in ihrer ursprünglichen Scheidungsdesaster endIntention nicht von der damaligen Scheidebrief- lich verarbeitet haben, Praxis gelöst werden können. Warum findet sich mit einer rechtmäßigen bei Matthäus und Lukas kein Wort über eine bei und heilenden neuen der Scheidung aktiven Frau? Weil das ohnehin Ehe der Abgrund der Hölle für Ehebrecher. außer Diskussion stand und nur in ganz extremen 44 Ausnahmefällen denkbar war . Im jüdisch-orientalischen Kontext konnte die Frau höchstens erwägen, ihren Mann zu verlassen, ihn jedoch nicht verstoßen45. Allein bei Markus finden wir für die römische bzw. heidenchristliche Leserschaft, in deren Kultur es auch Frauen möglich war, sich scheiden zu lassen46, eine auf die Frau bezogene Formulierung. Da es in den alten Sprachen keine Anführungszeichen für wörtliche Zitate gibt, ist es für mich durchaus denkbar, dass Jesus diesen Satz nicht selbst gesagt und Petrus bzw. Markus ihn in Anwendung auf seine Hörerschaft in Rom (unter der Inspiration des Heiligen Geistes) hinzugefügt hat. Auf diese Weise gibt es eine auch für unsere Kultur passende Formulierung in der Bibel. Den Jüngern gegenüber nennt Jesus laut Markus Unzucht nicht als Ausnahme, weil es Ihm wie gesagt um ein ehebrecherisches Verhalten dessen geht, der wegen eines anderen den bisherigen Partner aufgibt. Außerdem hat Z.B. bei Zwang durch den Mann zu unmöglichen Gelöbnissen und bestimmten Krankheiten zum Beispiel in Richter 19,2 46 Nach römischem Recht erfolgt die Entlassung der Frau durch den Mann vor Zeugen, sie muss ebenso ihre Scheidung dem Archonten anzeigen, der die Scheidung nicht zu genehmigen, sondern zu beurkunden hatte. S. G. Delling in Reallexikon für Antike und Christentum IV, Sp. 707-731 44 45 23 ein Jünger Jesu immer die Chance und Aufgabe, sein Herz vor Unversöhnlichkeit und Härte zu bewahren. Unzucht kann der Auslöser für eine harte Reaktion sein, wenn der betrogene Partner den Fehltritt nicht verzeiht. Tatsächlich besteht in solch einem Fall die Möglichkeit zur Scheidung; das entspricht dem Zugeständnis des alttestamentlichen Scheidebriefes nun für denjenigen, der das Fremdgehen des Partners als unüberwindliches Hindernis zur Aufrechterhaltung seiner Ehe ansieht. Damit legitimiert Jesus jedoch nicht Hartherzigkeit. Wer Es gibt aber auch seinen Ehepartner, der ehrlich, womöglich unter den Fall, dass nicht Tränen und mehrfach um Vergebung bittet, abblitzen Unzucht Hartherzig- lässt, verhält sich alles andere als christlich. Falls eine keit, sondern Hart- Scheidung dem betrogenen Partner dennoch unumherzigkeit Unzucht gänglich erscheint, muss er irgendwann später ungehervorruft. achtet einer erneuten Heirat an den Punkt kommen, seinen Schuldigern zu vergeben, es sei denn, er verzichtet darauf, dass Gott ihm ebenso vergibt. Hartherzigkeit ist oft auf der Seite des Unzüchtigen anzutreffen, weil Sünde hart macht. Es gibt aber auch den Fall, dass nicht Unzucht Hartherzigkeit, sondern Hartherzigkeit Unzucht hervorruft. Hartherzigkeit ist eine ernste Sache. Bei der Verhärtung des Pharao in Ägypten zur Zeit Moses sehen wir, dass Gott auf die vom Menschen freiwillig getroffene Entscheidung zur Hartherzigkeit damit reagiert, dass Er seinerseits das Herzen hart macht. Zwar hatte Gott von Anfang an angekündigt, dessen Herz hart zu machen47, tatsächlich war der Ablauf aber so, dass er 1. von vornherein ein hartes Herz hatte und nicht auf Mose hörte48, 2. sein Herz selbst verstockte49 und 3. erleben musste, wie der Gott diese Verstockung zementierte50. Demnach steht Verhärtung in einer Wechselwirkung zwischen göttlichem und menschlichem Handeln51. Verhärtung ist also ein Prozess, dessen Ergebnis die Hartherzigkeit ist. Tragischerweise es korrespondiert manches Mal die Hartherzigkeit eines unversöhnlichen Ehepartners mit der Härte eines Leiters, der das Gesetz gnadenlos und herzlos anwendet. Das Ziel Jesu ist jedoch, dass wir statt hartherzig barmherzig werden, so wie Gott barmherzig ist52. 2.Mose 4,21; 7,3 2.Mose 7,13.22; 8,15; 9,7 49 2.Mose 8,11.28 50 2.Mose 9,12; 10,20.27; 11,10 51 2.Mose 9,34-10,1 52 Matthäus 7,1-6; Lukas 6,36-38 47 48 24 Der Seelsorger Jesus (im Johannes-Evangelium) Im Unterschied zu den anderen Evangelientexten geht es in Johannes 4 und 8 nicht um grundsätzliche Aussagen Jesu zum Thema Scheidung gegenüber den Jüngern oder den Pharisäern, die den Normalfall und das Verständnis des Gesetzes betreffen. Hier haben wir es mit einzelnen Menschen und ihrer individuellen Geschichte und Jesu Reaktion auf sie zu tun. Das entspricht der häufigen Erfahrung von Christen, die anderen in ihrer persönlichen Problematik, zum Beispiel vor, während und nach einer Trennungssituation begegnen. Jesus ist nicht nur der beste Lehrer, sondern auch der beste Hirte, der je über die Erde gegangen ist. Daher kann es kein Fehler sein, sondern nur hilfreich, seiner Vorgehensweise nachzuspüren. Jesus und die Samariterin (Johannes 4,1-42) Jesus ging es im Gespräch mit der Samariterin primär um Ehrlichkeit in der Beziehung zu Gott, sowohl in Bezug auf Anbetung als auch hinsichtlich ihrer Lebensführung. Daher ist es für unser Thema bedeutungsvoll, dass Er einerseits von etlichen rechtmäßigen Ehemännern dieser Frau ausgeht und andererseits den Unterschied zu ihrem jetzigen »Lebensabschnittsgefährten« hervorhebt. Die Samariterin beschönigt nichts; sie erkennt offensichtlich ihr Fehlverhalten (Verse 29 und 39), ohne sich verurteilt zu fühlen. Dabei fällt weder das Wort Unzucht noch das Wort Ehebruch oder gar die verbreitete Formulierung »in Sünde leben«. Dennoch merkt diese nichtjüdische Frau, dass bei ihr in diesem Bereich etwas ungeordnet bzw. ungeklärt ist. Vielleicht hat sie zu anderen Leuten immer von ihrem Mann gesprochen. Als Jesus sie auf ihn anspricht, will sie nicht lügen und sagt: Ich habe keinen Mann. Jesus bestätigt das; aber ebenso, dass sie nach offensichtlich fünf Ehen nun mit einem Mann zusammenlebt, den sie nicht wirklich ihren Ehemann nennen kann. Womöglich hat die Frau, nachdem ihre Ehemänner entweder gestorben waren oder sie verstoßen bzw. verlassen hatten, keinen Mut mehr gehabt, erneut zu heiraten. Was auch immer passiert war - sie merkt jedenfalls angesichts Seiner Frage, dass etwas nicht in Ordnung ist. Jesus spricht es lediglich an. Das dürfen wir auch tun, zum Beispiel wenn wir mit unverheirateten Paaren in der Gemeinde zu tun haben. Er verurteilt sie nicht und hat auch nicht als Erstes mit ihr über Sünde gesprochen, bevor Er ein geistliches Thema anschneiden konnte. Daher sollten wir Jesu Vorbild folgen und in solch einem Fall auch nicht direkt über Sünde zu sprechen. Es kann ebenso gut vorkommen, dass jemand bei seiner Steuererklärung etwas unterschlägt oder ein Gewerbe gar nicht erst anmeldet dann im Angesicht Jesu überführt wird und merkt, dass er hier etwas zu klären 25 hat. Falls sich die Samariterin (oder ihr Partner) allerdings ein Hintertürchen offen halten wollte und nicht zu radikaler Treue bereit war, entspricht das nicht Gottes Gedanken über Ehe und dem Zusammenleben der Geschlechter. Wir erfahren aber nicht, auch wenn einige sich das wünschen würden, ob Jesus dieser Frau zur Heirat mit ihrem Lebensgefährten, zur Trennung von ihm, zum Alleinbleiben oder gar zur Rückkehr zu einem der noch lebenden Ex-Partner (Nr.1, 2, 3, 4 oder 5?) geraten hat. Wichtig ist, dass sie sich vom Messias persönlich angesprochen fühlte und herausfordern ließ. Dieses Ansprechbarsein bedeutet Bußfertigkeit bzw. Bereitschaft zur Umkehr. Jesus und die Ehebrecherin (Johannes 8,1-11) Dieser Abschnitt fehlt in vielen wichtigen alten Handschriften, sodass es wahrscheinlich ist, dass er nicht zum ursprünglichen Grundtext gehört. Er ist allerdings so alt und verbreitet, dass wir ihn nicht völlig außer acht lassen wollen. Eine Lehre über Ehebruch sollte man aber nicht auf diesem Text aufbauen. In der in Johannes 8 geschilderten Begegnung wäre Jesus der einzige Sündlose gewesen, dem die Ausführung des Todesurteils zugestanden hätte. Interessanterweise bestanden die Schriftgelehrten und Pharisäer nicht auf ihrer eigenen Sündlosigkeit, die sie bis dahin zu besitzen schienen, und schlichen sich davon. Deswegen bringt es auch unter Christen keine gesunde geistliche Frucht hervor, wenn Menschen, die selbst ihre Schwachheiten haben, verurteilend mit dem Finger auf andere zeigen. Jesus verzichtet ebenfalls wie bei der Samariterin in Johannes 4 auf ein Urteil, das die Frau allem Anschein nach verdient hätte. Er redet ihr aber ins Gewissen, indem er sie auffordert, ihr Leben zu verändern. Damit hat Er weder die Sünde des Ehebruchs noch das rigorose Ans-Licht-Zerren der Frommen akzeptiert, sondern dieser Frau seelsorgerlich verantwortlich gedient. Denen, die Scheidung und Wiederheirat kategorisch als Ehebruch bezeichnen, muss Folgendes vor Augen gehalten werden: Diese Frau wurde bei einem eindeutigen Ehebruch ertappt und von dort weggezerrt und nicht bei ihrer Scheidung ertappt und auch nicht vom Standesbeamten weggezerrt, als sie ihrem zweiten Mann oder einem Geschiedenen das Ja-Wort gegeben hat. 26 Im Matthäus-Evangelium Matthäus schreibt als Judenchrist für Juden. Daher enthält sein Evangelium am Ausführlichsten die Auseinandersetzung mit dem Gesetz und den jüdischen Vorschriften und die heftigsten Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern. Aus diesem Grund und wegen der zwei Abschnitte bei Matthäus über unser Thema möchte ich auf dieses Evangelium ausführlicher eingehen. Jesus, der lebendige Herr Zur Radikalität des Neuen, was mit Jesus begann, gehört die Bindung des Glaubens an eine lebendige Person. An Ihn gilt es sich zu halten und Ihm persönlich nachzufolgen. Wer mit Ihm unterwegs war, erlebte, wie der Meister meisterhaft auf die verschiedensten Menschen in unterschiedlicher Weise zuging, individuell auf Heilungs- und Befreiungsanliegen reagierte und ganz unschematisch an Menschen handelte. Er hielt Drohreden, sprach Seligpreisungen aus, hielt mal leicht eingängige, mal schwer verständliche Reden. Das eine Mal sagte Er den Jüngern, dass sie die Netze an derselben Stelle erneut, ein anderes Mal, dass sie sie an einer anderen Stelle auswerfen, wieder ein anderes Mal, dass sie sie überhaupt nicht mehr auswerfen, sondern sie stehen- und liegen lassen und Ihm nachfolgen sollten. Jesus war verlässlich und stets bereit, den Menschen Gutes zu tun, aber immer für eine Überraschung gut und positiv unberechenbar. Es geht immer um Ihn. Wenn es einen allgemein gültigen Maßstab gibt, dann ist Er es selbst. Deshalb darf das Wort des Herrn niemals über den Herrn des Wortes gestellt werden. So wie manch einer lernen muss, dass der Herr nie gegen Sein eigenes Wort ausgespielt werden darf, so muss ein anderer einsehen, dass wir vielleicht eine Kirche des Wortes, aber vor allem die Gemeinde des lebendigen Gottes sind. Die Position des deutschen Bundespräsidenten illustriert das Verhältnis des Gesetzes zur höchsten Autorität. Bei uns lässt der Bundespräsident die Gesetze durch seine Unterschrift in Kraft treten. Allerdings hat er die Befugnis, Menschen zu begnadigen, die durch das geltende Gesetz verurteilt wurden und ihre Strafe absitzen. Das ist kein Willkürakt, sondern zeigt auch in einem Rechtsstaat eine gesunde Balance zwischen einem allgemeingültigen Prinzip und individuell zu behandelnden Einzelfällen. Weder wird für die Begnadigung ein Gesetz außer Kraft gesetzt, noch kann der Gesetzesübertreter im Vorhinein seine Begnadigung einplanen oder aus seiner Begnadigung folgern, dass er die Gesetze ungestraft missachtet darf. 27 In der Bergpredigt (Matthäus 5-6) Jesus erregte oft Anstoß, weil Er entweder Schemata infrage stellte oder das Bedürfnis nach ihnen nicht befriedigte. Der rote Faden im Wirken Jesu, der durch jeden Entwurf einer christlichen Ethik hindurchgehen muss, besteht darin, das Wesen Gottes auf Erden zu verwirklichen. In dem Sinne kam Er, um das Gesetz zu erfüllen. Sein häufiges Ich aber sage euch in der Bergpredigt53 sollte weder die alttestamentlichen Gebote auflösen noch Seine Jünger zu einer Truppe machen, die das Gesetz noch strenger einhält als die Pharisäer. Schon gar nicht war es Jesu Ziel, dass man Seine Worte als Keule gegen andere missbraucht. Vielmehr zielt Er als der Herzenskundige in allem auf die Motive 54 ab; auf das, was im Herzen passiert, wenn einer zum Beispiel um einer anderen Frau willen aus der Ehe aussteigt oder eine Frau verführerisch nach einem fremden Mann schielt. Er sieht auch, wo jemand gegen die Sünde kämpft, um seine Integrität ringt und dennoch fällt. Ebenso richtet Jesus in der Bergpredigt Sein Augenmerk darauf, was in den Herzen derer vor sich geht, die Almosen geben, öffentlich beten oder fasten.55 Der Vater, der in das Verborgene sieht56, freut sich über alles, was wir für Ihn im Verborgenen getan haben, und es belohnt. In Matthäus 6 geht es um die unsichtbare Beziehung zu Gott als unserem Vater. Der Vater befindet sich selbst im Verborgenen und bewohnt ein unzugängliches Licht. Daher ist Er auch im Verborgenen zu finden und sieht in das Verborgene.57 Er wird aber auch das Verborgene der Menschen richten und die Absichten der Herzen offenbaren58. Daher sollen wir nicht vor der Zeit, also voreilig, ein Urteil fällen. Menschliche Urteile, auch die über uns selbst, sind ohnehin nicht entscheidend. Jeder bekommt sein Lob oder seinen Tadel von Gott, darauf kommt es letztlich an. Gerade in Bezug auf Ehebruch und Scheidung geht es in der Bergpredigt vor allem um das, was im Verborgenen geschieht, also um die Herzensmotive. Im Ergebnis soll das Sichtbare dem Unsichtbaren entsprechen. Es gibt viele Ehen, die nach außen hin okay sind, einfach wegen der Tatsache, dass keiner äußerlich erkennbar die Ehe verlassen hat, und doch übertünchten Gräbern59 gleichen. Und es gibt Ehen, die als vorbildlich und beneidenswert gelten, um deren Erhalt jedoch gleichzeitig mit mehr oder weniger Erfolg gerungen wird. So achtet Jesus bei jeder Ehekrise, Scheidung und Wiederverheira-tung, aber Matthäus 5,22.27.32.34.39.44 lateinisch Beweggründe 55 Matthäus 6,1-18 56 Matthäus 6,4.18 (LB) 57 Lukas 17,21; 1.Timotheus 6,16, Matthäus 6,6.18 58 Römer 2,16; 1.Korinther 4,4-5 59 Matthäus 23,25-28 53 54 28 auch bei nur äußerlich aufrechterhaltenen Ehen allein auf die dahinter liegenden Motive60. Gott weiß genau, wann die Abwendung vom Ehepartner mit der Abwendung von Ihm und einer ungebührlichen Zuwendung zu einem neuen Partner und insofern mit einer Zuwendung zu einem Götzen einhergeht. Er sieht auch, wenn eine Ehe nur durch die Angst vor materieller Not zusammengehalten wird. Die drei meist mit außer wegen Hurerei übersetzten Worte61 haben nicht eine so eindeutige Bedeutung, wie man erwarten mag. Sicherlich wird hier gesagt: Wenn der Grund zur Entlassung nicht Unzucht ist, kann eine Ehe bestehen bleiben und soll nicht zerbrochen werden. Jesus sagt aber nicht, was es genau mit dem Unzuchtsgrund auf sich hat. Natürlich hört man zunächst heraus, dass der, der sich scheiden lassen will, dem anderen Fremdgehen, also einen Fall von Unzucht, vorhalten kann. Das ist ja auch nach wie vor der häufigste, aber keineswegs einzig denkbare Fall. Um Unzucht geht es nämlich auch, wenn das Fremdgehen oder andere sexuelle Untreue durch verweigerte sexuelle Gemeinschaft provoziert wird. Das kann durchaus eine Variante sein, wenn die Ein-Fleisch-Beziehung, die Gott zusammengefügt hat, gegen Gottes Willen bereits in der Ehe geschieden wurde62. So wie die intime sexuelle Gemeinschaft in der Ehe das EinFleisch-Werden besiegelt, besiegelt die dauerhafte Verweigerung der sexuellen Gemeinschaft die Scheidung. Natürlich gibt es Beziehungen, Phasen und Krankheitssituationen, in denen das intime Miteinander nicht gelingt, in denen aber andere Elemente der Paarbeziehung willentlich aufrechterhalten werden und die Ehe wie ein Auto auf drei statt auf vier Zylindern läuft. Es ist auch klar, dass eine nur durch Sexualität zusammengehaltene Ehe auf Dauer ebenso stark gefährdet ist, wenn nämlich der seelische und geistliche Austausch fehlt und von einer oder beiden Seiten nicht mehr gewollt ist. Wenn es aber kein Zylinder mehr tut, dann ist der Motor hin. Wegen Unzucht Unzucht wird im Neuen Testament dreimal im Zusammenhang mit Ehe und Scheidung genannt, davon zweimal als akzeptable Ausnahme für die Entlassung der Frau und einmal als Grund zum Heiraten. 63 Die Formulierung der Ausnahme in Matthäus 5,32 kann unterschiedlich übersetzt werden. Hier einige infrage kommende Varianten: Matthäus 5,27-32 griechisch παρεκτος λογου πορνειας / parektos logu porneias, siehe unten 62 „ ...nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“ (Matthäus 19,6) 63 parektos logu porneias (Matthäus 5,32), epi porneia (Matthäus 19,9) und dia tās porneias (1. Korinther 7,2) 60 61 29 Außer wegen eines Falles von Unzucht64, in einer Angelegenheit von Unzucht65, Unzucht ist Anlass66, es geht um Unzucht67 bzw. der Berücksichtigung68 von Unzucht, der Anrechnung von Unzucht69 bzw. der Rechtfertigung (der Entlassung/Scheidung) von/durch Unzucht aus dem vernünftigen/einleuchtenden Beweggrund der Unzucht70. »Wegen Unzucht« bedeutet also nicht automatisch und nicht ausschließlich im Fall von Unzucht. Außerdem kann sich wegen sowohl auf vorhandene, bereits eingetretene als auch auf zukünftige, befürchtete Unzucht beziehen. Zum Beispiel wird wegen einer morgen drohenden Preiserhöhung heute noch schnell eingekauft und wegen eines Hurrikans, der noch gar nicht da ist, die Bevölkerung evakuiert. Genauso kann sich »wegen Unzucht« sowohl auf einen bereits eingetretenen als auch auf einen drohenden Schaden beziehen, dem jemand durch Trennung zu entgehen versucht. Da dieses »wegen Unzucht« weitgehend als einzige Ausnahme für eine zulässige Trennung bzw. Scheidung gilt und daher über das weitere Leben etlicher Christen entscheidet, ist es nicht spitzfindig, sondern verantwortungsvoll, sich auch die von Matthäus 5,32 abweichende Wortwahl des Grundtextes in Matthäus 19,9 genauer anzusehen. Jeder, der auf diese Einzelaussage im Neuen Testament besonderen Wert legt, muss die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten gewissenhaft abwägen. Für das auch hier oft mit »wegen« wiedergegebene Wort71 gibt es an den über 175 Stellen im Neuen Testament allein in der Elberfelder und in der LutherÜbersetzung nicht weniger als 23 Übersetzungsmöglichkeiten. Dabei hat es dann angelehnt an das semitische Äquivalent דבר/ dawar Wort, Sache, Gegenstand mit „Angelegenheit“ wird logos auch in Apostelgeschichte 15,6 und Philipper 4,15 übersetzt 66 mit „Anlass“ wird logos auch in Apostelgeschichte 10,29 und 19,38 übersetzt 67 „(Beweg-)Grund, Sache, von der die Rede ist“ in: Rienäcker, a.a.O., S. 12 68 in Langenscheidts Deutsch-Altgriechisch-Lexikon steht unter dem Stichwort »Berücksichtigung« logos 69 als kaufmännischer Ausdruck in Philipper 4,15.17, siehe auch das von logos abgeleitete Verb griechisch λογιζομαι / logizomai etw. zurechnen, anerkennen, erwägen, beschließen, zum Beispiel in Philipper 4,8 70 so bei Verwendung von logos im juristischen Zusammenhang, logikos/vernünftig in Römer 12,2; 1.Petrus 2,2 71 epi mit Dativ 64 65 30 oft eine auch eine zukünftige Bedeutung72, z.B. auf Glauben hin73, auf Hoffnung hin74, zur Freiheit75, zur Unreinheit76, zu guten Werken 77, zum Verderben78, wegen der kommenden Drangsale79. An solchen und mehr als der Hälfte der über 175 Stellen mit diesem Wort kommt die Übersetzung wegen nicht infrage80. Daher kann sich auch das wegen Unzucht81 ohne Weiteres auf einen noch nicht eingetretenen Fall beziehen. Für die Übersetzung von Matthäus 19,9 kommen somit folgende Varianten infrage: unter der Bedingung, aufgrund von Unzucht, bedingt bzw. begründet durch Unzucht, in Beziehung bzw. mit Rücksicht auf Unzucht, unter Berücksichtigung von Unzucht (in dem Fall mit Matthäus 5,32 identisch). Daran sehen wir, dass die Übersetzung wegen Unzucht sowohl in in Matthäus 5,32 als auch in 19,9 eine ebenso rückwärts- wie vorwärtsgewandte Bedeutung hat. Das heißt, dass die Auflösung einer Ehe wegen der drohenden Unzucht unausweichlich werden kann, in der einer von beiden die sexuelle Gemeinschaft bewusst nicht mehr leben will. Abgesehen davon gibt es zwei andere griechische Worte82, die im Unterschied zu dem in Matthäus 19,9 ausschließlich mit wegen bzw. um ... willen übersetzt werden. Gerade in den Abschnitten über Ehescheidung in Matthäus 19 und Markus 10 kommt dieses eindeutige wegen auch vor, aber auch anschließend im selben Kapitel: Eine finale Bedeutung von »epi« ist schon bei Thukydides belegt. In Langenscheidts Deutsch-Altgriechisch-Lexikon wird als Beispiel der finalen Bedeutung unter dem Stichwort »für« »επι μισθω εργαζεσθαι / epi mistho ergazesthai« = für/wegen (zukünftigem) Lohn arbeiten, angeführt. 73 Apostelgeschichte 3,16 74 Apostelgeschichte 26,6; Römer 8,20; Apostelgeschichte 2,26; Römer 4,18; 1. Korinther 9,10 75 Galater 5,13 76 1. Thessalonicher 4,7 77 Epheser 2,10 78 2. Timotheus 2,14 79 Jakobus 5,1 80 zum Beispiel »Wer seinetwegen glaubt,...« oder »Gott hat uns berufen nicht wegen Unreinheit« in 1.Thessalonicher 4,7 oder »Freude wegen eurer ganzen Trübsal« in 2.Korinther 7,4 81 Die Formulierung „epi ... porneia“ kommt auch in 2.Korinther 12,21 vor, wo es sowohl um offensichtlich in der Vergangenheit vorgefallene Unzucht als auch um die zukunftsgerichtete Abkehr davon geht: „Sie sinnten nicht um (= änderten nicht ihre Einstellung) im Hinblick auf ... Unzucht“. 82 „dia“ mit Akkusativ und „heneken“ bzw. „heneka“ griechisch δια und ένεκεν/ένεκα; diese Worte werden auch in Langenscheidts Wörterbuch Deutsch-Altgriechisch unter »wegen« aufgeführt (»epi« dagegen nicht) 72 31 deshalb verlässt ein Mensch Vater und Mutter (Matthäus 19,5, GN; Markus 10,7) um des Himmelreichs willen zur Ehe unfähig gemacht (Matthäus 19,12, LB) Jeder, der ... verlässt um meines Namens willen (Matthäus 19, 29) … wer verlassen hat meinetwegen und um der Guten Nachricht willen (Markus 10,29, AE). Die Elberfelder gibt noch 153, die Luther-Übersetzung noch 130 weitere Stellen mit wegen bzw. um ... willen wieder, bei denen diese beiden Wörter im Grundtext stehen. Das muss auch für Matthäus 19,9 berücksichtigt werden.83 Sie stehen also im Griechischen bei der Angabe des zulässigen Scheidungsgrundes nicht, sondern das viel weniger eindeutige. Die Formulierung außer im Hinblick auf Unzucht (Vers 9) bezieht sich eigentlich nicht auf die Scheidebriefpraxis, da nach dem mosaischen Gesetz Ehebrecher zu Tode gesteinigt wurden und so wiederum der Tod geschieden hat84. Nun hat Jesus die Steinigung als Strafvollzug abgelehnt, weil Er selbst die tödliche Strafe85 für unsere Sünden auf sich genommen hat. In Ihm ist ein anderes Zeitalter angebrochen. Gott hat kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss, sondern ruft ihn auf, umzukehren und zu leben 86. Wenn nun einerseits dem betrogenen Ehepartner im Alten Bund aufgrund der Todesstrafe das Eingehen einer weiteren Ehe zustand und Jesus andererseits die Todesstrafe für alle Sünden auf sich genommen hat, wird mit dem Wort Jesu außer im Hinblick auf Unzucht gleichzeitig die Möglichkeit zur Wiederverheiratung angedeutet. Nur durch die Gnade in Jesus, die uns Vergebung ermöglicht und uns unterweist, kann unsere Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer werden, und nur ihretwegen werden wir in das Himmelreich kommen87. Auf der anderen Seite werden von den über 174 anderen »Epi mit Dativ«-Stellen in der Elberfelder nur acht und in der Luther-Übersetzung nur vier mit wegen bzw. um willen wiedergegeben, sodass diese Übersetzung rein statistisch gesehen sogar unwahrscheinlich ist. Mehr Details über die Verwendung und Übersetzung von »epi mit Dativ« sind in den Tabellen 5 und 6 des Anhangs (S.244f.) nachzulesen. Die 13 Stellen, in denen epi bei dem Ausdruck „unter/in meinem Namen“ (ihn annehmen, Wunder tun, kommen, verkündigen, sich taufen lassen, lehren, reden in Matthäus 18,5; 24,5; Markus 9,37.39; 13,6; Lukas 9,48; 21,8; 24,48; Apostelgeschichte 2,38; 4,17.18; 5,28.40) verwendet wird, beschreiben keinen in der Vergangenheit liegenden Grund, sondern eine Bezugnahme: Unter Nennung Seines Namens, mit Hinweis auf Seinen Namen, im Zusammenhang mit Seinem Namen geschieht etwas. 84 3.Mose 20,10; 5.Mose 22,22 85 Jesaja 53,5 86 Hesekiel 18,32 87 Titus 2,12; Matthäus 5,20 (LB) 83 32 So wollen wir auch in Bezug auf Ehe, Scheidung und Wiederheirat unsere Hoffnung ganz auf die Gnade setzen88 und auch miteinander gnädig umgehen, also der uns erwiesenen Gnade gemäß! Richtet nicht! (Matthäus 7) Was hat das Richten mit der Anweisung Jesu zu tun, das Heilige nicht den Hunden (Vers 6) zu geben? Der Maßstab der Gebote Gottes, das Heilige, soll nicht automatisch auf unerlöste Menschen angewandt werden, wie es zum Beispiel in der katholischen Morallehre geschieht, wodurch Richten und Anklagen verursacht wird. Deren Maßstäbe mögen durchaus zutreffend sein, die Anwendung ist es oft nicht. Aber gerade Menschen, die von Jesus berufen worden sind, sollen nicht Richter über andere nach dem Maßstab ihrer vermeintlichen Gerechtigkeit werden, sondern das Wort Gottes vor allem auf sich selbst beziehen. Der Der Selbstbetrug liegt Selbstbetrug liegt darin, davon auszugehen, dass mir darin, davon auszudie Vergebung gilt, während den anderen das gehen, dass mir die richtende Urteil trifft. Abgesehen davon kann der Vergebung gilt, wähHerr den, der sich selbst für gerecht hält, erniedrigen, rend den anderen genauso wie Er den, dessen Herz ihn verdammt, das richtende Urteil erhöhen kann.89 Es ist verführerisch, den Splitter (= trifft. kleines Defizit) beim anderen zutreffend zu diagnostizieren (Vers 3), während ich nicht bereit bin, mich um balkenartige (= gravierende) Hindernisse in meinem Leben zu kümmern. Die Heuchelei (Vers 5) besteht nicht in meiner Wahrnehmung, sondern darin, dass der andere sich von jemand anderem korrigieren und ändern lassen soll, wozu ich selbst nicht bereit bin. Erst wenn der eigene Balken aus dem Auge entfernt ist, dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen (Vers 5). Dies ist sicherlich ein Schlüssel in festgefahrenen Ehebeziehungen, dass man unbedingt eine klare Sicht über das eigene Versagen und Fehlverhalten benötigt, bevor man beim anderen ansetzt. Was ist denn die Alternative zum Richten und ebenso das Gegengift für Tratsch über Ehekrisen? Das Bitten, Suchen und Anklopfen für sich selbst und für andere (Verse 7-8). Ich muss mich immer entscheiden, wie ich mit erkennbarem Mangel in meinem Leben oder im Leben anderer umgehe. Jesu Anweisung führt ins Gebet für mich und andere: Gebet um Vergebung für den eigenen Anteil am Scheitern, Gebet um Kraft zur Veränderung und um Orientierung an Jesus und Seinen Worten. Bei Gott anzuklopfen lohnt sich, ob es nun um einen Splitter oder einen Balken geht. Nicht immer 88 89 1.Petrus 1,13 (LB) 1.Korinther 4,4; Lukas 18,9-14; 1.Johannes 3,20 33 erhalten wir genau das Erbetene genau zu dem Zeitpunkt, an dem wir bitten, aber Jesus verspricht: Jeder Bittende empfängt (Vers 8). Ein weiteres Medikament gegen den Virus des Richtens ist das Tun dessen, was ich als richtig erkannt habe. Statt dass ich das vermeintlich schlechte Handeln anderer verurteile, konzentriere ich mich darauf, ihnen das aus meiner Sicht Richtige zu gönnen und zu tun. Das bedeutet, dass ich mich in meinem Verhalten nicht dem anpasse, was andere tun und was ich selbst schlecht finde. Alles, was ihr wollt (Vers 12), setzt eine ziemlich konkrete, überlegte Erwartung eines gereiften Willens voraus, mit deren Umsetzung ich aber selbst beginne. Das ist eine besondere Herausforderung gerade in Ehe und Familie. Einerseits kann ich dadurch die berechtigte Hoffnung haben, dass sich meine positive Vorgabe ansteckend auf andere auswirkt. Andererseits stehe ich nicht so sehr in der Gefahr, andere zu richten, wenn ich feststelle, wie schwer es mir fällt, das was ich von anderen erwarte, ihnen gegenüber zu erbringen. Das macht mich vielleicht barmherziger, geduldiger und verständnisvoller. Wir sollen also nicht der Versuchung erliegen, die Kapitel 5-6 als eine Fundgrube für Verurteilungen unserer Mitmenschen zu missbrauchen (Verse 1-6), sondern beten, suchen und anklopfen (Verse 7-11) und schließlich selbst Hand anlegen im Ausbreiten der Königsherrschaft Jesu (Vers 12). Dies ist in der Tat ein schmaler Weg und es sind wenige, die ihn finden (Vers 14), weil er eine Entscheidung voraussetzt durch die enge Pforte (Vers 13) zu gehen. So wie man die Kinder Gottes an ihrem Lichtcharakter und ihren guten Werken erkennen soll90, kann man die falschen Propheten an ihren Früchten erkennen (V15f.). Im Zusammenhang mit Scheidung und Zweitehen gibt es immer wieder Beispiele für positive und negative Frucht, die bestimmte umstrittene Entscheidungen und Vorgehensweisen hervorgebracht haben. Man kann die Augen vor einem negativen Verlauf eines christlichen Lebens nach einer Fehlentscheidung ebenso wenig verschließen wie vor dem Segen, den Gott Menschen in Form einer zweiten Chance zum Beispiel durch eine erneute Heirat gegeben hat. Aber auch das darf nie zu einem endgültigen Urteil führen, da schon morgen der eine ehrlich umkehren und der andere fallen kann. Ich selbst soll zusehen, dass ich nicht falle91. Worin besteht der Unterschied zum am Anfang des Kapitels beschriebenen Richten, wenn ich Menschen an ihrer Frucht beurteile? Jesus geht es nicht darum, dass ich diese Menschen verurteilen und damit ihr Leben beeinflussen soll. Ihm geht es hier um unseren Schutz. Deshalb muss ich 90 91 Matthäus 5,16 1.Korinther 10,12 34 mir ein Urteil bilden und entscheiden, ob ich mich einer bestimmten Person anvertraue und ihr erlaube, mich zu beeinflussen. Macht Gott Ausnahmen? (Matthäus 12) Auserwählung und Auserwählte Viel zu viele und unnötig viele verlieren mit ihrer Ehe auch das ewige Leben. Indem Gott souverän Menschen zu einer bestimmten Aufgabe beruft, macht Er bereits Ausnahmen. Er nimmt sie buchstäblich aus ihrer Umge-bung heraus. Das war bei Abram im Prinzip genauso wie bei David und Paulus. Das Volk Israel ist Gottes aus der Völkergemeinschaft erwähltes und herausgenommenes Volk, das Er in Gnade und Gericht immer als Aus-nahme behandelt hat92. Auch die Gemeinde Jesu ist eine Schar von He-rausgerufenen, ja die Herausgerufene (= ekklesia). Sie genießt eine Ausnah-mestellung bei Gott, weil Jesus sich selbst für sie hingegeben hat und weil sie Sein Leib ist93. So sind die von Ihm Erwählten immer Ausnahmemenschen. Unter diesen gibt es wiederum Menschen mit einer besonderen Berufung. Paulus war so ein Ausnahme-Christ, Wenn es so etwas wie Ausnahme-Künstler und – Sportler gibt, war er ein Ausnahme-Apostel. Da- Indem Abjatar David und her kann man vieles, was er über sich sagt, nicht seinen Leuten die Schaudirekt als Regel für alle anderen Christen und brote zum Essen gab, Diener des Herrn anwenden. Seine Berufung war entschied er sich, eine auch deshalb außergewöhnlich, weil er offen- Ausnahme von der Aussichtlich in Bezug auf seinen Verkündigungs- nahme zu machen, nämlich das Leben Davids dienst keine Wahl hatte. Seine Entrückung in und seiner Leute durch den dritten Himmel stellt wie der berühmte Pfahl Vernachlässigung einer im Fleisch94 ebenso eine Ausnahme dar. Er selbst Gesetzesvorschrift zu retbeschreibt seine Berufung bei seiner Rede vor ten. Herodes Agrippa als ein geradezu gewaltsa-mes Herausgenommen-Werden95. Hier steht das Wort, das auch auswäh-len, eine Ausnahme machen96 bedeutet. Also hat Gott mit Paulus buchstäblich eine Ausnahme gemacht. 5.Mose 7,6-8 griechisch εκκλησια aus ek (= heraus) + kaleo (= rufen); Epheser 5,25.30 94 1.Korinther 15,9-10; 9,16-17; 2.Korinther 12,2.7 (LB) 95 Apostelgeschichte 26,17 96 griechisch εξαιρουμενος / exhairumenos von εξαιρεω / exhaireo in Langenscheidts Griechisch-Deutsch-Wörterbuch 92 93 35 Jesus wird in Matthäus 12 als der auserwählte Knecht Gottes bezeichnet (Vers 18). Er bringt vorher in einem Streitgespräch mit den Pharisäern über das Verhalten Seiner Jünger die Ausnahme in Erinnerung, die der Priester Abjatar wegen David bezüglich der Schaubrote machte97 (Verse 1-4). Der Priester wusste genau, dass die Schaubrote niemand essen durfte, mit Ausnahme der Priester. Er wusste aber auch, dass David einer der Erwählten Gottes war. Indem Abjatar David und seinen Leuten die Schaubrote zur Stillung ihres Hungers gab, entschied er sich, eine Ausnahme von der Ausnahme zu machen, nämlich das Leben Davids und seiner Leute durch Vernachlässigung einer Gesetzesvorschrift zu retten. Ein höheres Gut als die Unversehrtheit der Schaubrote, nämlich das Leben des Gesalbten, stand auf dem Spiel. Das hatte höchste Priorität 98. Der Hohepriester war nicht wie die Pharisäer zur Zeit Jesu durch den Buchstaben des Gesetzes blind und durch eine falsche Fokussierung auf einzelne Verse und Gebote unfähig, Gottes grundlegende Absichten, nämlich Seine Barmherzigkeit zu erkennen (Vers 7). Daher nahm er in Abwägung mit der Barmherzigkeit Gottes eine Gesetzesübertretung in Kauf. So muss manches Mal in besonderen Fällen eine Ausnahme gemacht werden. Ein Krankenwagen oder die Feuerwehr muss auch des öfteren die sonst geltende rote Ampel ignorieren, um Leben zu retten. Das mag manchen ärgern und wie ein Freibrief klingen. In Bezug auf Sünde gibt es bei Gott kein Ansehen der Person99. Im Gegenzug zu jeder Erwählung und Sonderbehandlung hat Gott besondere Erwartungen an die, denen Er mehr als anderen anvertraut hat. Von ihnen fordert Er auch mehr100. Zum Beispiel führte der im Vergleich zu den groben Sünden der Israeliten kleine Ausrutscher von Mose beim Schlagen des Felsens dazu, dass er nicht in das verheißene Land gehen darf101. Wenn man außerdem nachliest, was ein David und ein Paulus oder auch die in diesem Abschnitt kritisierten Jünger um der Erwählung willen auf sich genommen haben, möchte man nicht so schnell mit ihnen tauschen. Ausnahmesituationen Jesus weist den frommen Juden bei einem Streit über das Einhalten des Sabbats nach, dass auch sie Unterschiede und Ausnahmen machen, weil sie ja am Sabbat neugeborene Jungen beschneiden. Ihr richtiger Gedanke war dabei, dass das bereits seit Abraham überlieferte Gebot der Beschneidung vgl. S. 53 siehe 2. Kapitel, S. 32 99 1.Petrus 1,17 100 Lukas 12,48 101 4.Mose 20,11-12; 5.Mose 32,50-51; 34,4 97 98 36 am achten Tag nicht wegen des Sabbats vernachlässigt werden darf 102. Beim Abwägen der Prioritäten hat im Talmud und in der jüdischen Theologie das ältere Gebot bzw. Zitat Vorrang. Nun gab es aber sowohl die Beschneidung als auch den Sabbat schon vor Mose. Die Juden entschieden daher in diesem Fall nach inhaltlichen Kriterien und kamen zum Ergebnis, dass es wichtiger sei, die einmalige Beschneidung, die einen Israeliten zu einem Angehörigen des Bundesvolkes macht, am Sabbat durchzuführen, als den Sabbat dadurch zu heiligen, dass die Beschneidung verschoben wird. Dabei erschien ihnen der Mensch, der durch die Beschneidung in den Bund Gottes mit Abraham hineinkommt und wahrscheinlich sein Leben lang den Sabbat halten wird, bedeutender als die Einhaltung dieses einen Sabbats. Diese Vorgehensweise gab Jesus das Argument für Seine Heilungen am Ruhetag. Indem Er die Menschen heilte, befolgte Er den Auftrag Seines Vaters und des Gesetzgebers für Israel und stellte ihn zumindest dem Anschein nach über das Sabbatgebot. Interessant ist dabei, dass bei dem Konflikt um die Beschneidung am Sabbat entweder das eine oder das andere Gebot vernachlässigt wird. So etwas kann auch passieren, wenn es um den verantwortlichen Umgang mit Ehescheidung geht. Da kann das Beharren auf dem einen Gebot die Missachtung eines anderen bedeuten. Das Gesetz regelt den Normalfall und schützt zum Beispiel die Schaubrote vor unbedachtem, leichtfertigem Zugriff, wie in Matthäus 12 beschrieben. Ebenso schützt das Ehebruchverbot vor leichtfertigem Scheiden und Wiederverheiraten, was zur Zeit Jesu üblich Wie Jesus der Herr des war. So wie bei den Pharisäern durch Jesus Grö- Sabbatgebotes ist, ist ßeres als der Tempel anwesend war, ist auch bei er auch der Herr des uns Christen Größeres als das Wort des Herrn da, Ehebruchverbotes, das nämlich der Herr selbst (Vers 6). Wie Jesus der zum Schutz für den Herr des Sabbatgebotes ist (Vers 7), ist Er auch Menschen gemacht ist und nicht umgekehrt. der Herr des Ehebruchverbotes, das zum Schutz für den Menschen gemacht ist und nicht umgekehrt. Die Gebote sind den Menschen zum Segen und Schutz gegeben. Dennoch kann Jesus als Herr darüber befinden, ob die Beachtung eines Einzelgebotes wie bei David zum Schaden gereichen würde. So wie Bundesrecht in Deutschland im Zweifel Landesrecht bricht, ist Jesus die letzte Instanz für die Ausführung der Gebote Gottes. So wie wir nicht dem Geschöpf statt dem Schöpfer Ehre geben sollen, dürfen wir auch nicht die Gebote über den Geber der Gebote stellen. Umgekehrt gilt: Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten.103 102 103 Johannes 7,22-24, siehe S. 55 Römer 1,25; Johannes 14,15 (LB) 37 Die in Bezug auf die Erlaubnis zum Essen der Schaubrote bei Markus wiedergegebene Formulierung außer die Priester erinnert an die von Jesus genannte Ausnahme zum Scheidungsverbot außer wegen Unzucht104. So wie die Priester auf ihr Privileg, die Schaubrote zu essen, verzichten konnten, kann in einem Fall von ehelicher Untreue der betrogene Partner auf die Inanspruchnahme dieser Ausnahme verzichten und so die Scheidung vermeiden. Eine Ausnahme als Notlösung In direktem Zusammenhang, nämlich direkt vor der Geschichte über das Ährenausraufen am Sabbat steht der Ruf und die Einladung Jesu an die Mühseligen und Beladenen105, unter Sein sanftes und erträgliches Joch zu kommen. In Seinem Erbarmen begegnet Jesus der Not von Menschen und nimmt ihnen die von Menschen auferlegten schwer zu tragende Lasten weg. Daher sollen wir nicht Gott kritisieren, indem wir erneut auf den Hals der Jünger ein Joch legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten106. Dazu gehört für mich das Joch der Ehelosigkeit nach gescheiterter Ehe. Aus dem Abschnitt in Matthäus 12 über die Sabbatfrage können wir für unser Thema folgendes lernen: 1. Wegen des Hungers der Jünger war das nach 5. Mose 23,26 erlaubte Ährenausraufen für Jesus auch am Ruhetag in Ordnung. Würde der Herr des Sabbats völlig anders entscheiden, wenn die im nächsten Vers (5. Mose 24,1) zugestandene Entlassung mit Scheidebrief ebenso durch eine besondere Not begründet wäre? 2. Für David und seine Männer wurde nicht aus Anmaßung und Eigenmächtigkeit, sondern wegen der Not, eine Ausnahme gemacht (Vers 3). Es gibt also nicht nur Ausnahmemenschen, sondern auch Ausnahmesituationen, die besondere Lösungen erfordern. Das kann auch mal die aus großer Not geborene Auflösung einer Ehe sein. 3. David befand sich auf der Flucht vor seinem König und Schwiegervater. Das beinhaltete für ihn, letzten Endes um des Reiches Gottes willen gleichzeitig seine Frau zu verlassen. In dieser Not verließ der Herr ihn nicht, sondern half ihm durch den Hohenpriester. Da er sich die Brote nicht selbst genommen hatte, empfing er sie aus der Hand seines Gottes. Diese ermutigende Erfahrung bezeugte David später in einem lehrreichen Lied107. Markus 2,26; Matthäus 19,9; griechisch parektos = mit Ausnahme von, ausgenommen Matthäus 11,28 106 Matthäus 23,4; Apostelgeschichte 15,10 107 hebräisch einem Maskil, nämlich dem Psalm 52 104 105 38 4. Der Priester Abjatar machte es sich nicht leicht und äußerte seine Bedenken, sah aber keine Alternative und gab ihm schließlich das heilige Brot. Seine Bedenken und daher die einzige Bedingung bezogen sich auf die Reinheit der Leute Davids, für die dieser gerade stand 108. Daher denke ich, dass eine aus einer schweren Not heraus getroffene Entscheidung, eine Ehe zu beenden, seelsorgerlich und priesterlich unterstützt werden kann, wenn nicht Ehebruch und Unreinheit im Spiel ist. 5. Auch ohne Not kann es passieren, dass eine Vorschrift durch eine andere relativiert und in ihrer Gültigkeit eingeschränkt wird. Hierfür benutzt Jesus das Beispiel der am Sabbat diensttuenden Priester (Vers 5). Sie können gar nicht am Sabbat Gott dienen, ohne zumindest nach einem dementsprechenden Verständnis den Sabbat zu entweihen. Dass dies kein Widerspruch ist, wird einem klar, wenn man über die Bedeutung des Ruhetags nachdenkt. Denn gerade an diesem Tag soll Zeit dafür sein, Gott zu dienen. Es ist also nötig, den Überblick zu behalten und sich nicht in Einzelvorschriften zu verzetteln. 6. Der Priester hat die Angelegenheit sehr ernst genommen und ging nicht leichtfertig mit den Schaubroten um. Daher hat er keineswegs zum Abfall und zur Liberalisierung der Gebote angestiftet, sondern besonnen, vorbildlich und in Verantwortung vor Gott entschieden. Es gehört zu einem ernsthaften Umgang mit der Schrift und den Geboten dazu, sie immer wieder abzuwägen und zu befragen, darüber zu beten, auf den Heiligen Geist zu hören und zu spezifischen Entscheidungen zu kommen. Sie sollen Augenmaß, Liebe zu Gott und den Menschen und nicht nur Gesetzestreue erkennen lassen, was manchmal der bequemste Weg ist. Zu schnell haben sich mancherorts Gemeinden unangenehmer »Fälle« entledigt und damit gleichzeitig wertvolle Christen verloren, die ihr Herr mit Seinem Blut erlöst und für Sein Reich gewonnen hat. 7. Es wird nirgends erwähnt, dass die Schaubrote in den darauf folgenden Jahrzehnten regelmäßig im Hause Davids auf den Tisch gekommen sind. Es gibt manchmal eine unnötige Angst, es könne zu einem Dammbruch kommen, wenn durch einen Ausnahmefall ein Präzedenzfall geschaffen wird, bei dem statt mit eiserner Strenge scheinbar zu barmherzig vorgegangen wird. 8. Das von den Pharisäern beanstandete Ährenausraufen der Jünger am Sabbat (Verse 1-2) beruhte lediglich auf einer Auslegung des Sabbatgebotes und war insofern nicht eindeutig eine Gesetzesübertretung. Das von Jesus angeführte Essen der Schaubrote war viel gravierender, weil es ein- 108 1.Samuel 21,5-7 39 deutig gegen eine Vorschrift aus dem Gesetz verstieß (Vers 4)109. Dennoch machte sich weder David noch der Priester schuldig. 9. Dagegen beschuldigte König Saul beide. Der Priester bezahlte diese Hilfeleistung mit seinem Leben, während das von David verschont blieb 110. So können auch heute die Urteile von verantwortlichen Leitern über Scheidungen und Zweitehen total von Gottes Urteil abweichen. Eigentlich konnte ja nichts schief gehen, solange die Ähren ausraufenden Jünger bei Jesus und Er bei ihnen war. Wenn Jesus nicht in unmittelbarer Nähe der Jünger gewesen wäre, hätte man Seine Meinung dazu erfragen können. Nun war Er aber bei ihnen, hat zugesehen, ihnen vielleicht sogar einen Hinweis zum Ähren Ausraufen und damit den Pharisäern einen zum Haare Ausraufen gegeben. Es ist heute nicht immer einfach, von außen zu erkennen, ob ein Mensch (noch) mit Jesus geht, aber es macht auf die Dauer schon einen Unterschied, ob die Gegenwart Jesu und des Heiligen Geistes mit einem Menschen ist, der etwas Fragwürdiges oder zumindest Unverständliches getan hat, oder nicht. Die Bedeutung der Tradition und des Herzens (Matthäus 15) In diesem Kapitel verteidigt Jesus nicht nur sein Verhalten und das seiner Jünger gegen die geltende Tradition, sondern greift die Tradition111 frontal an, da sie auf die Stufe des Wortes Gottes und sogar darüber gestellt wurde. Die Pharisäern besaßen durch die Beachtung der Überlieferung die Gewissheit, dass Gott mit ihnen zufrieden sein musste. Ihr Leben war bis in alle Einzelheiten von einem Regelwerk bestimmt, das sie auch ihren Mitmenschen aufdrückten, die dadurch mehr Furcht vor ihnen als vor Gott entwickelten (Verse 1-3). Jesus hielt von ihrer Religiosität nicht viel und betrachtete ihren von Äußerlichkeiten beherrschten Gottesdienst als vergeblich (Vers 9), weil sie nicht mit dem Herzen dabei waren: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir (Vers 8). Eine große Schwierigkeit besteht ja schon darin, den Unterschied zwischen einer Tradition und dem Wort Gottes selbst wahrzunehmen. Wie im pharisäischen Judentum wird in orthodoxen Kirchen und in der römischkatholischen Kirche der Tradition ein Offenbarungscharakter zugesprochen, während sich die reformatorischen Kirchen wie auch die Freikirchen auf die Bibel als einzige Offenbarungsquelle festgelegt haben. Warum ist aber in der Bibel vieles nicht so eindeutig festgelegt ist, wie man es sich wünscht? Matthäus 12,4; 3.Mose 24,9 1.Samuel 22,11-19 111 lateinisch für Überlieferung, griechisch παραδοσις / paradosis 109 110 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 Eine Auslegung der Worte Jesu muss ein Verlassen der Angehörigen unter bestimmten Umständen im Bereich des Möglichen, ja sogar Unumgänglichen und Verheißungsvollen lassen.
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