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Jona 3
Tillmann, Michael | Werkstatt für Liturgie und Predigt
14.06.2015
2. Sonntag nach Trinitatis | Gottes Barmherzigkeit kennt keine Grenzen (Reihe IV)
Ansprache zu Jona 3; (2. Sonntag nach Trinitatis)
Lesen des Textes vor Beginn der Ansprache.
1.
„Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona.“ So beginnt
der zweite Teil des Jonabuches. Nachdem Jona vor dem ersten Auftrag
Gottes geflohen ist, auf der Flucht sich selbst aufgegeben hat und sich ins
Meer werfen ließ, damit der von Gott geschickte Sturm das Schiff, auf dem
Jona flüchten wollte, nicht zum Kentern brachte, hat Gott ihn durch einen
großen Fisch gerettet. Jona kehrt zu Gott um – und erhält erneut den
Auftrag, vor dem er geflohen ist: Nach Ninive zu gehen und dort zu
predigen.
Ninive war eine blühende Stadt am linken Ufer des Tigris und die dritte
Hauptstadt des assyrischen Großreiches. Damit symbolisiert sie für die
ersten Leserinnen und Leser des Jonabuches zweierlei. Erstens ist es eine
heidnische Stadt, in der andere Götter verehrt werden als der Herr, der Gott
Israels. Als Hauptstadt Assyriens steht Ninive zugleich für all die fremden
Großmächte, die Israel immer wieder beherrscht haben; seien es die
Babylonier, die Assyrer, die Perser oder die Hellenisten, zu deren Zeit – 4.
bis 3. Jahrhundert vor Christus – das Jonabuch wahrscheinlich geschrieben
wurde. Kein Wunder, dass sich im Alten Testament zahlreiche Drohworte
und Unheilsprophezeiungen verschiedener Propheten gegen Ninive finden.
Die Stadt selbst ist am 10. August 612 vor Christus von den Medern und
Babyloniern zerstört und nie wieder aufgebaut worden.
2.
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In die zahlreichen alttestamentlichen Prophezeiungen über Ninive reiht sich
die Predigt des Jona ein, die von erstaunlicher Kürze ist: „Es sind noch
vierzig Tage, so wird Ninive untergehen.“ Kein Wort zu viel. Doch jetzt
geschieht etwas ganz Unerwartetes. Ninive besinnt sich, bereut sein
Verhalten und kehrt um, in großer Radikalität. Vom König bis zum Vieh im
Stall wird gefastet, wird Buße getan, wird von den falschen Wegen und vom
bösen Tun abgelassen. Ich finde das großartig. Versuchen Sie sich doch
bitte einmal vorzustellen: Der alttestamentliche Verfasser schreibt im
vierten oder dritten vorchristlichen Jahrhundert das Jonabuch. Israel leidet
immer noch unter heidnischer Fremdherrschaft. Ninive ist das Symbol für
diese gottlose Fremdherrschaft. Doch finden sich im Jonabuch Schmähworte
gegen Ninive, Anklänge an die tatsächliche Zerstörung von 612? Nichts
dergleichen. Im Gegenteil: Die Bewohner Ninives erkennen ihr böses Tun
und kehren um zu Gott. Das ist wirklich Gottes Wort. Ein Zeugnis von
Gottes Barmherzigkeit, die keine nationalen oder religiösen Grenzen kennt,
sondern allen Menschen gilt. Gottes Barmherzigkeit macht nicht einmal vor
seinem eigenen Entschluss Halt. Die Reue der Menschen bewegt Gott, sein
eigenes Vorhaben zu bereuen. Was hindert mich daran, meine eigenen
Fehler zu bereuen und umzukehren, wenn ich auf so viel Vergebung
vertrauen darf?
3.
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Dass Gottes Barmherzigkeit keine nationalen und religiösen Grenzen kennt,
stellt eine ernste und aktuelle Anfrage an uns heute. Das historische Ninive
lag am linken Tigrisufer. Am Ufer gegenüber liegt eine Stadt, deren Name
uns leider nur zu bekannt ist: Mossul. Vor gut einem Jahr, im Juni 2014,
wurde diese Stadt von Terroristen des sogenannten „Islamischen Staates“
erobert. Die Marienstatue auf dem Turm der chaldäisch-katholischen
Erzdiözese wurde zerstört; die über dem angeblichen Grab des Jona im 8.
Jahrhundert errichtete Moschee, ein Wallfahrtsort vieler muslimischer und
christlicher Pilger, wurde gesprengt, weil an ihr angeblich gotteslästerliche
Handlungen durchgeführt worden waren. Menschen wurden auf brutalste
Weise verfolgt, misshandelt, getötet; Frauen vergewaltigt; Mädchen zu
Tausenden verschleppt. Die Häuser von Christen wurden mit einem
arabischen „N“ für Nazoräer als christliche Häuser gekennzeichnet; die
christlichen Einwohner wurden vor die Wahl gestellt zu fliehen, zum Islam
zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Ich gebe zu, mich packt jetzt
noch Wut, wenn ich daran denke. Diesem Terror musste und muss meiner
Ansicht nach auch mit Gewalt begegnet werden. Wer nichts tut, macht sich
schuldig. Dennoch gilt auch der oben genannte Satz: Gottes
Barmherzigkeit kennt keine nationalen und religiösen Grenzen. Warum wird
dein Volk, Herr, von Heiden unterdrückt?, mag sich der alttestamentliche
Schreiber des Jonabuches gefragt haben. Ich kann diese Frage gerade vor
dem aktuellen Hintergrund verstehen. Das Jonabuch ist Gottes Antwort.
WERKSTATT für Liturgie und Predigt
Michael Tillmann
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