Lizentiatsarbeit von Urs Büeler: In der Klasse stehen. 4 65 DIE KÖRPERSPRACHLICHE EBENE DES UMGANGS MIT FEHLERN IM UNTERRICHT Die vorliegende Arbeit beschreibt das Interaktionsgeschehen zwischen Lehrperson und Schulkind nach dem Auftreten eines Fehlers. Der Fokus liegt hier bei der nonverbalen Kommunikation. Nonverbale Botschaften können sehr vielfältig übermittelt werden. Argyle & Dean (1965) erkannten, dass der Blickkontakt (zum Beispiel wenn sich zwei Personen in die Augen schauen) eine wichtige Funktion in der Beziehungsregulierung erfüllt. Das Ausmass der Beziehung kann in einem Gespräch auf verschiedene Arten kommuniziert werden, zum Beispiel durch das Ansprechen persönlicher Themen, durch geringe physische Distanz mit der Möglichkeit gegenseitiger Berührung, durch Lächeln und eben durch Blickkontakt. Blickkontakt Die Arbeit von Baltus (1977, S. 61ff.) analysiert die Zusammenhänge zwischen den wichtigsten Variablen im Beziehungsfeld „Blickkontakte“.45 Wenn man einer Konfrontation aus dem Weg gehen und den anderen nicht zu „Drohverhalten“ provozieren will, kann man sich von der potentiellen Angreiferin oder dem Angreifer abwenden und ihr bzw. ihm die Schulter zeigen oder ganz offensichtlich den Blickkontakt verweigern. Die Zuwendung zur Gesprächspartnerin und zum Gesprächspartner ist der Schlüssel zum Dialog. Meine Bereitschaft, ihre oder seine Ideen und Meinungen anzuhören, macht Kommunikation erst möglich. Dazu darf man weder in Kampfnoch in Verteidigungshaltung gehen, sondern muss der anderen Person locker und offen gegenüberstehen. Arme verschränken Zu den negativen Beziehungsbotschaften können die verschränkten Arme gezählt werden. Diese Position lässt sich im Alltagsleben häufig beobachten und wird wohl überall als Defensivgeste gebraucht. Verschränkte Arme bilden sozusagen einen Schutzwall gegen Angriffe (siehe Ausführungen weiter oben S. 53, Kapitel 1.3.2.4, Körperhaltung und Körperbewegung). Wenn wir die Arme vor der Brust kreuzen, unabhängig davon, ob wir gerade stehen oder sitzen, gehen wir fast immer in eine Abwehrhaltung über. Aus Abwehr gegen unangenehme Reize oder aus dem Bedürfnis heraus sich zurückzuziehen, reagiert man mit Verschlossenheit: Schutzhaltung der Arme vor dem Oberkörper. Die gekreuzten Arme sollen darüber hinaus auch unangenehme Dinge von uns fernhalten oder sie unterdrücken. Immer dann, wenn wir Schutz suchen, verschränken wir die Arme. „Die Armbarriere sollte ursprünglich unser Herz schützen“ (Thiel, 1986, S. 74). Wenn wir uns öffnen, zeigen wir uns ungeschützt und selbstsicher und signalisieren, dass wir keine Angst vor unserer Umgebung haben. Der Brustkorb öffnet sich, die Lungen können frei atmen, und wir können uns zu voller Breite ent45 Exline et al. (1965, zit. n. Baltus, 1977, S. 63) untersuchten den Einfluss des Gesprächsinhalts auf den Blickaustausch und wiesen eine verminderte Blickzuwendung bei sehr persönlichen Gesprächsthemen nach. 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht 66 Kapitel 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht falten. Menschen mit beweglichem freiem Nacken sind nach allen Richtungen hin offen. Bei der offenen Bewegung wird neben dem Herz auch die verletzliche Handfläche sichtbar gemacht. Dies gilt seit jeher als Vertrauensbeweis und die Geste wirkt allgemein positiv. Offene Hände gelten als Symbol dafür, dass man „unbewaffnet“ ist. Man markiert Offenheit, und dass man keine Geheimnisse hat. Versteckt man hingegen die Hände auf dem Rücken, weiss das Gegenüber nicht, was man in den Händen hält. Diese Unsicherheit kann bedrohend wirken und sich negativ auf die Beziehung auswirken. Die explorativen Studien (siehe Kapitel 5.1.1, S. 71ff.) ermöglichen weitere konkrete Überlegungen zu den fördernden und hindernden Verhaltensweisen: Hand-Kinn-Bewegung Aus der Fotobefragung kommt heraus, dass es neben dem freundlichen Lächeln wichtig ist, dem Gegenüber zu zeigen, dass man sich Zeit für das Gespräch nimmt. Die Person auf dem Bild stützt das Kinn mit der offenen Handfläche und legt den Zeigfinger an die Wange; die übrigen Finger befinden sich unterhalb der Mundpartie. Wer eine ähnliche Haltung wie Rodins „Denker“ einnimmt – den Kopf in die Hand gestützt - sinnt über irgend etwas nach. Diese „Lass mich mal überlegen“Geste, die wohl auf der ganzen Welt anzutreffen ist, taucht bei jedem menschlichen Entscheidungsprozess auf (vgl. Nierenberg, 1972, S. 64). Schulkinder brauchen Zeit zum Nachdenken.46 Als Lehrperson sollte man sich hüten, diese zu rasch zu einer Antwort zu bewegen. „Im Gegenteil, eine längere Wartezeit nach einer Frage kann als durchaus angemessenes Lehrerverhalten gelten“ (Gage & Berliner, 1986, S. 645). Die Wartezeit (vgl. Kapitel 1.1.3.1) sollte durchschnittlich auf mehr als drei Sekunden verlängert werden. In der Ausdruckspsychologie betrachtet man die sichtliche Schrägstellung des Kopfes als Empfangsposition. Schon Charles Darwin beobachtete, dass Tiere ebenso wie Menschen den Kopf zur Seite legen, wenn sie etwas hören, das sie interessiert. Den Kopf leicht nach hinten werfend und mit angewinkelten Armen vor dem Gegenüber zu stehen, wird hingegen als ungeduldige Haltung verstanden. Distanz wahren Die Schulzimmerumfrage „Nähe und Distanz“ hat gezeigt, dass ältere Schulkinder einen grösseren Abstand zur Lehrperson wünschen. Wenn nun die Lehrperson bei einer falschen Antwort eines Schulkindes dessen persönlichen Raum achtet und auf Distanz bleibt, dürfte dies als Wertschätzung verstanden werden. Ansonsten könnte sich das Kind bedroht fühlen. Eine der urtümlichsten Reaktionen des Menschen wäre darauf das Wegrennen. Was geschieht, wenn die Fluchtreaktion durch die Erziehung, durch das verordnete Sitzenbleiben auf dem Stuhl unterdrückt wird? Der Körper muss bleiben, wo er ist. Es entsteht unweigerlich ein Stau. Die Gelenke sperren sich, der Körper verkrampft. Dieser Stau erzeugt die Verkrampfung bzw. eine nicht vollzogene Fluchtreaktion. Einem verkrampften Menschen kann man sagen, was man will, er wird es nicht aufnehmen (vgl. Kramis-Aebischer, 1995). 46 Schüpbach (1997) schreibt in seinem Buch über das Unterrichten ein Kapitel zur Musse „Müssiggang ist aller Bildung Anfang“ und fordert die Lehrpersonen dazu auf, Besinnungs-Phasen einzuschalten: Zeit zum Nachdenken! Für Krapf (Krapf, 1995, S. 167ff.) kann durch das „Schweigen in Grossgruppen“ die Kreativität gefördert werden. 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht Lizentiatsarbeit von Urs Büeler: In der Klasse stehen. 67 Mit dem Finger zeigen An der Haltung der Arme kann man erkennen, mit welchem Gefühl uns jemand gegenübersteht. Positiv werden freie, nicht zu schnelle Bewegungen der Arme empfunden, die vom Körper wegführen (Molcho, 1998). Schnelle Bewegungen hingegen wirken bedrohend. Der ausgestreckte Arm in der Fotobefragung, welcher als negatives Verhalten beurteilt wurde, kann als Angriffverhalten verstanden werden, bei der der Zeigfinger die „Pfeilspitze“ ist. Diese fünf Reaktionen, beschreiben das Verhalten auf der körpersprachlichen Ebene und betreffen die nonvokale nonverbale Kommunikation. Sie lassen sich in zwei Kategorien zusammenfassen: • Die erste beinhaltet aktive Verhaltensweisen (aktives Verhalten), mit denen auf einen Fehler des Gegenübers reagiert werden kann (vgl. Tabelle 1). • Daneben gibt es eine Grundhaltung (passives Verhalten), welche eine Person während der Interaktion einnehmen kann (vgl. Tabelle 2). Die Tabellen 1 und 2 zeigen diese beiden Kategorien mit ihren Elementen. Das entsprechende Verhalten kann gezeigt oder nicht gezeigt werden. Die damit unterschiedlich verstandene Botschaft, wie dies weiter oben ausgeführt wurde, wird mit je zwei gegensätzlichen Begriffen der Erwünschtheit bzw. Unerwünschtheit verdeutlicht und mit möglichen Interpretationen ergänzt. 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht 68 Kapitel 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht Tabelle 1: Auflistung der nonverbalen nonvokalen Elemente im aktiven Verhalten. Aktives Verhalten (Verhaltensweisen) Blickkontakt: Interesse vs. Desinteresse Aufmerksamkeit, Präsenz, Beachtung, ernst nehmen, zuhören, zuwenden... Geringe Aufmerksamkeit, abwesend, nicht zuhören... Hand-Kinn-Bewegung: Geduld vs. Ungeduld Zeit haben, warten können, abwägen, überlegen... Keine Zeit haben, nicht warten können, hasten, bedrängen... Distanz wahren: Distanz vs. Nähe Platz geben, Abstand einhalten, zurücktreten... Zu nahe treten, eindringen, einbrechen, belästigen... Arme ausstrecken: Ermutigung47 vs. Erniedrigung Aufmuntern, bestärken, motivieren, aufrichten... Erniedrigen, angreifen, verletzen, entwerten... Tabelle 2: Auflistung der nonverbalen nonvokalen Elemente im passiven Verhalten. Passives Verhalten (Grundhaltung) Arme verschränken: Offenheit vs. Verschlossenheit Sichtbar, unverhüllt, aufrichtig, erreichbar, keine Geheimnisse... Barrieren, Blockaden, verschlossen, unzugänglich... Die Elemente (Blickkontakt, Hand-Kinn-Bewegung, Distanz wahren, Arme ausstrekken und verschränken) sind wichtige Reaktionen auf einen Fehler. Sie werden für 47 Damit ist die pädagogische Präsupposition gemeint, wo einem Schulkind zugemutet wird, dass es mehr kann, als die aktuelle Einschätzung es vermuten lässt, welche im Kapitel 3.2.2 Pädagogische Zumutung beschrieben ist. 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht Lizentiatsarbeit von Urs Büeler: In der Klasse stehen. 69 die konkrete Untersuchung des unterschiedlichen Verhaltens von Lehrpersonen auf falsche Äusserungen der Schulkinder in den beiden Kategorien „Verhaltensweise“ (aktives Verhalten) und „Grundhaltung“ (passives Verhalten) als die beiden unabhängigen Variablen definiert. 4: Die körpersprachliche Ebene des Umgangs mit Fehlern im Unterricht
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