http://www.mediaculture-online.de Autoren: Engelhard, Günter / Schorbert, Walter / Schäfer, Horst. Titel: 111 Meisterwerke des Films. Das Video-Privatmuseum. Quelle: Günter Engelhard/Horst Schäfer/Walter Schorbert in Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung 'Rheinischer Merkur/Christ und Welt' (Hrsg.): 111 Meisterwerke des Films. Das Video-Privatmuseum. Frankfurt a.M. 1989. Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. Günter Engelhard/Horst Schäfer/Walter Schorbert u. a. 111 Meisterwerke des Films. Das Video-Privatmuseum. Inhaltsverzeichnis Die Tücken der Serie: Wie das “Privatmus eu m Film” entstand ...................................................................6 Vorwort ........................................................................................................................................................................... 10 1 Panzerkreuzer Potemkin ......................................................................................................................................1 3 2 Casablanca .................................................................................................................................................................16 3 If....................................................................................................................................................................................18 4 Die Ferien des Herrn Hulot..................................................................................................................................21 5 Ekel...............................................................................................................................................................................24 6 Westside Story ..........................................................................................................................................................27 7 Zazie in der Metro...................................................................................................................................................30 8 Citizen Kane ..............................................................................................................................................................33 9 Modern Times ...........................................................................................................................................................36 1 http://www.mediaculture-online.de 10 Der Untertan ...........................................................................................................................................................39 11 Mephisto ...................................................................................................................................................................42 12 Sacco und Vanzetti ...............................................................................................................................................45 13 Orfeu Negro ............................................................................................................................................................48 14 Lohn der Angst ......................................................................................................................................................51 15 Die Geliebte des französis ch e n Leutnants ..................................................................................................5 3 16 Die große Illusion .................................................................................................................................................55 17 La Strada ...................................................................................................................................................................57 18 Außer Atem ............................................................................................................................................................6 0 19 Der Fremde im Zug..............................................................................................................................................6 3 20 Der blaue Engel ......................................................................................................................................................66 21 Die sieben Samurai...............................................................................................................................................69 22 Vom Winde verweht ............................................................................................................................................7 1 23 Metropolis ................................................................................................................................................................74 24 The Getaway ...........................................................................................................................................................78 25 Lucky Luciano ........................................................................................................................................................81 26 Die durch die Hölle gehen .................................................................................................................................8 3 27 Eine Nacht in Casablanca ...................................................................................................................................8 6 28 Denn sie wissen nicht, was sie tun................................................................................................................8 9 29 Der eiskalte Engel.................................................................................................................................................92 30 Tommy .....................................................................................................................................................................94 31 Ich war 19 ................................................................................................................................................................97 2 http://www.mediaculture-online.de 32 Tote schlafen fest .................................................................................................................................................9 9 33 Die Faust im Nacken .........................................................................................................................................1 02 34 Das 1. Evangelium Matthäus ..........................................................................................................................1 05 35 The Purple Rose of Cairo................................................................................................................................1 08 36 Karl Valentin I und II........................................................................................................................................1 10 37 Fontane Effi Briest ..............................................................................................................................................1 14 38 Der Teufelshauptmann ....................................................................................................................................1 17 39 Molière ...................................................................................................................................................................120 40 Triumph des Willens .........................................................................................................................................123 41 Die Fantome des Hutmachers ........................................................................................................................1 27 42 Von Angesicht zu Angesicht ..........................................................................................................................1 30 43 Fanfan der Husar................................................................................................................................................132 44 2001: Odysse e im Weltraum ..........................................................................................................................1 35 45 Große Freiheit Nr. 7...........................................................................................................................................138 46 Belle de Jour – Schöne des Tages ................................................................................................................1 41 47 Einer flog über das Kuckucksne st ...............................................................................................................1 43 48 Das Kabinett des Dr. Caligari.........................................................................................................................1 46 49 Die Spur des Falken ...........................................................................................................................................1 50 50 Nosferatu ...............................................................................................................................................................153 51 Apocalyp s e Now .................................................................................................................................................156 52 Singin' in the rain...............................................................................................................................................1 59 53 King Kong und die weiße Frau......................................................................................................................1 62 3 http://www.mediaculture-online.de 54 Gilda........................................................................................................................................................................165 55 Es war einmal......................................................................................................................................................1 68 56 Züchte Raben .......................................................................................................................................................170 57 Mein Kampf ..........................................................................................................................................................1 73 58 Der Tod in Venedig ...........................................................................................................................................1 76 59 Kinder des Olymp ..............................................................................................................................................1 79 60 Easy Rider.............................................................................................................................................................1 81 61 Jeder für sich und Gott gegen alle...............................................................................................................1 84 62 Taxi Driver ............................................................................................................................................................187 63 Die Drei von der Tankstelle ...........................................................................................................................1 90 64 Ein Mann zu jeder Jahreszeit .........................................................................................................................1 92 65 Klassen Feind .......................................................................................................................................................195 66 Der Student von Prag........................................................................................................................................197 67 1900 ........................................................................................................................................................................2 01 68 Yol – Der Weg......................................................................................................................................................2 04 69 Die Nacht von San Lorenzo ............................................................................................................................2 07 70 Das Geld.................................................................................................................................................................210 71 Der Strohmann ....................................................................................................................................................2 13 72 Törichte Frauen ...................................................................................................................................................216 73 Spiel mir das Lied vom Tod ...........................................................................................................................2 19 74 Network .................................................................................................................................................................222 75 Kameradschaft ....................................................................................................................................................2 24 4 http://www.mediaculture-online.de 76 Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger................................................227 77 Die Brücke .............................................................................................................................................................230 78 Liebe und Anarchie ............................................................................................................................................234 79 Anatomie eines Mordes ...................................................................................................................................2 36 80 Paris, Texas ...........................................................................................................................................................2 39 81 Die offizielle Geschichte ..................................................................................................................................2 42 82 Blow up..................................................................................................................................................................245 83 Danton ....................................................................................................................................................................247 84 Uliisses ...................................................................................................................................................................250 85 Z................................................................................................................................................................................253 86 Gloria......................................................................................................................................................................256 87 Die roten Schuhe ................................................................................................................................................2 59 88 Berlin. Die Sinfonie der Großstadt...............................................................................................................2 63 89 Der kleine Cäsar.................................................................................................................................................2 66 90 Fahrenheit 451 ....................................................................................................................................................2 69 91 I ... wie Ikarus .......................................................................................................................................................272 92 Nur Pferden gibt man den Gnadensch u ß ..................................................................................................2 74 93 Verrückte Musikanten ......................................................................................................................................2 77 94 Adel verpflichtet ................................................................................................................................................2 80 95 Die verlorene Ehre der Katharina Blum.....................................................................................................2 83 96 James Bond 007 – Goldfinger ........................................................................................................................2 86 97 Wie ich den Krieg gewann ..............................................................................................................................2 88 5 http://www.mediaculture-online.de 98 Frühstück bei Tiffany .......................................................................................................................................2 91 99 Buster und die Polizei .......................................................................................................................................2 94 100 Doktor Schiwago ..............................................................................................................................................297 101 Die Regenschirme von Cherbourg ............................................................................................................3 00 102 Der Kontrakt des Zeichners .........................................................................................................................3 02 103 Nackte Jugend ...................................................................................................................................................307 104 Ronja, die Räubertochter ..............................................................................................................................3 10 105 Jäger des verlorenen Schatzes ...................................................................................................................3 12 106 Gandhi ..................................................................................................................................................................315 107 The Killing Fields .............................................................................................................................................318 108 Asphalt - Cowboy ..............................................................................................................................................321 109 Die zehn Gebote ...............................................................................................................................................3 24 110 Emil und die Detektive ..................................................................................................................................3 27 111 Das Opfer ............................................................................................................................................................330 Nachwort .....................................................................................................................................................................332 Kurzbiographien der Herausgeb er und Autoren ..........................................................................................3 39 Günter Engelhard Die Tücken der Serie: Wie das “Privatmuseum Film” entstand Koryphäen der Literaturkritik haben in den siebziger Jahren “Die Zeit-Bibliothek der hundert Bücher” zusammengestellt. Jeweils hundert Wochen lang kam in jeder Ausgabe ein Buch zur Sprache. Die ausgewählten Werke stehen in den Privatbibliotheken anspruchsvoller Zeitungsleser; die gehen gewiß jedesmal mit sich zu Rate, wenn es gilt, 6 http://www.mediaculture-online.de dem Elite-Paket ein Buch eigener Wahl hinzuzufügen. Wird man sich blamieren, oder gelingt der Beweis, daß die Kriterien für die Beschaffenheit eines weiteren Stücks Weltliteratur begriffen worden sind? Das publikumsfreundliche Fernsehen, stets um anspruchsvolle Sendestoffe verlegen, befreit den Zuschauer von der Last der Entscheidung. In einer verblüffenden Anwandlung kulturellen Sendungsbewußtseins wurden “100 Meisterwerke” der Malerei kurzerhand auf “1000 Meisterwerke” verlängert, starke Qualitätschwankungen inbegriffen. Die hundert Bücher kann sich jeder kaufen. Die tausend Bilder hängen in den internationalen Museen. Die komplette Übersicht ist jederzeit durch Reproduktionsverfahren zu haben. Ganz offen für Auge und Ohr liegt aber noch das Territorium der veränderlichen, in bewegten Bildern erfaßten künstlerischen Wahrnehmung vor uns. Die schöne kalte Wohnlichkeit des audiovisuellen Vermittlungsmobiliars verlockt dazu, sich nun auch diese Botschaften frei Haus liefern zu lassen: Der auf optische und akustische Impulse reagierende Mensch mit Sammlertrieb will sich die wichtigsten Produktionen im persönlichen Umfeld verfügbar halten. So wird die häusliche Bibliothek immer stärker von der Compact-Diskothek und neuerdings unaufhaltsam von den Kassetten mit Filmkunst des 20. Jahrhunderts bedrängt – dem zeitgemäßen Sammlermaterial für bürgerliche Kommunikationskultur. Auf beiden Gebieten läßt sich die Zahl der Sammlungsstücke vorläufig nicht limitieren. Während die Meisterwerke der Literatur und der Malerei dem Buchstaben und der Farbe nach unveränderlich feststehen, ist das Repertoire faszinierender Interpretationsweisen der Musikliteratur noch längst nicht erschöpft, schreitet die Produktion filmischer Meisterwerke unaufhaltsam voran. Die im Grunde beliebige, lediglich von der Optik her originelle Signalzahl 111 trägt unbegrenzter Sammlertätigkeit Rechnung: Vollständigkeit ist einstweilen nicht zu haben. Innerhalb privater Diskotheken lassen sich musikalische Werke leicht durch bessere Interpretationen und Ersteinspielungen ersetzen; die Video-Industrie hat eine systematische Edition von Meisterwerken für die häusliche Filmothek noch gar nicht in Angriff genommen. 111 Empfehlungen ermutigen den Sammler folglich nur zu einer Art 7 http://www.mediaculture-online.de Grundausstattung; jenseits der Zahlengrenze wird er fürderhin ganz allein mit erhöhter Aufmerksamkeit auf das wechselhafte Angebot meisterlicher Neuheiten achten müssen. Mitte des Jahres 1986 war im Feuilleton der seit 1980 fusionierten Wochenzeitungen “Rheinischer Merkur/Christ und Welt” die Serie “111 Schlüsselwerke der Musik: Stücke, die den Ton angeben” beendet worden. Experten aus dem Bereich der Musikwissenschaft hatten die Auswahl getroffen und durch ihre Plädoyers sogar gelegentlich die PhonoIndustrie zur Ersteinspielung vernachlässigter Partituren animiert. Friedrich Hommel, Leiter des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD), überraschte den verantwortlichen Redakteur Michael Globig damals mit einem bibliophilen Nachdruck der gesamten Serie – gebundenes Reclam-Format in Miniatur-Auflage: Die zehn Exemplare haben inzwischen einen gewissen Sammlerwert. Die nächste Serie zielte von vornherein auf größere Breitenwirkung und zugleich auf höheren Nutzwert. Das Weltbild der Leserschaft sollte von Woche zu Woche durch jene kopierbaren, vergleichsweise aktuellen “Meisterwerke” ergänzt, korrigiert, irritiert werden, mit denen der Film im Populärbereich des Kinos auf äußere Wirklichkeiten künstlerisch reagiert. Vom ersten Erscheinungstag an erwachte die Neugier. Immer wieder wurde die Bitte geäußert, alle “111 Meisterwerke des Kinos auf Video” gesammelt zu publizieren. Die Gesamtplanung der Serie gemeinsam mit den Herausgebern des “Fischer Film Almanach” öffnete uns das Tor zu “Fischer Cinema”. Walter Schobert, Direktor des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt, und Horst Schäfer, Leiter des Kinder- und Jugendfilmzentrums in der Bundesrepublik Deutschland, delegieren im Einführungstext die Kritikwürdigkeit der Auswahl an die Verleih- und Verkaufsfirmen: Deren meist disparates, von einem künstlerischen Konzept noch kaum geprägtes Angebot, nötigte uns manch anfechtbare Entscheidung ab. Wir trösteten uns mit dem Gedanken, auch am Beispiel zweitrangiger Filme wenigstens hilfreiche Hinweise darauf geben zu können, wie ein anspruchsvolles “Privatmuseum Film” eigentlich beschaffen sein müsse. Die Idee ist inzwischen begriffen worden. Dank der Schützenhilfe des “stern”-TVMagazins, das kurz nach Beginn der Serie im “Rheinischen Merkur/Christ und Welt” hundert Wochen lang ein eigenes Wunschprogramm von 100 weltbesten Filmen zu 8 http://www.mediaculture-online.de veröffentlichen begann, haben sich einige Video-Anbieter entschlossen, bessere Qualität zu riskieren. Bei Drucklegung dieses Buches sind bereits einige Filme durch bessere Arbeiten der gleichen Regisseure ersetzt worden. So wird die Serie ihrer animierenden Funktion gerecht: Noch ist ja eine historisch konzipierte Video-Anthologie wichtigster Werke der Filmgeschichte für die private Sammlung nicht einmal in Ansätzen sichtbar. Unsere erste utopische Liste – zwischenzeitlich bei Zusammenkünften in Frankurt, Köln und Bonn immer wieder betrüblichen Konzessionen an das aktuelle Angebot unterworfen – beginnt mit den Namen Lumière und Méliès. Sie fährt sogleich fort mit “Birth of a Nation” und dem ersten epischen Sozial-Panorama “Intolerance” (1916) von David Wark Griffith. Auf Victor Sjöström (“Fuhrmann des Todes”), Wsewolod Pudowkin (“Mutter” und “Sturm über Asien”), Abel Gance (“Napoleon”), Carl Theodor Dreyer (“Ordet”, “Passion der Jeanne d'Arc”), Jean Vigo (“L'Atalante”) mußte verzichtet werden. Es fehlen zum Beispiel die Namen Porter, Pastrone, Wertow, Dowshenko, Ives, Wassilew, Pereira, Rocha, Munk, Angelopoulos, Straub, Ozu, Eustache, Tanner. Von Regisseuren wie G. W. Pabst, Luis Buñuel, John Cassavetes, Robert Altman, Andrzej Wajda, Louis Malle waren nicht die wichtigsten Filme verfügbar. Unsere Autoren waren bereit, im Wechsel mit strengen künstlerischen Kriterien hin und wieder auch jene perfekten Strategien zu würdigen, mit denen es gelang, das Publikum gleich massenweise ins Kino zu locken sei es durch die starken Gefühlswirkungen des Südstaaten-Melodrams “Vom Winde verweht” oder durch die verheerende Faszination des nationalsozialistischen Kultfilms “Triumph des Willens”. Auch die ästhetischen Verführungskünste des Mediums müssen beim Aufbau einer klassischen “Videothek der Unterhaltung und des Wissens” dokumentiert werden. Der Funke ist bereits auf den Verband Deutscher Bibliothekare übergesprungen. Noch befand sich die Serie auf halber Strecke, als die Empfehlung ausgesprochen wurde, “111 Meisterwerke des Kinos auf Video” als Grundausstattung künftiger BibliotheksVideotheken zu nutzen. Und als die Universität von Tel Aviv ihrem Gastprofessor, Frankfurts filmkundigen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann, den Wunsch nach sämtlichen 111 Kopien zu Lehrzwecken für den kinematographischen Nachwuchs 9 http://www.mediaculture-online.de übermitteln ließ, erblickten wir darin die Bestätigung, daß sich unser Sammlungsprojekt auf dem richtigen Entwicklungsweg befand. Auf der empfohlenen Basis wächst meine eigene Videothek inzwischen weiter. In den mitternächtlichen Lichtstunden von ARD und ZDF habe ich inzwischen fast alle Tarkowskij- und Truffaut-Filme aufgezeichnet. Murnaus “Faust” ist mir ebenso wenig entgangen wie “Die freudlose Gasse” von G. W. Pabst. Raritäten wie Derek Jarmans wunderbarer “Caravaggio” und Fredi Murers “Höhenfeuer” wurden hinzugewonnen. Sogar die ungekürzte Fassung von Griffith' “Intolerance” habe ich (nur für private Zwecke) an einem frühen Sonntagmorgen erwischt. Die Sucht wächst. Und mit ihr der Drang zur Aussonderung der weniger guten Filme. Am Ende könnte es durchaus sein, daß meine “111 Meisterwerke” mit denen, die jetzt in diesem Buch zusammengefaßt worden sind, kaum noch übereinstimmen. 10 http://www.mediaculture-online.de Horst Schäfer/Walter Schobert Vorwort (Geschrieben zum Start der Serie im August 1986) Schon 1939 versuchte das New Yorker Museum of Modern Art einen repräsentativen Überblick über die Filmgeschichte. Und 1958 wurden anläßlich der Brüsseler Weltausstellung renommierte Kritiker aus aller Welt gebeten, die “Besten zwölf Filme der Filmgeschichte” zu benennen. Die Reihenfolge mag sich geändert haben, die Filmtitel und hauptsächlich die Namen der Regisseure wären wohl auch heute noch in jeder Hitparade zu finden: Eisensteins “Panzerkreuzer Potemkin”, de Sicas “Fahrraddiebe”, Chaplins “Goldrausch”, Dreyers “Die Passion der Jeanne d'Arc”, Renoirs “Die große Illusion”, Stroheims “Greed”, Griffith' “Intolerance”, Pudowkins “Mutter”, Welles' “Citizen Kane”, Dowshenkos “Erde”, Murnaus “Der letzte Mann”, Wienes “Das Kabinett des Dr. Caligari”. Seither hat es da und dort Versuche gegeben, die Meisterwerke des Films zu einem Kanon zusammenzufassen. “Cento film da salvare” (100 Filme für die Insel also) hieß ein Buch. “Eine Geschichte des Films in hundert Programmen” (ein Trick, weil ein Programm mehrere Filme umfassen kann) wurde vor Jahren im Kommunalen Kino zu Frankfurt organisiert. Wir stritten damals engagiert und lustvoll mit Urs Jaeggi und Ulrich Gregor, dem Co-Autor der “Geschichte des Films” und Leiter des Berliner “Arsenal”. Sein Unbehagen an der Auswahl, am Kompromiß, am Verzicht auf manchen liebgewonnenen Film wird nicht gewichen sein, als er kurze Zeit später ein ähnliches Unternehmen startete – mit 150 Filmen. Seither wissen wir, daß Freundschaften gefährdet sein können bei solcher Arbeit der Auswahl, daß hundert Filme so gut sind wie 111 – und nie Zufriedenheit zu erzielen ist. Bewußt geworden ist uns, daß jede Auswahl endlich ist, immer nur ein Notbehelf, daß die ausgewählten Filme austauschbar sind, daß oft eigentlich nicht der Einzelfilm, sondern das Gesamtwerk eines Regisseurs gemeint ist: Eisenstein könnte auch für “Oktober” stehen, Murnau für “Nosferatu” und “Sunrise”, Lang für “Metropolis” und “Dr. Mabuse”, 11 http://www.mediaculture-online.de Buñuel für “Chien andalou” und “Viridiana”, und Howard Hawks müßte, natürlich, viermal genannt sein. Nicht übersehen läßt sich auch ein nationaler Blickpunkt, wenn es auch fragwürdig ist, dem Filmschaffen der Dritten Welt so wenig Rechnung zu tragen. Diese Länder weisen ja nicht nur quantitativ große nationale Kinematografien auf, sondern sind Japan, Indien – geradezu klassische Filmländer geworden. In Südostasien und Lateinamerika gibt es junge Filmländer mit aufregenden Entwicklungen. Wer kann von hier aus festlegen, was wirklich Schlüsselwerke sind für diese Länder? Die Fixierung auf Europa und die USA ist also zwar bedauerlich, aber unvermeidlich. Mit Bedacht heißt die Serie “Privatmuseum auf Video”. Darin liegt beides, das größte Handikap und die große Chance dieses Unterfangens. Die Beschränkung auf Filme, die als Videokassette verfügbar sind, engt die subjektiven und objektiven Kriterien der Auswahl noch einmal und ganz entscheidend ein: Indem sie sie abhängig macht von einem Markt, der von allem möglichen beherrscht wird, nur nicht von einem Gedanken an die Filmkunst, und den einer, der an ihm beteiligt ist, schlicht “extrem filmfeindlich” nannte. Die Auswahl konnte sich nicht, utopisch oder idealtypisch, nach einer abstrakten Filmgeschichte richten, sondern nach den konkreten Gegebenheiten des in der Bundesrepublik verfügbaren Angebotes, das sich auf über 6000 Titel beläuft. Durchforstet man dieses Angebot, so reduzieren sich die in Frage kommenden Filme sehr schnell auf ein paar hundert, die bei einer filmgeschichtlichen Betrachtung im weitesten Sinne erwägens- oder erwähnenswert sind. Beim strengeren Maßstab des “Schlüsselwerks” bleiben zur Zeit nicht mehr als 30 bis 40 Titel übrig, die ernsthafte Diskussion verdienen, das heißt: die repräsentativ verschiedene Stilrichtungen, Epochen, Persönlichkeiten visualisieren. Es überwiegt ganz eindeutig die amerikanische Produktion der letzten zwanzig Jahre. Ein paar frühe deutsche Filme und einige Beispiele für das Filmschaffen von Nachbarländern ändern nichts daran, daß entscheidende Filme fehlen. Augenblicklich bietet kein Videohändler Werke von Dreyer, Pudowkin, Gance oder Ophüls an. Sozialkritische Filme aus dem Amerika der 30er Jahre sind ebenso wenig erhältlich wie exemplarische Filme des Neorealismus, der Nouvelle Vague oder des sozialistischen Filmschaffens. Manchmal gibt es Filme von bedeutenden Regisseuren. Aber ist “Belle de jour” beispielhaft für Buñuel, der “Killer von Alabama” für Buster Keaton? 12 http://www.mediaculture-online.de Aber der Videomarkt ist im Umbruch, die Goldgräber und/oder Raubritterzeiten sind vorbei. Es kann gut sein, daß bald neben Erstaufführungen auch wichtige filmhistorische Werke angeboten werden. Überdies ist für private Zwecke der Mitschnitt erlaubt. Auch ausländische Quellen kämen in Frage, zum Beispiel die vorzügliche und ausschließlich am filmhistorischen Wert orientierte Video-Edition des Britischen Filminstituts. Über die Texte zu den Einzelfilmen werden die Autoren den Gesamtzusammenhang herzustellen versuchen. Am Ende ist, so hoffen wir, trotz aller Einschränkungen eine Anthologie von großem Gebrauchswert entstanden – mit Filmen, deren Kenntnis für jeden lohnend ist, der sich für den Film und seine Geschichte interessiert. Nicht den kleinsten Kummer macht uns der Gedanke, daß es sich bei dem ganzen Unternehmen um einen weiteren Tort handeln könnte, der dem Kino angetan wird – weil die Leser noch mehr davon abgehalten werden, ins Kino zu gehen. Doch das ist eine Frage, die sich für den, der privilegiert in München, Berlin oder Frankfurt Kinematheken und Filmmuseen mit hervorragendem Programm und exzellenter Technik besuchen kann, anders stellt als für den, der in einer Stadt ohne Kino lebt. Ohne die Reihen des Fernsehens bliebe für viele: Nichts. Wir gehören ganz gewiß zu denen, die mit Unbehagen sehen, daß eine Generation statt mit dem Kino mit Bildschirm und Recorder heranwächst. Aber gerade ihr muß man Entscheidungshilfen geben. Die Autoren dieser Serie möchten noch einmal darauf hinweisen, daß ein “Privatmuseum auf Video” den Film auf der Großen Leinwand nicht ersetzen kann, sondern erschließen will. 13 http://www.mediaculture-online.de Hans-Joachim Schlegel 1 Panzerkreuzer Potemkin Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925) Regie: Sergej Eisenstein. Buch: Nina Agadshanowa. Kamera: Eduard Tissé. Darsteller: Alexander Antonow, Wladimir Barski, Grigori Alexandrow. Länge: 1740 Meter. Vertrieb: Taurus Video. Sergej Eisensteins “Panzerkreuzer Potemkin” ist auch sechzig Jahre nach seiner Premiere im Dezember 1925 für Filmhistoriker und Kritiker unterschiedlichster ästhetischer wie ideologischer Überzeugungen noch immer der “beste Film aller Zeiten”. Das Werk entstand als Auftragsarbeit für die Jubiläumsfeiern der ersten russischen Revolution von 1905. Der Regisseur hatte keinerlei Scheu vor einer “politischen Entjungferung der Kunst”, wie Walter Benjamin den Gegnern der “Tendenzkunst” spöttisch entgegenhielt: “Potemkin ist ein großer, selten geglückter Film ... Schlechte Tendenzkunst gibt es sonst genug, darunter schlechte sozialistische Tendenzkunst. Solche Sachen sind vom Effekt her bestimmt, rechnen mit ausgeleierten Reflexen, benutzen Schablonen. Dieser Film aber ist ideologisch ausbetoniert, richtig in allen Einzelheiten kalkuliert wie ein Brückenbogen. Je kräftiger die Schläge darauf niedersausen, desto schöner dröhnt er. Nur wer mit behandschuhten Fingerchen daran klopft, der hört und bewegt nichts.” Weder die Mäkeleien von Bürokraten, Kleinbürgern und Kollegen im eigenen Land, noch das nervöse Sperrfeuer von Zensoren in aller Welt vermochte die international siegreiche Fahrt des “Panzerkreuzer Potemkin” aufzuhalten. In Berlin beispielsweise setzten Massendemonstrationen seine Vorführung durch und weckten so auch die Neugierde jenes Moskauer Durchschnittspublikums, das zunächst der leichteren Kost des gleichzeitig gestarteten Douglas-Fairbanks-Films “Der Dieb von Bagdad” den Vorzug gab. Eisensteins Film verstand es, selbst den politischen Gegner in seinen Bann zu ziehen, wie Lion Feuchtwanger in seiner “Potemkin”-Erzählung und im Roman “Erfolg” schildert. 14 http://www.mediaculture-online.de Sogar Joseph Goebbels, der wohl wütendste Feind des revolutionären Rußland, empfahl den Regisseuren des “Dritten Reiches”, von dem Film des Marxisten und Juden Sergej Eisenstein zu lernen, um dessen Inhalt ins Gegenteil umkehren zu können, was ebensowenig gelang wie anders motivierte Imitationsversuche. Was war das spezifische Erfolgsgeheimnis des “Panzerkreuzers Potemkin”, der sogar “von der Leinwand ins Leben” trat, als 1933 indonesische Matrosen nach seinem Vorbild ihre holländischen Schiffsoffiziere über Bord der “Zeven provincien” warfen? Der Film traf gewiß den Nerv einer Zeit voller revolutionärer Sehnsucht und sozialer Unruhe. Er vertritt einen Avantgardismus, der nach innovativer Wirkung jenseits etablierter Normen suchte. Das Kino sollte nicht länger ein Ort unverbindlicher Unterhaltung und “passivierender” ornamentaler Pathetik sein, sondern Geburtsstätte eines gesellschaftlich wie ästhetisch aktiv veränderten Wirklichkeitsbezugs. Aus diesem Grunde wird der “Storyheld” durch eine “Orchestrierung” typischer Gesichter und Gesten, durch “kollektive Helden” und “soziale Masken” ersetzt. Das bisherige “Beiwerk” der “Ausstattung” löst sich von seinem “Hintergrund” und übernimmt in einer Zeit futuristischer, kubistischer und konstruktivistischer Schöpfungen der bildenden Kunst tragende dramaturgische Funktionen: Der Schiffskörper des Panzerkreuzers, die Bewegungen der Kolben und Kanonenrohre sind für Viktor Shklovskij die besten “Schauspieler” in diesem Film. Auf die Mitarbeit professioneller Schauspieler wurde verzichtet. Eisenstein spricht in diesem Zusammenhang von einem “Spiel durch Gegenstände” und einer “Psychologisierung der Dinge”. Besonders deutlich wird die “Dramaturgie der Objektbewegung” im fünften Schluß-“Akt” des Filmes, wo Manometer und Kanonenrohre die Spannung der tödlich drohenden Begegnung mit dem Zarengeschwader ausdrücken, die dann im Finale einer allgemeinen Verbrüderung explodiert. Wilhelm Reich erkannte gerade im Rhythmus dieser Szene “eine Fortsetzung des biologisch-sexuellen Rhythmus”. Eisenstein verwahrte sich zwar in einem Antwortschreiben gegen die “Hypertrophierung” des Sexuellen, war sich aber zugleich der Bedeutung der Psychoanalyse bewußt, die “den Anteil des Unbewußten an bewußten Prozessen” aufzeige. 15 http://www.mediaculture-online.de Im “Panzerkreuzer Potemkin” dominieren noch Verfahren der bereits in “Streik” (1924) erarbeiteten “Montage emotionaler Attraktionen”. Die Zuschauer-Aufmerksamkeit soll vor allem durch “Guignol”-Bilder akzentuierter Grausamkeiten geweckt werden: In der berühmten “Treppensequenz” etwa, wo Kosakenstiefel die “Solidaritätsdemonstration” der Bevölkerung von Odessa “zertreten”, kommt das zerschossene Auge einer Gouvernante in Nahaufnahme ins Bild und rollt ein Kinderwagen die Treppenstufen hinab. An jener Stelle aber, wo die Logik des Aufstandes mit der Komplexmetapher von Statuen schlafender, erwachender und aufbrüllender Löwen gedeutet wird, zeichnet sich bereits der Übergang zu einer “Montage intellektueller Attraktionen” ab. Der Übergang also zur grandiosen Utopie einer “intellektuellen Kinematografie der Begriffe”, die “Ideen im Werden” zeigen und filmstrategisch in dialektisches Denken einüben will. Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß man das “Erfolgsgeheimnis”, das Spezifikum der “Potemkin”-Wirkung im Kontext der Eisensteinschen Theorie klären muß: Sergej Eisenstein, der überaus gebildete Großbürgersohn, der “durch Revolution zur Kunst, durch Kunst zur Revolution” kam, wurde auch deshalb immer wieder als “Leonardo da Vinci des 20. Jahrhunderts” bezeichnet, weil er seine Kunst in einer kreativen Dialektik von Praxis und Theorie entwickelte. Kunstarten unterschiedlichster Zeiten und Kulturen, aber auch philosophisch-psychologisches und naturwissenschaftliches Wissen wurden von ihm reflektierend einbezogen. 16 http://www.mediaculture-online.de Meinolf Zurhorst 2 Casablanca Casablanca (USA 1943) Regie: Michael Curtiz. Buch: Julius J. und Philip G. Epskin, Howard Koch. Kamera: Arthur Edeson. Musik: Max Skiner. Darsteller: Humphrey Bogart, Ingrid Bergman, Paul Henreid, Claude Rains, Conrad Velt, Sidney Greenstreet, Peter Lorre, Curt Bois. Länge: 99 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. “Louis”, sagt Humphrey Bogart zu Claude Rains, “ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.” Dieser letzte Satz, das Ende von “Casablanca”, markierte den Beginn eines bis heute andauernden Kultes: “Bogey” blieb auch Jahrzehnte nach seinem Tod eine mythische Figur – ein Einzelgänger, hart und zynisch, doch in Wirklichkeit integer und solidarisch. “Casablanca”, das Kernstück des Kultes, erzählt zudem eine überaus kinoträchtige Geschichte. Casablanca, 1941. In “Rick's Cafe Americain” treffen sich Flüchtlinge, Schieber, Spieler, Diebe und leichte Mädchen – “everybody comes to Rick's”, wie das zugrundeliegende Theaterstück heißt. Casablanca ist zu der Zeit (Vichy-)französisch, der Stadtpräfekt ist Capitain Renault. Ihm zur Seite steht der Gestapo-Major Strasser; er will verhindern, daß der prominente Widerstandskämpfer Victor Laszlo mit einem Transitvisum das Land in Richtung Amerika verläßt. Von Amerika träumen auch die vielen anderen, die sich in Rick's Cafe eingefunden haben, doch nur die wenigsten besitzen eine Chance, dorthin zu kommen. Rick verhält sich in diesem Dschungel unterschiedlicher Interessen neutral, ist nur Besitzer, unpolitisch und keinem verpflichtet außer sich selbst. Durch Zufall gelangt er in den Besitz zweier Transitvisa, für die viele alles geben würden. Auch Laszlo ist an ihnen interessiert. Dessen Frau Ilsa ist die frühere Geliebte Ricks. Als sein Pianist Sam noch einmal den Song “As time goes by” spielt, steigt in Rick die Erinnerung hoch. Unmittelbar vor der deutschen Besetzung hatte er in Paris mit Ilsa ein Liebesverhältnis. Gemeinsam 17 http://www.mediaculture-online.de wollten sie nach Marseille ausreisen, doch Ilsa kam nicht zum Treffpunkt. In Casablanca nun gesteht sie, ihn immer noch zu lieben und jetzt ihren Mann, der damals als tot galt und verletzt wieder aufgetaucht ist, verlassen zu wollen. Rick, den Laszlos Patriotismus wider Willen beeindruckt hat, geht scheinbar auf ihr Angebot ein und verspricht, Victor ein Visum zu überlassen. Doch am Flughafen gibt er Ilsa frei und erschießt Major Strasser, als dieser Laszlos Abreise verhindern will. Capitain Renault läßt daraufhin die “üblichen Verdächtigen” verhaften. Als Warner Brothers “Casablanca” am 27. November 1942 uraufführten, entwickelte sich der Film zum erwarteten Reinfall. Das Studio, das sich immer der jeweiligen sozialen und politischen Situation verpflichtet fühlte, hatte als erstes daran gedacht, Amerikas Kriegseintritt propagandistisch zu begleiten. Das Bogart-Vehikel “Casablanca” war dabei nur ein Film unter vielen, keiner, in den man große Hoffnungen setzte. Von Beginn an gab es Probleme. Die Autoren-Brüder Julius J. und Philip G. Epstein hatten Schwierigkeiten, die Liebesgeschichte zwischen einer Frau und zwei Männern glaubhaft mit dem Zeitkolorit zu verbinden und einen gelungenen Schluß zu finden. Ein weiterer Autor, Howard Koch, wurde hinzugezogen. Noch während der Dreharbeiten war das Ende offen, was vor allem den damaligen Jung-Star Ingrid Bergman verunsicherte. Doch im Januar 1943 fand ein Ereignis statt, das Einfluß hatte auf das Schicksal des Films. In Casablanca beschlossen Churchill und Roosevelt die alliierte Landung auf Sizilien. Noch im Februar des gleichen Jahres erfolgte ein Massenstart des Films, der nicht nur kommerziell ein großer Erfolg wurde, sondern auch drei “Oscars” für den besten Film, das beste Drehbuch und die beste Regie erhielt. Die zeitgenössische Kritik erkannte den Wert von “Casablanca” zunächst nicht. Den ausschließlich im Studio entstandenen Streifen zeichnet eine besondere Atmosphäre, die Klischees vermeidet und die Rick's Cafe Americain zur Bühne eines modernen Dramas macht. Die Menschen des Films agieren in einer Ausnahmesituation, in der die komplexe Dichotomie von Gut und Böse auf einfache Figuren reduziert wird. Berühmt wurde jene Szene, in der die deutschen Soldaten “Wacht am Rhein” singen, dann aber von der “Marseillaise” der anderen Barbesucher überstimmt werden. Optisch unterstrichen wird 18 http://www.mediaculture-online.de dies durch die exzellente Schwarzweiß-Fotografie von Arthur Edeson, dessen Licht- und Schattendramaturgie nahezu mysteriösen Charakter gewinnt. Die Menschen in “Casablanca” definieren sich nicht durch ihren Charakter, sie sind vielmehr Typen: der freundliche, dicke Kellner aus Österreich, der “verrückte” Russe, der wohlbeleibte, geschäftstüchtige Araber, der drahtige deutsche Offizier, der elegante Widerstandskämpfer, dargestellt übrigens von Schauspielern, die selbst Emigranten waren. Den Kult aber initiierte Humphrey Bogart: Sein Rick erschien als die ideale Verkörperung amerikanischer Tugenden. Loyalität, Mut, Großzügigkeit, all dies verborgen hinter der Maske des resignativen Zynikers und Egoisten, der am Ende dann doch die Verantwortung übernahm, die er zuvor so vehement abgelehnt hatte und der auch noch in der Niederlage zum moralischen Sieger avancierte. In den deutschen Kinos lief “Casablanca” in einer gut 20 Minuten kürzeren Fassung, aus der der deutsche Gestapo-Offizier verschwunden war und in der aus dem verfolgten Widerstandskämpfer ein norwegischer Atomphysiker namens Larssen wurde. Horst Schäfer 3 If... lf... (Großbritannien 1969) Regie: Lindsay Anderson. Buch: David Shervon. Kamera: Miroslav Ondricek. Musik: Marc Wilkinson. Darsteller: Malcolm McDowell, David Wood, Richard Warwick, Christine Noonan. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: CIC Video. In der britischen Public School herrscht ein hierarchisches Über- und Unterordnungssystem, das die jüngeren Schüler den Befehlen der älteren, ihrem Wohlwollen und ihrer Willkür aussetzt. Zucht und Ordnung überantwortet die Schulleitung einer Gruppe der ältesten Schüler, die ganz im Geiste der konservativen Elite und im Sinne der jahrhundertealten Schultradition handeln. 19 http://www.mediaculture-online.de Am Beispiel von drei Oberschülern, die sich gegen dieses Kastenschema auflehnen (Mick und seine beiden Freunde Johnny und Wallace), seziert Regisseur Lindsay Anderson das klassische Autoritäts-Modell, indem er es schichtweise in seine Einzelteile zerlegt. Der in einzelne Kapitel gegliederte und mit Zwischentiteln versehene Film entlarvt die sinnentleerten Rituale, aufrechterhalten durch Kommandos und Kontrolle; er beschreibt das von Heuchelei und Prüderie bestimmte Klima, attackiert die Arroganz der Oberschicht und das biedere Gehabe der Lehrer, deren Individualität sich in ihren Marotten ausdrückt. Fast alle Schüler haben sich angepaßt; nur bei wenigen flackert gelegentlich der Funke des Widerstands auf. Umgeben sich seine Mitschüler mit Studienutensilien, so hat Mick die Wände seiner Wohnecke mit Postern und Fotos von Che, Mao und Lenin und mit Illustriertenseiten über Rebellen und Aufständische vollgepinnt. Mick geht offen gegen die Schulordnung vor; er provoziert durch Reden und Gesten und reibt sich an den Privilegien der Vorzugsschüler, die die Jüngeren mit repressiven Methoden wie Leibeigene behandeln. Die sich konsequent auf ein eskalierendes Ende zuspitzende Handlung wird nur selten durch heitere, übermütige Sequenzen durchbrochen, in denen sich die Jungen ausgelassen und unbeschwert geben können. Bei einer Spritztour mit einem geklauten Motorrad lernt Mick ein junges, selbstbewußtes Mädchen kennen. Freizügigkeit und Sexualität sind für ihn die konkreten Gegensätze zu dem System, dem er ausgeliefert ist. Anderson verfremdet seinen Film mit Schwarz-weiß-Szenen, die das Verhältnis von Unterdrückten pointieren. Die reale Erzählweise wird dabei von Wunschvorstellungen unterbrochen, die sich immer stärker zu fiktiven Geschehnissen hin verdichten. Am Ende verwischen sich beide Ebenen zu einer folgerichtigen Einheit, einer polemischen Zukunftsvision: Nachdem sie vorher schon bei einer militärischen Übung den Aufstand geprobt hatten, gehen Mick und seine Freunde zum bewaffneten Angriff über, dem sich auch das Mädchen anschließt. Bei den pompösen Feierlichkeiten zum 500jährigen Bestehen der Schule, an dem sich Vertreter des Establishments (Königshaus, Kirche, Militär) beteiligen, legen sie einen Brand und schießen vom Dach der Schule aus auf die durcheinanderlaufenden Menschen. Es dauert nicht lange, bis diese sich unter der 20 http://www.mediaculture-online.de Führung eines Generals formieren und das Feuer erwidern. Es kommt zum offenen Kampf, dessen Maschinengewehrsalven in den Schlußchoral überleiten. “if ... ” ist ein Film von 1968 und entspricht dem Geist und der Stimmung dieser Zeit. Lindsay Anderson, geboren 1923, war in den fünfziger Jahren maßgeblich am Free Cinema, der neuen Welle des englischen Films, beteiligt, die den Filmemachern eine gesellschaftspolitische Verantwortung zusprach. Hier übt er scharfe Kritik an einem selbsterfahrenen Erziehungsstil, der auf dem Prinzip des blinden Gehorsams gegenüber der Autorität beruht. Anderson versteht “if ...” (“wenn ... ”) als ein allgemeingültiges Manifest der Auflehnung des unterdrückten Individuums gegen gesellschaftliche Zwänge. Der Film erhielt 1969 in Cannes die Goldene Palme. Neben weiteren internationalen Preisen und Auszeichnungen bekam er in der Bundesrepublik das Prädikat “besonders wertvoll”: “Es ist wohl die beste filmische Studie einer Schulrevolte, die bis jetzt in einem Film gelungen ist, und es ist eine völlig eigenständige dramatische Gestaltung des alten Themas vom Gegensatz der Generationen.” Die Evangelische Filmgilde wählte “if ... ” zum “Besten Film des Monats September 1969”, weil er “... auf das explosive Verhältnis der Generationen in aller Welt zielt. Die schockierende Vision einer blutigen Revolte enthält die Aufforderung, umzudenken und neu anzufangen, bevor es zu spät ist. ” In diesem Sinne ist der Film heute noch aktuell. Den Schüler Mick spielt der 1943 geborene Schauspieler Malcom McDowell, der wenig später durch Kubricks “Clockwork Orange” (England 1971) zum Weltstar wurde und in zwei weiteren Filmen von Anderson wieder Hauptrollen übernahm: “O Lucky Man” (1972) und “Britannia Hospital”. Über den abwegigen Cover-Slogan “Die Terroristen von Morgen” sollte man ebenso schnell hinwegsehen wie über die ersten zehn Minuten der Kassette mit den nervtötenden Trailern von “Gotcha – ein irrer Typ”, “Miami Vice II”, “Airwolf III”, “Hit” und “Dr. Strange”. Thomas Brandlmeier 21 http://www.mediaculture-online.de 4 Die Ferien des Herrn Hulot Les Vacances de M. Hulot (Frankreich 1953) Regie: Jacques Tati. Buch: Jacques Tati und Henry Marquet. Kamera: Jacques Mercanton und Jean Mousselle. Darsteller: Jacques Tati, Nathalie Pascaud, Louis Perraut und Michèle Rolla. Länge: 95 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien. Wer an filmischen Strukturen besonderen Gefallen findet, wird Tatis Spätwerk (“Playtime”/1967, “Trafic”/1973, “Parade”/1973) seinen populären Werken (“Jour de fête”/1949, “Les Vacances de M. Hulot”/1953, “Mon Oncle”/1958) vorziehen. Die Frage nach Tatis bestem Film ist insofern müßig, als sein Werk ein filmisches Kontinuum darstellt, in dem sich der Regisseur das Medium auf spezifische Weise aneignet. “Les Vacances de M. Hulot” nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein, da Jacques Tati sich in Monsieur Hulot jene Kunstfigur schafft, die fortan seine Leinwand-Persönlichkeit transportieren wird. In diesem Zusammenhang ist wieder einmal zu beklagen, daß Tatis Frühwerk (seine Kurzfilme zwischen 1932 und 1947) seit Jahrzehnten unzugänglich ist. In diesen Kurzfilmen, so die klassische Quelle von Claude Beylie, ist Tati noch sehr stark jenen Sportpantomimen verpflichtet, mit denen er es in den 30er Jahren zu Varietéruhm brachte. “Er hatte etwas erfunden, das halb Tanz, halb Sport, halb Satire und halb ‘Lebendes Bild’ ist. Ihm ist es zum ersten Mal gelungen, alles auf einmal zu sein: Tennisspieler, Ball und Schläger, Fußball und Torwächter, der Boxer und sein Gegner, das Fahrrad und der Radfahrer.” So schrieb damals Colette über seine Music-HallAuftritte. Von der Pantomime hat Tati offenbar die Fähigkeit der beobachtenden Einfühlung in die Person und ihr Accessoir mitgebracht. Er selbst äußert sich fasziniert über die Fülle der Details, die ihm die Beobachtung enthüllt: “Der Arbeiter, der die Steine befördert, und der andere, der sie in Empfang nimmt und an ihren Platz bringt ... die Präzision ihrer Gesten, ihre wunderbare Exaktheit, Geschmeidigkeit, Leichtigkeit, Sicherheit und all das, was Bewegung und Gangart von einem Menschen enthüllen können.” Claude Beylie bemerkt 22 http://www.mediaculture-online.de bereits zu Tatis Kurzfilmen: “Die Gestaltung der Tonspur ... erinnert direkt an die audiovisuelle Struktur des ‘M. Hulot’.” Bei seiner Umsetzung von Pantomime in Film gilt die audiovisuelle Struktur bis heute als das eigentlich Revolutionierende an Tatis Filmen. Schon die Exposition des “M. Hulot” ist ein Paradebeispiel für die Methode. Ich will diese Exposition – pars pro toto – für die geradezu bestechende Gesamtkonstruktion des Films ausführlich analysieren. Während des Vorspanns sehen wir den Strand und hören die Erkennungsmelodie des Films, die ‘Strandmelodie’. Nach dem Vorspann erscheint halbnah ein Boot am Strand mit Meeresrauschen. Die nächste Sequenz spielt auf einem Bahnhof. Ferienreisende werden von einem unverständlich quakenden Lautsprecher und verschiedenen ein- und ausfahrenden Zügen auf Trab gehalten. Die Sequenz schließt mit einer Aufnahme zwischen zwei Waggons, die den größten Teil des Bildes schwarz abdecken. In der kleinen Lücke zwischen den Waggons sehen wir die völlig enervierten Ferienreisenden hin- und herhasten. Hier, im Format einer amerikanischen Einstellung, taucht zum ersten Mal auch Martine auf, der später M. Hulot den Hof machen wird. Die Sichtblende, die Tati hier wählt, funktioniert wie eine Kreisblende im Stummfilm: Sie lenkt den Blick aufs Wesentliche. Und tatsächlich, wenn man genau hinsieht, kann man noch etwas sehen, was gerade im Hinblick auf die Entwicklung von Tatis Werk von größter Wichtigkeit ist. Unter den fragmentarisch sichtbar werdenden Reisenden befindet sich, mit dem Rücken zur Kamera, ein Doppelgänger von M. Hulot, ein Mann von seiner Statur, in derselben Kleidung und mit einem Schmetterlingsnetz in der Hand. Die nächste Sequenz beginnt mit M. Hulot in seinem Auto auf der Landstraße; deutlich sichtbar ragt aus dem Auto ein Schmetterlingsnetz. In seinem späteren Film “Playtime” läßt Tati, um die potentielle Überflüssigkeit von M. Hulot zu verdeutlichen, einen Doppelgänger auftreten, der in der Totale nur an einem roten Schal als solcher zu erkennen ist. Tati selbst hat sein Spätwerk so charakterisiert: “Ich habe die Gags den anderen überlassen und jeweils die Person ausgewählt, die am geeignetsten schien, sie auszuführen.” In solchen und ähnlichen Details ist in “M. Hulot” schon Tatis Spätwerk antizipiert. Dazu gehört auch, daß das Ding selbst statt der Person zum Gagträger wird, wie etwa M. Hulots Auto, ein altersschwacher, knatternder deux-chevaux. Oder auch, etwas später in der Exposition, ein lautstarkes Gedrängel an einem Bus, als dessen Resultat zwei ineinander verhakte Regenschirme am Boden zurückbleiben. In diesem Kontext ist es 23 http://www.mediaculture-online.de auch wichtig, daß sich Bilder und Töne gegenseitig bedingen. Die Urlauber, die von einem Bahnsteig zum anderen hasten, werden sowohl durch den quakenden Lautsprecher wie durch die Bewegung der Züge gelenkt. Und in der folgenden Sequenz mit M. Hulots Auto hört man zuerst eine Hupe und sieht danach das überholende Auto. Oder man hört das Knattern des deux-chevaux bevor man ihn sieht. Umgekehrt endet diese Sequenz mit dem Blick auf den Strand und erst als Martine ihren Koffer vom Bus herunterholt, um sich ins Hotel de la Plage zu begeben, ertönt die ‘Strandmelodie’. Die Exposition ist so durch die ‘Strandmelodie’ eingerahmt, die beim zweiten Mal bereits als Erkennungsmelodie funktioniert. Die Wege von Martine und M. Hulot kreuzen sich in der Exposition zweimal. Das erste Mal abstrakt im Schnitt vom Bahnhof zur Landstraße. Das zweite Mal konkret auf der Landstraße, wo Martine in den Bus umsteigt. Sie schwimmt dabei jedesmal im Strom der Urlaubsmasse, während M. Hulot ganz deutlich als Einzelgänger davon abgesetzt ist. Der seltsame M. Hulot wird Martine später zwar amüsieren, aber nicht gewinnen können. Alles, was wir über M. Hulot wissen müssen, erfahren wir bereits aus der Exposition. Ein seltsames Individuum kriecht mit atemberaubender Fahrkunst über südfranzösische Straßen und ist dennoch schneller als all die Raser, die ihn überholen, da er obskure Abkürzungen benutzt. Ein Hund, der sich faul auf der Straße sonnt, flieht, wenn er die Raser hört, und bleibt liegen, wenn M. Hulot angeknattert kommt, wedelt im Rhythmus des scheppernden Fahrzeugs mit dem Schwanz und trollt sich erst nach einigen Streicheleinheiten. An den Rändern der Sozialisation liegen die Sympathien Tatis: M. Hulot, Tiere und Kinder. Die hektische Bahnhofssequenz beginnt mit einem Jungen, der eine Ohrfeige bekommt, gegen Ende der Autosequenz erscheint der Strand das erste Mal aus der Perspektive neugieriger Kinderaugen. Wo alle Welt hektisch und enerviert dem Erholungszwang entgegenhastet, ist M. Hulot ein Saumseliger, der keine Katastrophen verursacht, sondern dem die Gags zustoßen. Ein Slapstick-Komiker voller sanfter Poesie. Neben Martine und M. Hulot führt Tati in der Exposition auch noch die beiden ‘Hauptfiguren’ seiner Dramaturgie ein. Wie er selbst ausführt, geschieht auch dies auf der Ebene der audiovisuellen Struktur: “Da ist der Wagen von Hulot, der ‘stumm’ vielleicht zwei Einstellungen amüsieren würde, weil er eine äußerst ulkige Silhouette hat. Durch den 24 http://www.mediaculture-online.de Ton aber wird dieser Wagen zu einer sehr wichtigen ‘Gestalt’ im Film. Mit der ganzen Geräuschkulisse, die vergebliche Startversuche und Auspuffprobleme verursachen, weckt er das Hotel auf, er ruft Ärger hervor. Dieser Wagen wird zu einem wichtigeren Akteur als jemand, der nächtelang gesungen hätte, um das Hotel aufzuwecken ... Der Ton kann auch eine räumliche Tiefe geben. Ich habe zum Beispiel den Meereswellen im Hintergrund mehr akustische Bedeutung beigemessen, als einem bedeutungslosen Ereignis im Vordergrund. Denn in diesem Moment nimmt man visuell und auditiv das Meer wahr, das zum Hauptakteur wird.” Die audiovisuelle Struktur des Films transportiert in einer geradezu mathematisch strengen Form eine Handlung (fast) ohne Worte. Die Tonspur ist reiner Bruitismus. Thematisch und typologisch ist Buster Keaton der große Vorläufer Tatis. Was Tati über Keaton sagt, klingt programmatisch: “Niemand arbeitet perfekter mit den Beinen als Keaton. Seine Beine könnten eine Tonspur, ein Dialog für sich sein: Erst die Frage, dann die Entscheidung, schließlich Angst.” Keaton hat seinerseits erstaunlich scharfsichtig den Zusammenhang formuliert: “Tati knüpft an dem Punkt an, an dem wir vor 40 Jahren stehengeblieben sind.” Wo Keaton noch davon absorbiert ist, die Welt mit Selbstdisziplin und Technik zuzubauen, versucht Tati, mit Spontaneismus die Sachzwänge zu überwinden. Die mißlichen Lagen, in die er dabei gerät, relativieren dieses Vorhaben, aber werfen ein Licht auf den Zustand, den unsere Zivilisation erreicht hat. Horst Schäfer 5 Ekel Repulsion (Großbritannien 1965) Regie: Roman Polanski. Buch: Roman Polanski, Gérard Brach. Kamera: Gilbert Taylor. Musik: Chico Hamilton. Darsteller: Cathérine Deneuve, Yvonne Furneaux, Ian Hendry, 25 http://www.mediaculture-online.de John Fraser, Patrick Wymark, Helen Fraser, James Villiers. Länge: 102 Minuten. Vertrieb: VPS. Roman Polanski, 1933 als Sohn polnischer Eltern in Paris geboren – als er drei Jahre alt war, kehrte die Familie nach Krakau zurück –, zog es Anfang der 60er Jahre wieder nach Paris, wo er sich u.a. mit dem Journalisten und Produktionsassistenten Gérard Brach anfreundete. Die Kino- und Cafészene der einschlägigen Viertel bot das stimulierende Ambiente für die absurdesten Filmideen, aus denen sich “Wenn Katelbach kommt” herauskristallisierte und zum Traumobjekt der beiden Filmenthusiasten wurde. Bevor es dazu kam, bot sich ihnen die Chance, für eine englische Produktion, die bislang nur mit “Filmen für das Bahnhofskino” in Erscheinung getreten war, einen Horrorfilm zu machen – mit sparsamen Mitteln und geringem Budget selbstverständlich. Polanski und Brach griffen zu; sie waren sich darin einig, daß “ihr Film” aus der Masse der Durchschnittsproduktionen dieses Genres herausragen sollte. Innerhalb von siebzehn Tagen schrieben sie das Drehbuch, das sich an die Erzählungen einer gemeinsamen Bekannten anlehnte, die sich von “Sex” gleichermaßen angezogen und abgestoßen fühlte. “Ekel” (“Repulsion”) wurde mit einem englischen Team realisiert, was für den frankophilen Polen eine starke Herausforderung war. Die konsequente und beharrliche Haltung Polanskis führte dazu, daß der Zeitplan überschritten wurde und sich die Produktionskosten mehr als verdoppelten. Protagonistin des Films ist die Maniküre Carol, eine aus Belgien stammende attraktive junge Frau mit langen blonden Haaren, die mit ihrer älteren Schwester Helen in einer kleinen Londoner Vorstadtwohnung lebt. Während ihre Schwester die Abwechslung bevorzugt und eine Beziehung mit dem verheirateten Michael unterhält, lebt die schüchterne und sensible Carol zurückgezogen; sie fühlt sich vor allem von den Männern belästigt, von denen, die ihr auf der Straße nachstellen und von denen so oft an ihrem Arbeitsplatz die Rede ist. Carol liebt es, wenn die Dinge ihre Ordnung haben, und erträgt keine Männerbekanntschaften. Die Liebesnächte ihrer Schwester, die sie vom Nebenzimmer aus akustisch miterlebt, bestätigen Carol in ihrem Abscheu. Als Helen und Michael für einige Tage verreisen, bleibt Carol alleine in der Wohnung zurück. Ihrer Arbeit kommt sie lustlos, fast apathisch nach. Sie verhält sich ungeschickt 26 http://www.mediaculture-online.de und wird von der Chefin nach Hause entlassen, wo sie sich einschließt und jeglichen Kontakt zur Außenwelt vermeidet. Die Gegenstände in der Wohnung entwickeln plötzlich ein Eigenleben; bedrohliche Schatten entstehen aus dem Nichts; nachts leidet Carol unter der Halluzination, vergewaltigt zu werden. Beunruhigt über ihre Verschlossenheit dringt einer von Carols Bekannten mit Gewalt in die Wohnung ein und wird von ihr mit einem Kerzenleuchter niedergeschlagen. Die Leiche wirft Carol in die mit Wasser gefüllte Badewanne; die Tür wird verbarrikadiert. Der danach folgende Zustand von Ruhe und Entspannung hält nicht lange an. Carol fühlt sich mehr und mehr attackiert; in den Mauern tun sich Risse auf, und aus den Wänden wachsen Hände, die nach ihr greifen. Der Hauswirt kommt und will die Miete kassieren. Er verlangt energisch Zutritt zur Wohnung und bricht die Tür auf. Nachdem er sein Geld bekommen hat, wird er gegenüber Carol zudringlich und versucht, sich ihr mit Gewalt zu nähern. Rasend vor Ekel und Abscheu bringt Carol ihn mit einem Rasiermesser um. Als Helen und Michael von ihrer Reise zurückkehren, stoßen sie in der verwüsteten Wohnung zuerst auf die Leiche in der Badewanne. Die völlig erschöpfte und bewußtlose Carol finden sie unter einem Bett liegend. Die Polizei wird benachrichtigt, und die Nachbarn strömen in die Wohnung. Sie sind völlig fassungslos, daß sich so etwas in ihrer Nähe zutragen konnte. Michael nimmt die bewußtlose Carol auf die Arme und trägt sie in einen andern Raum ... die Kamera zieht sich langsam von dem Schauplatz zurück und tastet noch einmal das Interieur der Wohnung ab – endend mit einer Großaufnahme eines Fotos, das Carol als kleines Mädchen zeigt. “Ekel” hatte bei seiner Uraufführung in London einen großen Erfolg. Entgegen den Erwartungen des Regisseurs brachte die britische Zensur keine Einwände gegen den Film vor, obwohl dieser einige für die damalige Zeit gewagte Szenen enthält. Polanski inszenierte den Prozeß der psychischen Zerstörung eines Menschen unter Verzicht auf billige Grusel-effekte oder schockierende Bilder. Behutsames Auf- und Abblenden fast so wie das liebevolle Umblättern von Buchseiten – läßt den Zuschauer daran Anteil nehmen, wie das anonyme Böse von Carol zunehmend Besitz ergreift. Ihre Empfindsamkeit überträgt sich allmählich auf den Betrachter, was das Geschehen miterlebbar oder nachvollziehbar macht; Carols Aggressionen werden fühlbar und ihre Reaktionen begreifbar. Um die Isolation und die aus ihr keimenden Ängste zu verdeutlichen, gibt es in 27 http://www.mediaculture-online.de dem Film lange Passagen ohne Worte oder Musik; zu hören sind nur die Alltagsgeräusche, die wie durch einen Filter von außen in die Wohnung dringen. “Ekel” wurde Polanskis großer internationaler Erfolg; der Film fand auch den begeisterten Beifall der deutschen Filmkritik – sieht man einmal ab von der Einschätzung der konfessionellen Bewertungsstellen, die ihn “abstoßend und verwirrend” fanden und ihn wegen seiner “selbstzweckhaften Ekeligkeit” in die Nähe modischer Horrorfilme rückten. Bei der Berlinale 1965 wurde der Film mit einem “Silbernen Bären” (Sonderpreis der Jury) und dem FIPRESCI-Preis (Preis der Internationalen Filmkritik) ausgezeichnet. Aus heutiger Sicht fällt auf, wie sehr die Kritik damals den Regisseur lobte und wie vergleichsweise gering die schauspielerische Leistung von Cathérine Deneuve hervorgehoben wurde. Die 1943 in Paris geborene Darstellerin (ihr eigentlicher Name ist Cathérine Dorléac) stammt aus einer Schauspielerfamilie und stand schon als junges Mädchen vor der Kamera: Sie debütierte 1958 in “Junge Rosen im Wind”; Regie: André Hunebelle. Ihren ersten großen Erfolg konnte sie 1963 mit “Die Regenschirme von Cherbourg” (siehe Seite 30f.) feiern. Von der Zusammenarbeit mit ihr zeigt sich Roman Polanski auch im nachhinein noch begeistert; in seiner Autobiographie hob er ihren Anteil am künstlerischen Erfolg des Films ausdrücklich hervor. Die bislang überzeugendste Analyse und Interpretation dieser Rolle liefert Marion Kroner in ihrer Studie “Roman Polanski: seine Filme und seine Welt” (Schondorf/Ammersee 1981). Günter Lebailly 6 Westside Story West Side Story (USA 1960) Regie: Robert Wise. Buch: Ernest Lehmann, nach dem Musical von R. E. Griffith und H. S. Price. Kamera: Daniel L. Fapp. Musik: Leonard Bernstein. Darsteller: Nathalie Wood, 28 http://www.mediaculture-online.de Russ Tamblyn, Richard Beymer, Rita Moreno, George Chakiris. Länge: 151 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Der Ouvertüre ist eine farbige Graphik unterlegt. Daraus entwickelt sich die Luftaufnahme der Südspitze Manhattans. Luftbilder von New York führen den Zuschauer in raschem Flug zum Schauplatz der Handlung, und ein schneller Zoom bringt die ersten “Jets” ins Blickfeld, Mitglieder einer Jugendbande in den Einwanderervierteln von New York. Pfeifsignale, Fingerschnipsen, erste tänzerische Bewegungen, es beginnt eine der hinreißendsten Eingangssequenzen. Aus dem Gehen entwickeln sich kleine Tanzgesten, erst solistisch, dann in der Gruppe. Plötzlich stehen die ersten “Sharks” da – die rivalisierende Gruppe puertoricanischer Jungen. Aus Neckereien werden rasch ernsthafte Streitereien, Hetzjagden durch Straßen, Torwege, Hinterhöfe, sie enden in einer Prügelei, gestoppt durch das Dazwischentreten des Revierpolizisten. Nach den Gruppen der Jets und Sharks mit ihren Anführern Riff und Bernardo lernt der Zuschauer die Hauptpersonen kennen, Tony, ehemals zu den Jets gehörig, und Maria, Bernardos Schwester. Sie begegnen sich zum ersten Mal auf einem Tanzabend, der von den Jets und den Sharks besucht wird, die hier ihre Rivalitäten auch auf der Tanzfläche fortsetzen und die Gelegenheit benutzen, einen Termin für den alles entscheidenden Kampf um die Oberherrschaft im Revier auszumachen. Um Tony und Maria jedoch versinkt die Welt. Sie glauben, mit ihrer Liebe alle Zwistigkeiten überwinden zu können. Als Maria am nächsten Tag durch Bernardos Freundin Anita vom Kampf zwischen den Jets und Sharks erfährt, beschwört sie Tony, hinzugehen und den Kampf zu stoppen. Sein Intervenieren endet jedoch damit, daß Bernardo Riff ersticht und Tony aus Wut und Verzweiflung über den Tod seines besten Freundes Bernardo tötet. Er flüchtet zu Maria; beide wollen gemeinsam aus New York fliehen. Das Verhängnis ist nicht aufzuhalten. Gino will Bernardos Tod rächen und lauert Tony mit einem Revolver auf. Erst an Tonys Leiche beginnt den Jungen zu dämmern, daß Rivalitäten und Haß fortzeugend immer nur neues Unheil bringen, und gemeinsam tragen Jets und Sharks den Toten fort. 29 http://www.mediaculture-online.de Das ist die Story von Romeo und Julia, in das Milieu jugendlicher Bandenkämpfe übertragen und zu einem hinreißenden Gesamtwerk aus Musik, Szene und Tanz gestaltet. Motor ist die Musik Leonard Bernsteins mit ihrer sich modern gebenden auftrumpfenden Rhythmik und ihrer unverschämten Sentimentalität, die nie süßlich wird. Dieser Motor treibt die Bewegungserfindungen von Jerome Robbins an, der in seinem Tanzstil Alltagsbewegungen, Gesellschaftstanz und Akrobatisches mischt. Seine Ballettszenen sind keine dekorative Show; sie wachsen aus der dramatischen Szene und setzen sie um in mitreißende Ensembles. Die Modellinszenierung, die Robbins für den Broadway schuf, wurde von ihm gemeinsam mit Robert Wise für den Film adaptiert und behutsam dem neuen Medium angepaßt. Die Herkunft vom Theater wird nicht verleugnet. Die Szenen bleiben als Komplexe bestehen; das ist schon durch die geschlossenen Musiknummern vorgegeben. Das Szenenbild zeigt, daß es sich um Kulisse handelt, die aber in der Eingangssequenz in die Realität der Straßen New Yorks ausgeweitet wird. In der ersten Hälfte des Films sucht der Regisseur, um Tempo zu machen, “filmische” Übergänge von einer Szene zur anderen durch Überblendungen, Fahrten, Tricks. In der zweiten Hälfte, wenn das Geschehen sich zuspitzt und seinem dramatischen Ende zustrebt, werden die Szenen ab- und wieder aufgeblendet; ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Verfahren. Die Stärke des Films ist eine perfekte Vorlage, der mitreißende Handlungsfluß von der Eingangssequenz bis zum großen Kampf der Jets und Sharks, der danach bis zum ergreifenden Ende langsam abebbt. Dieser Fluß, umgesetzt in Szene und Bewegung, trägt auch die Schauspieler: Die etwas blaß und betulich wirkenden Nathalie Wood (Maria) und Richard Beymer (Tony) werden von Russ Tamblyn (Riff), George Chakiris (Bernardo) und der hinreißenden Rita Moreno (Anita) in den Schatten gestellt. Ihre Präsenz, ihr Agieren, Tanzen und Singen wirken so viel farbiger und kraftvoller als die Darstellung des Liebespaares. Das Musical “West Side Story” war ein Glücksfall; ein gutes Stück mit einer mitreißenden Musik in einer herausragenden Inszenierung. Der Film wurde zum Glücksfall, weil er nicht den Ehrgeiz hatte, alles anders machen zu wollen, sondern sich an den Grundriß des Modells hielt und dieses so sorgfältig wie möglich in das andere Medium übertrug, so daß 30 http://www.mediaculture-online.de die Qualitäten des Originals erhalten und womöglich noch gesteigert wurden. Deshalb zeigt der Film 25 Jahre nach seiner Entstehung fast keine Alterungsspuren. Die Ballettszenen lassen den Atem schneller gehen; die Musiknummern, längst zu “Klassikern” geworden, kann man inzwischen mitsingen; und zum Schluß steigt immer noch jene süße Beklemmung auf, wie sie ein anrührendes Ende hervorruft. Robert Wise, geboren 1914, kam 1933 nach Hollywood. Er arbeitete bei RKO zunächst als Cutter (unter anderem für Welles' “Citizen Kane” und “The Magnificent Ambersons”). 1944 debütierte er als Regisseur und drehte von da an 25 Jahre lang mit ziemlicher Regelmäßigkeit einen bis zwei Filme pro Jahr in den verschiedensten Genres: HorrorFilme (The Body Snatcher), Western, Kriminalfilme (Odds Against Tomorrow), Science Fiction (The Day the Earth Stood Still, The Andromeda Strain), Kriegsfilme (The Desert Rats, The Sand Pebbles), Box-Filme (The SetUp, Somebody Up There Loves Me), Melodramen (I Want to Live). Seine größten Erfolge errang er mit den MusicalVerfilmungen “West Side Story” und “The Sound of Music”; für beide erhielt er den “Oscar”. Wolfgang Schwarzer 7 Zazie in der Metro Zazie dans le Métro (Frankreich 1960) Regie: Louis Malle. Buch: Louis Malle, Jean-Paul Rappenau, nach dem Roman von Raymond Quenau. Kamera: Henri Raichi. Darsteller: Catherine Demongeot, Philippe Noiret, Carla Marlier, Vittorio Caprioli, Hubert Deschamps, Jacques Dufilho. Länge: 89 Minuten. Vertrieb: (Mike Hunter). “Stilübungen” heißt ein Buch, das Raymond Queneau (1903-1976), ehemaliges Mitglied der Gruppe der Surrealisten, 1947 veröffentlichte. Eine einzige, völlig unbedeutende Alltagsbeobachtung wird darin in 99 grundverschiedenen sprachlichen Varianten gestaltet. 31 http://www.mediaculture-online.de Ein amüsantes Lesevergnügen – und mehr. Queneau gehört zu den wenigen, die unkonventionell und konsequent darzustellen wußten, wie Wirklichkeit aus der Sprache heraus entsteht, in welch frappierender Art Worte Realität formen und deformieren. Diese Beobachtung liegt auch dem zwischen 1945 und 1958 entstandenen humoristischen Roman “Zazie in der Métro” zugrunde. Oueneau schildert die Abenteuer einer kessen neunjährigen Provinzgöre im Paris der kleinen Leute. Er tut dies zum großen Teil durch Dialoge, die jede Figur in ihrer spezifischen Sprechweise charakterisieren. Die Travestie des Vornehmen steht gleichberechtigt neben der unflätigen Anschaulichkeit des Argot. Da sieht einer dem Volk nicht nur aufs Maul, sondern geht noch einen Schritt weiter: Der Autor läßt die Alltagssprache – mäßig und in der Wirkung gezielt – bisweilen auch so drucken, wie sie gesprochen wird. Fonwostinktsnso – das erste Wort des Romans ist nicht nur skurriler Auftakt, sondern linguistisches Programm. Stiller Protagonist der Geschichte ist die Sprache als Medium und mit ihr eine Wirklichkeit, die erst in der Verfremdung ihren schillernden Reichtum an Facetten offenbart. Ein solches Werk in das scheinbar völlig entgegengesetzte Medium des bewegten Bildes zu übertragen, mag auf den ersten Blick unmöglich erscheinen. Für den zur Zeit der Dreharbeiten 28jährigen Louis Malle, der sich als “Abenteurer des Mediums” empfindet, war es eine willkommene Herausforderung. Er übernimmt zunächst getreulich Queneaus Handlungsfaden: An der Gare de Lyon in Paris wird Onkel Gabriel (Philippe Noiret), der als Transvestit spanische Tänze in einem Nachtlokal vorführt, die Aufsicht über die kleine Zazie (Catherine Demongeot) übertragen, denn ihre Mutter will zwei Tage mit einem Liebhaber verbringen. Zazie träumt nur von einem: Metro fahren. Doch die streikt, und so muß sich das quirlige Mädchen, sehr zum Leidwesen des Onkels und all derer, die ihr über den Weg laufen, andere Abenteuer suchen. Stets Chaos verbreitend, tobt sie durch die Vorstadt, über den Flohmarkt, auf den Eiffelturm, durch die verstopften Pariser Straßen und schließlich in die Nachtbar des Onkels, wo sich das ganze Knäuel ihrer unterwegs angesammelten Bekanntschaften in einer deftigen Prügelei aller gegen alle endgültig unauflösbar verwirrt. 32 http://www.mediaculture-online.de Ein köstliches Sammelsurium skurriler Typen kreuzt ihren Kriegspfad gegen die Erwachsenenwelt. Da ist der Taxifahrer Fédor (Nicolas Bataille) und die Bistrowirtin Mado (Annie Fratellini). Dann der Lustmolch Pédro (Vittorio Caprioli), dem sie beim Muschelessen ihre Vergangenheit beichtet und der sich später als Flic Troussillon an die liebestolle Madame Mouaque (Yvonne Clech) heranmacht, um schließlich als augenrollender Mussolini durch die Fensterscheibe in die bewußte Nachtbar einzufallen. Da sind die kokette Tante Albertine (Carla Marlier), der pittoreske Schuster Gridoux (Jacques Dufilho), eine hochmoralische Heilsarmeekapelle und viele andere mehr. Nach 48 turbulenten Stunden bringt Tante Albertine ihre schlafende Nichte – ohne daß diese es bemerkt – per Metro zurück zum Zug. “Hast Du Dich gut amüsiert?” fragt ihre Mutter. “Es geht ...” – “Bist Du Metro gefahren?” – “Nein.” – “Was hast Du denn gemacht?” Philosophisch beschließt Zazie das Chaos mit der aufschlußreichen Betrachtung: “Ich bin älter geworden.” Queneau selbst fand seinen Roman adäquat verfilmt, gerade weil Malle eine sehr eigenständige Bearbeitung geschaffen hatte, denn der Regisseur geht mit der Grammatik der Bildsprache wie der Schriftsteller mit Worten und Sätzen um. Ein etabliertes Repertoire von Techniken, Darstellungsformen, Tricks und Zitaten aus der Filmgeschichte wird in seine Versatzstücke zerlegt und überraschend neu in ungewöhnlichem Zusammenhang präsentiert. Der frühe Stummfilm, Harold Lloyd, Charlie Chaplin, Laurel und Hardy tragen ihre Slapsticks, Verfolgungsjagden, Fassadenklettereien und Zerstörungsorgien bei. Zeitraffer, Zeitlupe und Stoptricks schaffen irreale und surrealistische Sequenzen, wechselnde Kameraperspektiven verfremden Personen und Gegenstände. Wie aus dem Ärmel geschüttelte Bild- und Sprachwendungen ironisieren, manchmal fast unmerklich im Hintergrund, das Frankreich der fünfziger Jahre mit blitzschnellen, exakt treffenden Seitenhieben. Einen davon kriegt auch die gerade aus der Taufe gehobene Nouvelle Vague ab. 33 http://www.mediaculture-online.de Frech, unbotmäßig, poetisch, gegen den Trend der Zeit, war “Zazie” 1960 ein kommerzieller Mißerfolg. Einige Kritiker empörten sich über die Unmoral in Sprache und Handlung, andere beschuldigten den Film des Verrats an der literarischen Vorlage. Vielleicht waren die Erwartungen von Publikum und Presse an den Regisseur falsch, der hier zum erstenmal demonstrierte, was sein Schaffen bis heute prägt: daß er sich keinem Genre verpflichtet fühlt, vielmehr stets nach den angemessensten Bildformen für sein Thema sucht. Louis Malle, 1932 geboren, wurde in Deutschland vor allem durch “Fahrstuhl zum Schafott” (1957), “Viva Maria” (1965), “Herzflimmern” (1970), “Lacombe Lucien” (1973), “Pretty Baby” (1977) und zuletzt “Alamo Bay” (1984) bekannt. (Literatur: Louis Malle, Carl Hanser Verlag, München 1985). Meinolf Zurhorst 8 Citizen Kane Citizen Kane (USA 1940/41) Regie: Orson Welles. Buch: Hermann J. Mankiewicz, Orson Welles unter Mitarbeit von Joseph Cotten und John Houseman. Kamera: Gregg Toland. Musik: Bernard Herrmann. Darsteller: Orson Welles, Joseph Cotten, Dorothy Comingore, Agnes Moorehead. Länge: 113 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. Ein Geniestreich, 1962 und 1972 von internationalen Kritikern jeweils zum besten Film aller Zeiten gekürt: Orson Welles' Citizen Kane, das Spielfilmdebüt eines Fünfundzwanzigjährigen, der damit 1941 Filmgeschichte schrieb. Ein Werk, das dem Kino seine erzählerischen Fesseln nahm. “Rosebud” lautet das mysteriöse letzte Wort des Zeitungszaren Charles Foster Kane (Orson Welles), bevor er auf seinem monströsen Schloß Xanadu stirbt. Diesem Geheimnis möchte der Reporter der Wochenschau “News of the March” auf die Spur 34 http://www.mediaculture-online.de kommen. Dazu befragt er die Menschen, die dem legendären Pressemagnaten am nächsten standen: dessen zweite Frau Susan (Dorothy Comingore), eine heruntergekommene Barsängerin, Mr. Bernstein (Everett Sloane), den früheren Chefredakteur, Jedediah Leland (Joseph Cotten), Kanes besten Freund. Nach und nach entsteht ein Bild der Persönlichkeit. Als Fünfundzwanzigjähriger gelangte Kane in den Besitz eines riesigen Vermögens, mit dem er erst die marode Zeitung “Inquirer” kaufte, zu einem auflagenstarken Sensationsblatt machte und sich dann rastlos in neue Aktivitäten stürzte. Seine Ehe zerbricht darüber, die – wie Leland den Reportern erzählt – endgültig scheitert, als Kane mit der Sängerin Susan Alexander ein Verhältnis eingeht, das von seinem politischen Rivalen an die Öffentlichkeit gebracht wird. Aber auch die Verbindung mit Susan scheitert an Kanes Eigenwilligkeit und dem Egoismus, mit dem er seine Frau in seinem Prunkschloß Xanadu einschloß. Vom Butler Raymond (Paul Stewart) erfährt der Reporter schließlich, daß dem sterbenden Kane eine Schneeglaskugel aus der Hand glitt, wobei er jenes ominöse “Rosebud” murmelte. Während der Reporter das Schloß verläßt, ohne dessen Bedeutung zu kennen, fährt die Kamera auf einen Ofen, in dem allerlei Gerümpel verbrannt wird. Gerade wird ein alter Schlitten hineingeworfen, auf dem “Rosebud” zu lesen ist. François Truffaut meinte von Citizen Kane, daß dies wohl der Film sei, der die meisten jungen Leute veranlaßt habe, Regisseur zu werden. Unbestritten zählt Citizen Kane zu den Maßstab setzenden Werken der Filmgeschichte – ein ungemein reiches, vielschichtiges Werk, verwirrend wie ein unfertiges Puzzle, ebenso exzentrisch wie poetisch. Orson Welles hatte für seinen Erstlingsfilm völlige künstlerische Freiheit erhalten, im starren Studiosystem der dreißiger und vierziger Jahre eine Ausnahme. Doch RKO, das den Film produzierte, erhoffte sich von dem jungen Welles Wunderdinge. Als Theaterschauspieler und -regisseur genoß er bereits einen guten Ruf, als Rundfunkmacher war er legendär. 1938 hatte seine Reportage über die (fiktive) Landung von Marsmenschen in New York eine Panik verursacht. Welles' erstes Projekt war die Verfilmung von Joseph Conrads “Heart of Darkness”. Dazu experimentierte er mit einer “subjektiven” Kamera, die die Geschichte gewissermaßen mit 35 http://www.mediaculture-online.de den Augen der Hauptfigur sehen sollte. Doch das Verfahren erwies sich als undurchführbar. Welles nahm es aber in seinem zweiten Projekt Citizen Kane in abgeänderter Form wieder auf. So ist der Reporter fast nur von hinten zu sehen, schaut ihm die Kamera über die Schulter. Geradezu revolutionär aber sind Erzählweise und Kameraführung. Zwar gab es auch schon 1941 im Hollywood-Kino Ansätze, eine Geschichte nicht mehr chronologisch zu erzählen, doch erst Welles und sein Co-Autor Herman J. Mankiewicz führten einen weitgehenden Bruch mit dieser Tradition herbei. Dauernd wechselt die Perspektive, werden die jeweiligen Erzähler konterkariert. Sie kennen immer nur Teile des Puzzles Kane, der Zuschauer indes erfährt mehr. Er kennt das Bild als Ganzes und erlebt nun mit, wie es von den Beteiligten nur unvollständig zusammengebracht wird. Angeschnittene Bilder, Einstellungen aus der Froschperspektive, eine an den deutschen Expressionismus erinnernde Lichtsetzung tun das ihre, die Person des Charles Foster Kane in ihrer Größe zu relativieren und ihr Geheimnis zu bewahren. Innovativ war hierbei der Einsatz von Tiefenschwärze. Wie auf einer Bühne spielt sich das Geschehen mal vorne, mal hinten im Raum ab, ohne daß durch Schnitte Figuren oder Aktionen herausgehoben oder isoliert werden. Das Bild wurde in seiner Unberechenbarkeit zum Spiegel der im Raum agierenden Personen – die Visualisierung der menschlichen Psyche. Reales Vorbild für die Figur des Charles Foster Kane war der Zeitungszar William Randolph Hearst, der in seinen Blättern den Film heftig angreifen ließ. Eingeschüchtert verzichteten vor allem ländliche Kinobesitzer darauf, Citizen Kane zu spielen, obwohl die Kritik begeistert war. Die enttäuschend schwachen Einspielergebnisse veranlaßten RKO zu einer Vertragsänderung. Seinen nächsten Film, The Magnificent Ambersons, konnte Welles bereits nicht mehr selbst montieren, worauf er bei seinem dritten RKO-Projekt, Journey Into Fear, die Regie einem anderen überließ. Welles' weitere Karriere war fortan bestimmt durch die Beschneidung seiner künstlerischen Freiheit. Mit den Gagen als Schauspieler in anderen Filmen finanzierte er seine eigenen Projekte, etwa die Shakespeare-Verfilmungen Macbeth und Chimes at Midnight. Doch erreichte Welles, der 36 http://www.mediaculture-online.de im Oktober 1985 starb, mit keinem seiner anderen Filme mehr die Wirkung und Bedeutung wie mit Citizen Kane, seinem ersten. Wolfram Tichy 9 Modern Times Modern Times (USA 1936) Produktion, Regie, Buch, Musik: Charles Chaplin. Kamera: Roland H. Totheroh, Ira Morgan. Darsteller: Charles Chaplin, Paulette Goddard. Länge: 89 Minuten. Vertrieb. neue atlas medien. Gleich einer Herde von Schafen drängelt sich eine anonyme Horde von Fabrikarbeitern an der Zeiterfassungsmaschine vorbei an die durchautomatisierten Arbeitsplätze. Einer ist der uns wohl vertraute Tramp, der hier seinen 75. und zugleich letzten Spielfilmauftritt absolviert. Von den Kollegen unterscheidet er sich allenfalls dadurch, daß er noch etwas unbedeutender wirkt (und sich daher am besten zum Ausbeutungsobjekt eignet). Wie bald zu sehen sein wird, ist er aber sensibler und daher in der beneidenswerten Lage, verrückt zu werden, bevor er selbst zur menschlichen Maschine wird. So beginnt eine der großen Komödien der Geschichte menschlichen Kunstschaffens, die in dieser ersten Phase gleich ihre besten, weil klarsichtig formulierten Momente hat. Als der Film – vor genau einem halben Jahrhundert – nach fast fünf Jahren Vorbereitungsund Drehzeit herauskam, war das Thema der industriellen Vermassung dem Zuschauer aus vielen Werken der Kunst und der Literatur vertraut: Fritz Lang hatte es bereits in “Metropolis” formuliert, und im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskatastrophe, die dem Optimismus der “roaring twenties” ein brutales Ende bereitete, brachte gerade die angelsächsische Literatur zwischen Aldous Huxleys “Brave New World” und George Orwells “1984” eine Fülle pessimistischer Utopien heraus. Alle thematisierten sie die Auflehnung des Individuums gegen die Vermassung des modernen Menschen. Schon 37 http://www.mediaculture-online.de 1931 hatte René Clair in seiner (programmatisch betitelten) Komödie “A nous la liberté” so auffällig ähnlich wie später Chaplin das gleiche Thema formuliert, daß die Produktionsfirma einen unautorisierten, aber nicht aussichtslosen Plagiatsprozeß anstrengte. Chaplins herausragende Leistung war also nicht die Originalität seiner Geschichte, und schon gar nicht die Modernität seiner Stilmittel, sondern die Verdichtung verschiedenster Inspirationen zu einer Aussage von souveräner Bildhaftigkeit. Große Wirkung wurde erzielt, ohne die Komplexität des Themas an den billigen Effekt zu verraten. So hat Chaplin das von Fritz Lang sehr plakativ inszenierte Bild von dem menschenverschlingenden Moloch Maschine mit so viel Witz und effektsicherem Sarkasmus variiert, daß allein diese Sequenz als ergiebige Illustration seines profunden Verständnisses sowohl seines Themas wie seiner Beherrschung der Mittel komischer Darstellung dienen kann: In jedem Moment, selbst im Inneren der Maschine, ist sein Held sichtbarer Mittelpunkt des Geschehens. Obwohl der Filmtrick durchschaubar bleibt, ist die Glaubhaftigkeit des Geschehens davon unberührt, und am Schluß sorgt ein sublimer komischer Kontrast – die Ungerührtheit des eben noch in Panik geratenen Kollegen während der Frühstückspause für eine Ableitung der aufgestauten Emotionen in die gewünschte Richtung. Man braucht sich nur vorzustellen, wie teuer, technisch perfekt, dabei aber seelenlos die gleiche Sequenz im heutigen Hollywood inszeniert werden würde, um ermessen zu können, wie bescheiden der Beitrag technischer Mittel zur Wirkung einer komisch formulierten Aussage im Vergleich zu der subtilen Kunst der mimischen Pointierung ist, als deren Meister sich Chaplin gerade in dieser Sequenz wieder erweist. Im weiteren Verlauf des Films bleibt Chaplin auf dem Niveau dieses fulminanten Einstiegs, ändert aber die Orchestrierung. Eine zweite Stimme, eine Frau, kommt hinzu und erweitert die bisher aufgezeigten, trostlosen Alternativen um eine dritte, sympathischere Lösungsmöglichkeit: die Solidarität der Individuen miteinander. Indem er beide veranlaßt, zugunsten der Bewahrung ihres Lebensinhalts auf eine vermeintliche Verbesserung ihrer Lebensumstände zu verzichten, verlegt sich Chaplin, der 38 http://www.mediaculture-online.de schwärmerische Träumer, wieder einmal auf die ihm vertrauten Mittel des viktorianischen Melodrams, mit dem er aufgewachsen und das, ironisch gebrochen, seine Stärke war. Dies gipfelt in der berühmten Schlußsequenz, in der beide ihre Vergangenheit abschütteln und auf einer verlassenen Landstraße einer zwar ungewissen, aber sicher trostreichen Zukunft entgegengehen. Die Suggestionskraft dieser Szene, die ein Happy End unterstellt, ohne es wirklich zu formulieren, ist vielleicht das beredteste Beispiel von Chaplins überragender Illusionskunst. Chaplin bringt den Zuschauer zunächst dazu, seine Misere in einem satirischen Spiegel zu erkennen und nutzt dann dessen Betroffenheit, um ihn von der Möglichkeit zu überzeugen, daß er entkommen kann. Dieser psychotherapeutische Effekt ist ein Teil von Chaplins Erfolgsgeheimnis. Ein Erfolg auf Anhieb war “Modern Times” allerdings nicht. Dies lag nicht zuletzt daran, daß der Film im wesentlichen ein Stummfilm war, obwohl zum Zeitpunkt seines Erscheinens der Tonfilm schon längst seinen Siegeszug abgeschlossen hatte. So wurde Chaplin – wie bei all seinen Filmen seither – mit dem für alle sich treu bleibenden Künstlern vertrauten Vorwurf bedacht, altmodisch zu sein. Damals versuchte er, seine Entscheidung als bewußte Demonstration für die Überlegenheit jener ausgestorbenen Kunstform darzustellen. Später gab er jedoch zu, daß in der von ihm gewählten Lösungsmöglichkeit der einzige Ausweg aus einem Dilemma lag, mit dem er sich stärker noch als jeder andere Stummfilmstar konfrontiert sah: einer essentiell stummen Identifikationsfigur von hoher Abstraktion das realistische Element der Stimme zu verleihen, ohne ihren Status zu zerstören. Selbst dieser Ausweg, das war Chaplin bewußt, war ihm nur noch dieses eine Mal vergönnt. Mögen andere Filme noch bissiger, noch witziger oder konsequenter sein: In seiner Fülle von Verweisen, Selbstzitaten und unübertrefflich ausgefeilten Standardbearbeitungen, aber auch dort, wo er bereits auf die Zerrissenheit der späteren Tonfilme hinweist, ist “Modern Times” der Schlüsselfilm. 39 http://www.mediaculture-online.de Heinz Kersten 10 Der Untertan (Deutschland 1951) Regie: Wolfgang Staudte. Buch: Wolfgang und Fritz Staudte, nach dem Roman von Heinrich Mann. Kamera: Robert Baberska. Darsteller: Werner Peters, Paul Esser, Blandine Ebinger, Sabine Thalbach, Eduard von Winterstein. Länge: 90 Minuten. Vertrieb: Euro Video. Auch die Beurteilung von Filmen unterliegt Zeiteinflüssen. Wolfgang Staudtes HeinrichMann-Verfilmung “Der Untertan” liefert dafür ein bezeichnendes Beispiel. Daß diese beste deutsche Filmsatire vor 35 Jahren in einer Fachkorrespondenz als “Film gegen Deutschland” diffamiert und wegen eines heute unvorstellbaren, bis Ende 1956 gültigen Bonner Verbots nur im “Untergrund” besichtigt werden konnte, hängt auch mit der Person ihres Regisseurs und der Produktionsfirma zusammen. Wolfgang Staudte, Jahrgang 1906, drehte seine wichtigsten Filme zwischen 1945 und 1955 bei der DEFA, der ersten deutschen Filmgesellschaft, die nach dem Krieg gegründet wurde. Für sie realisierte der engagierte Nazi-Gegner, der 1943/45 vier Unterhaltungsfilme inszeniert hatte (einer war verboten worden, ein anderer kam erst Anfang der fünfziger Jahre in die Kinos) den ersten deutschen Nachkriegsfilm überhaupt: “Die Mörder sind unter uns”. Wie später “Rotation” (1949) gehörte dieser Staudte-Film zu den besten Produktionen der DEFA-Gründerzeit: Beide Filme waren konsequente Abrechnungen mit der NSVergangenheit, wie die meisten damals in Babelsberg gedrehten Filme unter Mitwirkung vieler Künstler entstanden, die wie der Regisseur ihren Wohnsitz in Westberlin oder Westdeutschland hatten. Daß Staudte dann aber auch auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges nicht mit der einzigen DDR-Filmgesellschaft DEFA brach, führte zur anfänglichen Ächtung seiner “Untertan”-Adaption. 40 http://www.mediaculture-online.de Staudte besetzte die Titelrolle mit Werner Peters, der sich bereits als HJ-Bannführer in “Rotation” bewährt hatte und als “Untertan” Diederich Hessling den Gipfel seiner relativ kurzen Schauspielkarriere erreichte. Nachdem die DEFA die Rechte zur Verfilmung des Romans in den USA, wo Autor Heinrich Mann bis zu seinem Tode am 12. März 1950 lebte, erworben hatte, schrieb der Regisseur zusammen mit seinem Vater Fritz Staudte das Drehbuch. Er hielt sich dabei eng, bis zu teilweise wörtlicher Übernahme, an das literarische Original, dessen satirische Schärfe er mit adäquaten filmischen Mitteln versinnbildlichte. Für Staudtes optische Umsetzung des Romans “Der Untertan” gilt, was Theodor W. Adorno über Heinrich Manns “Professor Unrat” schrieb, den 1929 Josef von Sternberg und seine Drehbuchautoren Carl Zuckmayer, Karl Vollmöller und Robert Liebmann in “Der blaue Engel” UFA-gerecht verwandelt und entschärft hatten: “Heinrich Mann hat von den Franzosen das Schneidende des umwölkten Blicks, die polemische Kraft der Kälte gelernt und sich freigehalten von jenem selbstgerecht versöhnenden Humor, der in Deutschland so hoch im Kurs steht. Er hat bewirkt, was sonst dem deutschen Roman abgeht, sobald er sich mit den Bildern der Enge einläßt: fruchtbaren Haß. Dem verdankt er die unbeirrbare gesellschaftliche Physiognomik. Stilgeschichtlich bezeichnet der Roman den Umschlag der ins Extrem gesteigerten naturalistischen Mittel in den expressionistischen Ausbruch. So nah rückt er den bürgerlichen Urbildern auf den Leib, daß die Darstellung die bürgerliche Ausdruckskonvention durchbricht und den Menschen zitiert in der Gestalt des zappelnden Unmenschen.” Gerade den “fruchtbaren Haß” machten große Teile der zeitgenössischen westdeutschen Kritik Staudte vielfach zum Vorwurf – damit bestätigend, wie gut die Satire den “Untertan” von heute getroffen hatte. Merkmale des den Film prägenden Stils sind: die sorgfältige Auswahl requisitorischer Details in den Interieurs zur Charakterisierung des Milieus und der darin agierenden Personen; der dem gleichen Zweck dienende Einsatz der Musik (Horst-Hanns Sieber), einer Mischung aus Militär- und Salonmusik; Zeitraffungen durch expressive Montagen, besonders Diederich Hesslings Kurzbiographie am Anfang, wo schlaglichtartig 41 http://www.mediaculture-online.de allgemeingültig erhellt wird, wie man Untertanen durch entsprechende Erziehungseinflüsse in Kindheit und Jugend heranzüchtet; Kameraperspektiven (Robert Baberske), die durch Aufnahmen von unten oder oben Hesslings “Radfahrer-Mentalität” auch optisch verdeutlichen – vor Autoritäten sich duckend, auf Unterlegene herabblickend und tretend. Es gibt im “Untertan” viele anthologiewürdige optische Einfälle, die an beste Stummfilmtraditionen (Eisenstein) anknüpfen: in der Kasernenhofszene die Spiegelung der Rekrutenschleiferei auf der blanken Trompete und die Großaufnahme des unartikuliert brüllenden Hauptmannsmundes, die Aufnahmen der wie Monstren wirkenden, mensurlädierten Korpsstudentenvisagen durch Bierseidel und die Charakterisierung des Kaisers durch den bloßen Blick der Kamera auf Stiefel und Adlerhelm. Die ganze Komposition des Films ist auf die systematische Decouvrierung eines deformierten Charakters ausgerichtet: Doppelmoral, Heuchelei und Unterwürfigkeit des Bourgeois verdeutlichend. Nur in der Schlußszene geht Staudte über seine literarische Vorlage hinaus, um ganz klar zu machen, wohin deutscher Untertanengeist geführt hat: Von der im Gewittersturm endenden Denkmalseinweihung mit Hesslings Worten “Nur auf dem Schlachtfeld wird die Größe einer Nation durch Blut und Eisen geschmiedet!” wird, untermalt von den musikalischen Motiven des Horst-Wessel-Liedes und der NS-Wochenschau-Fanfare, überblendet auf ein Bild, das den selben Marktplatz inmitten der Ruinen des Zweiten Weltkriegs zeigt – zu Füßen des stehengebliebenen Kaiser-Denkmals räumen jetzt Trümmerfrauen den Schutt weg. Daß die Beseitigung des Schutts in deutschen Köpfen, zu der Staudte mit seinen Filmen beitragen wollte, weit schwieriger war, bewies das Schicksal des “Untertan” in der Bundesrepublik. Nachdem der Film 1951 in Karlovy Vary (Karlsbad) ausgezeichnet worden sowie in Cannes und Venedig mit Erfolg gelaufen war, einen Nationalpreis der DDR, den schwedischen Kritikerpreis für den besten deutschen Nachkriegsfilm und einen weiteren finnischen Filmpreis erhalten hatte, bekam ihn das westdeutsche Publikum erst 1957 mit Kürzungen zu Gesicht, und bis der künstlerische Rang dieses Films allgemeine Anerkennung fand, verging noch eine ganze Weile. 42 http://www.mediaculture-online.de Wolfgang Staudte hat sich sein zeitkritisches Engagement zwar auch noch später bewahrt und es in Filmen wie “Rosen für den Staatsanwalt” (1959) oder “Kirmes” (1960), ja selbst in einigen seiner Fernseharbeiten, auf die er sich zuletzt beschränkte, zum Ausdruck gebracht. Besseres als “Der Untertan” gelang ihm aber bis zu seinem Tode am 19. Januar 1984 nie mehr. Reinhard Kleber 11 Mephisto Mephisto (Ungarn/BRD 1981) Regie: István Szabó. Buch: István Szabó, Péter Dobai. Kamera: Lajos Koltai. Musik: Zdenko Tamássy. Darsteller: Klaus Maria Brandauer, KrystynaJanda, Rolf Hoppe, Karin Boyd, Christine Harbort. Länge: 115 Minuten. Vertrieb: marketing film. “Was wollen die von mir? Was wollen die? Ich bin doch nur Schauspieler”, keucht der Intendant und Komödiant Hendrik Höfgen, wenn er, von grellem Scheinwerferlicht im nächtlichen Berliner Olympiastadion hin- und hergehetzt, erschöpft stehen bleibt. Diese faszinierende Schlußszene, ein genuin filmischer Einfall des ungarischen Regisseurs István Szabó, enthüllt die wirkliche Position des Karrieristen Höfgen, der sich als Schützling des Nazi-Generals einbildete, die Fäden in der Hand zu halten und nun von diesem selbst endgültig zur Marionette degradiert wird. Die beiden Antipoden der Geschichte werden brillant von dem Österreicher Klaus Maria Brandauer und Rolf Hoppe aus der DDR gespielt. Der Film schildert den wunderbaren Aufstieg des Hamburger Provinzschauspielers Hendrik Höfgen, der sich zum gefeierten Berliner Theaterstar emporarbeitet, sich nach 1933 um seiner Karriere willen den neuen Machtverhältnissen anpaßt und sich schließlich zum Intendanten der preußischen Staatstheater machen läßt. Der Preis dafür ist hoch: Höfgen verrät politische Überzeugungen, menschliche Bindungen und künstlerische 43 http://www.mediaculture-online.de Ideale. Sein frühes Eintreten für ein revolutionäres Theater entpuppt sich als bloßes Maulheldentum. Frauen benutzt er nur zu seinem Vorteil und offenbart damit die Unfähigkeit zu lieben. Der ambitionierte Versuch schließlich, der hehren Kunst im Chaos der Zeit eine rettende Insel zu bewahren, muß scheitern, weil Höfgen sich zum Vorzeige-Intendanten der nationalsozialistischen Kulturpolitik umfunktionieren läßt. Die differenzierte psychologische Zeichnung dieser komplizierten, gebrochenen Figur im Film hebt sich wohltuend von der schablonenhaften Schwarz-Weiß-Malerei der Romanvorlage von Klaus Mann ab. Der älteste Sohn Thomas Manns hatte den Roman 1936 im Exil veröffentlicht und darin eigene Erfahrungen verarbeitet. Protagonist Hendrik Höfgen ähnelt in vielen biografischen Details dem Theateridol Gustaf Gründgens (man beachte die anzügliche Schreibweise!), mit dem dieser in den zwanziger Jahren auf der Bühne gestanden hatte. Auch etliche andere Romanfiguren sind zeitgenössischen Personen nachgebildet: So sind der General und Dora Martin leicht als Hermann Göring und Elisabeth Bergner wiederzuerkennen. Deshalb wurde dieses literarisch keineswegs überzeugende Werk Klaus Manns auch immer wieder als Schlüsselroman abqualifiziert. Seinem Verfasser wurden billige Rachegelüste vorgeworfen. Er verteidigte sich mit der Versicherung, keine bestimmte historische Gestalt, sondern einen symbolischen Typus dargestellt zu haben. Durch seine wechselvolle Verbotsgeschichte und langjährige gerichtliche Auseinandersetzungen avancierte der “Mephisto”-Roman zum bekanntesten bundesrepublikanischen Zensurfall. Erst nach den nicht sanktionierten, viel beachteten Aufführungen der Bearbeitung des Stoffes durch die renommierte französische Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine zuerst 1979 in Paris, im folgenden Jahr dann auch in Deutschland, hat es 1981 der RowohltVerlag gewagt, trotz Verbots den Roman als Taschenbuch in einem Überraschungscoup auf den Markt zu werfen. Das Risiko lohnte sich: Der Roman wurde ein Bestseller. 44 http://www.mediaculture-online.de Einen nicht minder großen Erfolg errang im gleichen Jahr die Szabó-Verfilmung “nach Motiven des Romans”. Für den Regisseur, der in Kennerkreisen schon vorher als führender Kopf des ungarischen Films galt, war es die erste Literaturverfilmung und die erste große Arbeit fürs westliche Kino. Es wurde sein Meisterwerk. Der Film gewann 1981 in Cannes den Preis für das beste Drehbuch (Szabó zusammen mit Péter Dobai) und den Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI), 1982 erhielt er als bester fremdsprachiger Film einen Oscar. Er wurde im In- und Ausland hervorragend rezensiert und gilt als der mit großem Vorsprung erfolgreichste ungarische Film seit vielen Jahren. Als Studie über das exemplarische Schicksal eines Opportunisten in einem totalitären System hat sich das Werk schon heute einen Platz in der Filmgeschichte gesichert. Weil es sich um eine der schlüssigsten, präzisesten Darstellungen der zeitgeschichtlichen Verhältnisse unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft handelt, wurde der Film am 50. Jahrestag der Machtergreifung im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Zum anderen führt er aber auch am Beispiel eines intellektuellen Mitläufers die systemübergreifende Problematik des Verhältnisses von Kunst und Macht vor und fragt hartnäckig nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers. Darüber hinaus ist der Film ästhetisch gelungen. Durch virtuose Vernetzung verschiedener Bedeutungsebenen sind die vielfältigen literarischen und theatralischen Bearbeitungen des Faust-Stoffes aufeinander bezogen, meisterhaft inszeniert etwa in einer Schlüsselszene des Films, dem “Pakt mit dem Teufel”. Im Kostüm des Mephistopheles scheint Höfgen den General durch die Ausdruckskraft seines Spiels fast zu überwältigen. In der Loge des Generals verabschieden sich beide unter dem enormen Aufsehen des Publikums mit einem ostentativen Handschlag, der das Bündnis zwischen dem Schauspieler und dem Repräsentanten der Macht besiegelt. Doch Höfgen täuscht sich über seine wahre Stellung: Während er den Mephisto nur spielt, ist der General tatsächlich Mephisto, die Verkörperung des Bösen. Höfgen übernimmt damit in der Rolle des Mephisto den Part des Goetheschen Faust, der vom General (als Mephistopheles) zum Bösen verführt wird. Er wird zum “Affen der Macht”, ein “Clown zur Zerstreuung der Mörder” (Klaus Mann). Szabó läßt Höfgen somit auf raffinierte Weise zwischen verschiedenen Rollen und Seinsweisen oszillieren. 45 http://www.mediaculture-online.de Noch engmaschiger wird das komplexe Beziehungsgeflecht des Films durch die zeitgeschichtlichen Verweise und Anspielungen auf das Verhältnis Gründgens-Göring, die historischen Mephisto-Interpretationen der Gründgens-Aufführungen (vor allem die unnachahmliche Mephisto-Maske des weiß geschminkten kahlen Schädels mit messerscharf gezogenen Augenbrauen) und auf den berüchtigten Riefenstahl-Film “Triumph des Willens” mit seiner monumentalen Architektur aus Menschenleibern. Mit all diesen Mitteln leuchtet Szabó die Zentralfigur aus unterschiedlichen Perspektiven aus und weckt so Verständnis für deren Handlungsweise, wenngleich er sie nicht rechtfertigt. Damit gelingt ihm insgesamt das, woran Klaus Mann mit seinem Anspruch scheiterte, nämlich: nicht Porträts, sondern Typen darzustellen. Horst Schäfer 12 Sacco und Vanzetti Sacco e Vanzetti (Italien/Frankreich 1971) Regie: Giuliano Montaldo. Buch: Giuliano Montaldo und Fabrizio Onofri. Kamera: Silvano lppoliti. Musik: Ennio Morricone, Joan Baez. Darsteller: Riccardo Cucciolla, Gian Maria Volonté, Cyril Cusack, Milo O'Shea. Länge: 124 Minuten. Vertrieb: VPS. Der Polit-Thriller von Giuliano Montaldo über den amerikanischen Justizskandal “Sacco und Vanzetti” beginnt mit einer Beschreibung des Zeitgeistes der Zwanziger Jahre, der Umfeld und Verlauf des Prozesses prägte: Es waren jene frühen Jahre, in denen Justiz, Politik und Kapital mit verbissenem Haß gegen Gewerkschaftler, Kommunisten und Anarchisten vorgingen, die Jahre, in denen Angst, Hysterie und Terror das Klima bestimmten. Bei einer der vielen Razzien im italienischen Wohnviertel von Boston/Massachusetts werden am 5. Mai 1920 die beiden italienischen Einwanderer Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti festgenommen. Sie tragen Waffen bei sich, was sie verdächtig macht. Bei den Verhören verwickeln sich die beiden in Widersprüche. Man 46 http://www.mediaculture-online.de beschuldigt sie des Anarchismus, aber nicht deswegen werden sie angeklagt, sondern weil ihre Täterschaft bei einem bewaffneten Raubüberfall am 15. April 1920 in South Braintree – bei dem zwei Menschen kaltblütig erschossen wurden – vermutet wird. Während der Gerichtsverhandlung ergeben die Zeugenaussagen und Beweismittel kein genaues Bild über Tathergang und Täter. Aber auch Sacco und Vanzetti können kein hundertprozentiges Alibi für die Tatzeit erbringen; ihre Entlastungszeugen werden nicht ausreichend gewürdigt, sondern vorsorglich als gescheiterte Existenzen und asoziale Elemente dargestellt. Außerhalb des Gerichts kommt es zu ersten öffentlichen Protestdemonstrationen. Sacco und Vanzetti bekennen sich zum Anarchismus; sie lehnen es aber ab, Bomben zu werfen oder Waffengewalt anzuwenden. Aus der Verhandlung wird ein politischer Prozeß, aus einem Kriminalfall ein Stück Klassenkampf. Politische und rassistische Vorurteile prägen Anklage und Beweisführung. Das Interesse am Ausgang des Prozesses wird in der Öffentlichkeit immer stärker; die politischen Instanzen mischen sich ein, und die Geschworenen befinden unter solchem Druck die Angeklagten “schuldig des heimtückischen Mordes”. Es gründet sich ein Verteidigungskomitee, das die Berufungsverhandlung vorbereitet. In allen großen Städten des Landes kommt es zu Solidaritätskundgebungen und -bewegungen, denen sich immer mehr Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen anschließen. Rechtsanwalt Fred H. Moore, der in früheren Fällen schon proletarische Angeklagte verteidigt hatte und mit vollem Einsatz für seine Mandanten kämpft, stellt falsche Zeugenaussagen und neue Widersprüchlichkeiten fest, die vom Gericht aber nicht anerkannt werden. Einer Spur, die vielleicht zu den wahren Tätern führt, kann nicht nachgegangen werden, weil erforderliche Akten und Beweisstücke plötzlich verschwunden sind. Ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wird abgelehnt, ebenso die Begnadigung. Der Film endet mit der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti am 23. August 1927 auf dem elektrischen Stuhl. Eingeblendet werden dazu Dokumentaraufnahmen von den weltweiten Protesten, die diese Entscheidung auslöste. Sacco und Vanzetti starben “... aufgrund von 47 http://www.mediaculture-online.de Beweisen”, wie die konservative Zeitung “Der Republikaner” aus Springfield/Missouri schreib, “auf die man nicht einmal einen Hund hätte verurteilen dürfen ... ” Montaldos Film rekonstruiert die historischen Vorgänge. Er konzentriert sich dabei auf die beiden Hauptfiguren und den dramatischen Prozeßverlauf, der die Ohnmacht der Verteidigung gegenüber einem voreingenommenen Gericht verdeutlicht. Der Film analysiert die Klassengesellschaft der USA der Zwanziger Jahre und steht parteilich auf Seiten der Opfer. Er ist kein politischer Propagandafilm, sondern ein engagiertes, aufrüttelndes Dokument und weist über den damaligen Zeitgeist hinaus auf die politischen Prozesse der Gegenwart. Beeindruckend vor allem die schauspielerischen Leistungen von Riccardo Cucciolla (Sacco) und Gian Maria Volonté (Vanzetti). Für den politisch aktiven und international gefragten italienischen Schauspieler Volonté steht dieser Film in einer Reihe mit PolitThrillern von Elio Petri und Francesco Rosi, in denen er mitwirkte (unter anderen “Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger”, “Der Fall Mattei” und “Lucky Luciano”). Giuliano Montaldo wurde am 22. Februar 1930 in Genua geboren. Unter anderem war er Regieassistent bei Gillo Pontecorvo, der zu den profiliertesten politischen Regisseuren Italiens zählt. Die bekanntesten Filme Montaldos sind “Gott mit uns” (1970), ein Antikriegsfilm, und “Der tödliche Kreis” (1978), ein Film, der sich auf originelle Weise mit der Darstellung von Gewalt im Film befaßt. Seine Arbeiten für das Fernsehen (“Giordano Bruno”, 1973, “Marco Polo”, 1982) wurden auch bei uns ausgestrahlt. Nicht realisieren konnte Montaldo einen Film über die Ermordung des chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende, einen Film über Rosa Luxemburg (mit Jane Fonda in der Titelrolle) sowie einen Film über den Reichstagsbrand, der als Koproduktion mit der DEFA geplant war. Günter Lebailly 48 http://www.mediaculture-online.de 13 Orfeu Negro Orfeu Negro (Frankreich/Italien/Brasilien 1958) Regie: Marcel Camus. Buch: Jacques Vito, Marcel Camus, nach einem Stück von Vinicius de Moraes. Kamera: Jean Burgoin. Musik: Luis Bonfa, Antonio Carlos Jobin. Schnitt: Andrée Feix. Darsteller: Breno Mello, Marpessa Dawn, Adhemar Da Silva, Lourdes De Oliveira. Länge: 105 Minuten. Vertrieb: VPS. Bei der Verbindung des “Orpheus”-Themas mit dem Film denken Kenner des Metiers nicht nur an “Orfeu Negro” von Marcel Camus, sondern sofort auch an Jean Cocteaus “Orphée”. Cocteaus Film, 1950 entstanden, verlegte den mythischen Stoff in das Frankreich der Gegenwart. Knapp zehn Jahre später benutzte Marcel Camus abermals den Orpheus-Stoff. Er verlagerte ihn ins exotische Klima des Karnevals von Rio de Janeiro. Orfeu ist ein Straßenbahnfahrer in Rio, ein Sänger und Gitarrespieler, von dem die Freunde glauben, er könne mit seiner Musik die Sonne aufgehen lassen. Orfeu ist mit der temperamentvollen Mira verlobt. Euridice erscheint als junges Mädchen vom Lande. Sie ist nach einer unheimlichen Begegnung zu ihrer Cousine Serafina in die Stadt geflohen; sie glaubt, ein unbekannter Mann trachte ihr nach dem Leben. Orfeu und Euridice begegnen sich zum ersten Mal in der Straßenbahn und dann wieder bei Serafina, die eine Nachbarin Orfeus ist. Bei einer Probe für das Karnevalsfest kann Orfeu die eifersüchtige Mira ablenken und mit Euridice tanzen. Der geheimnisvolle Fremde erscheint in der Maske des Todes. Erschrocken flieht Euridice. Orfeu folgt ihr und kann sie vor dem Zugriff des Todes retten. Euridice bleibt über Nacht bei Orfeu. Am nächsten Tag zieht Orfeu mit seiner Tanzgruppe zum Karnevalsfest. Serafina überläßt Euridice ihre Maske, damit sie, von Mira unerkannt, in Orfeus Nähe sein kann. Während des Tanzes erkennt Mira, wer in Serafinas Kostüm steckt und stürzt sich wütend auf Euridice. Der Mann in der Maske des Todes hat die Szene beobachtet und folgt dem fliehenden Mädchen. Im leeren Straßenbahndepot will Euridice sich verstecken, aber der Verfolger ist schon da. Orfeu, der sie sucht, schaltet im dunklen Depot den Strom ein und 49 http://www.mediaculture-online.de tötet dadurch ungewollt seine Geliebte. Der Tod schlägt ihn zu Boden und fährt triumphierend mit Euridice in einem Krankenwagen davon. Orfeu, der nicht glauben will, daß Euridice tot ist, macht sich auf die Suche nach ihr: im Krankenhaus, in der Vermißtenstelle, bei einer Macumba-Zeremonie. Hier glaubt er hinter sich die Stimme Euridices zu hören, die ihm sagt, sie sei bei ihm, aber er dürfe sich nicht umdrehen. Gegen das Gebot wendet er sich um und sieht hinter sich eine alte Negerin. Entsetzt läuft Orfeu davon. Im Leichenschauhaus findet er schließlich die tote Euridice. Er nimmt sie auf seine Arme, um sie nach Hause zu tragen und wandert mit ihr durch die jetzt stille Stadt. Bei seiner Hütte wird er von der wütenden Mira erwartet. Sie verletzt ihn durch einen Steinwurf. Er stürzt den Abhang hinunter und stirbt mit der toten Geliebten im Arm. Die Geschichte hat ein Nachspiel. Orfeus junge Freunde haben seine Gitarre gerettet. Einer der Jungen spielt darauf, und tatsächlich geht wieder die Sonne auf: Ein neuer Orpheus ist geboren. Zu seiner Melodie beginnt ein kleines Mädchen zu tanzen. Der bacchantische Taumel des Karnevals gibt dem Film seine Farbe und seinen Rhythmus. Die Musik, das Schlagen der Trommeln und Tamburins, das Singen, Spielen, Klatschen, Tanzen beginnt mit der ersten Szene und setzt erst aus, als Euridice den Ort ihres Todes betritt. Der pulsierende Rhythmus der Musik schlägt den Zuschauer in Bann. Die leuchtenden Farben der Kostüme und die rauschhaften Bewegungen der Tänze geben dem Film seine glanzvolle Oberfläche und seine farbige Exotik. Sie verdecken aber auch einige Fragen. Wir können diesen Film heute nicht mehr so naiv fasziniert anschauen wie zu seiner Entstehungszeit. Das Leben der Armen in den Elendsquartieren nehmen wir nicht mehr unbefragt als Folie für eine unterhaltende Geschichte. Marcel Camus ist gewiß nicht vorzuwerfen, er beute für seinen Film das Elend der Leute aus. Statt das Problem zu schildern, beschreibt er seine Figuren als Menschen mit individuellen Schicksalen, ohne nach ihren Lebensumständen zu fragen. Einmal im Jahr feiern die Armen ihren Karneval als großes Fest der Freude, für das sie alles geben. Der Gegensatz zwischen den miserablen Lebensbedingungen und der Flucht in Schönheit und Tanz wird nicht als Konflikt gezeigt. Der Film verschönt; die Armut wirkt proper und aufgeräumt. Vielleicht genügte es zur Entstehungszeit des Films, den 50 http://www.mediaculture-online.de Gegensatz in kleinen humorigen Marginalien anzudeuten, um dem europäischen Publikum überhaupt einmal andere Lebensweisen und Lebensbedingungen nahezubringen. Was jedoch vor einer Generation noch unbefragt hingenommen wurde, wird heute in anderen Zusammenhängen gesehen; ein Lernprozeß hat eingesetzt. Dennoch vernachlässigt Camus nicht die dunklen Seiten des Lebens. Die Freude des Tanzes grundiert er mit der Bedrohung durch den Tod. Nach dem ausgelassenen Festtreiben zeigt er Betrunkene, Verletzte, Tote. Nachdem der Rausch der Karnevalsnacht vorbei ist, legt sich der helle Tag grau über die Szenerie. Camus erzählt die Geschichte von Orpheus und Eurydike neu. Vielleicht ist der besondere Nachdruck, den er auf die Nacherzählung legt, der freien Entfaltung der Geschichte eher hinderlich, da viele Details über sich hinausweisen und als Anspielungen auf den Mythos genommen werden sollen. Da ist der Standesbeamte, der die Geschichte von Orpheus und Eurydike zitiert. Der Leiter des Straßenbahndepots mit Namen Hermes kennt alle Menschen und Wege; er schickt Euridice zum Ort ihres Todes und zeigt Orfeu den Weg zu den Toten. Der Hund, der das Haus bewacht, in dem Orfeu die Stimme Euridices wiederhört, heißt Cerberus. Orfeus Verlobte ist von bacchantischer Tanzwut besessen. Die Parallelen zum Mythos sind vielleicht um eine Spur zu deutlich. Jean Cocteau hatte in seinem “Orpée” aus der alten Geschichte nur die Hauptpunkte verwendet und vieles neu erfunden; Marcel Camus ist in der Hinsicht skrupulöser, aber nicht ganz so überzeugend. Alle Einwände werden jedoch im Augenblick des Sehens hinweggewischt durch die Vitalität der Darsteller, durch das pulsierende Leben, das den Film vorantreibt. Die Hauptrollen werden ausschließlich von Farbigen gespielt und sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit Laiendarstellern besetzt. Ihre ungekünstelte Naivität und ihre Lebensfreude werden so bezwingend eingefangen, daß sie den Zuschauer überrumpeln. Die Exotik des Milieus wird nicht ausgestellt; vielmehr wird der Zuschauer eingeladen, für eine kurze Zeit in dieser fremden Umgebung eine Geschichte mitzuerleben. Leider ist dem 1982 verstorbenen Regisseur Marcel Camus kein zweiter Film von vergleichbarem Rang gelungen. Camus, geboren 1912, war zuerst Maler und Bildhauer, dann längere Jahre Regieassistent, u.a. bei Feyder, Astruc, Buñuel. Seinen ersten 51 http://www.mediaculture-online.de Kurzfilm drehte er 1950, seinen ersten Spielfilm 1956 (Mort en fraude/Das Halbblut von Saigon). “Orfeu Negro” wurde 1959 in Cannes mit dem Großen Preis der Filmfestspiele ausgezeichnet und erhielt den “Oscar” als bester ausländischer Film des Jahres. Meinolf Zurhorst 14 Lohn der Angst Le salair de la peur (Frankreich/Italien 1952) Regie: Henri-Georges Clouzot. Buch: Henri-Georges Clouzot und Jérome Géronimi, nach dem Roman von Georges Arnaud. Kamera: Armand Thirard und Louis Née. Musik: Georges Auric. Darsteller: Yves Montand, Charles Vanel, Peter van Eyck, Folco Lulli, Vera Clouzot. Länge: 144 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. Ein klarer Entwurf, eine gerade Linie: Präzision und Knappheit sind die markanten Merkmale dieses Meisterwerks des Spannungskinos. In der ersten Hälfte skizziert Clouzot ebenso eindrucksvoll wie genau das abgestumpfte Leben in Las Piedras, einem gottverlassenen, brütend heißen Nest irgendwo in Lateinamerika. Ein paar gestrandete, heruntergekommene europäische Abenteurer und Glücksritter warten dort auf die Chance, ihrer Misere zu entkommen. Ihr Wortführer ist Mario (Yves Montand). In dem alten Jo (Charles Vanel), wie er selbst aus Paris stammend, sieht Mario sein Vorbild. Der Brand an einer amerikanischen Ölquelle verschafft den Männern endlich die Chance, auf die sie schon zu lange gewartet haben: Zwei Lastwagen voller Nitroglyzerin sollen über 300 Meilen hinweg durch unwegsames Gelände an die Brandstelle transportiert werden – ein todsicheres Himmelfahrtskommando, das jedem Fahrer 2000 Dollar einbringt, wenn er es überlebt. In der zweiten Hälfte des Films schildert Clouzot in ungemein spannender Manier diese gefährliche Reise. Die Spannung entsteht dabei nicht allein durch die physischen Aktionen, vielmehr durch das, was sich davon auf den Gesichtern der Figuren 52 http://www.mediaculture-online.de widerspiegelt. Mittels weniger präziser Details versteht es Clouzot, nicht nur die Personen überzeugend zu charakterisieren, sondern auch die Handlung voranzutreiben und sie vom Zuschauer intensiv miterleben zu lassen. Jo, der scheinbar Alleswissende, entpuppt sich als Feigling. Mario, der ihn deshalb zunächst verachtet, bemitleidet ihn dann aber. Bimba (Peter van Eyck) ist ein blonder Narziß, der keine Angst kennt und sich noch rasiert, kurz bevor er in die Luft fliegt. Luigi, der lungenkranke Italiener (Folco Lulli), zieht den schnellen Tod auf dem Transport dem langsamen Sterben in Las Piedras vor. Nur einer von ihnen überlebt den Auftrag: Mario. Doch auf dem Rückweg stürzt er, in überschwenglicher Freude fahrend, mit seinem Lastwagen einen Abhang hinunter. Auch sein Traum von der Rückkehr nach Paris erfüllt sich nicht. “Lohn der Angst” wurde trotz seines offensichtlichen Pessimismus ein internationaler Erfolg, einer der größten für das französische Kino überhaupt. Clouzot, stilistisch dem “poetischen Realismus” eines Marcel Carne, Jean Renoir und René Clair verhaftet, verstand es, die düstere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der existenzialistischen Ära mit den Reizen seines populären, trivialen Unterhaltungskinos zu verbinden. Nachdem alle äußeren Schwierigkeiten überwunden sind, der Mensch sich in seinem Kampf gegen Natur, Technik und die eigene Person behauptet hat, fällt er seinem Übermut doch noch zum Opfer. Auch in seinem 1955 entstandenen Skandalreißer “Die Teuflischen” erlitten die Protagonisten ein ähnliches Schicksal. Leidenschaft bestimmt das Handeln der Figuren, an dessen Ende ein Mord steht. Schon in seinem ersten Spielfilm “Le corbeau” (Der Rabe), den Clouzot 1943 inszenierte, hatte er ein überaus düsteres Bild der gesellschaftlichen und sozialen Zustände gezeichnet. Der Film spielte in einem französischen Dorf, war aber von einer deutschen Firma produziert und wurde im Dritten Reich zu Propagandazwecken mißbraucht. Dem Regisseur brachte dies nach der Befreiung einige Jahre Berufsverbot ein. Erst die folgenden Filme zeigten, daß Clouzots pessimistische Weltsicht sich vorschneller politischer Inbesitznahme entzog und vielmehr grundsätzlicher Natur war. Dies hatte sicherlich mit der schlechten gesundheitlichen Verfassung des Regisseurs zu tun, die ihn daran hinderte, mehr Filme zu drehen, aber wohl auch seine Imagination um einige 53 http://www.mediaculture-online.de pathologische Züge bereicherte. Henri-Georges Clouzot drehte in den Jahren danach nur noch einen Kinofilm “La Prisionnière” (Seine Gefangene; 1968), der kein Erfolg wurde und den Regisseur für weitere zehn Jahre arbeitslos machte, bevor er im Januar 1977 seinen Krankheiten erlag. Horst Schäfer 15 Die Geliebte des französischen Leutnants The French Lieutenants's Woman (Großbritannien 1981) Regie: Karel Reisz. Buch: Harold Pinter, nach einem Roman von John Fowles. Kamera: Freddie Francis. Musik: Carl Davis. Ausstattung: Ann Mollo. Darsteller: Meryl Streep, Jeremy Irons, Hilton McRae, Emily Morgan, Leo McKern, Lynsey Baxter. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Die Dreharbeiten zu einem Film als Kulisse und Rahmenhandlung für melodramatische Liebesgeschichten ist ein oft variiertes Thema des Genres “Film im Film”, aber nur selten geraten einzelne Werke zu solch einem intelligenten Vexierspiel, wie es in “Die Geliebte des französischen Leutnants” gelang. Hier geht es um die Verfilmung einer leidenschaftlich-dramatischen Liebesaffäre, die Mitte des 19. Jahrhunderts im sittenstrengen viktorianischen England spielt: Die Verbindung zwischen dem jungen Wissenschaftler Charles (Jeremy Irons) und der geheimnisumwitterten Sarah (Meryl Streep) wird dadurch beeinträchtigt, daß Sarah wegen eines ihr unterstellten Vorlebens als “Geliebte eines französischen Leutnants” von den Bürgern der kleinen Hafenstadt Lyme Regis geächtet wird. Trotz etlicher Hürden, die der unstandesgemäßen Liebe zwischen einem Gentleman und einer von der Gesellschaft ausgestoßenen Frau im Wege stehen, kommt es zu einem Happy-End, das Charles jedoch mit dem Preis gesellschaftlichen Abstiegs bezahlen muß. Er verzichtet auf die Heirat mit einer reichen Kaufmannstochter; die gesellschaftliche Außenseiterin Sarah hat dafür nach langem Kampf ihre Freiheit und Selbstverwirklichung gefunden. 54 http://www.mediaculture-online.de Vorlage des Films ist der gleichnamige Bestseller von John Fowles, der sich in seinem Roman einer eigenwilligen Erzähltechnik bedient, indem er die Handlung für eigene Anmerkungen oder historische Erläuterungen unterbricht. Karel Reisz und sein Drehbuchautor, der Dramatiker Harold Pinter, übertragen dieses Verfahren auf die Handlung des Films und benutzen dazu sinngemäß eine parallel verlaufende Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptdarstellern, die in dem Historienfilm die Rolle des Paares spielen. Die Verflechtung der beiden Handlungselemente wird mit zunehmender Dauer des Films intensiver, womit spiegelbildartig eine Beziehung zwischen dem historischen England und der Gegenwart hergestellt wird. Die Übergänge zeichnet Reisz sehr subtil und behutsam. Mitunter kommen sie für den Zuschauer überraschend, aber niemals unmotiviert. Schwerpunkt des Geschehens bleibt dabei die Romanvorlage. Das “viktorianische” Liebespaar hat demzufolge auch ein Umfeld von Geschichte und Personen. Die Hintergründe der beiden Schauspieler sind hingegen unkonturiert; ihre Liebesgeschichte bleibt eine flüchtige Affäre. Auch die anderen Mitglieder des Filmteams bleiben weitgehend anonym. Am Erfolg des Films, an der stimmungsvollen und detailgetreuen Rekonstruktion der Atmosphäre der viktorianischen Zeit, haben neben Regie und Buch auch Kamera, Ausstattung und Musik einen wesentlichen Anteil. “Die Geliebte des französischen Leutnants” steht in der Tradition britischer Filmkunst. Der Regisseur Karel Reisz wurde am 18. Juli 1926 in Ostrava (ČSSR) geboren und kam 1939 nach England, wo er im Zweiten Weltkrieg Pilot einer tschechoslowakischen Fliegereinheit der britischen Luftwaffe war. Reisz gehört zu den Mitbegründern der Free-Cinema-Bewegung. Diese entstand in den fünfziger Jahren mit dem Ziel, die englischen Filmemacher von dem Einfluß der kommerziellen Zwänge zu befreien und der Darstellung des Alltags in den Filmen mehr Gewicht einzuräumen. Zu den bekanntesten Filmen, die Reisz in England drehte, gehört “Samstagnacht bis Sonntagmorgen” (1960); hier arbeitete er schon mit dem Kameramann Freddie Francis zusammen. Später ging Karel Reisz nach Hollywood, wo er mit “Dreckige Hunde” (1977), 55 http://www.mediaculture-online.de einem Film über die Auswirkungen des Vietnam-Krieges auf die amerikanische Gesellschaft, nicht den großen Erfolg hatte, der diesem Antikriegsfilm zu wünschen wäre. Wolfgang Schwarzer 16 Die große Illusion La grande illusion (Frankreich 1937) Regie: Jean Renoir. Buch: Charles Spaak, Jean Renoir. Kamera: Christian Matras. Musik: Joseph Kosma. Darsteller: Jean Gabin, Pierre Fresnay, Erich von Stroheim, Marcel Dallo, Dito Parlo. Länge: 110 Minuten. Vertrieb: (AVP). “Unseren filmischen Hauptfeind” nannte Joseph Goebbels “La grande illusion”, und Franklin D. Roosevelt sagte: “Alle Demokraten sollten sich diesen Film ansehen.” Verboten in den faschistischen Staaten, amputiert um jene Szenen, in denen ein Jude sympathisch dargestellt ist, heftig angegriffen wegen angeblichem Antisemitismus und tiefgreifendem Pazifismus in der Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen, ist Renoirs Film eines der wechselvollsten Schicksale in der Filmgeschichte beschieden. 1958 wurde er bei der “Konfrontation der besten Filme aller Zeiten” auf der Brüsseler Weltausstellung zum fünftbesten gewählt. Was Politiker, Presse und Publikum vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges so kontrovers und emotional reagieren ließ, war eine Geschichte, welche Freundschaft, Solidarität und gegenseitige Achtung unterschiedlicher Menschen über die Grenzen von Klassen, Rassen und Nationen hinweg zum Inhalt hat. Während des Krieges 1914 bis 1918 werden der adlige Hauptmann de Boeldieu und der proletarische Offizier Maréchal bei einem Aufklärungsflug hinter den deutschen Linien von Rittmeister von Rauffenstein abgeschossen. Sie bleiben unverletzt, und der Deutsche empfängt sie mit aller Hochachtung, die nach seinem Ehrenkodex des europäischen Adels dem besiegten, gleichrangigen Gegner gebührt. Jenseits aller kriegerischen 56 http://www.mediaculture-online.de Auseinandersetzungen schätzt er in de Boeldieu den Angehörigen seiner Klasse, mit dessen Familie er immer freundschaftlich verkehrte. In Maréchal akzeptiert er den Rang des Offiziers, darüber hinaus existieren keine Affinitäten. Die französischen Kriegsgefangenen im Offizierslager Hallbach verfolgen begierig die Nachrichten von der Front. Sie bemühen sich, Menschenwürde und Lebensmut aufrechtzuerhalten, teilen Lebensmittelpakete, organisieren eine Theaterveranstaltung. De Boeldieu und Maréchal bereiten zusammen mit dem bürgerlichen Juden Rosenthal sowie einem Schauspieler, einem Ingenieur und einem Lehrer ihre Flucht vor, werden jedoch kurz vor dem großen Augenblick in ein anderes Lager verlegt. Nach mehreren weiteren Fluchtversuchen aus unterschiedlichen Lagern werden de Boeldieu, Maréchal und Rosenthal schließlich in Wintersborn eingeliefert, eine mittelalterliche Festungsanlage, in der von Rauffenstein, nach zahlreichen Verwundungen als körperliches Wrack in die Etappe versetzt, kommandiert. Er spricht den Franzosen seine Hochachtung vor ihrem soldatischen Mut und ihrer Haltung aus, gibt jedoch zu erkennen, daß er seinerseits jeden Ausbruchsversuch verhindern und streng ahnden werde. De Boeldieu opfert sich für die Kameraden, indem er sich den Schüssen des Rittmeisters aussetzt, die dieser voller Bedauern, aber in unerbittlicher Pflichtschuldigkeit abgibt. Später wacht Rauffenstein am Krankenlager und am Totenbett. Maréchal und Rosenthal verlassen unter abenteuerlichen Bedingungen die Burg. Nach einem langen, gefahrvollen Marsch quer durch Deutschland erreichen sie schließlich, unterstützt von der Bäuerin Elsa, deren Mann bei Verdun, deren Brüder bei Lüttich, Charleroi und Tannenberg gefallen sind, die Schweiz. Maréchal hat sich in sie verliebt und will nach dem Krieg zurückkehren, um sie zu heiraten. Renoirs Theorie, daß die Welt durch horizontale Grenzen unterteilt sei, statt in Zimmer mit vertikalen Grenzen, gewinnt in seinem Film Appellcharakter. Mögen Nationalismus und Weltkrieg Ende der dreißiger Jahre seiner Erkenntnis widersprechen, so findet sie sich in den späteren Bemühungen um ein geeintes Europa bestätigt. Die große Illusion besteht 57 http://www.mediaculture-online.de wohl in der Aussöhnung der Klassen, wie sie sich in der Notlage andeutet. Aber auch in der Hoffnung, der Erste Weltkrieg möge der letzte sein, die zwei Jahre nach Beendigung der Dreharbeiten bitter enttäuscht wurde. Renoir inszeniert seine Geschichte in kunstvoller Mischung aus Realität und phantasievoller Überhöhung. Sein virtuoser Einsatz der Tiefenschärfe als konstituierendes Element der Erzählstruktur ist bei Erich von Stroheim vorgebildet und findet ihre Vollendung in Welles' Meisterwerk “Citizen Cane” (1941). Die Schauspieler, allen voran Gabin, von Stroheim und Fresnay, sind geschickt als Archetypen nach ihrem Image beim Publikum der Epoche ausgewählt. Renoir führt ihre Darstellung jedoch über jene Ansätze hinaus, die später zum Klischee geworden sind. Urs Jaeggi 17 La Strada La Strada (Italien 1954) Regie: Federico Fellini. Buch: Federico Fellini, Tulio Pinelli, Ennio Flaiano. Kamera: Otello Martelli. Musik: Nino Rota. Darsteller: Giulietta Masina, Anthony Quinn, Richard Basehart, Aldo Silvani. Länge: 98 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. La Strada – 1954 entstanden – ist möglicherweise nicht der genialste Film Federico Fellinis. “Otto e Mezzo” (“Achteinhalb”), das Schlüsselwerk des Maestros aus Italien, ist in seiner filmischen Struktur komplexer, “Amarcord” in seiner Lebensfülle praller. Aber “La Strada” ist zweifellos der reinste Film des heute bald 66jährigen Regisseurs: der reinste in seiner schlicht überzeugenden formalen Geschlossenheit, der reinste in der kraftvollen Zeichnung einer einfachen, aber bewegenden Geschichte, der reinste schließlich auch in seiner überwältigenden Menschlichkeit. Er habe, sagte Fellini einmal, die Geschichte zu “La Strada” jahrelang mit sich herumgetragen, weil sie ein Stück seiner selbst und zutiefst mit seinen Gedanken und 58 http://www.mediaculture-online.de Überzeugungen verbunden sei. Der Film, so Fellini, “ist entstanden aus der Vorstellung von einem Mann und einer Frau, die äußerlich zusammenleben, aber in ihrem Innern durch astronomische Welten voneinander getrennt sind”. Das Unvermögen zweier Menschen, einander zu begreifen, und der schreckliche Abgrund, der sich deshalb zwischen ihnen auftut, bilden den Ausgangspunkt zu diesem Film. Die zwei Menschen, die zwar zusammen leben und gemeinsam einen Weg gehen, aber deren Lebenslinien doch wie zwei Parallelen nebeneinander verlaufen, sind Zampanò (Anthony Ouinn) und Gelsomina (Giulietta Masina). Er, ein ungehobelter Kraftmensch, hat sie ihrer in Not lebenden Mutter für 10000 Lire abgekauft. Nun reisen sie mit einem motorisierten Dreirad, das ihnen zugleich als Wohnwagen dient, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Zampanò gibt dort für ein paar Lire seine billigen Entfesselungskünste zum Besten, assistiert von Gelsomina, welche die Trommel schlägt und die Trompete bläst. Die Reise durch die Weite des herbstlich-winterlichen Landes – symbolischer Ausdruck des Lebensflusses durch eine karge seelische Landschaft – legt den Blick auf die Charaktere der beiden frei: Zampanò ist ein Gefangener seiner Körperlichkeit, ein derber, gefühlsarmer Mensch, dumpf und schweigsam, wenn ihm nicht gerade der Alkohol die Zunge lockert. Er hat kein Verhältnis zu Gelsomina oder vermag es zumindest nicht auszudrücken. Gelsomina wiederum verkörpert die reine Unschuld des naiven, staunenden Menschenkindes, das in der Welt immer wieder neue Dinge entdeckt, über den kleinen Schönheiten des Lebens sein schweres Schicksal vergessen kann und nie die Hoffnung aufgibt, Zampanòs Härte aufzubrechen und die Finsternis seines Innern zu erleuchten. Aber sie leidet an der Vorstellung, ein unnützes Leben zu führen. Gerade hier nun setzt ein Dritter, ein Seiltänzer, den alle “il matto”, den Verrückten, nennen, eine entscheidende Marke in Gelsominas Leben. Er, selber ein Verzweifelter und am Rande der Gesellschaft Stehender, aber immerhin einer, der seine Not bewußt erlebt und mit ihr umzugehen weiß, bringt Gelsomina bei, daß alles im Leben einen Sinn hat, daß es das Unnütze in der Schöpfung nicht gibt. Gelsomina beginnt zu begreifen, daß ihr Leben neben Zampanò den Zweck hat, diesen aus seiner dumpfen Lethargie herauszureißen. Daß dieser auf ihre Liebe nicht reagiert, sondern vielmehr in einem Anfall von blindem Zorn und Eifersucht “il matto” zu Tode prügelt, erträgt Gelsomina indessen nicht. 59 http://www.mediaculture-online.de Jahre später hört Zampanò, der sein unstetes Leben weiterführt, jene Melodie, die Gelsomina immer auf der Trompete gespielt hat. In schmerzvoller Erinnerung folgt er der Spur der Töne und erfährt vom Tode seiner früheren Partnerin. Noch versucht er, im Alkohol zu vergessen, doch dann droht ein rasender Schmerz ihn zu zerreißen. Er erkennt, was er an Gelsomina verloren hat: alles, was seinem Leben eine Wende, einen Sinn hätte geben können. Diese Erkenntnis löst Verzweiflung und tiefste seelische Not aus, aber sie sprengt auch die Fesseln jener tiefen Einsamkeit, die Zampanò stärker umfangen hielt als die Ketten, die er als Attraktion jeweils zu zerreißen pflegte. “La Strada” ist ein großartiges Gleichnis über die erlösende Kraft der Liebe und die Befreiung des Menschen durch die Gnade. Fellini läßt es im Milieu des fahrenden Volkes spielen, unter Menschen also, die am Rande der Gesellschaft stehen. Er tut dies nicht allein deswegen, weil er diese Menschen aus eigenem Erleben kennt, sondern weil sie unterwegs sind: unterwegs zu neuen Orten, zu neuen Erkenntnissen, zu neuen Hoffnungen. Das fahrende Volk der Artisten, der Gaukler und Schausteller wird zum Sinnbild für die menschliche Gesellschaft schlechthin. Daß gerade diesen geringgeschätzten, verachteten Menschen Gnade widerfährt, gehört mithin zur zutiefst christlichen Botschaft dieses Films. Daß die eindrückliche Geschichte und ihre bewegende Botschaft eine formale künstlerische Entsprechung in Bildern erfahren, die voll poetischer Kraft sind und damit eine Umsetzung der Gefühlswelt in sichtbare Zeichen und Gesten ermöglichen, gehört zur Meisterschaft dieses Films. Aber was wäre “La Strada” ohne Giulietta Masina, die als Gelsomina über eine Ausstrahlung verfügt, die alle Regungen der Freude, der Verzweiflung, der Niedergeschlagenheit, aber auch der immer wieder aufkeimenden Hoffnung mit feinsten Gesten auf den Zuschauer zu übertragen vermag? Durch ihre Darstellung wird “La Strada” auch eine Hymne an die Sensibilität und die Sinnlichkeit der Frau, in der die Geheimnisse des Lebens – die Kraft der Erneuerung, die Schöpfung, die Liebe und der Tod – aufgehoben sind. Uwe Künzel 60 http://www.mediaculture-online.de 18 Außer Atem A bout de souffle (Frankreich 1959) Regie: Jean-Luc Godard. Buch: Jean-Luc Godard, nach einer Idee von François Truffaut. Kamera: Raoul Coutard. Musik: Martial Solal. Produktion: Georges de Beauregard. Darsteller: Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg. Länge: 90 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien. Sieht man heute, ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung, Jean-Luc Godards ersten Spielfilm “Außer Atem”, wird man zunächst Mühe haben, darin noch jene Innovationen auszumachen, die für das zeitgenössische Publikum so neu wie auch verwirrend gewesen sein sollen. Zunächst schaut man da einer eher einfach konstruierten Gangstergeschichte zu: Michel Poiccard, der sich bisweilen auch Laszlo Kovacs zu nennen pflegt, ist ein kleiner Gauner mit einer Vorliebe für große Autos. Gleich zu Beginn sieht man ihn, wie er in einem gestohlenen Straßenkreuzer über die Landstraße rast. Zum dramatischen Ausgangspunkt der Handlung wird die Tatsache, daß Michel fast beiläufig einen Polizisten erschießt, der ihn vorher auf einem Motorrad verfolgt hat. Aus dem Dieb ist unversehens ein Mörder geworden, doch das scheint ihn kaum zu bekümmern – seelenruhig fährt er nach Paris, wo er nach alten Freundinnen Ausschau hält. Dabei begegnet er auch der amerikanischen Studentin Patricia (gespielt von Jean Seberg), mit der er ein Verhältnis beginnt. Doch die Polizei ist ihm schon auf der Spur, und am Ende wird es dann ausgerechnet Patricia sein, die Michel an seine Verfolger verrät – in einer kleinen Seitenstraße wird er das Opfer einer Schießerei. Der Inhalt des Drehbuchs – das Godard nach einer Idee von François Truffaut geschrieben hat – war es gewiß nicht, der den Film für so viele Zuschauer zur Provokation werden ließ. Alle Motive entstammten mehr oder minder direkt jenen klassischen Kriminalfilmen, die man auch damals schon als Hollywoods “Schwarze Serie” bezeichnet hat. Das ganz und gar Neue an “Außer Atem” war die Dramaturgie. Sie warf so ziemlich 61 http://www.mediaculture-online.de alle Regeln über den Haufen, die bis dahin zum ehernen Vokabular der Filmsprache gezählt wurden. Das etablierte französische Kino dieser Zeit war von seinen wichtigsten Vertretern zu einem Institut nobler Langeweile heruntergewirtschaftet worden – was als erste Godard und seine Freunde Truffaut, Chabrol und Rivette gemerkt hatten, die in den “Cahiers du cinéma” in reichlich gehässigem Ton (bis zu persönlichen Beleidigungen) Regisseure wie Claude Autant-Lara oder Julien Duvivier zu denunzieren pflegten. Deren Werke folgten ganz einer “Tradition der Qualität”, die von den zornigen jungen Männern der “Neuen Welle” energisch bekämpft wurde. Zunächst mit Worten, schließlich mit eigenen, ganz andersartigen Filmen. Da tat sich eben Godard mit “Außer Atem” besonders hervor. “Eigentlich ist es ein Film, der am Ende der Nouvelle Vague kam, es ist ein Film ohne Regeln oder dessen einzige Regel hieß: die Regeln sind falsch oder werden falsch angewendet”, hat Godard 19 Jahre nach der Premiere gesagt und damit etwas beschrieben, was man heute eigentlich nicht mehr sehen, sondern nur noch nachlesen kann: die Verwirrung des Publikums angesichts eines Kriminalfilms, der sich von der Konfektionsware des Genres vor allem durch seine sprunghafte Erzählweise unterschied. Schnitte, wo “eigentlich” keine hingehören, wacklige Kamerafahrten (Operateur Raoul Coutard ließ sich auch schon mal im Kinderwagen über das holprige Pflaster der ChampsElysées ziehen), das Drehen an Originalschauplätzen ohne Absperrungen: Inzwischen machen das alle Jungfilmer schon aus Kostengründen so, und seit “Außer Atem” dürfen sie das auch, denn kein Zuschauer wird heute mehr Probleme damit haben. 62 http://www.mediaculture-online.de Es ist aus heutiger Sicht tatsächlich schwierig, sich vorzustellen, daß es einem Publikum schwer gefallen ist, Zusammenhänge zwischen zwei Einstellungen zu stiften, die nicht durch einen “ordentlichen” Schnitt so miteinander verbunden waren, daß die Kontinuität des zeitlichen Ablaufs gewahrt worden wäre. Doch ein direkter Vergleich mit anderen Filmen, die um 1960 entstanden sind, läßt das gleichsam Revolutionäre in Godards Technik sichtbar werden. Eine Sequenz als Beispiel: Einmal fahren Michel und Patricia im offenen Sportwagen durch Paris und unterhalten sich. Die klassische Filmdramaturgie hätte nun verlangt, dieses Gespräch in “Schuß” und “Gegenschuß” aufzulösen – also in abwechselnde Großaufnahmen vom Gesicht dessen, der gerade spricht. Godard hat einen anderen Weg gewählt: Er zeigt nur den, der zuhört. Keine einzige der Neuerungen, die der Regisseur in diesem Film eingesetzt hat, ist dabei seine eigene Erfindung gewesen. Richtungweisend wurde “Außer Atem” denn auch vor allem dadurch, daß hier experimentelle Techniken erstmals an einem populären Stoff ausprobiert wurden. Die eigentlich triviale Handlung, das Zitieren von Versatzstücken des Gangsterfilm-Genres, gaben den Zuschauern immerhin soviele Verständnishilfen, daß sie über das auf einen ersten Blick verwirrende Montage-Prinzip hinwegsehen konnten. “Außer Atem” zählt zu jenen Werken, um die sich Legenden ranken, deren Entstehung einem beim Wieder-Sehen nicht recht einleuchten will. In die Filmgeschichte eingegangen ist er denn auch allenfalls als “technischer” Klassiker, der bei einem jugendlichen Publikum gerade noch auf akademisches Interesse stoßen wird. Obwohl die Legende 1983 auf vergnügliche Weise wiederbelebt wurde: In diesem Jahr entstand unter der Regie von Jim McBride ein Hollywood-Remake von “Außer Atem”. Der Film reduzierte die ohnehin schon dürftige Geschichte noch einmal: Übrig blieb ein kurzweiliger Action-Film unter dem Titel “Brethless”, in dem Richard Gere und Valerie Kaprisky die Rollen von Belmondo und der Seberg übernahmen und der als Schauplatz Los Angeles vorführte. Späte Rache der Traumfabrik? 63 http://www.mediaculture-online.de Horst Schäfer 19 Der Fremde im Zug Strangers on a train (USA 1951) Regie: Alfred Hitchcock. Buch: Raymond Chandler und Czenzy Ormonde, nach einem Roman von Patricia Highsmith. Kamera: Robert Burks. Musik: Dmitri Tiomkin. Darsteller: Farley Granger, Ruth Roman, Robert Walker, Leo G. Carroll, Patricia Hitchcock. Länge: 92 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. “Der Fremde im Zug” – das ist Bruno Anthony, ein auf den ersten Blick sympathisch wirkender Mann, der sich während der Bahnfahrt von Washington nach New York an den jungen Tennis-Profi Guy Haines heranmacht und ihm seine Theorie vom perfekten Mord aufdrängt. Der angebliche Bewunderer Guys ist über dessen Privatleben bestens informiert. Er weiß, daß Guy sich von seiner Frau Miriam scheiden lassen will, um die attraktive Senatorentochter Anne heiraten zu können. Aber Miriam, die von einem anderen Mann ein Kind erwartet, will an dem gesellschaftlichen Glanz des aufstrebenden Sportlers teilhaben und ist mit einer Trennung nicht einverstanden. Bruno bietet sich an, Miriam umzubringen. Dafür soll Guy Brunos gehaßten Vater töten. Da beide kein erkennbares Motiv für ihre Tat besitzen, würden die Ermittlungen der Polizei ins Leere laufen. Guy lehnt entrüstet, für Bruno aber nicht deutlich erkennbar ab. Er muß erleben, daß Miriam kurze Zeit später bei dem Besuch eines Rummelplatzes umgebracht wird. Guy gerät in Verdacht, und Bruno nutzt diese Situation aus. Um ihn zu entlasten, besteht er darauf, daß Guy seinen Teil der scheinbaren Abmachung einhält und Brunos Vater tötet. Da Guy dies ablehnt, droht Bruno damit, ein belastendes Beweisstück – Guys Feuerzeug – an den Ort zu bringen, wo Miriam getötet wurde. Auf dem Rummelplatz wartet er die Dunkelheit ab, um seinen Plan durchzuführen. Unter Aufbietung aller Kräfte kann Guy ein Tennismatch frühzeitig beenden und trifft mit Bruno auf dem Gelände zusammen. Auf 64 http://www.mediaculture-online.de einem rasenden, außer Kontrolle geratenen Karussell kommt es zum Showdown, das Guy zu seinem Vorteil beenden kann. Noch im Sterben belügt Bruno die hinzugeeilten Polizisten, aber Guys Feuerzeug befindet sich nicht am Tatort, sondern in Brunos Hand. Von Anfang an ist Bruno die den Film beherrschende Figur: ein charmanter, selbstsicherer Typ, der seine abgrundtiefe Bosheit hinter vordergründiger Nettigkeit verbirgt; er ist ebenso sehr ein amüsanter, gebildeter Unterhalter wie ein schmieriger Intrigant und skrupelloser Mörder. Zu den Höhepunkten des Films zählt, wie er sich auf dem Jahrmarkt langsam an das Opfer heranmacht: der Bösewicht, der die Ahnungslose mit Blicken und Lächeln betört, um sie dann auf der “Liebesinsel” brutal zu erwürgen. Den Mord sieht der Zuschauer reflektiert durch das Glas der heruntergefallenen Brille des Opfers – verzerrt wie in einem Alptraum. Der exzentrische Psychopath Bruno gehört zu den markantesten Figuren in Hitchcocks Werk; er ist die formvollendete Umsetzung der Parole des Meisters: “Je besser der Schurke, desto besser der Film”; auch wenn am Profil dieses “Helden” mehrere Personen gearbeitet haben. Was beim ersten Hinsehen wie ein englisch-amerikanisches Gipfeltreffen von Hochspannungs-Spezialisten aussieht (Roman: Patricia Highsmith; Buch: Raymond Chandler; Regie: Alfred Hitchcock), erweist sich am Ende als nicht eingelöstes Versprechen. Highsmiths Roman “Strangers on a Train” wurde 1950 veröffentlicht, zu einer Zeit, als die Autorin noch unbekannt war. Das Motiv des Romans – der Austausch von Schuld hatte Hitchcock direkt angesprochen, da er sich in einigen seiner früheren Filme in ähnlicher Weise schon mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte. Im Gegensatz zu anderen Arbeiten, wo er von Produzenten ausgesuchte Stoffe verfilmen mußte, konnte er hier über eine Vorlage verfügen, die er sich selbst wünschte; daß Roman und Film am Ende nicht mehr viel Gemeinsamkeiten besitzen, lag an dem komplizierten Prozeß der Drehbuch-Erstellung. Zunächst wurde der Highsmith-Roman von Whitfield Cook für den Film adaptiert. Für das Buch konnte Raymond Chandler gewonnen werden, der seit 1943 in Hollywood als Drehbuchautor arbeitete. Der Bestseller-Autor hatte aber erhebliche Probleme im Umgang mit dem arbeitsteilig angelegten System des Studiobetriebs und war nicht anpassungsfähig genug, x-beliebige Ware zu liefern. Chandler war anfangs sehr angetan von der Chance, mit Hitchcock zusammenzuarbeiten. Er schätzte ihn wegen seiner Gabe, “Filme im Kopf zu inszenieren” 65 http://www.mediaculture-online.de – und genau diese spezifische Besonderheit des Regisseurs war es, die ihm als Autor die Arbeit erschwerte. Chandler tat sich schwer mit der treffenden Charakterisierung der beiden Hauptfiguren Guy und Bruno und warf Hitchcock mangelnden Instinkt für den Kern der Sache vor. Hitchcock hingegen verließ sich ganz auf die grobe Typisierung der beiden Gegenspieler und verzichtete darauf, sie glaubhaft oder realistisch darzustellen oder ihr Verhalten zu begründen. Er setzte die Charaktere ganz einfach voraus und entschied sich- im Gegensatz zur Romanvorlage für einen anderen Einstieg in die Geschichte. Was bei Highsmith wie das zufällige Zusammentreffen von Guy und Bruno aussieht, ist im Film von Bruno bewußt arrangiert. Die Idee vom Austausch der Morde entsteht nicht im Gespräch, sondern entspricht dem planvollen Vorgehen von Bruno, der sein Gegenüber in die Falle lockt. Hitchcock kommt es auf den Aufbau von Spannungselementen an, die zu einem atemberaubenden Finale führen. Chandler hingegen war mehr an der Glaubwürdigkeit der Personen und ihres Verhaltens interessiert. Beide kamen nicht zusammen. Von der endgültigen Drehbuchfassung war Chandler dann auch so enttäuscht, daß er seinen Namen zurückziehen wollte. In der Zwischenzeit hatte Hitchcock versucht, Ben Hecht als Autor zu gewinnen. Da dieser anderweitig verpflichtet war, brachte Czenzi Ormonde, eine seiner Mitarbeiterinnen, das Buch in die von Hitchcock gewünschte Fassung. Chandler war dennoch damit einverstanden, daß sein Name gemeinsam mit dem der Autorin genannt wurde. Die Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen im Vorfeld der Dreharbeiten wirkten sich aber nicht nachteilig auf den Erfolg des Films aus. Nach drei vorausgegangenen Mißerfolgen (“Rope”, “Under Capricorn” und “Stage Fright”) hatte Hitchcock mit “Strangers on a Train” einen Film gedreht, der bei Presse und Publikum gut ankam und ihm die nächsten Projekte sicherte. Im nachhinein bemängelte der Regisseur nur die unzureichende Profilierung einiger Hauptfiguren, was seiner Ansicht nach an der Besetzung (Farley Granger, Ruth Roman) und an den Dialogen lag. Wie in vielen seiner Filme konnte er auch hier auf einen kurzen Auftritt nicht verzichten: Zu Beginn des Films sieht man ihn mit einem Kontrabaß in den Zug steigen. “Strangers on a Train” wurde in der Bundesrepublik mit dem Titel “Verschwörung im Nordexpreß” gestartet. Im Vorspann der deutschen Fassung wird darauf hingewiesen, daß sich dieser Fall tatsächlich ereignet hat: “Die Gerichtspsychiater, die abschließend zu diesem 66 http://www.mediaculture-online.de grundlosen Mord Stellung zu nehmen hatten, kamen zu dem Ergebnis, daß dieser teuflische Plan nur in dem kranken Hirn eines Wahnsinnigen entstehen und mit der Irren eigenen Konsequenz durchgeführt werden konnte.” Reinhard Kleber 20 Der blaue Engel (Deutschland 1930) Regie: Joseph von Sternberg. Buch: Robert Liebmann mit Carl Zuckmayer und Karl Vollmöller, nach dem Roman von Heinrich Mann. Kamera: Günther Rittau, Hans Schneeberger. Musik: Friedrich Holländer. Darsteller: Emil Jannings, Marlene Dietrich, Kurt Gerron, Rosa Valetti, Hans Albers, Eduard von Winterstein. Länge: 93 Minuten. Vertrieb: VPS. In einem Film, den Maximilian Schell vor zwei Jahren über sie drehte, behauptete Marlene Dietrich, “Der blaue Engel” hänge ihr schon zum Hals heraus. Der Zuschauer wird diese Empfindung kaum teilen, denkt er an den unvergeßlichen Emil Jannings und seinen letzten Auftritt im Clownskostüm. In der Hafenkaschemme “Der blaue Engel” muß der Professor vor der Meute ehemaliger Schüler und Kollegen bei einem lächerlichen Zauberstückchen den dummen August spielen, während sich seine Frau, die TingelTangel-Tänzerin Lola Lola, hinter der Bühne mit einem attraktiven Artisten abgibt. An dieser grausamen Forderung zerbricht der Professor: Das Gekrächze, das er in seiner tiefen Verzweiflung hervorwürgt, ähnelt schon nicht mehr menschlichen Lauten. Buchstäblich ver-rückt geworden, stürzt er sich auf die Verderberin, für die er seine bürgerliche Existenz aufgegeben hat. Angefangen hat alles ganz brav in einem verschlafenen norddeutschen Provinznest. Dort regiert mit harter Hand der trockene, verbiesterte Gymnasialprofessor Immanuel Rath (Emil Jannings). Nachdem er drei gewagte Postkarten konfisziert hat, verfolgt er, 67 http://www.mediaculture-online.de neugierig geworden, die Spur einiger aufsässiger Schüler bis ins Hafen-Variété “Der Blaue Engel”, aus dessen Bann er seine sittlich gefährdeten Schäfchen zu befreien trachtet, sich dann aber selbst in den Netzen des verruchten Lokalidols Lola verfängt. Der Herr Rath bestaunt, von der Empore aus, ratlos die verführerische “Künstlerin” auf der Bühne, vom Direktor des Etablissements wie eine unerhörte Zirkussensation angepriesen: Marlene Dietrich, die in der weltberühmten Pose mit Zylinder und frivol bestrumpften Beinen auf einem Bierfaß ihre Hymne auf Eros schmettert: “Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.” Der närrische Gymnasiastenschreck verbringt die Nacht bei ihr und kommt am nächsten Morgen prompt zu spät zur Schule. Seine Klasse rächt sich an dem Tyrannen für die erlittenen Schikanen, indem sie mit “Unrath, Unrath”-Schmährufen einen Tumult anzettelt und so den Direktor auf den Skandal aufmerksam macht. Der gedemütigte Spießbürger muß den Dienst quittieren und verfällt durch die vernunftwidrige Heirat mit Lola endgültig dieser femme fatale. Fünf Jahre lang, bis 1929, also bis zur unmittelbaren Vergangenheit des zeitgenössischen Publikums, tingelt er mit der Truppe umher, bis er am Schluß körperlich und in seiner Selbstachtung so zerrüttet ist, daß er sogar die Rolle des Clowns übernimmt. Es kommt zur Feuerprobe im “Blauen Engel”, wo sich Lolas lasziv-morbide Prophetie erfüllt: “Männer umschwirr'n mich wie Motten das Licht. Und wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nicht.” Im wirklichen Leben hat die sinnlich-phlegmatische Dietrich den hier etwas schwerfällig agierenden Jannings bloß aus dem Rampenlicht gedrängt. Die Ufa hatte nämlich ihn als die Nr. 1 herausgestellt. Erst der überraschende Erfolg des Films versetzte die vorher unbekannte Marlene schlagartig auf den Thron der Filmdivas. Ihre Beine und die frivolen Schlager Friedrich Holländers wurden weltberühmt. Der Sprung nach Hollywood wurde unvermeidlich, der Marlene-Mythos begründet. Zu verdanken hat sie diese – bis auf die Garbo – beispiellose Karriere in erster Linie zwei Umständen: Zum einen ermöglichten die kommerziell wie künstlerisch wichtigen Neuerungen der Tonfilmtechnik erst die Popularisierung der von ihr gesungenen Liedchen. Zum anderen nimmt sie der aus Wien stammende Regisseur Josef von 68 http://www.mediaculture-online.de Sternberg, den die Ufa für die aufwendige Verfilmung des lukrativen Stoffs aus Hollywood erst einfliegen ließ und der die Dietrich fürs Kino entdeckte, gleich mit nach Hollywood. In den folgenden Jahren dreht er mit ihr dann so wichtige Filme wie “Marocco” (1930), “Shanghai Express” (1932), “The Scarlett Empress” (1934) und “The Devil is a Woman” (1935). Beide profitieren von dieser künstlerischen Symbiose. Von Heinrich Manns Roman “Professor Unrat” (1905) haben Sternberg und die Bearbeiter Carl Zuckmayer/Karl Vollmöller nicht viel übriggelassen. Die Story ist in die Jahre 1924/29 übertragen, das Figurenaufgebot radikal reduziert, die Karikatur norddeutscher KleinstadtKleingeisterei entschärft. Im Roman steigt die Künstlerin Rosa Fröhlich zur “eleganten Kokotte”, zur “Demi-Mondaine hohen Stils” (H. Mann) auf, im Film bleibt Lola Lola im billigen Hintertreppen-Milieu. Während der Rath des Romans am Ende im Gefängnis landet, stirbt der Rath des Films an seinem alten Lehrerpult. Aus der bitterbösen Satire auf die wilhelminische Bourgeoisie ist die private Tragödie eines entwurzelten Schultyrannen geworden. Trotzdem ist “Der Blaue Engel” als der erste veritable Tonfilmklassiker in die Filmgeschichte eingegangen. Künstlerisch besticht der Film vor allem durch die atmosphärisch dichte Darstellung des schwülen Kabarettmilieus. Deutlich prägt auch die Kammerspiel-Tradition mit ihren tristen Kleinbürger-Melodramen das Genre. Um jede schiefe Ecke der caligaresken Altstadtgassen lugt natürlich auch der damals in aller Welt gerühmte deutsche Filmexpressionismus, dessen raffiniertes Spiel mit Licht und Schatten Sternberg geschickt variiert. Immer wieder überrascht von Sternbergs kultivierte, wenn auch etwas langatmige Bildersprache – ein Erbe der Stummfilmästhetik –, etwa wenn er visuelle Symbole wie das Fischernetz mit diffizilen Vorausdeutungen zu einer unterschwelligen Verweisungsstruktur verknüpft. Insgesamt hat er ein stimmiges Abbild deutscher Kleinstadtbürgermentalität geliefert. Vor allem aber hat er uns etwas Einmaliges, den Marlene-Mythos, beschert, an dem die Dietrich so nostalgisch festhält, daß sie sich hartnäckig weigert, in dem erwähnten Schell-Porträt, das die ARD anläßlich ihres 85. Geburtstages am 27. Dezember ausstrahlte, vor die Kamera zu treten. Der Marlene-Mythos lebt. 69 http://www.mediaculture-online.de Horst Schäfer 21 Die sieben Samurai Shichinin no Samurai (Japan 1954) Regie: Akira Kurosawa. Buch: Akira Kurosawa, Shinobu Hashimoto, Hideo Oguni. Kamera: Asakazu Nakai. Musik: Fumio Hayasaka. Darsteller: Toshiro Mifune, Takashi Shimura, Kamatari Fujiwara, Daisuke Kato, Isao Kimura, Minoru Chiaki, Seiji Miyaguchi. Länge: 153 Minuten; gegenüber der Originalfassung fehlen in der deutschen Fassung 50 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. Akira Kurosawas “Die sieben Samurai” ist ein Jidaigeki; dieses japanische Filmgenre nimmt sich klassischer Samurai-Themen an, wobei sehr oft die Darstellung historischer Ereignisse oder die Auseinandersetzung mit der Tradition eine kritische Reflexion von Gegenwartserscheinungen enthält. Die Handlung spielt Ende des 16. Jahrhunderts. Die traditionelle Feudalordnung wurde durch die zentralistische Herrschaft der Shogune abgelöst. Der Schwertadel der Samurai, einer Kriegerkaste, verliert an Einfluß und Selbstachtung. Sie verarmen, werden überflüssig und zu Söldnern und Banditen deklassiert. In Japan herrscht Bürgerkrieg. Banden toben durch das Land, überfallen Bauerndörfer. In einem abgelegenen Bergtal leben Bauern in ständiger Furcht vor einer Bande ehemaliger Soldaten, die jetzt als Räuber in den Bergen leben. Fast jedes Jahr nach der Ernte plündern sie das Dorf. Die meisten der Bauern haben sich damit abgefunden; nur ein paar junge Leute wollen das Leid nicht mehr länger ertragen, sondern sich wehren. In dieser Situation entscheidet der Dorfälteste, nach verarmten Samurai Ausschau zu halten, die bereit sind, sich für drei magere Mahlzeiten am Tag zur Verteidigung des Dorfes anwerben zu lassen. 70 http://www.mediaculture-online.de Bei dem erfahrenen Samurai Kanbei finden die ausgesandten Bauern Verständnis. Sorgfältig wählt er fünf weitere Krieger aus, deren Stolz durch ihre Not besiegt wurde. Als sie aufbrechen, schließt sich ihnen noch Kikuchiyo an, ein wilder Bursche bäuerlicher Herkunft, der gerne Samurai sein möchte. Im Dorf fürchtet man sich zunächst vor den Samurai, deren Kastengeist den Bauern fremd und unheimlich ist. Kikuchiyo schafft es mit unkonventionellen Mitteln, gegenseitiges Verständnis herbeizuführen. Die erfahrenen Krieger bilden die Dörfler an Waffen aus und bereiten die Verteidigung vor. Gegen vierzig Banditen, die als Angreifer ohnehin im Vorteil sind, muß eine besondere Taktik geübt werden. Damit das Dorf nicht von allen Seiten angegriffen werden kann, müssen einige Felder unter Wasser gesetzt und ein paar Häuser aufgegeben werden. Als dann nach der Ernte die Banditen erwartungsgemäß auftauchen, beginnt ein tagelanger blutiger Kampf. Der Sieg muß mit vielen Opfern bezahlt werden; neben zahlreichen Bauern sind auch vier der sieben Samurai gefallen. Resigniert stellt Kanbei fest: “Wir haben gesiegt und trotzdem haben wir verloren. Gewonnen haben nur die Bauern und nicht wir Samurai.” Die Samurai sind nicht mehr die Feinde der Bauern, aber auch nicht ihre Freunde; sie finden nicht zueinander. “Die sieben Samurai”, Kurosawas mehrfach preisgekröntes Meisterwerk (unter anderem 1955 mit dem “Oscar” ausgezeichnet) entstand in den ersten Jahren nach Ende der amerikanischen Besetzung, in denen die japanische Filmindustrie einen lebhaften Aufschwung erreichte und die aus heutiger Sicht als die Blütezeit des japanischen Kinos bezeichnet werden. Für die damalige Zeit war diese Produktion eine der teuersten und aufwendigsten, aber die Investitionen machten sich bezahlt, da der Film ein filmkünstlerischer und finanzieller Erfolg wurde. Kurosawa probierte bei “Die sieben Samurai” erstmals ein Multi-Kamera-System aus, das heißt: Eine Sequenz wie beispielsweise die entscheidende Schlacht am Ende des Films, die bei Regen und auf schlammigem Boden stattfindet, wurde von mehreren Kameras aus unterschiedlichen Positionen aufgenommen. Das Material wurde später bei der Montage endgültig geordnet. Mit diesem Verfahren erreichte Kurosawa eine für seine Arbeiten 71 http://www.mediaculture-online.de typische choreographische Dynamik, die vor allem seine packenden, durch ZeitlupenEffekte aufgelösten Kampfszenen auszeichnet. Akira Kurosawa, Jahrgang 1910, war Zeichner und Illustrator, Drehbuchautor und RegieAssistent, bevor er 1943 sein Regiedebüt hatte. Kurosawas Verdienst besteht vor allem darin, den japanischen Film außerhalb Asiens bekannt gemacht zu haben. Der 1951 in Venedig sensationell an “Rashomon” verliehene “Goldene Löwe” eröffnete einen wahren Preisregen für Kurosawa-Filme. In “Die sieben Samurai” hat Kurosawa die Muster des Western, seine Riten und Helden, aufgenommen, verarbeitet und an Hollywood zurückgegeben. Ein Remake der “Sieben Samurai” entstand 1960 mit “Die glorreichen Sieben” (Regie: John Sturges), und nach Kurosawas “Yojimbo” (1961) drehte Sergio Leone 1964 “Für eine Handvoll Dollar”. Walter Schobert 22 Vom Winde verweht Gone with the Wind (USA 1939) Regie: Victor Fleming. Production Design: William Cameron Menzies. Buch: Sidney Howard, nach einem Roman von Margaret Mitchell. Kamera: Ernest Haller. Musik: Max Steiner. Darsteller: Clark Gable, Vivian Leigh, Leslie Howard, Olivia de Havilland, Thomas Mitchell. Länge der Originalfassung: 230 Minuten/219 Minuten. Vertrieb: IMV. Eines Tages, wenn es das Kino nicht mehr gibt und man seinen Enkeln beschreiben möchte, was es war, wo es erfunden wurde, von wo aus es gespeist wurde und womit, wenn man also von Hollywood erzählen wollte und von den Leuten, die es verkörperten, von den Filmen, die sie uns schenkten, dann genügte ein Film, um das zu tun, ein Film und dazu die Geschichte seiner Produktion und die Story seines Erfolgs: “Vom Winde verweht”. Er ist die Inkarnation von Hollywood, dem Ort, wo man oft die Legenden nicht von der Wahrheit unterscheiden kann, weil selbst die Wahrheit wie eine Legende klingt. 72 http://www.mediaculture-online.de Wie es sich für Hollywood gehört, sind nur Superlative geeignet, das Projekt zu beschreiben, Superlative und Rekorde. Nichts Geringeres als “der größte Film aller Zeiten” schwebte dem Produzenten David O. Selznick (DOS, wie er sich selbst nannte) vor, und wenn ihm, unterwegs, auch manchmal der Glaube daran schwand, so hatte er es am Ende geschafft: nach der längsten Produktionszeit und der aufwendigsten Suche nach einer Hauptdarstellerin – die erst gefunden wurde, als die Dreharbeiten bereits begonnen hatten. Schon jene 50 000 Dollar, die Selznick hingeblättert hatte, waren die höchste Summe, die bis dahin jemals für die Rechte an einem Buch gezahlt wurde – und er, der schon als Teenager im Filmgeschäft war und kurz zuvor seine eigene Firma gegründet hatte, triumphierte, weil er eine bessere Nase gehabt hatte als alle anderen im Geschäft, sogar als Schwiegervater Louis B. Mayer (der dann doch noch den Reibach machte, weil die MGM die Vorführrechte hatte) und der geniale Thalberg, der das Buch ablehnte, weil Stoffe aus dem Bürgerkrieg Kassengift seien. Die Auflagenzahlen schossen in die Höhe; vom Start weg entwickelte sich der Roman der unbekannten Margaret Mitchell, die ihn während ihrer Krankheit sozusagen aus therapeutischen Gründen schrieb (und die danach nie wieder etwas veröffentlichte), zum Bestseller. Dreieinhalb Jahre lang dauerte die Produktion; sie vor allem hat zum Mythos “Vom Winde verweht” beigetragen (und war eine unbezahlbare PR-Kampagne). Roland Flaminis Bericht füllt ein amüsant zu lesendes Buch, das fast so umfangreich ist wie der Roman – und, das wäre konsequent, eigentlich selbst verfilmt werden müßte (deutsch bei Heyne, Filmbibliothek Nr. 40). Wie ein Despot habe DOS, oft am Rande der Pleite, über den Film gewacht, jedes Detail kontrolliert, seine Mitarbeiter mit Tausenden von “Memos” an den Rand des Nervenzusammenbruchs gehetzt. Als man schon drehte, war das Buch noch nicht fertig; immer neue Autoren wurden angeheuert – und gefeuert; sechs Regisseure durften sich versuchen. Für den als Frauenregisseur verschrieenen Cukor (der indes heimlich weiter mit Vivien Leigh und Olivia de Havilland arbeitete) wurde vor allem auf Betreiben des Hauptdarstellers Clark Gable der Routinier Fleming engagiert, aber auch William Menzies leitete Aufnahmen – und über allem wachte der allmächtige Produzent. 73 http://www.mediaculture-online.de Immer wieder hat man sich gewundert, daß angesichts dieser chaotischen Verhältnisse der Film wirkt wie aus einem Guß. Das – offene – Geheimnis liegt darin, daß es eben einen gab, der für ihn sorgte: den Producer. Die europäische Vergötterung des Regisseurs hat es lange Zeit übersehen lassen, daß es den “Autor”, also den, der einem Film seine persönliche Handschrift verleiht, auch im amerikanischen Kino gibt – die Persönlichkeit, die ein Werk künstlerisch formt. Für einen Produzenten wie Selznick war die Verantwortung nicht teilbar, sie umfaßte für ihn das Geschäftliche und das Kreative, er beanspruchte alle Rechte, von der Auswahl der Drehbuchschreiber über die Besetzung aller Posten und Rollen bis hin zur endgültigen Gestaltung des Films am Schneidetisch. “Vorn Winde verweht” ist das Werk eines einzelnen Mannes, es ist “ein Film von David O. Selznick”. Seine von den Mitarbeitern gefürchteten Memos, von denen er täglich Dutzende diktierte, sind erhalten (Rudy Behlmer, Hrsg.: Memo from David O. Selznick, New York 1972). Sie vermitteln das Bild eines von seiner Bedeutung, seinem Können, seiner Aufgabe besessenen Filmmannes, der genau wußte, was er tat, um tatsächlich den großen Kinohit landen zu können. Schon die Wahl des Stoffes, der seinerseits wiederum viel dem Film verdankt, bewies eminenten Kinoverstand: eine bittersüße Geschichte mit einer goldrichtigen Verbindung von individuellen Gefühlen und ihrer historischen Verankerung, die ein saftiges Melodram auf dem Hintergrund eines geschichtlich bedeutenden Ereignisses ermöglichte, und damit alle Zutaten, die Hollywood liebte und mit ihm seine Zuschauer: prächtige und aufwendige Bilder (in den wunderschönen Farben von Technicolor) vom gesellschaftlichen Leben in den Südstaaten zu Friedenszeiten samt der Beschwörung der “guten alten Zeiten” (einschließlich der natürlich gottgewollten Rassenschranken), aufpeitschende Bilder von Feuersbrünsten und Zerstörung, eine Fülle von bewundernswerten Kostümen – und natürlich eine überzeugende Auswahl von handelnden Personen mit einem großen Gefühlsangebot. Scarlett O'Hara und Rhett Butler, die eigenwillige Schöne und der schillernde Abenteurer, sind ein Traumpaar; allein ihr Verhältnis trägt den Film mühelos über die gewaltige Länge und läßt die Zuschauer mitlieben und -leiden. Die Besetzung tat ein übriges: In die schöne Engländerin Vivian Leigh verliebten sich die Männer, und der schwer erklärbare Charme Clark Gables ließ die Frauen schmelzen. 74 http://www.mediaculture-online.de “Vom Winde verweht”, das ist auch die Geschichte seines Erfolges. Denn Selznicks Spekulation ging auf: Schon die Premiere in der Vorweihnachtszeit 1939 (als Europa, das den Film erst danach sah, bereits im Krieg war) war als grandioses gesellschaftliches Ereignis inszeniert, Publikum und Kritik waren begeistert, aber wir wären nicht in Hollywood, ließe sich der Erfolg nicht auch in Dollars bemessen – und in Oscars: Für 13 war “Vom Winde verweht” nominiert, zehn bekam er; nur Gable ging erstaunlicherweise leer aus. Nach Besucherzahlen ist der Film wohl immer noch die Nr. 1 und, würde man nicht absolut rechnen, sondern z.B. in Kaufkraft, auch nach Einspielergebnissen. Die 4 Millionen Dollar, die Selznick und seine Geldgeber investierten, brachten und bringen jedenfalls reichlich Rendite. Selbst für Hollywood war es nicht alltäglich, daß ein Mann erleben durfte, wie seine Vision sich erfüllte. Denn um nichts Geringeres ging es Selznick. Es mag ein Zufall sein, daß allein das Sujet den Vergleich mit einem anderen Monument Hollywoods herausfordert, aber von seiner Intention her kam es Selznick wohl genau darauf an: ein zweites, neues “Birth of a Nation” zu machen, sich als Nachfolger Griffith' zu beweisen. Da freilich wird dann klar, daß “Vorn Winde verweht” bei aller Schönheit und Perfektion, bei aller Raffinesse und allem Kalkül seinem Autor einen Platz ganz oben in der Götterwelt Hollywoods zuweist, aber nicht im Olymp. Walter Schobert 23 Metropolis (Deutschland 1927) Regie: Fritz Lang. Buch: Thea von Harbou. Kamera: Karl Freund, Günther Rittau, Eugen Schüfftan. Ausstattung: Otto Hunte, Erich Kettelhut, Karl Vollbrecht. Musik: Gottfried Huppertz (1927), Giorgio Moroder (1985). Darsteller: Brigitte Helm, Gustav Fröhlich, Alfred Abel, Rudolf Klein-Rogge, Fritz Rasp, Heinrich George. Länge der Originalfassung: ca. 200 Minuten. Videofassung: 87 Minuten. Vertrieb: Vestron. 75 http://www.mediaculture-online.de Vor ziemlich genau 60 Jahren, am 10. Januar 1927, wurde Fritz Langs “Metropolis” uraufgeführt, ein Film, der von Anfang an und bis heute nur eines unumstritten war: umstritten. Die Kritiker verdammten ihn in Grund und Boden, die Apologeten feierten ihn als ein Meisterwerk der Filmgeschichte. Für die UFA sollte “Metropolis” der Generalangriff auf Hollywood sein, das man mit seinen eigenen Waffen schlagen wollte. Genüßlich trumpfte die Sondernummer des UFAMagazins mit Zahlen auf: zwei Jahre Drehzeit, ein Etat von fünf Millionen, acht Stars, 750 Schauspieler, 36 000 Komparsen, 620 000 Meter Negativfilm. Lang rief ein Schiedsgericht an, um sich gegen den Vorwurf der Verschwendung zu wehren; möglicherweise war auch dies ein Propagandacoup. Die Spekulation ging nicht auf; der Film war ein Mißerfolg. Lang, der nach “Der müde Tod” und nach den grandiosen Zweiteilern “Dr. Mabuse” und die “Die Nibelungen” auf der Höhe seines Könnens und im Zenith seines Ruhms stand, gar in einem Atemzug mit Dürer, Wagner und anderen großen deutschen Künstlern genannt wurde, begriff den “Großfilm” als persönliche Herausforderung; er wollte etwas ganz und gar Einmaliges schaffen, wie vor ihm Griffith mit “The Birth of a Nation” oder später Gance mit “Napoleon”. Lang entwirft die Vision einer Zukunftsstadt, in der die einen im Dunkel sind und die anderen im Licht. In der Sonne tummeln sich die Reichen in Gärten und im Stadion, unter der Erde vegetieren die Arbeitermassen, werden an gigantische Maschinen geführt. Beherrscht werden beide Welten von Fredersen. Seine Gegenspielerin ist das Mädchen Maria, das mit charismatischer Ausstrahlung den Ausgebeuteten Liebe predigt und sie vor Gewalt warnt. Freder, der Sohn des Despoten, hat Mitleid mit den Arbeitern und verliebt sich in Maria. Der enttäuschte Vater beauftragt Rotwang, einen genialen Wissenschaftler, der auch Magier ist, einen Maschinenmenschen mit dem Aussehen Marias zu schaffen, der die Massen zum Aufruhr verführen soll. Doch die Rebellierenden gefährden nur ihre eigenen Kinder; es droht die Überschwemmung der Unterstadt. Maria und Freder retten die Kinder in letzter Minute. Der Zorn richtet sich gegen die falsche Maria, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. 76 http://www.mediaculture-online.de Auf dem Giebel des gotischen Doms kommt es zum Zweikampf zwischen Freder und Rotwang, der schließlich zu Tode stürzt. Vor dem Dom reichen sich Fredersen und ein Arbeiter die Hand. Die Liebe Freders und Marias hat die Gegensätze überwunden: “Mittler zwischen Hirn und Händen muß das Herz sein.” Das ist sicher ein hübscher Stabreim, aber gewiß kein Rezept für die Lösung sozialer Probleme oder gar für die Überwindung von Klassengegensätzen “unter Umgehung aller Tarif-Verhandlungen”, wie der Filmtheoretiker Béla Balász schon damals spottete. Lang selbst hat später von einem Märchen gesprochen, von mangelndem politischen Bewußtsein, und sich von dem Ende distanziert, für das wohl vor allem seine Drehbuchautorin (und Ehefrau) Thea von Harbou verantwortlich war. Es war dieses Ende, das ihm und seinem Film den Vorwurf einbrachte, faschistische Thesen zu propagieren und den Nazis den Weg bereitet zu haben; Gregor/Patalas nennen in ihrer “Geschichte des Films” im Gefolge Kracauers die Verschleierung der sozialen Gegensätze und die “Erlösung durch den Führerwillen” als Beleg für die Affinität zum Faschismus. Aber man braucht gar nicht den linken Hammer zu schwingen, um diese Seite von “Metropolis” für schwülstig und verlogen zu halten. Auch in “Metropolis” ist sie zu finden, die seltsame Mischung, die Langs frühe Filme insgesamt durchzieht: auf der einen Seite der höchste künstlerische Anspruch, auf der anderen, unübersehbar und ihn unterhöhlend, ein Hang zum Mystischen, zur Kolportage sogar, eine Schwäche für das Naive, Triviale, Reißerhafte. In “Metropolis” führt der Bogen von der Utopie zurück ins Mittelalter, von der Beschwörung der Moderne zum Märchen. 77 http://www.mediaculture-online.de Doch hieße es blind sein, würde man darüber nicht sehen, daß für Lang, und auch darin ist er ein sehr deutscher Künstler, der Stoff nur Aufhänger, Vorwand ist. Tatsächlich hat er, zusammen mit seinen Kameramännern und Architekten, hier dem Film völlig neue Ausdrucksmittel erschlossen. “Das Filmbild muß Grafik werden”, forderten die Schöpfer des “Dr. Caligari”. Bei Lang, dem ehemaligen Architekten, wird es Architektur. Aus expressionistischen Motiven und aus Anstößen, die ihm ein Besuch in New York vermittelt hatte, aus Bewegungen, Räumen, aus Licht, aus Hell und Dunkel hat er eine optische Symphonie gedichtet, in der alles Raumplastik ist, selbst die rhythmisch ihre Hände emporstreckenden Massen. “Metropolis” ist eine unerhörte Folge von meisterhaft komponierten Bildern. Möglicherweise wird der Zuschauer das heute nicht mehr finden – und dies weist einmal mehr auf das Grundproblem unserer Serie hin. Hier werden nur Filme präsentiert, die auf Video verfügbar sind. Es gibt zwar eine Kassette mit dem Titel “Metropolis” – aber das ist eben nicht das Meisterwerk von Fritz Lang. Es ist ein Film von einem Südtiroler Schlagerkomponisten namens Moroder, der in den USA Hits fabriziert wie andere Leute Hamburger und der Langs Film benutzt wie einen Steinbruch. Von der ursprünglichen Länge des Films sind bei ihm gerade 87 Minuten übriggeblieben; um Zeit zu sparen, hat er die Zwischentitel durch Untertitel ersetzt und läßt zu schnell projizieren. Der Rhythmus ist nicht mehr in den Bildern Langs zu finden, sondern in der 78 http://www.mediaculture-online.de Disco-Musik Moroders, einer ziemlich unerträglichen Soße, die “Metropolis” zu einem überlangen Videoclip degradiert, zu einem Medienereignis. Wer Langs Film sehen will, muß nach München pilgern, wo Enno Patalas die von ihm rekonstruierte Originalfassung im Stadtmuseum zeigt, oder nach Frankfurt, wo im Filmmuseum zum Film manchmal die Originalmusik von Huppertz live an zwei Klavieren gespielt wird. Urs Jaeggi 24 The Getaway The Getaway (USA 1972) Regie: Sam Peckinpah. Buch: Walter Hill, nach dem Roman von Jim Thompson. Kamera: Lucien Ballard. Musik: Quincy Jones. Darsteller: Steve McQueen, Ali McGraw, Sally Struthers, Ben Johnson, Al Lettieri. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien. Das filmische Werk des 1984 im Alter von 58 Jahren verstorbenen Sam Peckinpah ist eine einzige Auseinandersetzung mit den Mythologien Amerikas und seiner Geschichte. Aber Peckinpah hat – im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren – diese Mythologien nie für sich allein stehen lassen. Er hat sie immer und unablässig mit der Realität, den Entwicklungen, der Geschichte und der Gegenwart konfrontiert. So wurden seine ersten Western – “The Deadly Companions” (1961) und “Ride the High Counfry” (1962) – die ersten “schmutzigen” Western der Filmgeschichte. “The Wild Bunch” (1969), der Film, der Peckinpah über die USA hinaus bekannt machte, war nichts anderes als eine pathetische und dennoch präzise Auseinandersetzung der Frontier-Mythologie mit den technischen Entwicklungen des anbrechenden 20. Jahrhunderts, die dann ein Jahr später in “The Ballad of Cable Hogue”, dem vielleicht besten Film Peckinpahs, eine witzige Fortsetzung fand. 79 http://www.mediaculture-online.de In “The Getaway” (Der Hinterhalt) nun wiederum konfrontiert Sam Peckinpah den Mythos des amerikanischen schwarzen Films (film noir) mit der Realität einer Gesellschaft, welche die physische, aber auch die strukturelle Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten zumindest nicht kategorisch ablehnt. Gleich zu Beginn des Films schon begegnet der Zuschauer einem Gangster mit durchaus sympathischen Zügen (Steve McQueen) und seiner anziehenden Gattin (Ali MacGraw), die sich leidenschaftlich für die vorzeitige Entlassung ihres Mannes aus dem Gefängnis einsetzt. Ein Anliegen, das sich das Paar schließlich teuer erkauft: er mit der Verpflichtung, für einen korrupten Politiker eine Bank auszurauben, sie, indem sie sich diesem Falschspieler hingibt. Danach ist – vordergründig zumindest – alles brillant inszenierter Thrill: Doc MacCoy und seine Frau Carol organisieren den Banküberfall und führen ihn durch. Ein Polizist und ein Komplize bleiben auf der Strecke. Doc und Carol fliehen durch Texas, verfolgt von einem weiteren Komplizen, verfolgt auch von der Bande des korrupten Politikers, der statt des vereinbarten Geldes eine Kugel von Carol empfangen hat. Doc schießt sich durch, noch und noch. Leichen pflastern seinen Weg, als es ihm schließlich gelingt, vor seinen Häschern, zu denen natürlich auch die Polizei gehört, über die mexikanische Grenze zu fliehen. Peckinpah als Regisseur eines zwar perfekt gemachten, aber in seiner Thematik belanglosen Reißers? Man würde diesem amerikanischen Filmemacher, der im Verlauf seines Schaffens immer mehr erkannte, daß die Gewalt zu einem wesentlichen Faktor menschlichen Verhaltens gehört, und sich mit diesem Phänomen entsprechend auseinanderzusetzen begann, Unrecht tun, würde man “The Getaway” einfach als zufälligen Thriller abqualifizieren. Zwar schwerer interpretierbar als seine früheren Filme, ist auch dieses Werk eine Beschäftigung mit der Gewalt, vor allem aber das Spiegelbild einer Gesellschaft, die Gewalttätigkeit in ihr soziales Verhalten kurzentschlossen integriert hat und dadurch jegliche Distanz zu ihr zu verlieren droht. Schwerer lesbar ist der Film, weil der Zuschauer seine Konzentration dem Gangsterpärchen widmet. Dieses aber gibt substantiell nicht sehr viel her. MacCoy und Carol sind nichts, kommen aus dem Nichts und haben auch keine Zukunft. Sie und ihre Taten sind Legende; Helden, von den Göttern der Gewalt getragen, gefeit gegen 80 http://www.mediaculture-online.de Kugelhagel und andere tödliche Gefahren: durch und durch unwirklich, Schablonen, Schemen. Sie sind unverwüstliche Helden des amerikanischen Kinos, blütenweiß und wohlriechend frisch noch selbst nach der langen Fahrt im dunklen Innern eines vollgestopften Müllwagens. Die wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut indessen sind in den Nebenrollen zu finden. Sie offenbaren, so verschiedenartig sie sind, nach der Konfrontation mit dem Gangsterpaar ihren wahren Charakter, ihr Verhältnis zur Gewalt. Sie sind die Typen einer Nation, deren Geschichte und Gegenwart mit Gewalt eng verknüpft ist und in der Gewalt deshalb zum Mythos geworden ist. Das gilt für die naive, kleine Frau, die zusammen mit ihrem schwächlichen Gatten vom Gangsterkomplizen Rudy als Geisel genommen wird und diesen um seiner Brutalität willen bis zur Hörigkeit bewundert, so gut wie für den kaltschnäuzig korrupten Politiker, der seine persönliche Macht mit jenen Mitteln mehrt, gegen die anzukämpfen er verpflichtet wäre. Das gilt aber auch für den Waffenhändler, der Doc eine zwölfschüssige Flinte samt Munition verkauft, als handle es sich dabei um Süßholz, und sich danach maßlos wundert, wenn gleich vor seiner Geschäftstür eine wüste Schießerei ausbricht. Und es gilt letztlich auch für den abenteuerlichen Lastwagenfahrer, der das Gangsterpaar über die mexikanische Grenze karrt. Daß MacCoy und Carol eben ein Hotel samt seinen dubiosen Bewohnern zusammengeschossen haben, kümmert ihn kaum, wohl aber die Frage, ob seine beiden gefährlichen Passagiere das Bündnis der Ehe geschlossen haben: der Moral wegen, auf die er großen Wert legt. Sie alle sind in ihrer Weise verantwortlich, daß Gewaltverbrechen sich lohnen: durch ihre Naivität, durch die Verherrlichung nackter Brutalität, durch ihre Macht- und Habgier, durch das über Generationen vererbte, jeder Kritik entzogene Pioniergefühl und – nicht zuletzt – durch ihre doppelte Moral. In “The Getaway” entlarvt Sam Peckinpah eine Gesellschaft, die das Böse geradezu heraufbeschwört. Hinter der Vordergründigkeit des raffiniert inszenierten und hektisch montierten Gangsterfilms verbirgt sich die Tragödie des Menschen, der sein Leben und sein Dasein nicht mehr an sozialen und ethischen Wertmaßstäben der Gemeinschaft, 81 http://www.mediaculture-online.de sondern als vereinsamtes, asoziales Wesen am Recht des Stärkeren orientiert. In diesem Sinne ist der Regisseur Sam Peckinpah ein Moralist. Wolfgang Schwarzer 25 Lucky Luciano Lucky Luciano (Italien/Frankreich 1973) Regie: Francesco Rosi. Buch: Francesco Rosi, Lino Jannuzzi, Tonino Guerra. Kamera: Pasqualino de Santis. Schnitt: Ruggiero Mastroianni. Musik: Piero Piccioni. Darsteller: Gian Maria Volonté, Rod Steiger, Charies Siragusa, Edmund O'Brien. Länge: 110 Minuten. Vertrieb: ufa. Francesco Rosi gehört zu denen, die das Medium Film beim Schopf packen: Anspruch und Durchführung liegen so nahe beieinander wie nur irgend möglich. “Die Kluft, die zwischen der politischen und der bürgerlichen Gesellschaft besteht, muß mit Informationen ausgefüllt werden; dies kann aber nicht nur von der Presse und dem Fernsehen ausgehen, denn sie besitzen weniger Macht als der Film. Ich glaube, daß er die Probleme behandeln sollte, die bis heute in einem kulturellen Ghetto geblieben sind. Der einfache Mann ist wißbegierig, er will verstehen, was an der Spitze vor sich geht.” Rosi stellt in seinen Filmen die Mittel zum Verständnis bereit. Seine Geschichten behandeln Tatsachen, journalistisch recherchiert und dokumentiert. Das Material ist nach den Gesetzen des Spielfilms geordnet. Zentrales Thema im Werk Rosis, geboren 1922 in Neapel, ist die komplizierte Gesellschaftsstruktur des Mezzogiorno. Der überwiegende Anteil der dreizehn Spielfilme, bei denen er seit 1958 Regie führte, setzt sich mit der Geschichte und der Aktualität des benachteiligten italienischen Südens auseinander. Rosi analysiert die überkommenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, indem er Praktiken der Machtausübung 82 http://www.mediaculture-online.de politischer Instanzen entschleiert und ihre Auswirkung auf die täglichen Erfahrungen in den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten darstellt. Der Inszenierungsstil Rosis steht in der Tradition des Neorealismus, der sich Ende der vierziger Jahre in Italien herausbildete. Er verbindet unverfälschte Detailtreue und sozialkritisches Engagement mit Einflüssen des amerikanischen Kinos, besonders der Filme Elia Kazans. “Lucky Luciano” (1972/1973) ist eine Reflexion der Verflechtungen zwischen legaler und illegaler Macht in Italien und den USA. Die Biographie des sizilianischen Mafiabosses Salvatore Luciano (Gian Maria Volonté), der den Drogenhandel zwischen Italien – in Verbindung mit der chemischen Industrie des Landes – und Amerika erstmals mit der Präzision der Geschäfte internationaler Konzerne organisierte, beginnt am 11.2.1946, als er nach einem neunjährigen Gefängnisaufenthalt Amerika verläßt, um sich in Neapel niederzulassen. Schlaglichtartige Rückblenden zeigen seinen skrupellosen Aufstieg zum unumschränkten boss of the bosses in den amerikanischen Großstädten. Die Geschichte endet im Februar 1961, als Luciano nach einem erfolglosen Verhör durch italienische Zollbehörden im Flughafen von Neapel an einem Herzinfarkt stirbt. Die Person Lucianos, dezent, möglichst untätig erscheinend, wie es seinem Idealbild des unauffälligen Geschäftsmannes entspricht, der “für die Ordnung und mit der Macht – also mit den Regierenden” handelt, tritt in der Geschichte häufig als graue Eminenz in den Hintergrund. Drei zusätzliche Handlungsstränge erhellen seine Zeit und seine Persönlichkeit. - Die Mafiagröße Vito Genovese (Charles Cioffi) wird nach der Befreiung Süditaliens rechte Hand und Berater des amerikanischen Militärgouverneurs, organisiert den Schwarzhandel und läßt Mafialeute in die Schlüsselpositionen von Politik und Verwaltung einsetzen. - Der Agent des amerikanischen Narcotic Bureau, Charles E. Siragusa (von ihm selbst gespielt!), will dem Drogenboss das Handwerk legen. Er handelt mit Unterstützung einer UNO-Kommission, scheitert jedoch an Thomas E. Dewey, der als Staatsanwalt Luciano 83 http://www.mediaculture-online.de 1939 mit verfälschten Beweisen hinter Gitter gebracht hatte, ihn als Gouverneur des Staates New York 1946 begnadigte und nach Italien abschieben ließ. Offizielle Begründung: Luciano habe durch seine Mafiaverbindungen den Streitkräften unschätzbare Dienste bei der Eroberung Siziliens geleistet. Inoffiziell heißt es, der Mafioso habe Deweys Wahlkampf mit 250 000 Dollar unterstützt. - Der Gangster und Polizeispitzel Gene Giannini (Rod Steiger) will an Siragusa und Luciano gleichermaßen verdienen und bleibt dabei auf der Strecke. Zusätzlich werden nach Originalprotokollen rekonstruierte Kommissionssitzungen der UNO eingeflochten. “Lucky Luciano” bildet zusammen mit “Wer erschoß Salvatore G.” (1961), “Hände über der Stadt” (1963), “Der Fall Mattei” (1971), “Die Macht und ihr Preis” (1975), “Christus kam nur bis Eboli” (1978) sowie “Drei Brüder” (1980) ein faszinierendes Fresco der sozialen Kriminalgeschichte Italiens. Horst Schäfer 26 Die durch die Hölle gehen The Deer Hunter (USA 1978) Regie: Michael Cimino. Buch: Derek Washburn. Kamera: Vilmos Zsigmond. Musik: Stenley Myers. Darsteller: Robert de Niro, Christopher Walken, John Cazale, Meryl Streep, John Savage, George Dzundza, Chuck Aspegren. Länge: 182 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP. Ein zentrales Thema der US-Spielfilmproduktion ist seit einigen Jahren die Auseinandersetzung der amerikanischen Gesellschaft mit dem Vietnam-Krieg und seinen Spätfolgen. In die von John Wayne (Regisseur und Hauptdarsteller) mit “Die grünen Teufel” (1967) vorgegebene patriotische Richtung – den meuchelmörderischen Vietcong werden kinderfreundliche Special-Forces-Helden gegenübergestellt – mischten sich ab 1972 (zum Beispiel mit “Die Besucher” von Elia Kazan) die ersten kritischen Töne. 84 http://www.mediaculture-online.de 1975 zogen sich die Amerikaner aus Vietnam zurück. 58 000 Tote waren der Preis für diesen Einsatz. Die darauffolgenden Jahre waren die entscheidende Phase zur Aufarbeitung dieses Schocks, an der sich auch die Filmindustrie beteiligte. “Taxi Driver” (1976) von Martin Scorsese, “Coming home” (1977) von Hal Ashby, “Dreckige Hunde” von Karel Reisz, “Apocalypse Now” (1976-1979) von Francis Ford Coppola und “Die durch die Hölle gehen” (“The Deer Hunter”, 1978) von Michael Cimino sind dabei die kompromißlosesten, unbequemsten und provozierendsten Filme. Ab Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre entstanden parallel zu der abnehmenden Anzahl politisch-engagierter Vietnam-Filme in zunehmendem Maße Produktionen, die den Vietnam-Krieg als spektakuläre Kulisse für blutrünstige Actionfilme mißbrauchen, die Veteranen-Figuren dazu nutzen, private Rachegelüste zu legitimieren oder die verlorenen Schlachten im Nachhinein gewinnen ließen. Die “Rambo”-Filme mit Silvester Stallone (1982, Regie: Ted Kotcheff; 1985, Regie: George P. Cosmatos) stellen heute den unrühmlichen Höhepunkt einer Entwicklung dar, die das Trauma verdrängen und Haßgefühle schüren. Der synthetische Rache-Killer “Rambo” entstand nicht zufällig; er ist eine Art Frankenstein-Monster mit Versatzstücken aus all den Filmen und Stimmungen, die seine Geburt (oder Wiedergeburt) vorbereiteten. Ciminos “The Deer Hunter” ist demgegenüber einer der filmkünstlerisch erfolgreichsten und am meisten beachteten Vietnam-Filme. Er spürt die Lust an der Jagd, am Töten auf, die schließlich zur persönlichen Todessehnsucht führt, und erteilt allen eine Lektion, die mit dem Krieg ein Bild von Freiheit und Abenteuer verbinden. Der Film beginnt mit Bildern aus einer Industriestadt in Pennsylvania. Drei Freunde, Michael, Steven und Nick, feiern die Hochzeit von Steven. Alle sind Nachkommen russischer Einwanderer, und es wird ein ausgelassenes Fest. Gleichzeitig ist es ihr Abschied, denn sie sind nach Vietnam einberufen. Am nächsten Morgen gehen sie ein letztes Mal gemeinsam zur Jagd. Im Dschungel von Vietnam werden aus den Jägern Gejagte. Als Gefangene des Vietcong müssen sie ein grausames Spiel spielen: Russisches Roulette, mit einer Kugel im 85 http://www.mediaculture-online.de Revolver. Die Drei können entkommen. Michael bringt den schwerverletzten Steven in Sicherheit und kehrt nach Hause zurück. Steven hat beide Beine verloren und vegetiert in einem Veteranen-Hospital. Nick wird in eine psychiatrische Klinik in Saigon eingewiesen, entfernt sich später von seiner Einheit und taucht unter. Er ist dem Wahnsinns-Spiel wie ein Süchtiger verfallen und betreibt es gegen Höchsteinsätze. Hochdekoriert, aber desillusioniert und orientierungslos kehrt Michael nach Hause zurück und will seine alten Freunde um sich haben. Er macht sich nach einiger Zeit auf die Suche nach Nick, der sich noch in dem chaotischen, aufgewühlten und aufgegebenen Saigon aufhält. Nick steht unter Drogen und erkennt den Freund nicht mehr. Ein letztes Spiel endet für ihn tödlich. Michael bringt Nicks Leichnam zu einem traurigen Begräbnis nach Hause. In ihrer Ratlosigkeit stimmen die Freunde ein verzweifeltes “God Bless America” an. Nach ungefähr einer Stunde Laufzeit hat der Film einen harten, unvermuteten Übergang: von der ausgelassenen, verkaterten Stimmung nach der Feier direkt in das Kriegs-Inferno im Dschungel. Dieser brutale Schnitt entspricht auch den wenigen Flugstunden, die zwischen diesen beiden Schauplätzen liegen. Ebenso abrupt schneidet Cimino den Wechsel von Saigon zurück in die unveränderte Kleinstadt. Hier ist nichts weiter entfernt als der Krieg in Vietnam. Was mit einem rauschenden Fest, überschüssiger Lebensfreude, optimistischem Übermut und lockeren Sprüchen gegen die Vietcong begann, endet mit Enttäuschung, Isolation und Depression. Aus ein paar wagemutigen Jungs wurden Wracks und Krüppel, deren Charaktere zerstört sind. In der Heimatstadt machen sich Ratlosigkeit und Skepsis breit, was Lebenszusammenhänge und politische Gegebenheiten angeht. “Die durch die Hölle gehen” erhielt fünf Oscars: John Peverall (Produzent), Michael Cimino (Regie), Christopher Walken (männlicher Nebendarsteller), Peter Zinner (Cutter) und Richard Portman unter anderem für den besten Ton. Der Film wurde mit weiteren Preisen und Auszeichnungen bedacht und machte seinen Regisseur in aller Welt bekannt. Darüber hinaus verhalf er zwei bis dahin vergleichsweise unbekannten Darstellern zum internationalen Durchbruch: John Savage und Christopher Walken. Parallel zu Ciminos Film wurde 1979 auch “Coming home” mit drei Oscars bedacht. 86 http://www.mediaculture-online.de Thomas Brandlmeier 27 Eine Nacht in Casablanca A Night in Casablanca (USA 1946) Regie: Archie L. Mayo. Buch: Joseph Fields, Roland Kibbee, Frank Tashlin. Kamera: James van Trees. Musik: Werner Janssen. Darsteller: Groucho, Chico, Harpo, Sig Ruman, Lisette Verea. Länge: 85 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. “Die gewaltige, völlige, endgültige, absolute Originalität” (Artaud über die Marx Brothers). “Die biologische, hysterische, kannibalische Raserei” (Dali über die Marx Brothers). Es ist eine selten strittige Geschmacksfrage, welcher Film der Marx Brothers ihr bester sei. Die Fachleute schwanken zwischen “Monkey Business” (1931), “Duck Soup” (1933), “A Night at the Opera” (1935), “The Big Store” (1941) und “A Night in Casablanca” (1946). Die Frage ist vor allem deshalb so hoffnungslos, weil es hier kaum objektivierbare Kriterien für Qualität gibt. Ist dies bei Komikern generell schwierig, so ertränken die Marx Brothers jedes gesichtete Kriterium sofort in Anarchie. Man könnte postulieren: Die Marxens sind da am besten, wo sie in möglichst viele Fettnäpfchen zugleich treten. Das fängt im vorliegenden Fall schon bei der hanebüchenen Story an: Im Hotel Casablanca tummeln sich nach Kriegsende Altnazis, die hinter einer verschwundenen französischen Kriegsbeute her sind. Ebenfalls hinter der Beute her ist ein französischer Offizier und dessen Verlobte, da der Offizier für das Verschwinden der Beute haftbar gemacht wird. Und zwischen alledem die Marxens. Groucho Marx als hochstapelnder Hotelmanager, Chico Marx als Mädchen für alles und Harpo Marx als Hoteldiener. Das ist – nicht ohne Absicht – eine Agentenstory, wie sie damals zuhauf gedreht wurden, wie “Notorious” (Hitchcock, 1946), oder “To have and have not” (Hawks, 1944) oder “Casablanca” (Curtiz, 1942). Prompt kam von den Warner Brothers auch eine Plagiatklage wegen “Casablanca”. Groucho brachte die Warner-Rechtsabteilung mit einem spitzfindigen Schreiben für immer zum Schweigen: “... Sie behaupten, der Name Casablanca gehöre Ihnen und niemand dürfe ihn ohne Ihre Erlaubnis benützen. Wie 87 http://www.mediaculture-online.de verhält es sich dann mit dem Namen ‘Warner Brothers’? ... Wir waren unter dem Namen Marx Brothers bereits bekannt, als das Vitaphone noch eine Idee im Kopf seines Erfinders war ... ” Die Marx Brothers machen aus dieser Klischeegeschichte freilich eine Antigeschichte, die das ganze Klischee entlarvt. Die Agenten werden von ihnen nicht durch Mut, Opfer, Überlegenheit oder ähnliche Tugenden zur Strecke gebracht, sondern dadurch, daß sie ganz offen als noch durchtriebener auftreten. Als Chico zu Beginn des Films Groucho vom Bahnhof abholt, will er ihm den Koffer tragen. Groucho will ihn lieber selbst tragen. “Mir kannst du doch trauen”, säuselt Chico, worauf Groucho antwortet: “Ich traue niemand, nicht einmal mir selbst.” Wie recht er hat zeigt sich wenig später, als Chico empört konstatiert, daß ohne Schmiergeld kein Informant reden will: “Er wird von dieser Ratte nie etwas erfahren ohne Geld. Diese Ratte ist ganz genauso wie ich.” Der einzige, der überhaupt einen offenen Kampf mit den Agenten eingeht, ist Harpo. Er duelliert sich mit einem als großer Fechtmeister bekannten Nazi-Agenten – und läßt ihn dabei in den Fechtritualen solange leerlaufen, bis dieser erschöpft zusammenbricht. Auf ähnliche Weise wird später der Obernazi in den Wahnsinn getrieben: Während er seine Koffer zur Flucht packt, sind die Marxens in allen Schränken und Schrankkoffern versteckt und räumen hinter seinem Rücken sofort alles, was er einpackt, wieder aus. Zu den weiteren Klischees des Genres gehört selbstverständlich eine verführerische Sängerin, die für die Agenten arbeitet. Ihr Song “Who's sorry now?” gibt exakt den Ton an: Die Rendezvous mit Groucho scheitern nicht an dessen Charakterstärke, sondern an dessen Hemmungslosigkeit. Die genreübliche Action-Szene zum Schluß des Films besteht aus einer herrlich-absurden Akrobatiknummer, mit der die Marxens das FluchtFahrzeug der Naziagenten in ihre Gewalt bringen. Harpo, am Steuer des Flugzeugs, macht eine Bruchlandung, direkt im Gefängnis. Dem Happy End steht so nichts mehr im Weg: Der französische Offizier darf seine Verlobte in die Arme schließen. Die inzwischen gebesserte Sängerin seufzt: “Ach, wenn das mir mal passieren würde!” Sofort stürzen sich die Marx Brothers auf sie. Gewisse “routines” gehören mit Variationen in jeden Film mit den Marx Brothers. Es sind die eigentlichen Charakterstücke, an denen die Besonderheiten der drei Komikertalente 88 http://www.mediaculture-online.de sichtbar werden. Bei Groucho ist es stets eine zynische Ansprache, wobei der ganze Ellenbogen-Anarchismus eines rücksichtslosen Geschäftsmannes zum Ausdruck kommt. Er beginnt seine Tätigkeit als Hotelmanager, indem er seine Wunschgäste entwirft: Sie sollen gefälligst höflich sein und genug Drinks nehmen. Chico, der bauernschlaue Immigrantentyp, stiftet bewußt Verwirrung, um von dem allgemeinen Chaos zu profitieren. Als er in Geldnöten ist, fängt er an, in einem überfüllten Restaurant Tische zu verkaufen, die Harpo eilends aufstellt. Zum Schluß ist es so eng, daß Groucho, der gerade einen seiner obszönen Rumbas hinlegt, mit seiner Partnerin bis zur engen Umklammerung eingepfercht ist. Harpo ist in seiner Anarchie die Figur des utopischen August. Ohne Umwege geht er stets auf direkte Bedürfnisbefriedigung aus. Trifft er eine hübsche Blondine, so drückt er ihr zur Begrüßung gleich das Bein in die Hand, und als Vorkoster verschlingt er Grouchos Essen samt Teller, Garnierung und Kerzenbeleuchtung. Er verweigert sich sogar der Sprache, und wenn er sich ausdrücken will, dann artikuliert er sich in einer der berühmten Homonymienreihen von Chico, also durch den, der selbst Sprachschwierigkeiten hat. Spätestens hier ist es allerdings schade, daß die vorliegende Fassung deutsch synchronisiert (statt untertitelt) ist. Natürlich kommt auch in diesem Film ein wunderschönes Harfensolo von Harpo, eine exzentrische Klaviereinlage von Chico und jede Menge intelligentester Anzüglichkeiten von Groucho vor. Und der schönste, weil surrealste, Gag gehört auch in diesem Film wieder Harpo. Die Polizei soll verdächtige Subjekte verhaften. Harpo lehnt sehr verdächtig an einer Hauswand. “Glaubst du vielleicht, daß du das Haus stützen mußt?” schnauzt ihn ein Polizist an. Harpo geht weg und das Haus stürzt ein. Fazit: eine durch und durch filmische Destruktion von Romanzen-Klischees von innen heraus, mit den ureigensten Mitteln des Genres selbst, ohne daß dazu außer den Marx Brothers ein Regisseur notwendig gewesen wäre (er hieß Archie Mayo). Walter Schobert 89 http://www.mediaculture-online.de 28 Denn sie wissen nicht, was sie tun Rebel Without A Cause (USA 1955) Regie: Nicholas Ray. Buch: Stewart Stern. Kamera: Ernest Haller. Musik: Leonard Roseman. Darsteller: James Dean, Nathalie Wood, Sal Mineo, Jim Backus, Dennis Hopper. Länge: 109 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Als der Film im Oktober 1955 in die Kinos kam, war sein Star schon tot: James Byron Dean kam am 30. September 1955 bei einem Verkehrsunfall ums Leben. In seinem Porsche war er auf dem Weg zu einem Rennen an der Kreuzung des Highway 41 und der Staatsstraße 466 in eine schwere Limousine gerast. Ob es ein Unfall war oder doch, vielleicht unbewußt, gesuchter Selbstmord: darüber wird bis heute gerätselt. Denn bis heute ungebrochen ist die Faszinationskraft Deans, der gerade 24 Jahre alt wurde. Drei Filme, nur drei, waren es, die seinen Ruhm, seinen Mythos begründeten: “Rebel ... ” war, nach Elia Kazans “Jenseits von Eden” und vor Stevens' “Giganten”, der zweite und es war der Film, in dem er am vollkommensten das verkörperte, was hinter der Existenz des Schauspielers die Essenz des Stars ausmachte. Als Jim Stark spielt er sich selbst: Die Figur war ein Spiegelbild, zumal Nicholas Ray die Dreharbeiten offen gehalten, sein ganzes Team zur Mitarbeit ermutigt hat. Dean hat entscheidende Vorschläge gemacht. Selbst der Name weist auf ihn; seine Freunde, sagt der junge Plato im Film zu Judy, dürfen zu ihm Jimmy sagen. Genauso wurde Dean von seinen Freunden (und Fans) zärtlich genannt. Ray zeigt 24 Stunden aus dem Leben des Jim Stark, der wieder einmal neu in eine Stadt gekommen ist, weil er in der Schule Schwierigkeiten machte und seine Eltern solche Probleme schon öfter mit einem Umzug lösten. Betrunken wird er nachts, auf der Straße liegend, von der Polizei aufgegriffen. Auf der Wache sind auch Judy, die von zu Hause weggelaufen war, und Plato, der auf junge Hunde geschossen hatte. Als die Eltern Jim abholen, macht er ihnen heftige Vorwürfe; bei einem verständnisvollen Polizisten bricht er zusammen, entlädt seine Frustration, hilflos, befreiend, dadurch, daß er auf einen Tisch einschlägt. 90 http://www.mediaculture-online.de Am nächsten Morgen muß er zum ersten Mal in die neue Schule. Er trifft Judy, aber die zieht es vor, mit ihrer Clique zu fahren. Der zweite Handlungsfaden baut sich auf: der Kampf um die Anerkennung bei den Gleichaltrigen. Es kommt zur Konfrontation mit der Bande und ihrem Anführer Buzz. Nachts treffen sie sich an der Steilküste. Jeder soll mit einem Auto auf den Abgrund zurasen. Sieger ist, wer als letzter den Wagen verläßt. Ein sinnloses Spiel, meint Jim; aber irgendwas müsse man halt machen, antwortet Buzz, der Jim gesteht, daß er ihn mag. Jim kommt vor den Klippen zum Stehen. Buzz verklemmt sich in der Tür. Der Rest ist schnell erzählt: Obwohl seine Eltern abraten, will Jim zur Polizei. Von dort kommen Buzz' Freunde, die sich an ihm rächen wollen. Mit Judy versteckt er sich in einem leeren Haus am Observatorium. Plato kommt dazu. Während Judy und Jim sich ihre Liebe gestehen, verfolgen die anderen Plato, der einen von ihnen anschießt. Ein großes Polizeiaufgebot rückt an, umstellt das Planetarium, in dem sich Plato verborgen hat. Jim überredet ihn zum Aufgeben. Mit dem Revolver kommt er vor die Tür, ein nervöser Polizist, nicht wissend, daß Jim das Magazin entfernt hatte, erschießt ihn; ein zweiter sinnloser Tod. Doch, man kann das schnell erzählen. Wie immer verschwindet dabei nahezu alles, was den Film weit mehr ausmacht als der Inhalt: die Bilder, die Farben, das Licht, die Bewegung, die Schwenks, die Montagen. Auf den Inhalt reduziert, erscheint “Rebel ... ” wie einer jener Filme von halbstarken Jugendlichen und ihren Problemen mit den Eltern, den Vertretern einer saturierten, materiell orientierten Gesellschaft. Rays Film ist mehr, schon weil Deans Jim mehr ist als ein Halbstarker. Gewiß, er protestiert, lehnt sich auf gegen den Vater, will nicht werden wie er – und läßt doch immer wieder spüren, daß er ihn mag und braucht, aber eben stark, ehrlich, glaubwürdig, mutig und nicht als Pantoffelhelden, der Konflikte meidet und den Weg des geringsten Widerstandes geht. Väterliches Fehlverhalten wird auch bei Judy und Plato thematisiert: Judy sucht Zärtlichkeit und wird vom Vater abgewiesen, der dem kleinen Bruder das gibt, was er der älteren Tochter verweigert. Und Platos Vater ist ganz abwesend: nicht einmal ein Brief erreicht den sehnsüchtigen Sohn, nur ein vorgedruckter Scheck. 91 http://www.mediaculture-online.de Bei Judy, der schon sehr damenhaften, bei Plato und vor allem bei Jim: hinter der Rebellion scheint die Sehnsucht durch, die Suche nach Anerkennung, nach Liebe, nach Geborgenheit. Rays Jugendliche sind alleingelassen, überfordert. Jim, der sich in Judy verliebt, muß bei ihr die Rolle des Gatten spielen, und beide sind für Plato Ersatzeltern. Die Ruhe, die Gelassenheit, die Kraft, mit der Jim Judy tröstet, Plato zum Aufgeben überredet, sie zeigen, wie nahe Schwäche und Stärke beieinanderliegen. Jim weint und heult, aus ohnmächtiger Wut wie aus hemmungsloser Enttäuschung: eine archetypische Figur, der Dean vollkommenen Ausdruck verleiht – ein Gesicht, aus dem unendliche Zärtlichkeit und unendliche Verletzbarkeit spricht. Kein Zweifel, “Rebel ... ” ist Deans Film. Aber es ist auch der Film des großen Regisseurs Nick Ray. Er hat auch die Geschichte erfunden, und ist es ein Zufall, daß der verständnisvolle Polizist seinen, Rays, Namen trägt? Ray hat viele schöne Filme gemacht, aber dieser ist sein Meisterwerk, der größte in einem gewaltigen Œuvre, auch wenn es zahlenmäßig klein ist, wenn die Bosse Hollywoods ihn demütigten und zwanzig Jahre lang keinen Film machen ließen. Wir aber wissen, daß er für die fünfziger Jahre das ist, was Hawks für die Dekade vorher war. Wir wissen es, seit uns Godard, Truffaut, Rivette und Rohmer zuerst als Kritiker und dann als Regisseure die Augen dafür geöffnet haben. Ohne Ray kein Godard – er hat auf den Punkt gebracht, was Rays Filme sind: pures Kino, nichts als Kino, aufwühlend, emotional und doch intellektuell. Wim Wenders hat diesem Mann mit dem radikalen, einmaligen “Nicks Film” nicht nur beim Sterben, sondern auch dazu geholfen, doch noch einen Film machen zu können. Hans Gerhold 92 http://www.mediaculture-online.de 29 Der eiskalte Engel Le Samouraï (Frankreich 1967) Regie: Jean-Pierre Melville. Buch: Jean-Pierre Melville, nach einem Roman von Goan McLoad. Kamera: Henri Decae. Musik: François de Roubaix. Darsteller: Alain Delon, Nathalie Delon, François Perier, Cathy Rosier. Länge: 98 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien. Jean-Pierre Melvilles “Le Samouraï” ist die ästhetische Vollendung des französischen Unterweltfilms, ein Werk, das in seiner rigorosen Stilisierung fast etwas Abstraktes hat: Kino in Reinkultur, das seine Vorbilder überwand und in der Perfektion seiner Inszenierung nur noch auf sich selbst verweist. Dieses elegische Requiem für einen Killer überzeugt nicht nur als Studie über Einsamkeit und Entfremdung; es ist zugleich, durch rauschhafte Schönheit und Transponierung musikalischer Bilder und Töne in erlesene Einstellungen, Inkarnation dieser Isolation. In der Unvermeidbarkeit aller Situationen einer antiken Tragödie verwandt, bildet dieses Experiment mit Kunstfiguren den gelungenen Versuch, fortschrittlichste ästhetische Formen am Beispiel einer Gangstergeschichte in populäre Kino- und Erzählmuster umzusetzen. Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Samurai, es sei denn die des Tigers im Dschungel. Der Satz, angeblich aus dem Samurai-Buch “Bushido”, jedoch von Melville erfunden, leitet als Motto den Film ein und beschließt ihn, gesprochen vom Kommissar, der damit dem Protagonisten Jeff Costello (Alain Delon) eine letzte Ehre erweist. Jeff ist beides: Tiger und Samurai. Im Verlauf einer Geschichte, die linear, chronologisch und präzise wie ein Uhrwerk abläuft, wird Jeff in den letzten Tagen seiner Existenz beobachtet: als philosophischer Held. Der professionelle Killer Jeff Costello verläßt seine Wohnung, verschafft sich ein doppelt abgesichertes Alibi und tötet den Besitzer eines eleganten Pariser Nachtclubs. Bei einer Polizei-Razzia festgenommen, muß er, da sein konstruiertes Alibi nicht zu erschüttern ist, freigelassen werden. Von der Polizei weiterhin als Hauptverdächtiger angesehen und 93 http://www.mediaculture-online.de somit eine Gefahr für seine Auftraggeber, wird er bei der Entgegennahme seines Lohns angeschossen. Mit einer Wunde im Arm verbirgt er sich mehrere Tage in seiner Wohnung. Bei ihrem Verlassen setzt eine großangelegte Verfolgungsjagd der Polizei ein, der Jeff in der Metro entkommt. Jeff erhält einen neuen Auftrag, sucht jedoch den Chef des Gangstersyndikats und erschießt ihn. Im Nachtclub provoziert er die Polizei, indem er den Revolver auf das vorgesehene Opfer, eine schwarze Pianistin, richtet, und wird erschossen. Der Revolver, den er in der Hand hält, ist leer: Jeff hat Harakiri begangen. Mit der logischen Konsequenz, mit der er einst tötete, inszeniert Jeff seinen eigenen Tod. Der ist in einem erzählerischen Paradoxon von Anfang an vorgegeben, wenn er in der ersten Einstellung wie aufgebahrt in seinem Zimmer auf dem Bett liegt und nur der Rauch seiner Gitane erkennen läßt, daß er lebt. Jeff, dessen tödliche Handlungen in ihrem Prozeßcharakter von Melville registriert werden, der keine Entwicklung, kein Ziel hat, es sei denn der Tod, lebt in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Bewegung und Starre, Realität und Traum, Leben und Tod. Sein Arsenal an Gesten und Riten ist die einzige physische Manifestation von Jeffs Existenz. Melville versucht erst gar nicht, Pseudoerklärungen zu Jeffs potentieller Herkunft zu geben, denn dessen Dasein ist sein Sosein und seine Existenz ist seine Existenz. Seine Art etwa, sich einen Mantel anzuziehen oder den Hut aufzusetzen, einen Citroën zu knacken oder seinen Dompfaff zu füttern, ist der Versuch, in einer nicht mehr zu steigernden Stilisierung von Person und Physis, das Unmögliche zu erreichen. Gleichzeitig sind es Rituale, deren Unbedingtheit und Vollendung einer tiefen Traurigkeit entsprechen. Jeff, der Narziß mit dem Habitus eines Killers, ist von einer Aura der Melancholie umgeben, der Vergeblichkeit allen Tuns. Der nicht schlecht gewählte deutsche Titel “Der eiskalte Engel” verweist dabei auf eine außerfilmische Dimension, insofern der Schauspieler Delon in dieser Rolle die Apotheose seiner Kunst erreichte. Costello ist, durch seinen Beruf bedingt, kaltblütig, aber die Bedeutungszuweisung “Engel” verweist auf die Handlungen eines Erzengels, die von Reinheit und Unschuld bestimmt sind. 94 http://www.mediaculture-online.de Der Tristesse, Einsamkeit, Entfremdung und Kommunikationslosigkeit von Costellos Welt – Melville hat ihn in einem Interview als schizophren bezeichnet – entspricht ein ungewöhnlicher Einsatz der Farben, deren Atonalität in verwaschenen Oberflächen schimmert. Sie entspricht der Atmosphäre dieses trüben Traums wie das Licht, das, als Schatten oder Halbschatten präsent, Costellos Gesicht zerschneidet oder nur Partien betont. Die Musik gibt die strenge Stilisierung der Bilder akustisch wieder und setzt ihre Atmosphäre als emotional äquivalenten Ausdruck vor allem im Hauptthema in sakrale Harmonien um. Regisseur Jean-Pierre Melville (eigentlich: Grumbach, 1917-1973) galt zeit seines Lebens als Außenseiter und wurde von den Autoren der “Nouvelle Vague” als eine Art Adoptivvater angesehen, weil er als “auteur complet” alle Phasen der Filmherstellung überwachte. Seine am klassischen amerikanischen Erzählkino geschulten Filme, die als Literaturverfilmungen (Vercors, Cocteau) begannen, überwanden jedoch diese Vorbilder und erreichten in ihrer stilistischen Reinheit eine solch ästhetische Vollendung, daß einige, so “Le Samouraï”, “Der zweite Atem” (1966) oder “Vier im roten Kreis” (1970) bereits bei ihrem Erscheinen als Klassiker galten. Horst Schäfer 30 Tommy Tommy (Großbritannien 1974) Regie: Ken Russel. Buch: Ken Russel, nach der gleichnamigen Rock-Oper von Pete Townshend und “The Who”. Kamera: Dick Bush. Musik: Pete Townshend und “The Who”. Choreographie: Gillian Gregory. Darsteller: Oliver Reed, Ann-Margret, Roger Daltrey, Jack Nicholson. Länge: 111 Minuten. Vertrieb: EuroVideo. Als Pete Townshend und seine “The Who”-Band 1968 “Tommy” auf Schallplatte präsentierten, gaben sie der neuen Form ihrer Musik (durchgehende Handlung anstelle 95 http://www.mediaculture-online.de einzelner Songs, keine gesprochenen Texte) die Bezeichnung “Rock-Oper”. Das Stück wurde ein internationaler Hit und hielt Einzug in Opernhäuser, Konzertsäle, Music-Halls und Fußballstadien. “Tommy” ist die Geschichte eines Jungen, der als Kind mit ansehen mußte, wie sein Vater (ein Kriegsheimkehrer) vom Liebhaber der Mutter erschlagen wird. Der Schock raubt Tommy die Sinne: Fortan ist er blind, taub und stumm. Obskure Heilungsversuche (unter anderem wird Tommy der Behandlung von Fetischisten und Sadisten anvertraut), bringen nicht den gewünschten Erfolg, sondern entwickeln lediglich Tommys Talent am FlipperAutomat, wo er es zu ungeahnter Perfektion und Meisterschaft bringt. Flippern wird seine wahre Berufung, seine Bestimmung, und er steigt auf zum charismatischen Idol der Massen. Als seine Mutter ihn eines Tages in einen Spiegel stößt, ist er plötzlich geheilt, der Größte nun, ein selbsternannter Messias der HippieGeneration, dem seine Anhänger ergeben folgen. Die Kultfigur wird kommerzialisiert und vermarktet. Als eine aufgeputschte Menge ihre Erwartungen nicht erfüllt sieht, verwandelt sich die fanatische Vergötterung in blindwütigen Haß, der ihr Idol vernichtet. “Tommy” ist die brillante Selbstdarstellung der Pop-Generation; die traumatische Atmosphäre der Musikvorlage hat Regisseur Ken Russel in kongeniale, provozierende Bilder umgesetzt. Der Rhythmus der Songs überträgt sich auf den Film-Schnitt; es gibt verblüffende Übergänge und Auflösungen, ergreifende, aufwühlende und bewußt kitschige Szenen. Russel greift voll in die Klaviatur der Kino-Maschine; seine Spannbreite reicht von bombastischen Arrangements bis hin zu sensiblen Beobachtungen; seine Inszenierung ist schwelgerisch, sentimental, ironisch und schockierend zugleich. So produziert er absichtsvoll “schöne” Bilder, um sie gleich danach durch harte Schnitte und Kontraste zu zerstören. Wie kaum ein anderer Regisseur kann Russel mit Bildern und auch ausschließlich durch sie erzählen. Eine ganze Videoclip-Generation zehrt heute von seiner Kreativität und seinen Vorgaben, und sie wird Mühe haben, ihn zu übertreffen. 96 http://www.mediaculture-online.de Zu den Höhepunkten des Films zählt die Szene, in der sich Tommys Mutter – durch das Schicksal ihres Sohnes zu Wohlstand gelangt – in ihrem Zimmer (eine clean-sterile, weiße Wohnraumgestaltung) TV-Reklame ansieht. Eine unerträgliche Konsum- und Werbewelt wird bis zum “Erbrechen” vorgeführt: Das Gerät kotzt sich im wahrsten Sinne des Wortes aus; ganze Wellen von Bohnen, Champagner, Schokolade und Waschpulver ergießen sich in den Raum und vermatschen sich zu einem unästhetischen Brei. Ken Russel fand für seine Filmkonzeption die volle Zustimmung des “The Who”-Teams Pete Townshend, Roger Daltrey, John Entwistle und Keith Moon, die alle mitspielen, wobei sich Sänger Roger Daltrey in der Titelrolle als Idealbesetzung erweist. Als GastStars wirken außerdem Eric Clapton, Tina Turner und Elton John mit: Der hat als FlipperWeltmeister (der von Tommy besiegt wird) einen grandiosen Auftritt. Der bekannte englische Entertainer und Fußballmäzen wird durch geschickte KameraEinstellungen und optische Tricks in Überlebensgröße dargestellt und zum allesbeherrschenden Mittelpunkt der Rock-Szene: Kultfigur der Flipper-Generation und Ausdruck eines Lebensgefühls, das er wie kaum ein anderer seines Jahrgangs bis heute in Musik und Texten verkörpert. “Tommy” wurde – bei einem vergleichsweise geringen Produktionsetat von 3,4 Millionen Mark – zu einem Millionenerfolg und Publikumshit. Wie bei anderen Ken Russel-Filmen auch (“Die Teufel”, “Mahler”, “Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn”), teilte sich die Filmkritik in zwei Lager. “Tommy” erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, unter anderem auch das Prädikat “Besonders wertvoll”: Die ironische Skepsis, die die Subkultur des Rock gegenüber allen traditionellen Mythen, Symbolen und Werten einnimmt (die sie dann aber doch in ihre dialektisch darauf bezogene Realisation integriert), der umfassende Beziehungsreichtum und die überspitzte Deutungssucht, die wütende HaßLiebe und bitterböse Aggressivität des Rock seien in diesem Film in überragendem Maße vergegenwärtigt. Heinz Kersten 97 http://www.mediaculture-online.de 31 Ich war 19 (DDR 1968) Regie: Konrad Wolf. Buch: Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf. Kamera: Werner Bergmann. Bauten: Alfred Hirschmeier. Darsteller: Jaecki Schwarz, Alexej Ejboschenko, Kalmursa Rachmanow, Jenny Gröllmann. Länge: 119 Minuten. Vertrieb: Verlag Das Freie Buch. Ein nebelverhangener Fluß: die Oder. Auf einem Koffergrammophon dreht sich eine Schlagerplatte. Nach der Musik spricht eine Stimme über das Wasser: “Der Krieg ist endgültig verloren. Eure Lage ist hoffnungslos.” Ein Floß treibt vorüber mit einem Galgen, an dem ein Mann in deutscher Uniform aufgeknüpft ist, über der Brust ein Schild “Deserteur – Ich bin ein Russenknecht”. Und wieder die Stimme über den Lautsprecher auf einem sowjetischen LKW: “Hört mich an, habt Vertrauen, ich bin Deutscher.” Ein Titel über dem Bild zeigt das Datum: 16.April 1945. Damals begann die sowjetische Offensive auf Berlin. Zwei Tage später bricht das Tagebuch des 19jährigen Leutnants der Roten Armee Konrad Wolf ab. Die letzten Eintragungen dienen mehr als zwei Jahrzehnte danach, 1968, dem 42jährigen Regisseur der DEFA Konrad Wolf als Grundlage eines Films über seine Erlebnisse in jenen Tagen: “Ich war 19.” Das Drehbuch schreibt er mit Wolfang Kohlhaase, einem der besten Babelsberger Szenaristen, später Autor von drei weiteren Konrad-Wolf-Filmen (“Mama, ich lebe”, “Der nackte Mann auf dem Sportplatz”, “Solo Sunny”). Die Kamera führt, wie schon bei acht vorangegangenen Konrad-Wolf-Filmen, Werner Bergmann. Er hatte, als der Kriegsfreiwillige Konrad Wolf 1943 im Kaukasus seine ExilHeimat zu verteidigen begann, noch als Bildberichter auf Seiten der Invasoren gestanden. Jaecki Schwarz, der in der Rolle des Gregor Hecker bei der DEFA debütierte, war noch gar nicht geboren, als der von ihm verkörperte autobiographische Filmheld seine Heimat wiedersah, die er als achtjähriger Junge verlassen mußte. 1933 war die Familie des jüdischen Arztes Friedrich Wolf, der als kommunistischer Dramatiker in den zwanziger Jahren bekannt wurde, aus Nazi-Deutschland emigriert. 98 http://www.mediaculture-online.de Konrad Wolf wuchs in Moskau auf. Mit einem Frontlautsprecherwagen kehrte er als Agitator 1945 in ein Land zurück, das ihm fremd geworden war und das er als Feindesland erlebte. Der Film reflektiert seine damalige Suche nach der eigenen Identität. In vielen Begegnungen macht Gregor Hecker, Wolfs alter ego im Film, erste Erfahrungen mit seinen ehemaligen Landsleuten, die inzwischen von zwölf Jahren Nazismus geprägt sind. Aus mehreren Episoden, die jeweils mit der Einblendung des Tagesdatums beginnen und durch Erläuterungen der Situation mit Gregors Kommentarstimme verbunden sind, ersteht ein wahrhaftiges Bild jener letzten Kriegsphase. Der Film brach dabei mit einer propagandistischen Betrachtungsweise, die bis dahin Darstellungen des Kriegsendes in DDR-Medien beherrscht und so einer gewissen Legendenbildung Vorschub geleistet hatte. Er machte zwar deutlich, daß die deutsche Niederlage Befreiung vom Faschismus bedeutete, aber er ließ auch keinen Zweifel, daß wohl nur wenige Deutsche jene Tage mit diesem Gefühl, befreit worden zu sein, erlebten. Der Einmarsch der Roten Armee wurde nicht mehr als Triumphzug vorgeführt. Im märkischen Städtchen Bernau wird Gregor – wie damals Konrad Wolf – für einen Tag als Ortskommandant eingesetzt und kommt dort in ein Haus, wo eine alte Frau gerade Selbstmord begangen hat. Nur ein junges Flüchtlingsmädchen ist noch zurückgeblieben, verängstigt und ohne Hoffnung. Später bittet es, in der als Kommandantur beschlagnahmten Wohnung übernachten zu dürfen, und kommentiert diesen Wunsch mit den bezeichnenden Worten: “Lieber mit einem als mit jedem!” In manchen Episoden mischt sich Tragisches mit Komischem, stehen auch Kontraste nebeneinander. Ein deutscher Major, auf seiner Dienststelle von den Russen überrascht, meldet sich bei seinen Vorgesetzten telefonisch ab in Gefangenschaft. In die fröhliche Siegesfeier der Rotarmisten am 1. Mai in Sanssouci kommen aus dem Zuchthaus befreite deutsche Antifaschisten, noch gezeichnet von dem eben überstandenen Grauen. In einem Dokumentarfilmausschnitt erläutert der Henker des KZ Sachsenhausen ungerührt und sachlich den Todesmechanismus der Gaskammer; kontrapunktisch trifft Gregor in unmittelbarer Nachbarschaft des Lagers auf einen Landschaftsgestalter, der inmitten von 99 http://www.mediaculture-online.de Klassiker-Bänden in die innere Emigration gegangen war und jetzt über die Unveränderbarkeit des Menschen philosophiert. “Ich war 19” wirkt durch seine Authentizität, zu der auch der Verzicht auf Farbe und ein Bildstil beitragen, der bewußt jede Kunstfertigkeit vermeidet und durch eine frei gehandhabte Kamera der Arbeit eines Kriegsberichterstatters unter Frontbedingungen gleicht. Unter den vielen Filmen über den Zweiten Weltkrieg wird Konrad Wolfs “Ich war 19” Bestand haben als das sehr persönliche Zeugnis eines Regisseurs, dessen viel zu früher Tod im März 1982 nicht nur für die Filmkunst der DDR einen unersetzlichen Verlust bedeutete. Walter Schobert 32 Tote schlafen fest The Big Sleep (USA 1946) Regie: Howard Hawks. Buch: William Faulkner, Leigh Brackett, Jules Furthman, nach dem Roman von Raymond Chandler. Kamera: Sid Hickox. Musik: Max Steiner. Darsteller: Humphrey Bogart, Laureen Bacall, John Ridgely, Louis Jean Heydt, Martha Vickers, Dorothy Malone. Originallänge: 114 Minuten. Vertrieb: Warner Horne Video. Der Regisseur, gefragt, worauf sich der Titel beziehe, antwortet dem Interviewer Peter Bogdanovich: “Ich weiß es nicht, wahrscheinlich auf den Tod. Es klingt einfach gut. Die Story habe ich nie verstanden. Ich habe sie gelesen und war davon entzückt. Wir haben lediglich versucht, jede Szene so unterhaltsam wie möglich zu machen. Von der Geschichte verstanden wir nichts. Ich wurde gefragt, wer hat den und den getötet – ich wußte es nicht. Man schickte dem Autor ein Telegramm ... ” Der gesteht, noch Jahre später: “Verdammtnochmal, ich wußte's selber nicht ... ” Ungewöhnlich? Nicht für den, dem schon beim Lesen der illustren Namen im Vorspann das Wasser im Munde zusammenläuft. Chandler, dem ist es nie um einen “Krimi” zu tun 100 http://www.mediaculture-online.de gewesen, bei dem die Suche nach dem Täter die Geschichte am Laufen hält; am “whodunit” war er nie interessiert, genausowenig wie Hawks. Der holte sich für das Drehbuchschreiben einen weiteren prominenten Autor – und seine langjährige Mitarbeiterin Leigh Brackett, und machte mit ihnen einen Film, in dem der Plot fast schon nebensächlich ist. Dafür ist jede einzelne Szene eine aufregende Geschichte für sich. Hawks, auch einer von denen, die hierzulande spät erst und gleichsam aus zweiter Hand entdeckt wurden, auch er von den Kritikern und nachmaligen Regisseuren der Neuen Welle – Hawks hat Chandlers Roman bis zur Unkenntlichkeit verändert, weit mehr, als daß der Film nur eine weitere Bestätigung der Binsenweisheit von der Unvereinbarkeit der beiden Medien Literatur und Kino wäre. Ein Vergleich zwischen beiden führt in diesem Fall zu der beglückenden Erkenntnis, daß uns ein wunderbares Buch und ein fantastischer Film geschenkt wurden. Man sollte sich das Vergnügen gönnen, beides zu tun: zu lesen und zu sehen. Und weil es sich um einen “Krimi” handelt und wegen der schon demonstrativen Gleichgültigkeit Chandlers und Hawks' gegenüber der Story, darf, muß auf das obligate Inhaltsreferat verzichtet werden. Nur soviel: Private Eye Philip Marlowe wird von einem alten General gebeten, eine Erpressung aufzuklären, in die eine seiner Töchter verwickelt ist. Schon die limitierte Filmlänge zwang Hawks zu Kürzungen, Verdichtungen. Sicher hat er auch die Zensur einkalkuliert; er verzichtet auf die Motive Homosexualität und Pornographie als kriminellen Nährboden. Am Ende wird der Gangster Eddie Mars als Schuldiger entlarvt (und muß sterben) und eben nicht die kranke, triebhaft-laszive Generalstochter; auch das dürfte dem “production code” zuzuschreiben sein. Es fehlt bei Hawks auch jeder Hinweis auf die abgrundtiefe Skepsis Chandlers, dessen Marlowe von einer total verdorbenen und perversen Gesellschaft umgeben ist, die ihre Geschäfte indes nur so ruhig abwickeln kann, weil sie von einer korrupten Polizei und Justiz gedeckt und protegiert wird. Im “Langen Abschied” steht der bestürzende Satz: “Es gibt Orte, wo Polizisten nicht verhaßt sind, Herr Hauptkommissar. Aber da wären Sie auch kein Hauptkommissar.” 101 http://www.mediaculture-online.de Das Fehlen dieser Dimension im Film mag man bedauern. Wichtiger aber ist, daß Hawks an der Figur des “Schnüfflers” kein Jota geändert hat: ein Mann Ende Dreißig, gebildet, aus dem Justizdienst ausgeschieden, illusionslos, integer, loyal gegenüber den Klienten, geprägt von dem “Bewußtsein von der Kaputtheit der Welt“, der “der allgegenwärtigen Korruptheit die eigene Unbestechlichkeit, Würde, Ehrlichkeit und Mut zur Kritik” entgegensetzt (Bettina Thienhaus). Einer, der öfter Prügel bezieht als austeilt. Bogart ist die Idealbesetzung für diesen Marlowe. “Big Sleep” ist sein Film, er beherrscht ihn – fast. Denn eine kann mithalten: Laureen Bacall. Sie waren ein Traumpaar, im Film und im Leben. Hawks hatte sie entdeckt und sie für die Hemingway-Verfilmung “To Have and Have Not” vor die Kamera geholt – neben Bogart. Wie es zwischen beiden funkt, das raubt einem heute noch den Atem. Nach “Big Sleep” heirateten sie. Es war eine der glücklichsten Ehen Hollywoods, und Hawks machte die erotische Spannung zwischen beiden ungeheuer produktiv. Von ihrer ersten Begegnung über die herrliche Telefonsequenz bis zum Schlußdialog: eine Szene schöner als die andere, traumhaftes Kino. Die Bacall verkörpert, mit ihrer Ausstrahlung, ihren langsamen, fast schon trägen Bewegungen, nicht nur das typische “good bad girl”, sondern ist eine “hawksian woman”, eine jener starken, selbstbewußten, den Männern ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Frauen, die bei Hawks so oft zu finden sind und denen seine Filme einen Großteil ihrer faszinierenden Modernität verdanken. Neben dieser Frau hat es selbst ein Bogart nicht leicht, so sehr seine Präsenz den Film dominiert und Hawks auf ihn hininszeniert. “Big Sleep” war der Film, der nach Hammett/ Houstons “Malteser Falken” und nach “Casablanca” seinen Mythos am nachhaltigsten begründete. Wer ihn gesehen hat, wird nicht vergessen, wie er das Ohrläppchen reibt, die Daumen in den Gürtel bohrt, die Oberlippe zurückzieht, hinterlistig die Zähne bleckt: “Bogie in excellsis”, jubelte Bogdanovich. Der Film spielt übrigens in L. A. Aber in dieser Stadt gibt es keine Sonne. Es regnet (der Trench darf ja nicht fehlen), es ist Nacht, Nebel wabert. Neben dem forcierten Erzähltempo Hawks' ist es vor allem die dichte Inszenierung der Atmosphäre, die fesselt. 102 http://www.mediaculture-online.de Schon in der Treibhausszene am Anfang überträgt sich die Hitze nicht nur auf Bogart, sondern auch auf den Zuschauer. Meisterhaft der Umgang mit dem Licht (und dem Schatten), den Räumen. Hawks wollte immer nur ein einfacher “storyteller” sein und ist darüber zu einem der größten, wenn nicht zum größten Regisseur des amerikanischen Erzählkinos geworden – ein Profi, der ihn in seinen Filmen immer wieder feierte, den Profi, ob er Flieger, Sheriff oder Detektiv war. Hawks war in vielen Genres zu Hause und hat Kriegsfilme und Western ebenso gemacht wie Melodramen und Komödien. Für seinen Biographen Robin Wood war “Big Sleep”, das Meisterwerk, nur ein “failure”. Daran kann man sehen, wie überragend erst seine anderen Filme sein müssen. Meinolf Zurhorst 33 Die Faust im Nacken On the Waterfront (USA 1954) Regie: Ella Kazan. Buch: Budd Schulberg. Kamera: Boris Kaufmann. Musik: Leonard Bernstein. Darsteller: Marlon Brando, Karl Malden, Lee J. Cobb, Eve Marie Saint, Rod Steiger. Länge: 107 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Die klare Schwarz-Weiß-Fotografie, die realen Schauplätze im Hafen, an denen man sogar den Atem der Schauspieler sehen kann, nächtliche Straßen mit richtigem Kopfsteinpflaster, verqualmte Kneipen mit echten Typen – Hollywood hatte die Wirklichkeit entdeckt. Gewerkschaft, Arbeiter, das war in dem Studiosystem der Traumfabrik ein unbequemes Sujet. Nicht zuletzt beeinflußt durch die Wochenschaureihe “March of Time” hatte sich in den späten vierziger Jahren das Genre des semidokumentarisehen Thrillers entwickelt. Der Regisseur Elia Kazan galt nach seinen Filmen “Boomerang” (1947) und “Partie in the Streets” (1950) als einer der bedeutendsten realistischen Filmemacher. 103 http://www.mediaculture-online.de Basierend auf Pulitzer-preisgekrönten Artikeln von Malcolm Johnson über die Korruption an den New Yorker Docks, schrieb Budd Schulberg das Drehbuch. Kazan und Schulberg suchten nach authentischen Schauplätzen in den Docks von New York und New Jersey, fragten Gewerkschaftler und Arbeiter und entschlossen sich, den Film vor Ort, “on location” zu drehen. In einem Interview gab Kazan später zu, von den Arbeiterorganisationen während der Dreharbeiten peinlich genau beobachtet worden zu sein und, um Störungen zu vermeiden, auch Schmiergelder gezahlt zu haben. Die Geschichte amerikanischer Gewerkschaften, besonders die der Hafen- und Transportarbeiter, war immer auch eine des organisierten Verbrechens. “Die Faust im Nacken” beschreibt das Funktionieren von dessen Strukturen im kleinen. Terry Malloy (MarIon Brando), ein ehemaliger Boxer, der nun am Hafen herumlungert und von Gelegenheitsjobs lebt, wird zum Handlanger der lokalen Gewerkschaftsorganisation, die von dem brutalen Johnny Friendly (Lee J. Cobb) geführt wird. Terrys Bruder Charlie (Rod Steiger) hat sich als korrupter Rechtsanwalt in den Dienst der Gewerkschaft gestellt. Eines Abends lockt Terry ahnungslos einen aufsässigen Hafenarbeiter in eine Falle. Durch den Tod des Mannes lernt er dessen Schwester Edie (Eve Marie Saint) kennen. Edie und der kampfbereite Priester Vater Barry (Karl Malden) drängen Terry dazu, mit Friendly und dessen Handlangern zu brechen. Doch erst nach dem Tod eines weiteren Hafenarbeiters, der gewagt hatte, bei der Polizei über die Machenschaften der Gewerkschaft auszusagen, beginnt sich Terry zu verändern. Sein Bruder Charlie bekommt derweil den Auftrag, ihn zum Schweigen zu bringen, bevor er dem Drängen des Priesters nachgeben könnte. Doch Charlie kann seinen Bruder nicht umbringen und endet deshalb selbst an einem Fleischerhaken. Terry aber entscheidet sich, vor einer Kommission gegen Friendly auszusagen. Damit hat er sich das gesamte Dock zum Feind gemacht. Jeder meidet ihn als Verräter. Terry geht daraufhin geradewegs in die Höhle des Löwen und fordert Friendly zum Kampf heraus. Die Schlägerei sichert ihm den Respekt der Docker und alle folgen ihm zur Arbeit. Die Macht der korrupten Gewerkschaft scheint gebrochen. Man hat dem Film, zu Unrecht, vorgeworfen, antigewerkschaftlich zu sein. “Die Faust im Nacken” prangert nur eine bestimmte, entartete Form gewerkschaftlicher Aktivitäten an, wie sie nur in den USA existiert: Meist vorgeblich ethnisch orientierte Organisationen 104 http://www.mediaculture-online.de verübten unter dem Vorwand, die Rechte zu wahren, nichts anderes als Erpressung und “Rakketeering”. Eigentlicher Höhepunkt des Films aber sind die darstellerischen Leistungen. Allen voran Marlon Brando, der für seine Rolle seinen ersten Oscar erhielt (und auch annahm). Er war, trotz James Dean oder Montgomery Clift, der Rebell Hollywoods. Mit “Die Faust im Nacken” versuchte Brando erfolgreich, diesem Image zu entkommen. Er zeichnete den Terry Malloy fern jeglichen romantischen Rebellentums als eine beschränkte, fast tragische Figur, die mit dem allmählich zunehmenden Bewußtsein über die eigene Schuld unversehens Größe gewinnt. “Marlons darstellerische Kunst in diesem Film ist das Größte, was je ein amerikanischer Filmschauspieler geleistet hat”, äußerte sich Elia Kazan über seinen Star. Elia Kazan war 1947 neben Robert Lewis und Cheryl Crawford eines der Gründungsmitglieder des berühmten “Actors Studio” – einer schauspielerischen Ausbildungsstätte, die den Theorien Stanislawskis folgte. Marlon Brando war schließlich der erste aus dem Actors Studio, dem es gelang, komplizierte psychische Vorgänge realistisch auf die Leinwand zu bringen, in einer Weise zudem, bei der sich kaum mehr unterscheiden ließ zwischen Rollen- und persönlichen Elementen. Nahezu revolutionär wirkte sein ungeschliffener, nuschelnder, kaum verständlicher Sprachstil (von dem in der deutschen Version allerdings nichts mehr übrigblieb), der der eher deklamatorischen Sprechweise beispielsweise britischer Darsteller diametral entgegenstand. Der unter dem Namen “Method Acting” bekannt gewordene Schauspielstil, die Verbindung von Psychologie und Realismus, prägt bis heute ganze Darstellergenerationen. In “Die Faust im Nacken”, stammten nahezu alle Mitwirkenden aus dem Actors Studio – der Film ist daher das beste Beispiel, die verschiedenen Ausprägungen und persönlichen Variationen des “Method Acting” auf der Leinwand zu beobachten. Leo Schönecker 105 http://www.mediaculture-online.de 34 Das 1. Evangelium Matthäus Il vangelo secondo Matteo (Italien 1964) Regie: Pier Paolo Pasolini. Buch: Pier Paolo Pasolini, nach dem Matthäus-Evangelium. Kamera: Tonino Delli Colli. Darsteller: Enrique Irazoqui, Margherita Caruso, Susanna Pasolini. Länge: 136 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Der Film über das Leben Jesu. Christi von der Geburt bis zur Auferstehung paßt – nach 23 Jahren – auch in die Situation unserer Tage, ebenso wie Pasolinis Einschätzung der Vorlage: “Ohne moralisierendes Bemühen ist das Matthäus-Evangelium ein Beispiel großer Strenge und absoluter Kompromißlosigkeit – das ist sein besonderer Wert für unsere Zeit.” Den historischen Bericht des Evangelisten setzte er wortgetreu gerafft in konkrete, psychisch bewegende Bildwirksamkeit um, indem er weniger das statuarische Erscheinungsbild als das entschiedene Eingreifen Christi nach Maßgabe der Worte akzentuierte. Dabei verzichtete er auf bei Historienfilmen übliche Schaubilder und spektakuläre Schauspieler, mied jeden gefühlerregenden Aufwand und künstliche Kulissen. Schlichte Volksmusik aus verschiedenen Erdteilen, zentral ein Negro-Spiritual bei der Taufe, dominieren neben Bach, Webern, Prokofjew. Einfache Menschen, umhüllt mit Decke und Kopftuch, natürliche, ungeschönte, unvergängliche Gesichter wie aus dem Mittelalter, führen uns, als seien sie tatsächlich die ersten Zeugen christlicher Begegnung, gottmenschliche Wirkkraft über alle Zeiten vor, ziehen uns in die Handlung wie kein anderer Christusfilm seit neun Jahrzehnten. Wunder zeigen sich wie ganz natürliche, logische Vorgänge. Aber es geht nicht um einzelne, erstaunliche Geschichten, sondern um eine einzige unerbittliche, stürmische Folge bedingungsloser Auseinandersetzung. Verfolgung und Leiden nehmen insgesamt den längeren Raum der Ausschnitte ein, doch das wichtigste Ereignis hebt sich (künstlerisch fragil) heraus: die Auferstehung. Sie wird, vom Anfang des Films her betrachtet, in eine zurückhaltende Entsprechung gebracht zu den Momenten der Geburt: der stillen, noch ängstlichen Sorge des Nichtverstehens der Verheißung 106 http://www.mediaculture-online.de entspricht eingangs die stumme Szene vor Bewußtwerden der im Grunde unvorstellbaren Wirklichkeit, der sieghaften Freude der Erfüllung; dazwischen die stufenweise sich vollziehende Entwicklung des zum Höchstmaß gesteigerten Schmerzes am Beispiel der trauernden Gottesmutter, die Pasolinis 65jährige Mutter so nachempfindbar verkörpert, daß auch der ungläubige Betrachter das Geschehen spüren kann, als habe er es damals ganz miterlebt. In seinen vorausgegangenen sozialkritischen Filmen “Accatone” (1961) und “Mamma Roma” (1962), wiederholen sich Hinweise auf das Matthäus-Evangelium mit leidenschaftlichem Engagement für die Armen und Unterdrückten. Pasolinis gültiger Entwurf aktueller Heilsgeschichte trifft persönlich herausfordernd. Seine “subjektive” Betonung wird dem existentiellen Anspruch Christi gerecht: Das Gebot der Nächstenliebe kommt als entscheidendes Wort auch ins Bild und kontrastiert mit den “reaktionären” Gegenbildern der hochmütigen Reichen, der skrupellosen Händler und unbedachten Konsumenten, deren Verhalten schon so stumpf und hoffnungslos, so einseitig blind ist, daß sie eine religiös formende, Hilfe formierende Menschlichkeit nicht mehr wahrnehmen können, geschweige denn gegenseitig annehmen wollen. Wie Pasolini Jesu Worte zu Bildern und die rasante Folge der Bilder zu vorbehaltlosen Ant-Worten werden läßt, überträgt sich auch sein Gesamtbild der notwendigen Befreiung von weltlicher und institutioneller Macht, von der Macht schlechthin; es ist der ausdrückliche – im religiösen, politischen und künstlerischen Sinne: “klassische” – Auftrag zur seit Christus “ewigen” Opposition seiner Anhänger gegen den Kaiser (“Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist”), weil man es ihm nicht ebenso recht machen kann wie Gott, so daß eine absolute (ideelle und praktische) Gleichschaltung zwischen weltlicher Herrschaft und religiösem Anspruch nicht möglich – das heißt hier: nicht erlaubt sein kann. Pasolinis Interpretation akzentuiert mit dem kommunikativen und “missionarischen” Auftrag die Tatsache, daß Christus (im Gegensatz zu zyklisch angesehenen Göttern früherer Religionen) von einem Ende der Welt – nicht von ihrer ewigen Wiederkehr – gesprochen hat und sich hierin die größte Hoffnung ausdrückt, immer in der Nachfolge 107 http://www.mediaculture-online.de des dreieinigen Gottes und niemals allein, ohne ihn zu sein (“... und lehret sie halten alles, was ich Euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende. ”) Auffallend ist, daß Pasolinis neu betonte Heilsgeschichte nicht in einer “modernen”, industrialisierten, fortschrittlich entwickelten Welt abläuft, auch nicht nur in bäuerlicher Umgebung, sondern in einer unterentwickelten Landschaft seines Vaterlandes (Sizilien und Kalabrien), die, vergleichbar mit der Wort-Bild-Deutung der Geschichte, zugleich erschreckend und schön erscheint, weil ihre sinnliche Anschaulichkeit und historische Rückschaubarkeit nicht nur ästhetisch vielfältige Gegensätze, Reize und Widersprüche offenlegen: ihre soziale Rückständigkeit einerseits, die bestehende Unverfälschtheit und Unverdorbenheit andererseits entsprechen Pasolinis antithetischer Begriffsbildung aus historisch-idealistischer Welt-Anschauung. Sein realistischer Avantgardismus, der eine (in Italien vorgeübte) vorstellbare Verbindung eines auf Christus und Marx basierenden, unschematischen, aber gerechten Sozialsystems mit Wort und Bild, in Literatur und Film, gegen Konsumismus, Unfreiheit, bürgerlichen Plunder und Heuchelei zur Diskussion stellt, fordert angesichts einer “vergessenen” Landschaft, die Volkskultur zu erneuern, die übergangene Entwicklung menschenwürdiger Gemeinschaft aufzuspüren und gutzumachen sowie Ansätze für neue Gesellschaftsformen zu finden. So hat Pasolini diesen Film als Kernstück seines unausweichlichen Auftrags gesehen. Sein warnender Zorn erfüllt noch sein letztes Gedicht: “Laßt uns umkehren, mit geballter Faust, und von vorn anfangen. Kein Kompromiß. Es lebe die Armut, der Kampf für die lebensnotwendigen Dinge ... ” Der Schriftsteller und Filmregisseur Pasolini (5.3.22 Bologna – 1.11.75 Rom) hat für die Erkenntnis und Sinngebung des Lebens viel in Bewegung gebracht. Die Erschütterung über den Mord an ihm beweist, daß sein Tod als Verlust eines in vielfacher Hinsicht aufrührenden Gewissens empfunden worden ist. Hans Gerhold 108 http://www.mediaculture-online.de 35 The Purple Rose of Cairo The Purple Rose of Cairo (USA 1985) Regie: Woody Allen. Buch: Woody Allen. Kamera: Gordon Willis. Musik: Dick Hyman. Darsteller: Mia Farrow, Jeff Daniels, Danny Aiello, Dianne Wiest. Länge: 79 Minuten. Vertrieb: VCL/Virgin. Mehrfach bereits hatte sich Woody Allen in seinem Werk mit Reflexionen über das Kino, Film im Film, Realität und Fiktion, (Augen-)Schein und Sein, Illusion und Wahrheit beschäftigt. In “Mach's noch einmal, Sam” (1971) sprach er als linkischer Filmkritiker mit seinem Idol Humphrey Bogart, in “Stardust Memories” (1981) sinnt er über sein Metier nach und beklagt die Anforderungen durch die Fans, in “Zelig” (1983) schließlich schrieb er sich mit seiner Realitäts-Konstruktion in die leibhaftige Geschichte ein, so daß seine imaginären Bilder und Töne durchaus als “Allensche Wahrscheinlichkeits-Relation” (Wolfram Schütte) verstanden werden konnte. In “The Purple Rose of Cairo” ist ihm das Kunststück geglückt, eine hochintelligente Reflexion über das Kino und seine Stars, über den Ort legitimer Sehnsüchte und Träume mit einer elegant-geistvollen Komödie über das Kino als Lebenshilfe zu verbinden. Dabei beginnt es so trostlos wie in einem Dickens-Roman: Im New Jersey der Depressionszeit flüchtet sich die kleine Serviererin Cecilia (Mia Farrow) von ihrer eintönigen Arbeit in die heiligen Hallen des Jewel, des Kinos, in dem die Filme laufen, in denen man aus der Tristesse des Alltags in die Pharaonengräber Ägyptens auf der Suche nach der Purpurrose von Kairo flüchten kann, mindestens aber in die Nachtclubs und Hotelsuiten der Reichen. Einer dieser unverhohlen eskapistischen Filme ist “The Purple Rose of Cairo”, den Woody Allen als Mischung aus spätem Ernst Lubitsch und frühem George Cukor anlegt, nicht zu reden von jenen unzähligen Gesellschaftskomödien, deren Vergnügen für den Zuschauer nicht zuletzt aus einer Fülle von witzigen Nebendarstellern resultiert wie etwa Edward Everett Horton, dem hier stellvertretend für die anderen eine Reverenz erwiesen wird. 109 http://www.mediaculture-online.de Cecilia verliebt sich auf der Stelle, kinomanisch wie sie ist, in Tom Baxter, “Abenteurer, Forscher, aus der Familie der Baxter aus Chicago”, und muß erleben, daß sich der Filmheld plötzlich an sie wendet, von der Leinwand mit ihr spricht, herabsteigt und mit ihr ins wirkliche Leben aus- beziehungsweise einsteigt: Cecilia scheint ihren Anteil an der Wunderlampe des Films zu bekommen. Doch die Realität erweist sich für Tom Baxter – mit seinem Spielgeld, seinen Vorstellungen vom Abblenden beim Kuß und seinen Einschätzungen der Drehbuchautoren als Göttern schwieriger als erwartet. Zumal hinter den beiden das Chaos ausbricht, da nun die Suche nach der Filmfigur einsetzt, begleitet vom Stöhnen der Produzenten, Manager, Kinobesitzer und des Darstellers der Rolle, Gil Shepherd. Ihm wird vorgeworfen, er habe seine Figur zu wirklichkeitsnah angelegt, die Kontrolle über sie verloren. Woody Allen ist damit auf eine Situation verfallen, die in der Filmgeschichte zwar nicht ganz neu ist (die Exposition ähnelt einem verschollenen russischen Film von 1918, “Vom Film gefesselt”, Regie: N. Türkin), die aber in ihrer Neuformulierung auch ästhetisches Neuland betritt: Hier verwandelt sich nicht ein Autor in seine Fantasiefigur, sondern eine doppelt fiktive Filmfigur (Tom) wird in die Realität einer anderen fiktiven Filmfigur (Cecilia) geschickt. Somit wird ein kreativer Schöpfungsakt gleichzeitig verdoppelt und rückgängig gemacht – ein erzählerisches Paradoxon, aus dem sich für den Film fünf Erzählebenen ergeben, die sich gegenseitig bedingen, verstärken und kommentieren: a) der Film, den wir als Zuschauer sehen, b) der Film, der in a) gezeigt wird, c) der Film, der sich ergibt, wenn Personen aus b) (Tom) sich in a) wiederfinden, d) die rein verbalen Interaktionen zwischen den fiktiven Personen aus a) und b) und e) der Film, der entsteht, wenn Personen aus a) (Cecilia) sich in b) wiederfinden (komplementär zu c“. Was sich hier als kompliziertes theoretisches Gebäude formuliert, wird glücklicherweise von Woody Allen so souverän in eine übermütige Komödie gerettet, daß der jeweilige Übergang von einer Ebene in die andere wie von selbst abläuft, wie in einer der Endlosschleifen der RaumZeit-Relationen von Hofstaedter. Man kann es auch, in jenem unnachahmlichen Verquicken von Ernst und Albernheit, Witz und Nachdenken ausdrücken, wie es nur Woody Allen eigen ist und von Cecilia so gedeutet wird: “Ich habe einen wundervollen 110 http://www.mediaculture-online.de Mann kennengelernt, er ist nur Fiktion, aber man kann nicht alles haben.” Mit Sicherheit einer der Sätze, die jeder Cineast auswendig zitieren kann. Verschiedene Szenen lassen erkennen, wie lustvoll Allen mit seinen Personen jongliert: die Sequenz, in der Cecilia mit in den Film genommen wird und einer, der Nachtclubkellner – mitgerissen von der Freiheit, die sich da zeigt – in einen Steptanz ausbricht; die Reaktion der Gräfin im Film, die eine Zuschauerin angiftet; die Damen des Bordells, die wegen Toms Idealismus in Tränen ausbrechen; sein Verweis auf die FattyArbuckle-Affäre (1921); eine Bemerkung Toms über die Popcornesser, oder ... Oder über Cecilia, die sich schließlich doch nicht für Tom, sondern für Gil entscheidet, der sie dann aber verraten wird, damit Tom in den Film zurückkehrt; jene Cecilia, die dennoch nicht unglücklich wird, weil sie zum Schluß wieder vor der Leinwand des Jewel sitzt und bereits einen neuen Helden anhimmelt, Fred Astaire (in einer Szene aus Mark Sandrichs “Top Hat”, 1935), der unwiderstehlich “Cheek to cheek” singt und vom Himmel aller Verliebten, ob im Kino oder im Leben. Thomas Brandlmeier 36 Karl Valentin I und II Kurzfilme von und mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt. Programmlänge: jeweils 120 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien. Die zwei Programme mit Kurzfilmen aus der Zeit von 1932-1941 basieren mit Ausnahme des Films “Beim Nervenarzt” auf Originalsketchen von Karl Valentin und stammen großenteils aus den 20er Jahren. Liesl Karlstadt ist in allen Sketchen seine Partnerin, außer in dem Solo “Der Zithervirtuose”. Sie ist Partnerin durchaus auch im kreativen Sinn, alles andere als eine bloße Stichwortgeberin: “Sie will mir vielmehr vorkommen wie ein unabtrennbarer, sogar unlösbarer Teil von ihrem Valentin ... Diese beiden gehören 111 http://www.mediaculture-online.de zusammen, stellen eine Einheit dar – vielleicht wäre er, ohne sie, gar nicht das, was er ist” (H. H. Kirst). Soweit die Regisseure der einzelnen Kurzfilme überhaupt bekannt sind, waren sie verbürgtermaßen stark von Valentins Vorstellungen und Wünschen abhängig. Valentin war vom Umgang mit den medialen Möglichkeiten fasziniert, ein regelrechter Medienhandwerker. Er experimentierte mit Fotografie, Tonaufzeichnung, Film, Film auf der Bühne, baute Maschinenfetische und ein Orchestrion, betrieb ein multimediales Panoptikum. “Es war – makaber wäre untertrieben – es war konsequent. Bilder haben den Unglücklichen zeitlebens verfolgt. Optische, akustische, situative Bilder ...” So der Zeitgenosse Oliver Hassencamp. Diese Kurzfilme sind alles andere als bloße Dokumente eines genialen Autor-Komikers, sie sind auch filmisches Handwerk ersten Ranges. Der scharfe Blick für die medialen Möglichkeiten ist besonders deutlich in “Der Antennendraht” und im “Photoatelier” sichtbar. Im “Antennendraht” gerät Valentin als vermeintlicher Tonimitator in ein Rundfunkatelier, wo er das gesamte Repertoire abgenutzter Tonklischees zur Torpedierung eines pathetischen Vortrags der Schillerschen Glocke einsetzt. Im “Photoatelier” spielen die Fotolehrlinge Valentin und Karlstadt alle Varianten von ideellem Bild und materiellem Abbild durch. Immer wieder überschneiden sich Kammerperspektive und Fotoaufnahme. Zu große Personen erscheinen ohne Kopf, die Gesetze der Optik liefern Anlässe zur Akrobatik, und manche Leute kennt Valentin so gut, daß ihre körperliche Anwesenheit nicht nötig ist: “Den fotografiere ich auswendig.” 112 http://www.mediaculture-online.de Lustvoll zerstörerisch sind die Filme gegen Kulturschrott gerichtet. “Im Schallplattenladen” verlangt Valentin nach “billigem Schall”, und als man ihm das Lied vom “Sanitäterlos” (“Seemannslos”) endlich bringt, will er es nicht kaufen, sondern ausrotten. In “So ein Theater” singt ein Sänger das Lied vom “Verlorenen Glück”. Die Bühne ist defekt, die Sängerin singt falsch, die Musiker spielen falsch und als Höhepunkt der angehäuften Falschheiten spießt Valentin mit dem Geigenbogen den falschen Zopf der Sängerin auf. Das verlogene Lied vom “Verlorenen Glück” wird schließlich durch den herunterfallenden Vorhang beendet. Die Demontage des Bühnenraumes wendet sich dabei auch aggressiv gegen das Publikum, das solche Unkultur konsumiert. In “So ein Theater” und “Der verhexte Scheinwerfer” wird das Publikum durch die Ankunft von Handwerkern bedroht. In “Der verhexte Scheinwerfer” steigt Valentin als Elektriker über die Tische der Gäste, verliert eine Schraube im Ausschnitt einer Dame und beschwert sich später, als die Schraube aus ihrem Kleid fällt: “Die ist ja noch ganz warm.” Natürlich reparieren solche Handwerker nichts, sind aber in der Interpretation ihres fachmännischen Zerstörungswerkes von bemerkenswerter Talmudistik: “Den haben wir repariert.” Valentin zeigt auf einen anderen Scheinwerfer: “Und der brennt.” Valentins boshaft verbohrte Antikomik ist voll von solchen Beispielen. “Man kann doch nicht sehen, daß der Paukenspieler nicht da ist” (“Orchesterprobe”). Ernst Bloch verdanke ich den Hinweis: “Außerordentliche Merkwürdigkeiten, die an den kleinen Dingen aufgehen, ›bayrischer Talmud‹.” Die Handwerker, Orchestermusiker, kleinen Angestellten sind von renitenter Autoritätsfeindlichkeit. Den Höhepunkt dessen stellt die “Orchesterprobe” dar. Das große Orchester ist die Entsprechung zur großen Maschinerie im Musikbetrieb. Valentins Kampf 113 http://www.mediaculture-online.de gegen das Orchesterinventar ist ein Äquivalent zu Chaplins berühmtem Kampf mit der Maschine. In der Verweigerung von Arbeitsleistung zielt Valentins Disput mit dem Kapellmeister (Karlstadt) auf die zu verrichtende Arbeitszeit, den Todfeind aller Clowns. Schon zu Beginn schwebt ihm die Version einer “Pause” vor. Bei Karlstadts Ausruf “Zu spät!” zückt er die Uhr, und die Ermahnung, nicht mehr und nicht weniger zu spielen als in den Noten steht, kommentiert er mit: “Mehr auf keinen Fall!” Bei genauerem Hinsehen, Hinhören sind alle diese Filme gegen den Strich der Zeit, in der sie entstanden. Elendstendenzen im Kino waren von Goebbels ausdrücklich untersagt. Sie sind aber unübersehbar zu finden in “Musik zu zweien”, “Das verhängnisvolle Geigensolo”, “Theaterbesuch” und “Der Firmling”. Im “Theaterbesuch” sollen kulturferne arme Leute ins Theater gehen. Die Kollision von Elend und Kulturzwang kulminiert in einem filmisch genialen Kunstgriff: Als sich die Eheleute Valentin/Karlstadt endlich aufmachen wollen, knipst er das Licht aus, und auf der Leinwand herrscht für eine ganze Weile totale Finsternis. Schwarz. Im “Firmling” ist der vermeintlich schönste Tag im Leben des Buben (Karlstadt) eine schreckliche Tragödie aus Armut, Suff des Vaters und Erniedrigung. “Das nächstemal gehst allein zur Firmung”, mault die Karlstadt. Der schrecklichste Augenblick kommt kurz vorm Schluß, als Valentin rabiat wird und seinen Buben mit dem Kellner verwechselt. Er redet ihn mit “Sie” an und der Bub kann nur noch stottern: “Jetzt kennt der mi nimmer.” Die Blasphemie des Stücks ist volle Absicht. Die Kirche wollte seinerzeit schon, daß der Bühnensketch “Firmling” unterdrückt wird; der Film erhielt immerhin ein ›Jugendverbot‹. Diese äußersten Formen der Entfremdung bei Valentin haben den jungen Brecht fasziniert. “Wer lernen will, wie man ein Drama macht, muß zu Valentin gehen”, hat Brecht bekannt. Oft muß man auch ganz genau aufpassen, um die letzte Infamie des Valentinesken mitzukriegen. H. G. Pflaum schreibt über die “Orchesterprobe”: “(Sie) entstand, auch dies sollte man nie übersehen, in dem Jahr, als die Nazis an die Macht kamen: Der Film handelt auch von einem individualistischen Querulanten, der sich seine eigenen Meinungen nicht austreiben läßt, der am Ende inmitten des Orchesters sein eigenes Tempo spielt und es auch gegen den Taktstock des Dirigenten behauptet, und der das Wort ›Marsch‹so hinterlistig wiederholt, bis es klingt wie ›m' Arsch‹.” Valentins radikale Komik hat sich nie für etwas vereinnahmen lassen. Seine Aggressivität, die auch vor dem 114 http://www.mediaculture-online.de Publikum nicht haltmacht, ist durchaus auch wachsam gegen den ewigen Stumpfsinn des volkstümelnden Umfelds, dem seine Kunst oft fälschlich zugerechnet wird. Von seinem Haß auf bayrische Verhältnisse zeugt auch “Der Zithervirtuose”: Er verfängt sich in einem Refrain, den er immer wieder spielt, endlos, bis er alt und grau ist. Valentins Kurzfilme aus der Zeit des 3. Reichs sind ein Phänomen der kulturellen Ungleichzeitigkeit. Ich will deshalb Ernst Bloch das Schlußwort geben: “Es gibt Karl Valentin, der genau in diesem dialekthaften Material keine reaktionäre Politik betrieben hat, und die ihm zugehört haben, haben sie auch nicht betrieben und haben sie nicht von ihm verlangt ... Obwohl es Blut und Boden ist, auch bei Karl Valentin. Wenn man Platten von Valentin gehört oder Filme von ihm gesehen hat, dann kann man dort mit der schärfsten Lupe nachsehen, bis man einen Nazi-Ton findet und bei seinem Publikum auch nicht, und das in München. Sehr auffallend. Es gibt innerhalb der Ungleichzeitigkeit verschiedene Stadien von Ungleichzeitigkeit und eines davon ist Valentin.” H. G. Pflaum 37 Fontane Effi Briest (Bundesrepublik Deutschland 1974) Regie: Rainer Werner Fassbinder. Buch: Rainer Werner Fassbinder, nach Theodor Fontane. Kamera: Dietrich Lohmann, Jürgen Jürges. Darsteller: Hanna Schygulla, Wolfgang Schenck, Karlheinz Böhm, Ulli Lommel. Origlnallänge: 141 Minuten. Vertrieb: atlasfilm + av. Wenn Video Sinn machen soll, über den Besitz von Reproduktionen hinaus, die dem Vergleich mit dem Original der Filmkopie nicht standhalten, dann vor allem wegen der Möglichkeit des Zuschauers, durch beliebig wiederholbares Sehen auch einzelner Teile in verlangsamter Geschwindigkeit oder als anhaltendes Bild sich mit Handschriften, 115 http://www.mediaculture-online.de Erzähltechniken und Inszenierungen eingehender zu befassen, als dies normalerweise im Kino der Fall ist. Deswegen sei einmal ignoriert, was verlorengehen muß, wenn Rainer Werner Fassbinders “Fontane Effi Briest” – es gab in den letzten zwei Jahrzehnten wenig Filme, die ähnlich sensibel mit Licht und Schwarzweiß-Material umgegangen sind – auf einem Bildschirm zu sehen ist, zugunsten der Elemente, die man auf der Leinwand nur selten wahrnimmt. Es gibt in dem gesamten Film kaum eine einzelne Einstellung, die in ihrem Aufbau nicht von der Enge und von der Situation des Eingesperrtseins der Figuren erzählen würde. Schon das erste Bild, die Totale vom Haus der Familie Briest, ist von dunklen Bäumen und ihren Schatten eingerahmt – regelmäßig wird der freie Blick in irgendeiner Weise behindert. Die folgende Einstellung zeigt die junge Effi Briest auf einer Schaukel, im Hintergrund das Briest'sche Haus. Eine Mauer schirmt das Mädchen optisch ab, und die Struktur der Mauer wird bestimmt von den Linien des Fachwerks. Wenn Effi die Schaukel verläßt und mit ihrer Mutter spricht, sehen wir noch einmal, kurz, die Kette der Schaukel ins Bild schwingen, wie eine Drohung. In der dritten Einstellung erzählt Effi ihren Freundinnen vom Besuch des Baron Innstetten, der einst ein Verehrer ihrer Mutter war. Obwohl die Szene immer noch im Freien spielt, ist kaum ein Stück Himmel zu sehen. Das nächste Bild zeigt Effi und ihre Mutter im Haus. Sehr hell sind beide gekleidet, und die Lichtführung verstärkt zielstrebig diesen Eindruck. Die beiden Frauen stehen leicht erhöht auf der Treppe, als Effis Vater und der Baron den Raum betreten, schwarz gekleidet, im dunkleren Teil des Raums. Wieder ein Bild der Bedrohung; es setzt sich fort in den ersten Großaufnahmen von Effis künftigem Ehemann. Obwohl Fassbinder regelmäßig aus dem Off Passagen des Fontane-Textes einliest, gibt es in diesem Film keine unbeabsichtigte sprachliche Redundanz, weil Sprache wirklich in Bilder verwandelt wurde. Frau Briest preist ihrer Tochter die Vorzüge der Heirat mit Baron von Innstetten an: “... so stehst du mit zwanzig da, wo andere mit vierzig stehen.” Dieser Hinweis zählt heute zu den irritierendsten Momenten des Films. Eine früh begonnenen Karriere, und am Ende ein 116 http://www.mediaculture-online.de vorzeitig abgeschlossenes Leben – diese Parallele zu Fassbinders eigener Biographie ist nicht zu übersehen. Die quadratische Struktur des Fachwerks in den ersten Einstellungen wiederholt sich bis zur letzten Sequenz. Immer wieder blickt die Kamera durch Glastüren und Fenster, die durch Rahmen in kleinere Quadrate und Rechtecke unterteilt sind. Die Personen in Effi Briest erscheinen, als würden sie sich hinter Gittern bewegen. Dies entspricht ihrer gesellschaftlichen Situation. Ein Meisterwerk ist die Inszenierung der (im Film) ersten Begegnung zwischen Effi und Major Crampas. Effi sitzt mit ihrem Mann beim Frühstück und blickt durch die offene Tür nach draußen: “Kommt da nicht Crampas?” In der folgenden Einstellung befinden sich Effi und der Gast bereits im Freien; rechts im Bild steht die Wiege mit Effis Tochter. Effi verharrt weiter links, und in die Mitte, also zwischen Mutter und Kind, hat sich Crampas gedrängt. Es folgt eine Montage von Schuß-Gegenschuß-Einstellungen mit Effi und Crampas, während sich die Kamera den Personen nähert. In der Großaufnahme, beim herausfordernden Blick von Crampas auf Effi, beginnt (aus dem Off) das Kind zu weinen. In der nächsten Einstellung blickt die Kamera durch die Glastür von drinnen nach draußen, als würde Innstetten seine Frau beobachten. Wir sehen sie wie eingesperrt in eine der kleinen Scheiben der Türe: Quadrage innerhalb der Ouadrage. Als Effi sich aus dem Quadrat herausbewegt, begibt sich Crampas hinein; anschließend kehrt Effi zurück, für einen flüchtigen Moment visuell mit dem späteren Liebhaber vereint. Dann geht Effi auf das Haus zu, die Kamera blickt immer noch unbeweglich durch die unterteilte Türe. Am Ende der Einstellung, als Effi unmittelbar vor der Tür angekommen ist, wird der Körper von den Rähmchen der Tür segmentiert. Oberhalb einer Holzleiste erscheint ihr Kopf, unterhalb, in Bildmitte, ihr Körper; ihre Beine werden im untersten Segment sichtbar. Auf rein visuellem Weg hat Fassbinder in dieser Sequenz angedeutet und vorweggenommen, was später geschehen wird. 117 http://www.mediaculture-online.de Fassbinder entwickelt seine optischen Signale souverän aus dem realistischen Dekor. Wenn Crampas am Strand erstmals Effi umarmt, hat sich die Kamera zurückgezogen, beobachtet das Paar aus einiger Distanz, und wie zufällig stehen die beiden hinter Fischernetzen. Deutlicher verfährt die Regie mit den Spiegeln, die in Effis Umgebung nahezu allgegenwärtig sind. Als “natürliches” Requisit passen sie zu Effis Eitelkeit; wieder wirkt der Rahmen um das Spiegelbild als optische Beengung (ebenfalls eine Quadrage in der Quadrage) – und nicht zuletzt signalisieren die Spiegel, in denen die junge Frau immer wieder nur sich selbst gegenübersteht, deren Einsamkeit. Selbst in der “freien” Natur herrscht keine (visuelle) Freiheit. Wenn Effi von der Hochzeitsreise erstmals nach Kressin kommt, sieht die schöne alte Allee im Blick des Regisseurs düster und beklemmend aus. Auf den Spaziergängen im Freien bleibt die Kamera stets leicht gesenkt, den Blick zu Boden und nie auf den Himmel gerichtet; Kamerafahrten verlaufen vorzugsweise parallel zu den Figuren, mit gewissem Abstand: Dunkle Bäume verstellen die Sicht auf die Personen. In Fassbinders Film “Fontane Effi Briest”, dessen Inhalt wegen der Berühmtheit des Romans sicher ebensowenig erzählt werden braucht wie eine neuerliche Story über den berühmten Regisseur, läuft jenseits von Handlung und Dialogen eine Geschichte ab, und sie bestimmt die eigentliche Qualität der Inszenierung. Meinolf Zurhorst 38 Der Teufelshauptmann She Wore A Yellow Ribbon (USA 1949) Regie: John Ford. Buch: Frank S. Nugent, Laurence Stallings nach der Erzählung “War Party” von James Warner Bellah. Kamera (Farbe): Winton C. Hoch, Charles P. Boyle. Musik: Richard Hagemann. Darsteller: John Wayne, Joanne Dru, John Agar, Ben 118 http://www.mediaculture-online.de Johnson, Harry Carey junior, Victor McLaglen. Länge: Originalfassung 103 Minuten, deutsche Kino- und Videofassung 87 Minuten. Vertrieb: (Mike Hunter). Das amerikanischste aller Filmgenres ist der Western – Geschichten von der Eroberung und Unterwerfung eines Kontinents, vom Sieg der Zivilisation über die Naturvölker, Geschichten auch vom Heldenmut des Individuums und vom Aufbau einer Staatenunion. Von seinen etwa 130 Filmen sind gut die Hälfte Western: John Ford erzeugte so nachhaltig wie kein anderer mit den Mitteln des Films den Mythos des “Wilden Westens”. Er zeichnete Bilder von der Harmonie der Menschen mit ihrer Umgebung, vom Respekt, mit dem sie einander begegnen, von der Sehnsucht nach einer heilen Welt. Die Western des John Ford sind romantische Elogen auf eine vergangene Epoche, die in ihrer Realität nichts Romantisches kannte. Ihn interessierte nicht historische Authentizität, er beschrieb vielmehr eine sehr persönliche Vision der Vergangenheit. Ford erzählte in seinen epischen Werken nichts Geringeres als die Geschichte der Vereinigten Staaten. Trommeln am Mohawk (1939) etwa handelt vom Unabhängigkeitskrieg, Das eiserne Pferd (1927) von der Erschließung eines Landes durch die Eisenbahn und Der letzte Befehl (1959) vom Bürgerkrieg. Doch Ford ahnte, daß sein Bild des Westens eine Illusion war. In seinen späteren Western gab es häufiger unfähige oder rassistische Offiziere. Mit seiner “Kavallerie-Trilogie” Bis zum letzten Mann (Fort Apache; 1948), Der Teufelshauptmann (She Wore A Yellow Ribbon; 1949) und Rio Grande (1950) indes entwarf Ford den Mythos des amerikanischen Militärs. Die Kavallerie als die letzte Institution des reinen Heldentums, als sicherer Schutz der weißen Siedler vor unkontrollierten Indianern. Kurz nach der verheerenden Niederlage des General Custer am Little Big Horn gibt es im Westen zahlreiche Indianerunruhen. Captain Brittles (John Wayne) wird wenige Tage vor seiner Pensionierung beauftragt, Tochter (Joanne Dru) und Frau (Mildred Natwick) seines Vorgesetzten Major Allshard (George O'Brien) zu einer Postkutschen-Station zu begleiten. Doch der Posten ist zerstört, die Bewohner von Indianern getötet. Brittles entscheidet, die Frauen ins Fort zurückzubringen. Doch der Trupp wird von Indianern verfolgt. An einem Flußübergang läßt Brittles den jungen Lieutenant Cohill (John Agar) mit einigen Männern 119 http://www.mediaculture-online.de zurück. Er soll den Rückweg decken. Wieder im Fort, muß Brittles dem unerfahrenen Pennell (Harry Carey junior) das Kommando zur Rettung Cohills überlassen, da er selbst in wenigen Stunden seinen Abschied zu nehmen hat. Nach einer Zeremonie, bei der die Soldaten ihrem Hauptmann eine silberne Uhr verehren, folgt Brittles dem ausgerückten Trupp. In den letzten Stunden vor dem offiziellen Ende seiner Dienstzeit versucht Brittles, in einem Gespräch mit dem Indianerhäuptling Pony That Walks (Chief Big Tree; in der deutschen Version unsinnigerweise “Springender Fuchs” genannt) einen Krieg zu verhindern. Doch er muß erfahren, daß die Alten nichts mehr gelten; wie er selbst mußte auch der Häuptling sein Kommando an Jüngere abtreten. Brittles entwickelt daraufhin einen Plan, die drohende Auseinandersetzung ohne Blutvergießen zu vereiteln. Er läßt seine Leute nachts die Pferde der Indianer auseinandertreiben. Endgültig pensioniert, macht sich Brittles auf den Weg nach Kalifornien. Er kommt allerdings nicht weit. Ein Sergeant ist ihm mit seiner Beförderung zum Inspekteur der Truppe nachgeritten. Sein erster Weg führt Brittles, wie schon die Jahre zuvor, an das Grab seiner Frau und seiner beiden Töchter. Der Teufelshauptmann, im Original beziehungsreicher “She Wore a Yellow Ribbon”, bildet den Mittelteil in Fords Kavallerie-Triptychon. Bis zum letzten Mann, die Geschichte des Debakels am Little Big Horn, ist gegenüber dem romantischen und sehr kunstvollen Teufelshauptmann die ansatzweise kritische Auseinandersetzung mit dem Militär, von dessen glorreicher Vergangenheit die Personen im Teufelshauptmann immerzu reden. Rio Grande dagegen ist eine plumpe Glorifizierung der Kavallerie und des Militärischen überhaupt. Ford konnte sich in keinem seiner Filme davon wirklich freimachen. Er war unter den großem Filmemachern Hollywoods wohl der amerikanischste und der konservativste. Der ungleich poetischere Originaltitel des Films spielt auf das eigentliche Thema an: die Einsamkeit des alternden Berufssoldaten, dem die Armee ein Zuhause bietet, Gemeinschaft und Freundschaften. Für Ford – und nicht nur für ihn – sind dies Tugenden, die den vielbeschworenen amerikanischen Traum verkörpern. “Es ist der Lieblingsfilm von General McArthur”, erinnerte er sich in einem Interview: “Sie müssen wissen, daß er in all seinen Reden Zitate aus dem Dialog des Films und vor allem aus der Schlußrede von John Wayne (Old soldiers never die) bringt”. 120 http://www.mediaculture-online.de Wenngleich Der Teufelshauptmann auch nicht zu den großen Western John Fords zählt, bleibt vor der Filmgeschichte doch die meisterliche Inszenierung bestehen, mit ihren unwirklichen, wir würden heute sagen, kitschigen Farben und dem eigenwilligen Kontrast zwischen poetisch melodramatischer Exposition und aktionsreichem, rhythmisch forciertem Finale. Günter Lebailly 39 Molière Molière (Frankreich 1978) Regie: Ariane Mnouchkine. Buch: Arlane Mnouchkine. Kamera: Bernard Zitzermann. Bauten: Guy Claude François. Kostüme: Daniel Oger. Darsteller: Philippe Caubert, Joséphine Derenne, Hélène Cinque, Armand Delcamp, Jean Dasté, Roger Planchon. Dauer: Teil 1: 115 Minuten – Teil 2: 128 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Eine Frau mit einem Packen frischer Wäsche auf dem Arm durchquert einen dunklen, leeren Theaterraum. Im Hintergrund sitzt ein Mann im Zimmer an einem Tisch und schreibt. Die Frau tritt ein. Er steht auf und läßt sich von ihr entkleiden und ein frisches Hemd überstreifen. Die Frau geht durch das Theater zurück. Ein Mann geht auf sie zu und fragt, wie es “ihm” gehe. – Es gehe ihm nicht gut. – Er solle heute besser nicht auftreten. – Aus dem Hintergrund sagt eine Stimme, offenbar die des Mannes im Zimmer, es gehe ihm gut, er werde auftreten, und man solle ihn in Ruhe lassen ... Während der Filmtitel “ Molière” über dem Bild erscheint, erklärt eine Sprecherin, es sei der 17. Mai 1673, an dem Molière nach der vierten Aufführung seines “Eingebildeten Kranken” stirbt. Geboren sei er 1622, und die Geschichte beginne, als er zehn Jahre alt sei. Die Szene blendet wieder auf, und der Zuschauer sieht eine Gruppe von Kindern, die Karten spielen. Diese erste Szenenfolge macht gleich die Struktur des Films deutlich. Die Szene vor dem Titel ist eine Klammer, die Anfang und Ende des Films zusammenhält. Sie erlaubt dem 121 http://www.mediaculture-online.de Zuschauer einen Einstieg in die Geschichte, indem sie vom zunächst nur angedeuteten Ende auf den Anfang springt: Wie alles begann. Von hier an erzählt der Film chronologisch das Leben Molières nach: der frühe Tod der Mutter; die Auseinandersetzungen mit dem Vater um die Berufslaufbahn des Jungen; der Entschluß, Schauspieler zu werden; die Wanderjahre in der Provinz; die Rückkehr nach Paris; Erfolge, die Gunst der Königs, Neid, Intrigen, Enttäuschungen; Krankheit und Tod. Und hier, in der letzten Szene, verbindet der Film noch einmal das Ende mit dem Vorhergehenden, indem Bilder aus der Vergangenheit in den Visionen des Sterbenden erscheinen, endend mit dem Bild der Mutter. Die Stationen des Lebens werden dargestellt in Szenen mit charakteristischen Situationen, an wenigen Stellen durch eine Sprecherin verbunden. Aus dem Leben Molières ist nicht sehr viel an Fakten bekannt, insbesondere nicht aus seinen Jugend- und Wanderjahren. Ariane Mnouchkine gibt nicht vor, mehr zu wissen als die Überlieferung. Aber sie macht aus den wenigen Fakten in sich abgerundete Szenen, in denen sie versucht, den historischen Hintergrund des Geschehens herauszuarbeiten, insbesondere den äußeren Rahmen (Räume, Kostüme, Requisiten) zu rekonstruieren. Viele Szenen bekommen so den Charakter von lebendig gewordenen Bildern des 17. Jahrhunderts. Dieses Verfahren hat Konsequenzen für den Rhythmus des Films. Im ersten Teil, der von den Jugendjahren erzählt, über die es die spärlichsten Informationen gibt, werden die Lebensbilder umfangreich und groß angelegt. Im zweiten Teil des Films, der von den Wanderjahren in der Provinz und von den Jahren des Erfolges in Paris berichtet, aus denen viel mehr Zeugnisse vom Leben Molières überliefert sind, läuft die Handlung als rasche Folge von kurzen Szenen ab, Vignetten eines Lebens. Als Folge dieser szenischen Struktur, in der ein Menschenleben gleichsam von außen gesehen wird, bleiben die Figuren seltsam blaß. Der Zuschauer erfährt kaum etwas von den Beweggründen ihres Handelns und nimmt daher auch kaum emotionellen Anteil an ihnen. Das gilt auch und insbesondere für die Titelfigur. Es gibt ein paar Gestalten, die durch die Präsenz der Schauspieler oder durch die Möglichkeit, Emotionen auszuspielen, 122 http://www.mediaculture-online.de Interesse erregen: der cholerische Vater des Armand Delcamp, der gütige und lebenskluge Großvater des Jean Dasté oder der staatskluge Minister Colbert des Roger Planchon. Einzig Joséphine Derenne hat Gelegenheit, mehr als nur die Oberfläche eines Menschen darzustellen. Sie verkörpert die Schauspielerin Madeleine Béjart, die den jungen Molière gefördert und zwanzig Jahre mit ihm zusammengelebt hat und schließlich erleben muß, daß er ihre Tochter heiratet. Sie hat zwei bewegende Szenen, die bewegendsten des Films: die stille Liebesszene mit Molière, nachdem er seine Verlobung mit Armande Béjart öffentlich gemacht hat, und die letzte Theaterszene, die die schon kranke Madeleine mit Molière probt, bevor die beiden voneinander Abschied nehmen. Ariane Mnouchkine gehört zu den großen Regisseuren des Welttheaters. Mit ihrem “Théatre du Soleil” erregte sie zuerst Bewunderung mit dem Revolutionsspektakel “1789” (das übrigens auch auf Film festgehalten wurde) und in späteren Jahren mit ihren Shakespeare-Inszenierungen. “ Molière” ist von ihr als Film konzipiert. Aber es ist ihm anzumerken, daß er das Werk einer Regisseurin ist, die vom Theater kommt. Die Szenen sind in sich choreographiert und werden von der Kamera aufgenommen, die sich wenig eigene Bewegungen erlaubt. Es gibt ein paar surreal wirkende Erfindungen, zum Teil aus der Realität abgeleitet, wie der Zug der venezianischen Gondeln über das Gebirge (auch dies eine Szene, die aus der Freude an den schönen Bildern zu lang gerät), oder die Karnevalsszenen in Or1éans, zum Teil freie Erfindung, wie der Vogelmensch in der Jahrmarktszene oder die Apotheose des Königs zu Musik von Lully. Die eigentliche Schönheit des Films jedoch liegt bei den intimen Szenen in den Innenräumen. Die Bildkompositionen bestechen, die bürgerlichen Interieurs im ersten Teil ebenso wie die höfischen Tableaus des zweiten Teils. Der Zuschauer fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Er folgt mit Interesse den Lebensstationen eines Mannes, der im 17. Jahrhundert lebte. Es ist gewiß nicht “das wildbewegte Portrait eines Mannes und seines Jahrhunderts”, wie es der Deckel der (im übrigen beklagenswert dürftig ausgestatteten) Cassette vollmundig verspricht, sondern 123 http://www.mediaculture-online.de die Lebenschronik eines Mannes, der Jean-Baptiste Poquelin hieß, sich Molière nannte und einer fahrenden Schauspielertruppe anschloß, in Paris als Schauspieler und Komödienschreiber Erfolg hatte und krank und ausgebrannt starb. Wissen wir damit mehr über einen der großen Dichter der Weltliteratur? Wohl kaum, denn eine Rekonstruktion seiner äußeren Lebensumstände reicht dazu allein nicht aus. Aber wer gesehen hat, wie er gelebt hat, der bekommt vielleicht auch Lust, sich mit dem zu beschäftigen, was er geschaffen hat. Hilmar Hoffmann 40 Triumph des Willens (Deutschland 1934) Buch, Regie, Schnitt: Leni Riefenstahl (Ein Dokumentarfilm im Auftrag der NSDAP über den Vl. Reichsparteitag vom 4. bis 10. 9.1934.) Länge: circa 90 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé. Um ihre Art von “heroischen Tatsachen” zu schaffen, forderte Leni Riefenstahl für die Produktion von “Triumph des Willens” strikte Alleinverantwortung: Sie wurde ihr mit Hitlers Brief vom 19.4.1934 zugesichert. Auch alle materiellen Wünsche der damals 32jährigen Regisseurin wurden vertraglich erfüllt: Paragraph 2 des Vertrages garantiert mit 1,5 Millionen Reichsmark die Kosten des Films, und Paragraph 3 regelt, daß “Fräulein Riefenstahl für ihre Tätigkeit ... eine persönliche Vergütung von RM 250 000” erhält. Die Drehbedingungen sind in der Geschichte des Dokumentarfilms ohne Beispiel geblieben: Die Regisseurin bekam 22 Autos, ein Flugzeug, einen Zeppelin und ein Herstellungsteam von 120 Leuten zur uneingeschränkten Verfügung. Außer 32 Kameramännern beschäftigte sie 16 erfahrene Wochenschau-Operateure, die in den sieben Drehtagen (4. bis 10. 9. 1934) insgesamt 128000 Meter Film belichteten. Aus dem hypertrophen Material, das einer Filmzeit von nahezu 80 Stunden entspricht, hat ihr 124 http://www.mediaculture-online.de selektives Talent dann die zu ihrem auch ganz persönlichen Triumph des Willens notwendigen 3109 Meter herauspräpariert: Das Drehverhältnis beträgt also 1 zu 40. In enger Tuchfühlung mit den Organisatoren des Parteitages konnte Leni Riefenstahl ihre Kameraschwerpunkte so wählen, daß ihr kein wichtiges Ereignis und kein optischer Leckerbissen entgehen mußte. Ja, viele Parteitagsabläufe wurden ihren ästhetischen Wünschen entsprechend dirigiert. Weil sie sich mit den Vorstellungen des Nationalsozialismus vollkommen identifizierte, hat sie ihre Ästhetik in den Dienst eindeutiger politischer Ziele gestellt, ja sie hat eine originäre Ästhetik des nationalsozialistischen Dokumentarfilms erst geschaffen. Da Leni Riefenstahl nicht über alle sieben Kalendertage berichten wollte, komprimierte sie deren optisch und akustisch ergiebigste Höhepunkte auf jeweils typische Momente und auf den prototypischen Gestus von Personen und Formationen. Dazu gehören, pars pro toto, Ausschnitte des festlichen Gepränges, die Geometrie der schnurgeraden Paraden einschließlich der auf den Führer ergebungsvoll fixierten Blicke der endlos marschierenden Kolonnen: Leni Riefenstahl verdichtet das exemplarisch Symbolhafte und unsäglichen Gesinnungskitsch, also was sie “die Fülle der Wirkungsmotive” nennt, zur Feier. Ihre “Fülle von Wirkungsmotiven” kondensiert die Riefenstahl zur formalen Symbiose: Embleme und Insignien, Zeichen und Runen, Spruchbänder und Fahnen konstituieren darin die nationalsozialistische Ikonographie. Die den Film in seinem Rhythmus sehr bewußt bestimmenden vielfachen Wiederholungen dienen der Absicht, nationalsozialistisches Gedankengut nachhaltig einzubläuen. Ob Propaganda die Realität verändert oder ob die Realität für die Zwecke der Propaganda verändert wurde, bleibt im Ergebnis insofern belanglos, als das Ziel erreicht wurde, nämlich in den Trugbildern des Systems das Bewußtsein der Massen zu manipulieren und so unter Kontrolle zu bringen. Erst durch Montagekünste erhält die nationalsozialistische “Metaphysik” ihren raffinierten realistischen Ausdruck. Alle grafischen und choreographischen Kamera-Erträge, alle linearen und flächigen Bildkomponenten strukturiert die ehemalige Tänzerin zu fließenden Bewegungseinheiten, so daß die an sich trägen Menschenquader filmisch-dynamische Qualität erhalten. Dies Meisterstück der Dialektik von Abstraktion und Sinnlichkeit gelingt 125 http://www.mediaculture-online.de ihr im Wechselspiel von ausufernden Totalen der tableaux vivants und Großaufnahmen, im Wechsel von dynamischen und statischen Elementen. Indem sie diagonale, vertikale und horizontale Bewegungsverläufe versetzt und häufige Perspektiven-Wechsel wählt, gibt die Regisseurin dem Film seine rhythmische Energie, sein mitreißendes Tempo, dem auch der distanzierte Zuschauer sich kaum zu entziehen vermag. In diesen mit künstlerischen Mitteln hergestellten Bewegungssog kanalisiert sie das Interesse an der “Bewegung” selbst. Es handelt sich um Vergötzung der puren Bewegung, und zwar im doppelten Wortsinn. Indem sie die Schnittkunst als ein diskursives Verfahren anwendet, gelingt es Leni Riefenstahl glänzend, die innere Dramatik solcher “Nachgestaltung” mit äußeren Erscheinungsbildern zur Kongruenz zu bringen. Die formale Qualität dessen, was die Autorin “Nachgestaltung” nennt, sagt freilich wenig über die Qualität der darin präparierten Inhalte. Glaubenssätze vermittelt sie expressis verbis nur in den gekürzten Statements etlicher Nazigrößen und des Führers. Leni Riefenstahls Glaube ist im Kontext der Montage enthalten. Insofern ist die formale Seite hinreichendes Indiz für ihre nationalsozialistische Ästhetik, denn die in exerziermäßig geometrischen Formen offerierte optische Choreographie spiegelt nichts Geringeres als die Einheit des nationalsozialistischen Staatswesens selber. Die Komplexität der Welt reduziert die Riefenstahl auf die NS-Norm. Susan Sontag entdeckt in der faschistischen und nationalsozialistischen Dramaturgie Merkmale, die sich vorzüglich auf Riefenstahls Filme übertragen lassen, wie etwa der ständige Wechsel zwischen pausenloser Bewegung und erstarrter “viriler” Pose. Die faschistische Dramaturgie sieht Susan Sontag ausgerichtet “auf den origiastischen Austausch zwischen gewaltigen Mächten und ihren Marionetten”. Leni Riefenstahl glorifiziert die Unterwerfung der Massen unter ein höheres Prinzip, indem sie unter wechselnden Kameraperspektiven Menschen je nachdem erhöht oder erniedrigt, Großaufnahmen des Führers (hochstilisiert als Huldigung des Führerprinzips) mit halbnahen Bildern anonymer einzelner kontrastiert. Die bis zur Todesbereitschaft gehende Hörigkeit von Millionen wird in den Massen versinnbildlicht, die mit feuchtem Glanz in den Augen Hitlers Worten ergebungsvoll lauschen. 126 http://www.mediaculture-online.de Entsprechend den repressiven Ordnungskategorien feiert der nationalsozialistische Film die Opferbereitschaft als höchstes moralisches Gut. Er verherrlicht den Tod als Konsequenz höchster Treue; er bejubelt, im optischen Einklang mit den Massen, die Rücksichtslosigkeit der Macht; er suggeriert eine mystische Einheit von Volk und Führer, auch eine eingebildete Beziehung des Betrachters zum visuellen Ereignis. Bei Leni Riefenstahl wird der Film zum “Gestalter der Zeit”, das heißt, sie begleitet die Zeit nicht als Chronist oder als Beobachter: Sie will vielmehr mit Hilfe ihrer sensualistischen Optik die NS-Ideologie pompös überhöhen, durch Gestaltung die Zeit beeinflussen, ihr das Ziel und den richtigen Weg weisen. Der Film hat nach ihrem Verständnis die Aufgabe, den “heroischen Stil und den inneren Rhythmus in sein Laufband zu zwingen und wieder auszustrahlen”. Für den unbefangenen Kinogänger gab die Riefenstahl noch kaum Bedrohliches zu erkennen. Die Kamera leugnet mit jedem Bild den moralischen Zerfall, der mit der neuen Ordnung unabdingbar verschwistert war. Leni Riefenstahl hatte im durchaus propagandistischen Interesse gehandelt, wenn sie die Erlebnis- und Begeisterungsfähigkeit des Zuschauers erregte. Sie hat erste Kriterien für die ästhetische Erhöhung der Politik gestiftet, indem sie deren äußeres Erscheinungsbild ästhetisierte. Sie hat das Alltägliche im Faschismus zur nationalen Inkarnation optisch verklärt. Von der “Ästhetisierung der Politik” (Walter Benjamin) bis zur Ästhetisierung des Krieges und der dann alltäglichen Pathetisierung des Todes war es dann nur noch ein kurzer Weg. Schließlich erhoffte sich Leni Riefenstahl von ihren Filmen, daß diese “nicht nur als Erinnerung an ein Geschehnis auf uns wirken, sondern als neues aufwühlendes Erleben in unsere Sinneswelt dringen”. In der Tat können auch heutige Zuschauer sich der sinnbetäubenden Suggestivkraft einzelner Sequenzen nur schwer entziehen. Wie sehr die künstlerische Ambition des Nationalsozialismus mit seiner eigenen politischen Praxis identisch wurde, dokumentiert diese Masseninszenierung des Nürnberger Parteitages. Die filmische Inszenierung eines gekonnt in Szene gesetzten Auftritts der Massen antizipiert die unaufhaltsame Entwicklung, die von der dekorativen Instrumentalisierung des “Menschenmaterials” für die Architektur des Parteitagsfestes 127 http://www.mediaculture-online.de hinführt zum Verbrauch des “Menschenmaterials” für die heroische Inszenierung des Krieges, eine nach Benjamin unausweichliche Klimax der Ästhetisierung der Politik. Das durch den Film bewußt gemachte militante Potential des Hitlerbewegung trug schon damals den Keim der eigenen Verwesung in sich. Zusammenfassend bleibt zu würdigen, daß Leni Riefenstahls “Triumph des Willens” eines der perfektesten Beispiele des Genres Propagandafilm ist. Wie gelungen er ist, läßt sich an seinem unheilvollen Einfluß auf die Massen ablesen. Seine raffinierte Qualität bestand ja gerade darin, sich prima vista nicht als Propagandafilm zu gerieren, aber subkutan gleichwohl werbende Wirkung zu zeigen; denn unter seinem ästhetischen Oberflächenrealismus wußte die Riefenstahl brillant die moribunde Gefährlichkeit des Totenkopf-Regimes zu verschleiern. “Triumph des Willens” sollte den Eindruck eines selbstverständlichen Einklanges von Führer, Volk und Vaterland hervorrufen und diese totale Auslieferung an das Führerprinzip als nationale Tugend beschwören, deren sich damals nur wenige schon schämten. Das einbezogene erzieherische Moment vermittelte sich ohne Zeigefinger, weil die im Sog der schönen Bilder und im Rausch der Klänge erzeugte emotionale Stimmung überall spontane Zustimmung bewirkte: Die Wirkung des Films beruht nicht zuletzt auf der Evokation weitverbreiteter Sehnsüchte nach Geborgenheit in der Gemeinsamkeit mit anderen. Wolfgang Schwarzer 41 Die Fantome des Hutmachers Les fantômes du chapelier (Frankreich 1982) Regie: Claude Chabrol. Buch: Claude Chabrol, nach einem Roman von Georges Simenon. Kamera: Jean Rabier. Musik: Mathieu Chabrol. Darsteller: Michel Serrault, Charles Aznavour, Aurore Clément. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: (Mike Hunter) . 128 http://www.mediaculture-online.de Im Dezember 1987 kann der Hitchcock-Verehrer Claude Chabrol auf 30 Jahre Regietätigkeit zurückblicken. “Die Enttäuschten”, der Erstling des ehemaligen Filmkritikers der “Cahiers du Cinéma”, läutete die “Neue Welle” ein, die dem französischen Film Ende der fünfziger Jahre eine radikale Wende bescherte. Mit den folgenden 35 abendfüllenden Spielfilmen (hinzu kommen zahlreiche Fernsehproduktionen und Beiträge zu Episodenfilmen) durchmaß er, was Erfolg, Profit und Niveau betrifft, von lichten Höhen bis zu finsteren Tiefen sämtliche Erlebnisbereiche des Filmgeschäfts. Als Hans Dampf in vielen Genres ließ Chabrol den ambitionierten Frühwerken anspruchslose Lohnarbeiten folgen. Mit “Zwei Freundinnen” (1967), “Die untreue Frau” (1968), “Das Biest muß sterben” (1969) und “Der Schlachter” (1969) entwickelte er persönliche Erzählformen und Themen, die bis heute sein Werk und seinen Ruf prägen. In diesen wie in zahlreichen späteren Filmen widmete er sich der Analyse des französischen Bürgertums und detaillierten Milieu- und Charakterstudien in der Provinzgesellschaft. Eine “Enzyklopädie der Bourgeoisie” habe er geschaffen, hieß es. Kritiker bezeichneten ihn als den “Balzac der Filmgeschichte”. Andere warfen ihm Zynismus vor, weil er seine Figuren “mit dem kalten Blick des Insektenforschers” seziere. Er selbst brachte seinen Anspruch, immer nur eines zu wollen, nicht ganz unbescheiden auf die Formel: “Die Wahrheit zeigen und die Menschen so, wie sie wirklich sind.” Es verwundert daher nicht, daß zu seinen besten und erfolgreichsten Filmen derjenige zählt, welcher die kühle Analyse Chabrols mit den liebevollen, geduldigen und detailversessenen Charakterstudien des Kriminalschriftstellers Georges Simenon verbindet. “Die Fantome des Hutmachers” beleuchtet vor dem Hintergrund einer Kriminalaffäre das Gesellschaftsspektrum einer kleinen bretonischen Stadt. Zu ihren Honoratioren gehört der alteingesessene, wohlhabende und hochangesehene Hutmacher Léon Labbé, dessen exakt eingehaltener Lebensrhythmus sich seit 15 Jahren nach den Bedürfnissen einer gelähmten Ehefrau richtet. Nicht länger fähig, ihre Ansprüche, Ausbrüche und ihre Tyrannei zu ertragen, erwürgt er sie eines Tages. Den Mord zu vertuschen, fällt ihm leicht, da sie ihr Zimmer seit vielen Jahren nicht verlassen hat und auch Besuche in der Regel ablehnte. Minutiös behält er seine täglichen Gewohnheiten bei. Eine Puppe fingiert den vertrauten Schatten der Frau hinter den Gardinen. Nur ein Problem ist zu lösen. Es 129 http://www.mediaculture-online.de verbleiben sieben frühere Klassenkameradinnen, die die Kranke einmal jährlich zum Geburtstag aufsuchen. Labbé hat nur wenige Wochen, um eine nach der anderen zu ermorden. So lebt das Städtchen bald in Angst und Schrecken vor dem unheimlichen Würger, dessen Identität niemand kennt und dessen Tragödie folglich auch niemand ahnt. Gegenüber von Labbés Geschäft lebt und arbeitet der armenische Jude Kachoudas mit seiner kinderreichen Familie, der sich – ein typisch jüdisches Schicksal im 20. Jahrhundert – nach einer qualvollen Odyssee durch Europa als Schneider in der Stadt niedergelassen hatte. Obwohl er nun seit Jahren dort lebt, ist er ein Fremdkörper in der Gemeinde geblieben. Und er durchschaut den Hutmacher, folgt ihm auf Schritt und Tritt wie ein Hund. Schweigend, weil niemand seiner Aussage gegen einen Labbé glauben würde, wachsam aus Angst, wiederum, wie es Schicksal seines Volkes von jeher ist, als Sündenbock herhalten zu müssen. Der Bürger Labbé genießt das Bewußtsein dieses ungleichen Verhältnisses, ist es doch, wenn auch in der Negation befangen, die einzige menschliche Beziehung jenseits des Scheinlebens, das zu führen er verurteilt ist. Als keine der Frauen mehr zu morden bleibt und Kachoudas an einer Lungenentzündung stirbt, bricht Labbés Kartenhaus zusammen. Nichts hält ihn mehr aufrecht, ziellos durchbricht er seine sinnlos gewordenen Gewohnheiten. Er fühlt, daß Entlarvung und Geständnis seine Erlösung sind. Noch einmal, ohne es zu wollen, mordet er. Chabrols ruhige, exakte Inszenierung eines absurden Dramas menschlicher Not und Verirrung hält sich eng an Simenons Roman und vermittelt bewundernswert Spannung und Dialektik zwischen den beiden gegensätzlichen Hauptfiguren, die in Michael Serrault und Charles Aznavour ihre Idealbesetzung gefunden haben. Hans Gerhold 130 http://www.mediaculture-online.de 42 Von Angesicht zu Angesicht Ansikte mot ansikte (Schweden 1975) Regie und Buch: Ingmar Bergman. Kamera: Sven Nykvist. Musik: Wolfgang Amadeus Mozart. Darsteller: Liv Ullmann, Erland Josephson, Gunnar Björnstrand; Kari Sylvan. Länge: 117 Minuten. Vertrieb: VPS. Doktor Jenny Isaksson (Liv Ullmann), eine erfolgreiche Psychiatrieärztin, beginnt während eines zweimonatigen Aufenthaltes bei ihren Großeltern ihre eigene Unsicherheit und die Fassade, die sie um ihr bisheriges Leben aufgebaut hatte, zu erkennen und begeht einen Selbstmordversuch. Auf dem Krankenbett beginnt der so radikale wie schmerzhafte Prozeß der Bewußtwerdung, die Jenny zu den Wurzeln ihrer Probleme zurückführt, in ihre Kindheit und in die durch traumatische Lebenssituationen ausgelösten Neurosen. Jennys qualvolles Erinnern wird jedoch die Voraussetzung einer (wörtlich zu verstehenden) Wiedergeburt und Heilung. Bei der Rückkehr zu den Großeltern ist sie von ihren “Dämonen” befreit. Auf der Basis dieser so linear erzählten wie komplexen Fallgeschichte inszenierte Ingmar Bergman 1975 einen psychologischen Katastrophenfilm, der als der Höhepunkt seines Spätwerks gelten kann. Stets hatte sich Bergman mit Lebens- und Sinnkrisen, existentiellen Ängsten, spiritueller Sinnsuche und metaphysischen Erfahrungen der menschlichen Psyche beschäftigt, hatte “Wie in einem Spiegel” (Filmtitel von 1960/61) die im Unterbewußtsein herrschenden diffusen Ängste erfaßt und an die Oberfläche befördert, wo sie mit der Gewalt eines Vulkans in explosionsartigen Eruptionen aufbrachen und die Sinnleere, Einsamkeit und Verzweiflung des modernen Menschen entblößten. Verzweiflung und Angst sind auch die Schlüsselwörter für die Krise von Jenny. Nach außen hin ist sie die Gesundheit, Fröhlichkeit und Anpassung in Person, liberales Bürgerkind, das spielend über das Ambiente beim Geschlechtsakt ironische Kommentare geben kann und die Methoden der Arbeit als Ärztin nicht weiter in Frage stellt, sondern sich mit den “mechanischen Lösungen”, die ein Kollege beklagt, zufriedengibt. 131 http://www.mediaculture-online.de Doch langsam und unaufhörlich stellen sich Risse, Zweifel, Angstzustände ein. In ihrer alten, leergeräumten Wohnung wird sie nur deshalb nicht von zwei Drogenhändlern vergewaltigt, weil sie “zu verkrampft” ist. Immer wieder erscheint ihr eine alte kohlenäugige Frau als Dämon des Todes. Ihre Kruste bricht auf und führt zum penibel vorbereiteten Selbstmordversuch, aus dem sie von einem befreundeten Arzt gerettet wird, der ihr in der folgenden Anamnese als geduldiger Zuhörer beisteht. Diese Anamnese, diese grauenvolle Erinnerungs-Arbeit ist die Schlüsselszene des Films. In wenigen ungeschnittenen, minutenlangen Plansequenzen steht Jenny von ihrem Bett auf und beginnt vor der kahlen Wand einen Monolog, der sie in die Tiefen ihres Unterbewußtseins führt und sie buchstäblich mit mehreren Zungen reden läßt. Jenny erinnert und gesteht ihre Angst vor dem Tod, traumatische Kindheitserlebnisse (das Eingesperrt-Werden im Kleiderschrank) und das Leben, das ohne die bei einem Autounfall getöteten Eltern bei den Großeltern verlief, deren drakonische Erziehung zur Ordnung einem militärischen Regiment glich. Jennys Selbstentblößung, durch die Schauspielerin Liv Ullmann in einer bis ins Extrem dieser Kunst gehenden Einverleibung der Rolle zu unerhörter Anstrengung gesteigert, ist ein einziger Schrei nach dem, was man wirkliche, ungetrübte, spontane und unmittelbare Erlebnisfähigkeit nennen kann. Sie wird immer wieder durch Rollenspiele, Rollenauswürfe, Demütigungen, Lügen, Selbstdisziplin, Verletzbarkeit, Arroganz, Stolz, Selbstvertrauen, Zurechtweisungen und Resignation gebrochen, so wie Jennys Monolog von ihren Schreikrämpfen unterbrochen wird. Bergmans Film lief Mitte der 70er Jahre, als in der Folge der von dem Psychiater Franco Basaglia initiierten Reform der italienischen Heilanstalten 1978 ein Gesetz die Schließung dieser Institutionen verfügte. Basaglias “demokratische Psychiatrie”, die unter dem Motto “Freiheit heilt” den Bankrott der traditionellen Psychiatrie und deren RuhigstellungsMethoden (zum Beispiel durch Psychopharmaka) verkündete, wird in Bergmans Film in einem aufschlußreichen Gespräch zwischen Jenny und dem Oberarzt, den sie vertritt, heftig und aufschlußreich diskutiert. 132 http://www.mediaculture-online.de Formal gelingt es Bergman in “Von Angesicht zu Angesicht”, einen realistischen Inszenierungsstil mit dem Metaphernreichtum seiner früheren Filme bruchlos zu verbinden. In insgesamt sieben Visionen wird Jenny von ihren Ängsten heimgesucht, bis sie sich in der letzten alptraumartigen Vision in einem Sarg sieht, sich lebendig einnagelt und den Sarg verbrennt, während sie als Rotkäppchen lachend vor den Flammen steht. Das ist als überladene Symbolik kritisiert worden, geht in seiner Sinnfälligkeit aber mit den klassischen Mitteln der durch Märchen gegen die eingebildeten Schrecken mobilisierten Vorstellungskraft durchaus an jene Substanz, die Bergman auch im Zuschauer therapieren will: die Psyche. “Von Angesicht zu Angesicht” lief zunächst als Vierteiler im schwedischen Fernsehen, in den Kinos dann in einer gekürzten Fassung, die der jetzigen Video-Fassung entspricht. Walter Schobert 43 Fanfan der Husar Fanfan la tulipe (Frankreich/Italien 1952) Regie: Christian-Jaque. Buch: Christian-Jaque, Henri Jeanson, René Wheeler. Kamera: Christian Matras. Musik: Georges van Parys, Maurice Thiriet. Darsteller: Gérard Philipe, Gina Lollobrigida, Geneviève Page, Oliver Hussenot. Länge: 96 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. Manchmal genügt ein Film seinem Regisseur, um in die Filmgeschichte einzugehen. Christian-Jaque gehört nicht zu den Großen des französischen Films. In der Vorkriegszeit drehte er serienweise kommerzielle Lustspiele mit Fernandel in der Hauptrolle. Nach dem Krieg zählte er mit seinen ambitionierten Filmen – “Die Kartause von Parma” (1947) oder “Blaubart” (1951) etwa – zu den typischen Vertretern jener “Tradition der Qualität”, die Truffaut in seinem berühmten Essay “Eine bestimmte Tendenz im französischen Film” attackierte als Kino der Szenaristen, die “mit dem Tonband Probleme lösen, die das Bild betreffen – nutzloses Mühewalten, das auf der Leinwand doch zu nichts weiter führt als ausgeklügelten Einstellungen, komplizierten Beleuchtungseffekten, ›geleckten‹ Fotos”, ein 133 http://www.mediaculture-online.de Kino der Handwerker, der Routiniers, der Konfektion, geschmackvoll und qualitativ hochstehend, aber ohne eigenen Stil, eigene Handschrift, ohne gestalterische Individualität: kein “Kino der Autoren”. In seinen schlechteren Filmen war der 1904 als Christian Maudet geborene und als Architekt und Grafiker zum Film gekommene Regisseur ein unverhohlener Spekulant, der in semipornografischen Historienfilmen wie “Lukrezia Borgia” (1952) oder “Madame Dubarry” (1954) seinen Star (und spätere Ehefrau) Martine Carol so exponierte wie es später Vadim mit der Bardot und Jane Fonda tat. “Fanfan” ist die eine, die große Ausnahme in seinem Œuvre: Ein Film, der rundum gelungen ist und wirklich die Versöhnung von Kunst und Kommerz war, die Christian-Jaque zeitlebens vorschwebte. “La tulipe”, Vondertulpe, heißt dieser Fanfan, weil er Henriette, des Königs Töchterchen, und Madame Pompadour, die Maitresse Louis XV., unter tollkühnem Einsatz aus der Hand böser Räuber gerettet und dafür zur Belohnung jene Blume bekommen hat. Die Begegnung mit der Prinzessin hatte ihm die hübsche Zigeunerin Adeline geweissagt, sogar, daß er sie zur Frau bekommen werde, wenn er zu den Soldaten ginge. Das war freilich, um den Anfang der Geschichte zu erzählen, nur ein zusätzlicher Anlaß: sich beim Militär drillen zu lassen, schien ihm immer noch besser, als sich mit der Bauerntochter zu verheiraten, deren Vater die beiden statt beim Heu- beim Liebemachen überraschte. Die hübsche Zigeunerin lief dem Delinquenten gerade rechtzeitig über den Weg. Die freilich ist gar keine, sondern hat sich nur verkleidet, um Rattenfängern zu helfen, zögernde Bauernburschen zu rekrutieren. Bald merkt Fanfan, daß das Soldatenleben auch kein Zuckerschlecken ist, zumal, wenn man von einem Schleifer wie Fier-à-bras schikaniert wird. Dessen Brass auf den von seiner Königstochter träumenden und darüber die greifbarere Adeline übersehenden Fanfan wird nicht gerade kleiner, als die sich in ihn verliebt: Fanfan wandert ins Kittchen. Sein Ausbruch wird ihm verziehen, weil gerade der Krieg ausbricht und jeder Mann gebraucht wird. Als er aber erwischt wird, wie er sich nachts mit seinem Freund TrancheMontagne zu Henriette schleicht, scheint es endgültig um ihn geschehen. Doch Adelines Flehen erweicht den König: Fanfan und Tranche werden zwar gehängt, aber der König 134 http://www.mediaculture-online.de hat für einen kleinen Zufall gesorgt, der beide überleben läßt. Statt freilich den nun fälligen Dank zu erstatten, ohrfeigt Adeline Ihre Majestät. Die darob begeisterte Pompadour versteckt das Mädchen in einem Kloster und benachrichtigt Fanfan. Doch der kommt zu spät, die von seinem Nebenbuhler informierten Mannen des Königs sind schon da. Ein wilder Kampf entbrennt und unsere beiden Haudegen schaffen es tatsächlich, die Übermacht zu besiegen. Doch noch einmal wird ihm Adeline geraubt und nun geht Fanfan, der längst gemerkt hat, daß er sie liebt, aufs Ganze: Am Ende hat er nicht nur sein Mädchen, sondern gewinnt allein den ganzen Krieg. Was bleibt dem König anderes übrig als Adeline zu adoptieren und so dafür zu sorgen, daß sich ihre Prophezeiung doch erfüllt. Mit dieser Volte kommt eine Geschichte zum Schluß, die Unwahrscheinliches auf Unglaubliches gehäuft – und der man das keine Sekunde übel genommen hat; im Gegenteil: So reißt ihr Schwung mit, ihr Witz, ihr Charme, ihr liebevoller Umgang mit der Historie und ihre boshafte Verspottung von Feudalismus und Militarismus, die musikalische Verknüpfung der Sequenzen, das Gefühl für Rhythmus, die Mischung von Romantik und Aktion, von wilden Jagden und hinreißenden Degenduellen: “Fanfan” ist in jeder Beziehung ein Husarenstückchen, dessen Regisseur selbstbewußt in die Kisten der Film- und Literaturgeschichte gegriffen, seine zahlreichen Vorbilder nicht verleugnet und dennoch einen unvergleichlichen Film geschaffen hat, der zugleich die Synthese und den Höhepunkt aller früheren Mantel- und Degenfilme (und Piratenfilme dazu) bildet. Fanfan: das ist der Graf von Monte Christo, Zorro und Robin Hood in einer Figur; “Fanfan”: das ist ein Film, der sein Genre ernst nimmt und parodiert. Ein Film, der in all seiner Farbenpracht im Gedächtnis bleibt, obwohl er doch schwarzweiß ist. Kein Zweifel, “Fanfan” ist ein Meisterwerk, und es mindert das Verdienst seines Schöpfers (der dafür zu Recht 1952 in Cannes den Regiepreis bekam) und der anderen Beteiligten nicht im Geringsten, wenn man darauf hinweist, daß das nicht nur an der vorzüglichen Fotografie, am virtuosen Schnitt, am witzigen Drehbuch mit seinen hübschen Bonmots und funkelnden Pointen liegt, die 1952, also mitten im kalten Krieg, sich mit den Berufsmilitärs auf die einzig richtige Weise auseinandersetzten: mit milder Ironie und beißendem Spott (sie kommen auch in der, ein seltener Fall, sehr gelungenen Synchronisation Conrad von Molos zur Geltung). 135 http://www.mediaculture-online.de Zum ungetrübten Vergnügen tragen aber vor allem seine beiden Hauptdarsteller bei: Für die appetitlich anzusehende Lollobrigida bedeutete der Film den internationalen Durchbruch. Sie ist so hübsch und proper, daß man ohne weiteres versteht, warum ihretwegen die Burschen zum Militär gingen – und daß man sich heutzutage bedauernd fragt, ob die moderne Jugend vor lauter frei zugänglicher Nacktheit überhaupt noch nachvollziehen kann, welche süße Versuchung, welch geheimnisvolle Verlockung Ginas reizvoll verhülltes Dekolleté uns bedeutet hat, als wir sechzehn waren. Den unwiderstehlichen Charme freilich verdankt “Fanfan” nur einem: Gérard Philipe. Er hat wahrlich große Rollen gespielt, den “Cid” oder den Prinzen von Homburg etwa in Vilars legendärem “Théatre National Populaire”, in den Filmen “Teufel im Leib”, “Monsieur Ripois”, “Pakt mit dem Teufel”, “Rouge et Noir”. Der Fanfan war nicht seine wichtigste Rolle, aber ganz bestimmt seine schönste. So, als den jungenhaften Draufgänger, den leidenschaftlichen Liebhaber mit den vollen Lippen, den zärtlichen Augen, der nachdenklichen Stirn, dem wilden Schopf werden wir ihn in Erinnerung behalten, als den liebenswürdigen und lausbubenhaften Helden wider Willen, der, rauh und zart zugleich, die Herzen im Sturm eroberte – auf der Leinwand und im Zuschauerraum. Er ist zu jung gestorben, schon mit 37, aber auf der Höhe des Ruhms, ein grandioser Schauspieler, ein Volksmythos bis heute, ein reifer Mann und gleichzeitig ein strahlender Jüngling: Fanfan, der Husar. Urs Jaeggi 44 2001: Odyssee im Weltraum 2001: A Space Odyssey (Großbritannien 1965-68) Regie: Stanley Kubrick. Buch: Stanley Kubrick und Arthur C. Clarke, nach seiner Kurzgeschichte “The Sentinel”. Kamera: Geoffrey Unsworth, John Alcott. Musik: Johann und Richard Strauß, Aram Katchaturian, György Ligeti. Darsteller: Keir Dullea, Garry 136 http://www.mediaculture-online.de Lockwood, William Sylvester, Daniel Richter. Dauer: 160 Minuten/140 Minuten. Vertrieb: IMV. Heute über einen Film zu schreiben, der gestern produziert worden ist und das Morgen zum Inhalt hat, ist gar nicht so einfach. Um so schwieriger gar, als sich “2001: A Space Odyssey” von Stanley Kubrick gängigen Science-Fiction-Mustern entzieht. Der 1968 herausgebrachte Film befaßt sich nämlich tatsächlich mit der Zukunft – im Gegensatz zu den meisten Filmen dieses Genres, die im Gewand des Futuristischen die Probleme und Verhaltensweisen der Gegenwart transportieren. Kubricks Zukunft ist indessen, ein Stück weit zumindest, Realität geworden. Wir können uns ziemlich genaue Vorstellungen davon machen, wie ein Raumgleiter oder eine Forschungsstation im All auszusehen hat. Und wir haben inzwischen Fotografien gesehen, die uns präzise Aufschlüsse über die Beschaffenheit zahlreicher anderer Planeten geben. Daß Kubricks Weltraumabenteuer inzwischen nicht in der Mottenkiste der von der Zeit überrannten Science-fiction-Produktionen gelandet ist und allenfalls noch filmhistorisches Interesse weckt, hat im wesentlichen zwei Gründe. Da bewahrt zum einen diesen Film, der ein Jahr vor der ersten Landung des Menschen auf dem Mond (1969) entstanden ist, Kubricks damalige Weitsicht – oder besser gesagt: die Kühnheit seiner Vorstellungskraft und die Sorgfalt seiner wissenschaftlichen Recherchen auch heute noch vor jeder Lächerlichkeit. Gewiß gibt es da einige Details, die überholt sind. Interessanterweise sind es kaum solche technischer Natur, sondern rein modeabhängige Äußerlichkeiten, die wir heute lediglich als störend in der Optik empfinden: die adretten Uniformen mit den putzigen Kugelhütchen der Weltraum-Damen zum Beispiel. Das Technische also ist die eine Säule, die diesen Film trägt. Raumschiffe schweben – nicht zufälligerweise zu den Klängen des Walzers “An der schönen blauen Donau” von Johann Strauß – fast tänzerisch durch das All. Menschen bewegen sich im schwerelosen Raum wie im Ballett und begegnen der künstlichen Intelligenz des phantastischen Computers HAL 9000. Die Faszination des Technischen ist grenzenlos, und die Menschen in Stanley Kubricks Film erliegen ihr. Der Mensch als homo technicus ist das Bild, das der Regisseur entwirft, und er rafft es zusammen in jener inzwischen Filmgeschichte gewordenen Sequenz, in der sich der eben von einem Urmenschen als 137 http://www.mediaculture-online.de Werkzeug entdeckte und aus Begeisterung in die Luft geworfene Knochen wie im Flug in ein modernes Raumschiff verwandelt. In der Darstellung der Menschheits-Evolution als reiner Technologie erschöpft sich Kubricks “2001: Odyssee im Weltraum” freilich nicht. Der Regisseur setzt ihr – und das macht den Film sowohl vertrackt wie auch heute noch für eine intensive Auseinandersetzung gut – die Dimension des Mythologischen entgegen. (Musikalisch findet sie ihre Entsprechung in Richard Straussens Tondichtung “Also sprach Zarathustra”.) Sie zeigt einerseits die Grenzen der Machbarkeit aller Dinge auf – nicht zufällig sind es die “menschlichen” Reaktionen des Computers HAL, die der Expedition des Raumschiffs “Discovery” auf der Suche nach einer geheimnisvollen außerirdischen Intelligenz ein abruptes Ende setzen –, andererseits stellt sie menschliches Dasein in einen Zusammenhang makrokosmischen Ausmaßes. Darin erscheint der Mensch als Teil eines ständigen Schöpfungsvorganges von Werden, Sein und Vergehen, der von einer höheren, unbeeinflußbaren Macht gesteuert wird. Diese wird im Film verkörpert durch einen Monolithen, der seine Signale in Richtung des Jupiter sendet und der dem Astronauten nach dessen Sturz durch die Galaxien und die Zeiten am Sterbebett mit der hoffnungsvollen Verheißung neuen Lebens – dargestellt durch einen Fötus, der den Planeten Erde in gleicher Größe berührt – erscheint. Es hat gerade diese Dimension des Mythologischen immer wieder dazu geführt, “2001: Odyssee im Weltraum” als einen Film mit christlichen Ambitionen und religiösem Hintergrund zu interpretieren. Das ist, mit Verlaub, so nicht haltbar. Kubricks Werk bewegt sich gerade im Bereich der philosophischen Dimension viel zu sehr im Vagen, letztlich Unverbindlichen, als daß es sich als christlich oder religiös reklamieren ließe. Der mythologische Ansatz reicht gerade aus, die Evolution des Menschen zum reinen homo technicus in Frage zu stellen und damit die Sinnfrage anzuschneiden. Das ist gewiß nicht wenig; mehr jedenfalls, als in den meisten Science-fiction-Filmen, die seither gedreht worden sind, thematisch behandelt wird. Aber es ist auch kein Zufall, daß die mythologische Dimension in Kubricks Film wie ein Anhängsel wirkt – aufgepfropft gewissermaßen auf jene kleine Groschengeschichte, die dem Film als Plot dient: Arthur C. Clarke erzählt in seiner Short story “The Sentinel” von 138 http://www.mediaculture-online.de einer Pyramide, die ein Mondforscher auf dem Erdtrabanten entdeckt und die er vorerst als das Überbleibsel einer ausgestorbenen Zivilisation betrachtet. Dann allerdings häufen sich die Indizien, daß es sich bei der Pyramide um eine Beobachtungsstation handelt, die seit Jahrmillionen genaue Daten über die Entwicklung der Menschheit an eine intelligente Zivilisation im Weltall übermittelt. Daß diese ferne Zivilisation nach der Entdeckung ihrer Station zu sofortigem Handeln gezwungen wird, liegt für den Forscher auf der Hand. Bei der Ergänzung dieses Nichts von einer Geschichte mit der Frage nach dem Sinn menschlichen Forschens und Handelns ist Kubrick im Bereich des rein Mythologischen steckengeblieben. Das hat aber immerhin dazu gereicht, dem Film neben der faszinierenden technischen Ausstattung eine zweite, tragfähige Säule zu geben. Wer indessen die philosophisch-religiöse Ebene sucht, wird sich an einen anderen Sciencefiction-Film halten müssen: an Andrej Tarkowskijs “Solaris”, der ungefähr zur selben Zeit entstanden ist. Heinz Kersten 45 Große Freiheit Nr. 7 (Deutschland 1944) Regie: Helmut Käutner. Buch: Helmut Käutner und Richard Nicolas. Kamera: Werner Krien. Musik: Werner Eisbrenner. Darsteller: Hans Albers, Gustav Knuth, Günther Lüders, Hans Söhnker, Hilde Hildebrandt, Ilse Werner. Länge: 108 Minuten. Vertrieb: (UFA). Bei den Informationstagen mit Kurzfilmen aus der Bundesrepublik 1987, die jeweils dem internationalen Wettbewerb der Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen vorangehen, bestand eine kleine, sonst ganz unerhebliche Sieben-Minuten-Produktion aus nicht viel mehr als dem Lied “La Paloma”, das mit der unverwechselbaren Stimme von Hans Albers 139 http://www.mediaculture-online.de zu hören ist, während im Bild ein junger Mann vor dem Hintergrund eines blauen Sees imitiert, er sänge selbst. “Ein Sänger lebt länger”, nannte Klaus Telscher sein Filmchen. Natürlich ist es nicht jenes Lied allein, unter dessen Klängen Hans Albers Ende Juli 1960 in Hamburg-Ohlsdorf zu Grabe getragen wurde, das den singenden Schauspieler über seinen Tod hinaus lebendig erhalten hat. Aber “La Paloma – Die Taube”, keine Filmkomposition, sondern ursprünglich ein mexikanisches Liebeslied aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, drückte als Schlager vielleicht am besten aus, womit man den “blonden Hans” identifizierte: ein uns heute ziemlich fragwürdig gewordenes Männlichkeitsideal, Seefahrtsromantik und eine Prise Sentimentalität. “La Paloma” wurde zum berühmtesten sentimentalen Gassenhauer der vierziger Jahre. Albers sang das Lied in “Große Freiheit Nr. 7”, dem 88. der insgesamt 107 Filmen, in denen er mitwirkte – mehr als die Hälfte waren Stummfilme –, und sicher einem der besten. Diese Qualität ist vor allem Helmut Käutner zu verdanken, dem Regisseur und (zusammen mit Richard Nicolas) Drehbuchautor, von dem auch der von Hans Albers gesungene Text zu “La Paloma” und dem anderen bis heute frisch gebliebenen Schlager jenes Films stammt: “Beim ersten Mal da tut's noch weh ... ”. Käutner, der als Kabarettist bei den “Vier Nachrichtern” begann und für den Film zuerst Drehbücher schrieb, war eine der stärksten Regie-Begabungen des deutschen Films der vierziger und fünfziger Jahre, einer, der auch in der Nazizeit seine Integrität bewahrte. Neun Unterhaltungsfilme, die er zwischen 1939 und 1945 drehte, zeichnen sich durch ein in diesem Genre ungewöhnliches Niveau aus. Die Verwandtschaft zum poetischen Realismus der Franzosen, die sich schon in seiner “Romanze in Moll” (1943) und dann wieder bei “Unter den Brücken” (1944/45) zeigt, findet sich auch in der zwischen diesen beiden Arbeiten entstandenen “Großen Freiheit Nr. 7”, dem achten Farbfilm deutscher Produktion. Die an sich konventionelle Seemannsgeschichte mit Dreieckskonflikt wirkt, abgesehen vom etwas geschönten Reeperbahn-Milieu, durchaus lebensecht, rutscht auch in ihren tragischen Momenten nie in bloße Sentimentalität ab. Im Ensemble erstklassiger Schauspieler durchbricht auch Hans Albers sein Klischee des automatisch siegreichen Hoppla-jetzt-komm-ich- 140 http://www.mediaculture-online.de Durchreißertyps und gewinnt in der Verzweiflung über das Zerrinnen seines Traums vom Eheglück anrührende Züge. Er ist hier der Stimmungssänger Hannes Kröger in einem Hippodrom auf St. Pauli. Mit der Chefin des Etablissements (Hilde Hildebrandt) verbinden den ehemaligen Matrosen mehr als nur geschäftliche Beziehungen, aber richtig verliebt er sich erst in Gisa (Ilse Werner). Sie hat er zu sich nach Hamburg geholt, weil dies der letzte Wunsch seines verstorbenen Bruders war, der das Mädchen einst sitzenließ. Die neue Wohngefährtin jedoch bevorzugt einen Werftarbeiter (Hans Söhnker). Mit ihm verbringt Gisa die erste Nacht ausgerechnet, als Hannes sie daheim mit einer Verlobungsfeier überraschen will. Der an Land verschlagene Seemann verzichtet also auf die schon angesteuerte bürgerliche Existenz als Barkassenkapitän einer eigenen Hafenrundfahrt und geht mit seinen Kumpels Jens (Günther Lüders) und Fiete (Gustav Knuth) zurück an Bord des Segelschoners “Padua”. Mit der Realität des vierten Kriegsjahres hatte das natürlich nichts zu tun. Die holte das Filmteam trotzdem ein. Während der Dreharbeiten wird Hamburg mehrfach von den Briten bombardiert, und auch die in den Tempelhofer UFA-Ateliers als Dekoration aufgebaute Große Freiheit fällt einer Bombe zum Opfer. In Prag, wohin in der letzten Kriegsphase viele Filmproduktionen ausweichen, wird die “Große Freiheit” vollendet. Das “Nr. 7” ist dem ursprünglichen Titel angehängt: weil die NS-Propaganda unerwünschte Assoziationen vermeiden möchte, wird später vermutet – weil der bloße Straßenname außerhalb Hamburgs nicht verstanden würde, hieß es damals. Trotzdem nimmt der Gauleiter der Hansestadt, Kaufmann, Anstoß an einigen Filmpassagen, und Goebbels ordnet daraufhin Schnitte an. Manchen Versionen zufolge soll der Reichspropagandaminister sogar persönlich im Bunde mit dem Marine-Oberbefehlshaber Dönitz für ein Verbot des Films gesorgt haben. Tatsache ist, daß er von der Zensur nur für das Ausland freigegeben und nach der Uraufführung am 15. Dezember 1944 in Prag außerdem lediglich zur Truppenbetreuung eingesetzt wurde. Die deutsche Erstaufführung fand erst nach dem Kriege, am 9. September 1945, in Berlin statt. Seitdem gehört “Große Freiheit Nr. 7” zum Bestand jener deutschen Filme, die ihre Entstehungszeit überdauert haben. 141 http://www.mediaculture-online.de Walter Schobert 46 Belle de Jour – Schöne des Tages Belle de Jour (Frankreich/Italien 1966/67) Regie: Luis Buñuel: Buch: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, nach dem Roman von Joseph Kessel. Kamera: Sacha Vierny. Schnitt: Louisette Hautecoeur. Darsteller: Cathérine Deneuve, Jean Sorel, Michel Piccoli, Geneviève Page, Francisco Rabal, Pierre Clémenti. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: Euro-Video. “Belle de jour” heißen im französischen Volksmund Blumen, die nur tagsüber aufblühen; “Belle de jour” wird die kühle Blonde von Madame Anais genannt, bei der sie nur tagsüber, genauer von 14 bis 17 Uhr, arbeitet. In einem als Modesalon getarnten Bordell steht sie zusammen mit anderen Mädchen den Freiern zur Verfügung, befriedigt deren sexuelle Bedürfnisse, die auch perverse Varianten wie Masochismus und Fetischismus einschließen. Es geht nicht nur um Geld, manche Frauen suchen das Abenteuer, die aufregende Abwechslung – Belle verlangt es nach Befriedigung. Denn im anderen Teil ihrer Existenz, die sie den Rest des Tages lebt, ist sie Sévérine und mit einem jungen Arzt verheiratet, findet aber in ihrer Ehe zwar wohlhabende, großbürgerliche Verhältnisse, jedoch kein sexuelles Glück, bleibt frigide, kühl bis zur Unnahbarkeit gegenüber ihrem Mann. Durch seinen Freund Husson erfährt sie von dem Puff. Der Umgang mit den Kunden scheint die Erfüllung ihrer Träume zu bringen – bis sie eines Tages auf den jungen, abgerissenen kleinen Gangster Marcel trifft, der sich in sie verknallt, sie auch nachts besitzen will und aus Wut ihren Mann niederschießt. Der bleibt forthin gelähmt und muß zudem auch noch durch Husson von Belles/Sévérines Doppelleben erfahren, die ihn, nun ganz Hingabe, aufopfernd pflegt. Wer sich bis dahin noch in einer billigen, trivialen Mixtur aus Krimi und Softporno wähnte und nicht in einem Film des großen, bösen, alten Buñuel, der bekommt sie jetzt in den Schlußeinstellungen zu spüren, die Pranke des Meisters, der den Zuschauern, wie schon 142 http://www.mediaculture-online.de oft, listig entgegengekommen war, um ihnen dann um so heftiger den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Denn kaum hat Sévérine dem Gemahl mitgeteilt, daß sie seit seinem “Unfall” nicht mehr träume, steht der vom Rollstuhl auf und wandelt, als sei nichts gewesen, tiefe Zweifel hinterlassend, was jetzt nun eigentlich geträumt sei, das Unglück des Mannes oder die Heilung seiner Frau. Während dann ein Leitmotiv erklingt, rollt eine leere Kutsche durchs Bild, die man schon ganz zu Anfang gesehen hat, da aber mit dem Ehepaar durch eine Herbstlandschaft fahrend. Doch die Idylle trog: Vor Zorn über die frigide Partnerin läßt der Gatte sie von den Kutschern an einen Baum binden, auspeitschen, vergewaltigen. Die realistisch gefilmte Szene findet ein abruptes Ende: Man sieht Sévérine im Ehebett, erwachend, und die Vergewaltigung erscheint als Traum, als Wunsch eher denn als Alptraum. Anders als in früheren Filmen schneidet Buñuel hart, dadurch die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit paradoxerweise fließend machend, verwischend. Nie darf man sich sicher sein, auf welcher Seite des Bewußtseins die Protagonistin sich gerade aufhält. Dadurch gehört gerade derjenige seiner Filme, dessen Story am einfachsten und am linearsten angelegt zu sein scheint, zu seinen komplexesten und verwirrendsten Werken. Wer, im Hinblick auf den etwas verstaubten Roman Kessels, ein vielleicht etwas lüsternes, aber eher doch mildes Alterswerk erwartet hat, sah sich enttäuscht – und entsprechend waren die Reaktionen der Kritik: Sie schwankte zwischen zorniger Ablehnung eines angeblich nur an Perversionen interessierten Films und Ratlosigkeit ob der vermuteten Studie eines psychopathologischen Falles, häufig darauf verweisend, daß nun auch Buñuel keinen Biß mehr hätte. Inzwischen sieht man klarer: Er hatte ihn noch. “Belle de jour” ist zwar im gewissen Sinn ein Bruch mit den vorhergegangenen Werken, und unübersehbar ist, allein durch die Verwendung der Farbe, die größere ästhetische Opulenz, die natürlich den Schaubedürfnissen des Publikums entgegenkommt. Die besseren äußeren Bedingungen, unter denen Buñuel arbeiten konnte, erlaubten ihm prominente Stars in ausgewählten Dekors, schönen Kostümen und gehobenem Milieu. Dennoch ist “Belle de jour” kein Film der Anpassung. 143 http://www.mediaculture-online.de Mit ihm ließ sich der Regisseur nach langen Jahren der Arbeit in Mexiko, in den USA (als Mitarbeiter im Museum of Modern Art) und Spanien (wo er mit dem sogleich verboteten “Viridiana” seinen vermutlich bedeutendsten Film gemacht hat) endgültig wieder in Frankreich nieder, wo er 1928/30 mit “Un Chien Andalou” und “L'Âge d'Or” zwei Klassiker geschaffen hatte, die seinen Ruhm als surrealistischer Bürgerschreck und Antiklerikalist dauerhaft begründeten. Im Rückblick wird heute klar, daß “Belle de jour” nicht der letzte Film eines kränkelnden Regisseurs ist, als der er damals avisiert war, sondern der erste einer ganzen Reihe von Filmen, die Buñuel, der zum ersten Mal sorglos arbeiten konnte, in schöner Regelmäßigkeit realisierte. In ihnen schilderte er Frauen als Opfer der herrschenden Ordnung, setzt sich auseinander mit dem Großbürgertum, mit dessen Konventionen und Vorurteilen und attackiert dessen Moral und Irrationalität. Vielleicht etwas verbindlicher im Ton, witziger und ironischer als früher, aber immer noch mit dem Scharfblick und der Unnachgiebigkeit, die ihm Ulrich Gregor in der “Geschichte des modernen Films” attestierte, nimmt Buñuel die Institutionen der herrschenden Klasse aufs Korn und entlarvt die Ehe als einen Ort der Unfreiheit. Einzig Angriffe auf die katholische Kirche fehlen, die er sonst als eine der Stützen des Systems verspottete. “Belle de jour”, kein Zweifel, ist ein echter Buñuel, wenn auch nicht einer der ganz bedeutenden. Niemand sah das schärfer als der Regisseur, dessen Gesamtwerk ihm einen sehr einsamen Rang in der Filmgeschichte gibt und ihn als einen der wirklichen Individualisten ausweist. In seinen wunderschönen Memoiren “Mein letzter Seufzer” nennt er den Film den “wahrscheinlich größten kommerziellen Erfolg meines Lebens”, was er indes, hellsichtig und unbestechlich auch gegen sich selbst, “mehr den Nutten” zuschreibt als seiner Arbeit. Horst Schäfer 144 http://www.mediaculture-online.de 47 Einer flog über das Kuckucksnest One flew over the Cuckoo's Nest (USA 1975) Regie: Milos Forman. Buch: Lawrence Hauben, Bo Goldman, nach dem Roman von Ken Kesey. Kamera: Haskell Wexler. Musik: Jack Nitzsche. Darsteller: Jack Nicholson, Louise Fletcher, William Redfield. Länge: 124 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP. Randy P. McMurphy, 35, wird für befristete Zeit zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Er gilt als unangepaßt und ist wegen Schlägerei, Trunkenheit und Notzucht verurteilt worden. In der geschlossenen Abteilung reibt er sich bald an dem perfekten Behandlungsplan, der individuelle Zuwendung nicht erlaubt. Der clevere McMurphy, der seinen Zustand nur simuliert, provoziert die mit Drogen und Elektroschocks behandelten Patienten zur Auflehnung gegen das stumpfsinnige und erniedrigende Anstaltsritual. Das Personal – eine despotische Oberschwester und ein paar brutale Wärter – greift zu harten Gegenmaßnahmen, um den aufkommenden Widerstand zu brechen. McMurphy bereitet seine Flucht vor und freundet sich dabei mit dem Indianer “Chief” Bromden an, der sich – um seiner Selbstachtung willen – taubstumm stellte. Unmittelbar vor dem Ausbruch eskaliert die angespannte Situation zu einem anarchistischen Chaos, das mit dem Selbstmord eines von der Oberschwester gedemütigten Patienten endet. McMurphy, der das System überlisten wollte, wird nun zu einem Opfer des Systems; er wird einer Gehirnoperation unterzogen und willens- und gefühlsunfähig gemacht. Wer sich nicht normal verhält und dabei nicht psychisch gestört ist, ist gefährlich und wird ausgeschaltet. Der Indianer hat Mitleid mit dem apathischen McMurphy. Er erstickt ihn mit einem Kissen und flieht allein “über das Kuckucksnest”. 145 http://www.mediaculture-online.de “Einer flog über das Kuckucksnest” ist kein kritischer Bericht über psychiatrische Kliniken und Heilanstalten, sondern eine Gesellschaftssatire mit deutlichen Parallelen zu einem System, das mit menschenverachtenden Reglementierungen, vorgezeichneten Wegen und verschlossenen Türen individuelle Lebensformen nicht erlaubt und nur angepaßte Verhaltensmuster zuläßt. Der Film plädiert für engagierte Auflehnung gegen inhumane Unterdrückungsmechanismen einerseits und für die Notwendigkeit des Aufeinanderzuund Aufeinandereingehens andererseits. Er wurde unter Mitwirkung echter Patienten im Oregon State Hospital in Salem gedreht. Jack Nicholson hatte sich auf seine Rolle intensiv vorbereitet und während der Dreharbeiten viel Freiraum für Improvisationen, was dem Film seine authentische Note verleiht. Nicholsons schauspielerische Leistung wurde mit einem der insgesamt vier großen Oscars, die der Film 1975 gewann, ausgezeichnet. Es ist aber nicht nur der Film von Jack Nicholson, sondern auch der des im Mai 1987 im Alter von 53 Jahren verstorbenen Schauspielers Will Sampson. Er war Begründer und Führer der Indian Talent Registry, einer zentralen Organisation für indianische Mitarbeiter in den Medien. Seiner Rolle wegen gehört Formans Film zu den wenigen von über zweitausend “Indianer”-Filmen, die wegen ihres Bruchs mit diffamierenden Klischeefiguren von den indianischen Filmemachern und Schauspielern geschätzt und positiv beurteilt werden. Koproduzent Michael Douglas bewies eine glückliche Hand, als er die Stoffrechte an “Einer flog über das Kuckucksnest” seinem Vater Kirk abkaufte, der diese zuvor für eine (nicht sonderlich erfolgreiche) Bühnenfassung des Romans erworben hatte. Mit Milos Forman nahm er einen Regisseur unter Vertrag, der 1970 in seinem ersten in den Staaten gedrehten Film “Taking Off” – das Porträt einiger Jugendlicher, die dem Establishment den Rücken kehren – bereits bewiesen hatte, daß seine Beobachtungsgabe und sein Geschick für spöttische Gesellschaftskritik auch außerhalb des vertrauten sozialistischen Alltags nicht an Schärfe und Treffsicherheit eingebüßt hatten. Milos Forman, geboren 1922 in Čáslav/ČSSR, besuchte die Filmhochschule in Prag und debütierte 1963 mit einer witzigen Dokumentar-Montage über Amateur-Wettbewerbe. In den in der ČSSR entstandenen Filmen “Der schwarze Peter” (1963), “Die Liebe einer Blondine” (1965) und “Anuschka – es brennt, mein Schatz” (1967) erwies er sich als 146 http://www.mediaculture-online.de treffsicherer Karikaturist spießbürgerlicher Verhaltensnormen, die er – meist liebevoll und ironisch, manchmal aber auch überspitzt und sarkastisch ins Bild setzte. Seine Filme, von den Offiziellen wenig geschätzt, waren beim Publikum überaus erfolgreich und setzten die Maßstäbe für das tschechoslowakische Filmschaffen des Prager Frühlings. 1968 ging Forman nach Hollywood, wo ihm mit “Einer flog übers Kukkucksnest” der große Durchbruch gelang. Nach diesem Erfolg wurden ihm lange Zeit keine passenden Stoffe mehr angeboten, so daß er sich 1979 mit mutigem Elan an die Verfilmung des angestaubten Bühnenmusicals “Hair” wagte. Mit einem politisch aktualisierten Handlungsrahmen und schnellen, rhythmischen Bild- und Musik-Montagen gelang ihm das Kunststück, an untergegangene Werte der Hippie-Kultur zu erinnern: an Protest und Widerstand gegen Repression und Waffengewalt. 1981 setzte Forman mit “Ragtime” nicht nur der Musik der Schwarzen ein Denkmal, sondern auch dem Hollywood-Star James Cagney (gestorben 30. 3. 1986); hier in seiner letzten großen Rolle: diesmal kein draufgängerischer Kleingangster, sondern ein abgeklärter, mit allen Wassern gewaschener Polizeichef. Mit “Amadeus” (1984) konnte Forman seinen Erfolg von 1975 wiederholen und sogar noch übertreffen: Der Film erhielt insgesamt acht Oscars. Forman wurde zum zweiten Mal als “bester Regisseur” ausgezeichnet. Helmut Regel 48 Das Kabinett des Dr. Caligari (Deutschland 1919/20) Regie: Robert Wiene. Buch: Carl Mayer, Hans Janowitz. Kamera: Willy Hameister. Bauten: Walter Röhrig, Hermann Warm, Walter Reimann. Darsteller: Werner Krauss, Conrad Veidt, Lil Dagover, Friedrich Fehör. Länge: 70 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. 147 http://www.mediaculture-online.de Der auch im Ausland wohl bekannteste deutsche Stummfilm ist eine GruselKriminalgeschichte. In einem norddeutschen Provinzstädtchen namens Holstenwall präsentiert der Schausteller Dr. Caligari (Werner Krauss) auf dem Rummelplatz ein Medium, den Somnambulen Cesare (Conrad Veidt). Cesare wird tags aus seinem “Cabinet”, einer Holzkiste, geholt, um den Schaulustigen ihr Schicksal vorherzusagen, und nachts unter hypnotischem Befehl ausgeschickt, um schlafwandelnd zu morden. Der unfreundliche Stadtsekretär wird ebenso erstochen wie der junge Alan, dem Cesare den Tod vorausgesagt hat. Als Cesare auch das Mädchen Jane (Lil Dagover) umbringen soll, erwacht erstmals sein innerer Widerstand. Er verschleppt Jane und stürzt auf der Flucht ab. Franzis, Janes Freund, entlarvt Caligari als Direktor einer nahen Irrenanstalt, der – fasziniert von einer Chronik des 18. Jahrhunderts – in die Figur Caligaris geschlüpft ist, um mit einem Patienten als Cesare wissenschaftlich zu experimentieren. Cesares Tod läßt Caligari in geistige Umnachtung fallen: Er wird Insasse seiner eigenen Anstalt. Der Stoff könnte aus der deutschen Romantik, etwa von E. T. A. Hoffmann, stammen. Die romantische, geheimnisvoll abgründige Nacht- und Spukwelt der Kunst- und Automatenmenschen, der Widergänger und Vampire hat den frühen deutschen Stummfilm nachhaltig beeinflußt, beginnend 1913 mit dem “Student von Prag”, verstärkt dann nach dem Ersten Weltkrieg. Die Kernhandlung des “Caligari”, ein vom Grauen durchtränkter Alptraum, wurde allerdings in ihrer Rigorosität durch eine Rahmenhandlung abgeschwächt. Franzis erzählt im Garten einer Irrenanstalt die Handlung als eine Art Rückblende und verwandelt in Wahnvorstellungen seine Mitpatienten in die Figuren einer Fieberphantasie-Geschichte. Der dämonische Direktor alias Caligari erweist sich in der Rahmengeschichte als gütiger Arzt und Psychotherapeut, der am Schluß den Ursachen für Franzis' Verwirrung auf die Spur kommt. Wer für die Rahmenkonstruktion letztlich verantwortlich zeichnete, ob der Regisseur Dr. Robert Wiene, der Produktionsleiter Rudolf Meinert oder der Vorstand der produzierenden Decla-Film-Gesellschaft Holz & Co., bleibt im Dunkel. Die Autoren Hans Janowitz und Carl Mayer jedenfalls stellten sie später als eine Verfälschung ihres Drehbuchs dar. In der Gestalt des Dr. Caligari sei der Vertreter staatlicher Autorität und Allmacht attackiert 148 http://www.mediaculture-online.de worden, die ihre willenlosen Untertanen, die Cesare-Menschen für ihre Militär- und Kriegsmaschinerie mißbraucht. Diese a posteriori-Deutung der Autoren, der auch Siegfried Kracauer in “Von Caligari zu Hitler” folgt, läßt sich nur schwer beweisen. Auf jeden Fall decouvriert die Kernhandlung eine etablierte wissenschaftliche Autorität als Verbrecher, später als Geisteskranken; die Rahmenkonstruktion stellt das Ansehen des “Herrgotts in Weiß” wieder her. Bei Betrachtung der deutschen Filme nach 1918 bot es sich an, ganz besonders “Caligari” als Ausdruck des Zeitgeistes zu verstehen. Man konnte ihn als das psychische Seismogramm einer zerrissenen Gegenwart lesen, einer durch die Kriegsschrecken und den Zusammenbruch vom November 1918 verwundeten Volksseele. In einer Zeit, die aus den Fugen war, durfte der Bürger seine Ohnmacht und seine Ängste im Grauen von Holstenwall gespiegelt sehen. Nicht nur Kracauer deutete “Caligari” und verwandte Filme auf diese Weise. Der Dr. Caligari schien ihm eine Reihe tyrannisch-despotischer Schreckgestalten anzuführen, die bei Hitler endete. Dem läßt sich widersprechen. Der bedrückte und zerrissene Bürger sucht im Film die Idylle, die heile Welt. Das Publikum dagegen, das im Kino einen Gruselthriller wie “Caligari” honorierte, war im Sommer 1919, als er entstand, längst wieder zum Gleichmaß konservativen Lebens – fast wie vor 1914 zurückgekehrt, vor allem in der deutschen Provinz. Das Jahr 1918 war keine Zäsur, die Revolution nicht durchgedrungen, Spartakus vergessen. Umbruch, Aufbruch, das fand in wenigen geistigen Zentren Deutschlands in den Köpfen von Intellektuellen und Künstlern statt. “Caligari” entstammt dem Brodeltopf des Nachkriegs-Berlin, randvoll von Ideen, Innovationen, Kreativität. “Caligari” verdankt seinen Weltruf drei expressionistischen Bühnenarchitekten und Malern, Mitgliedern der Berliner Künstlergruppe “Der Sturm”: Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig. Die bescheidene Produktionsfirma Decla konnte sich für die Ausstattung den berühmten Alfred Kubin, den sein Prager Landsmann Janowitz vorgeschlagen hatte, nicht leisten. Auch für Außenaufnahmen, für aufwendige Freigelände-Bauten war kein Geld da. Zur Verfügung stand nur das enge Lixi-Atelier in Berlin-Weißensee, in dem der Film in nur viereinhalb Wochen – drei Bautage inbegriffen – abgedreht wurde. 149 http://www.mediaculture-online.de So ergab sich für Warm, Reimann und Röhrig, die drei Expressionisten, die einmalige Chance, aus der Not eine Tugend, das heißt, aus Pappe und Sperrholz eine völlig unnaturalistische, visionäre Alptraumwelt zu machen. “Das Filmbild muß Graphik werden”, so Hermann Warm. Alle Interieurs und Exterieurs des Films wurden daher in aperspektivische Kulissen zerbrechender Formen gefaßt. Groteske ZerrspiegelVerkürzungen und Überdehnungen, zuckende Linien, schlingernde Ornamente trafen genau den Kern der Filmhandlung. Die Lichtgebung überließ man nicht den JupiterLampen, sondern malte die Dissonanzen von greller Helligkeit und tiefer Schwärze unmittelbar auf die Kulissen auf. In analoger Weise wurden übrigens auch die Darsteller geschminkt. Das Gerücht hält sich, dies alles habe auch mit unbezahlten Stromrechnungen des Lixi-Ateliers zu tun gehabt. Der Graphik der Kulissen, die wie riesige, farbig ausgetuschte Kohlezeichnungen wirkten, korrespondierten Gestik und Mimik der Akteure. Vor allem Veidt und Krauss, mit dem expressionistischen Theater verbunden, verwandelten in pantomimischer Verbiegung ihre Körper in Arabesken. Weitere Schauspieler dieser Qualität standen dem talentierten Robert Wiene leider nicht zur Verfügung, dessen große Regieleistung wohl vor allem in der Rhythmisierung des Films – zwischen Idylle und Abgrund, zwischen Ritardando und Beschleunigung – zu sehen ist. Unauffällig-konventionell bleibt im Film lediglich die Kamera Willy Hameisters. Leider steht auf Video bisher nur die Schwarzweißfassung des “Caligari” zur Verfügung. Zugänglich sollte auch die originale Farbversion werden, die das Bundesarchiv-Filmarchiv in Koblenz 1982 rekonstruierte – mit den expressionistischen Original-Zwischentiteln. Wie die meisten Stummfilme bis zur Mitte der 20er Jahre war “Caligari” ursprünglich “viragiert”, das heißt, nachträglich künstlich in monochromen Tönen eingefärbt. Die Tagesszenen erschienen in Braungelb, die Nachtszenen in Blaugrün und Janes Salon in Blaßrosa. Die Rahmenhandlung wies sogar eine Zweifarben-Kombination auf; das blaugetonte Bild stand auf einem braungelb gefärbten Grund. 150 http://www.mediaculture-online.de Thomas Brandlmeier 49 Die Spur des Falken The Maltese Falcon (USA 1941) Regie: John Huston. Buch: John Huston, nach einem Roman von Dashiell Hammett. Kamera: Arthur Richards. Schnitt: Thomas Richards. Musik: Adolph Deutsch. Darsteller: Humphrey Bogart, Mary Astor, Gladys George, Peter Lorre, Sydney Greenstreet, Walter Huston. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Als John Huston 1941 mit “The Maltese Falcon” seinen ersten Film drehte, gelang ihm auf Anhieb ein Klassiker der Filmgeschichte. Dies ist nicht die einzige und auch nicht die erste Verfilmung von Dashiell Hammetts gleichnamigem Roman, aber mit dieser schuf Huston eines der ersten gültigen Beispiele des amerikanischen film noir. Der film noir läßt sich in seiner Blütezeit auf die Jahre 1941 bis 1953 datieren und steht unverkennbar im Kontext von Weltkrieg, Nachkriegstrauma und der ersten hysterischen Phase des kalten Krieges. Hollywood fand im film noir Bilder von einer pessimistischen Düsternis, wie man sie im Land des American dream bis dahin nicht kannte. Die Ängste und Konflikte, die unter der Tünche der offiziellen Euphorie hochkamen, fanden in dieser verwandelten Form einen Ausdruck. Es waren Filme, die so heiße Eisen wie die Beziehung der Geschlechter in Kriegs- und Nachkriegszeiten, die psychischen und moralischen Erschütterungen in Krisenzeiten oder die Zerrüttung und Zerstörung von Familien in die Form ›schwarzer Melodramen‹ kleideten. Oft, aber nicht notwendigerweise, ging es dabei auch um einen Kriminalfall. Autoren wie Hammett, Chandler, Cain mit ihren bitterbösen und zynischen Kriminalromanen fanden in dieser Epoche ihre kongenialen Verfilmungen. Hauptfigur ist in “The Maltese Falcon” Privatdetektiv Samuel Spade/Humphrey Bogart. Nach einem establishing shot von San Francisco beginnt der Film im Büro von Spade. Im Fenster sehen wir den Schriftzug “Spade and Archer”, aber von hinten gefilmt, so daß die Schrift verkehrt erscheint. Eine aufgetakelte Miss Wonderly/Mary Astor tischt eine Geschichte von ihrer Schwester auf, die mit einem verheirateten Mann verschwunden sei. Bogarts Partner Archer kommt hinzu, ist von der Dame angetan und will die Recherchen 151 http://www.mediaculture-online.de übernehmen. Die Szene schließt mit dem Schriftzug “Spade and Archer”, diesmal nicht mehr verkehrt, aber als bedrohlicher Schattenwurf am Boden. Das ist programmatisch für den Film: der äußere Schein der Wirklichkeit ist ein trügerisches Vexierspiel; erst die düstere Schattenseite ergibt ein richtiges Bild. Archer, der auf den Schein hereinfällt, ist mit Beginn der nächsten Szene schon tot. Alle Figuren in diesem Film sind nicht das, was sie vorzugeben scheinen. Mary Astor ist kein schutzbedürftiges Dämchen, sondern die typische noir-Frau, die Männer für ihre Zwecke gegeneinander ausspielt: der männliche Alptraum von Emanzipation in der Konkurrenz-Gesellschaft. Elisha Cook Jr. ist ein Möchtegern-tough guy, Sidney Greenstreet ein Möchtegern-big boss, Peter Lorre ein Möchtegern-Hochstapler, und die trauernde Witwe von Archer hatte jede Menge Liebhaber. Das bad girl (Mary Astor) wird im film noir oft durch das good girl ausbalanciert: die Sekretärin von H. Bogart, die aber weit mehr als nur seine Sekretärin ist. Der einzige, der sich scheinbar selbst gleich bleibt, ist die Hauptfigur des Privatdetektivs. Doch der Verlauf der Handlung und die Erzähltechnik Hustons verlagern sich vom äußeren Geschehen zusehends in die Person von H. Bogart. Schon die Rolltitel zu Beginn des Films warnen vor dem ominösen Malteserfalken, hinter dem alle her sind: “Its fate remains a mystery to this day.” Und zum Ende des Films bekennt Bogart über die Statue: “Das ist der Stoff, aus dem man Träume macht.” Die Recherche des Privatdetektivs gilt einem Phantom (der Falke entpuppt sich als Fälschung), seine Recherche wird immer mehr eine Recherche in eigener Sache. Zunächst mit einem handfesten Motiv: sein Partner ist ermordet und er selbst steht unter Mordverdacht. Aber er drängt sich selbst in die Ecke, indem er alle Seiten, Polizei und Gangster, provoziert. Auch das Motiv ›Geld‹ löst sich zum Schluß in Luft auf, weil er auf das Geld verzichtet. Auf die Frage, wen er eigentlich vertritt, antwortet er “mich selbst”. Die Kamera filmt ihn immer wieder über die Schulter, also aus einem pseudosubjektiven Blickwinkel. Seine persönliche, psychische Involvierung in dem Fall wird unübersehbar; in einer Szene markiert er den starken Mann, danach wischt er sich den kalten Schweiß von den zitternden Händen. Der Fall entwickelt sich zu einem bad trip: narkotisiert, derangiert, übernächtigt und bis über beide Ohren in der Klemme. 152 http://www.mediaculture-online.de Im Zentrum der eigentlichen Geschichte, dieser modernen Odyssee Bogarts, die durch Autos und Telefone rasend beschleunigt ist, steht seine Beziehung zu Mary Astor. Diese Beziehung stellt sich als ein einziges riesiges Lügenrätsel dar, durch das der Privatdetektiv den Weg der Selbstfindung beschreiten muß. Miss Wonderly taucht auf, gibt einen Beschattungsauftrag, zwei Leichen bleiben zurück, Miss Wonderly ist verschwunden. Dann taucht sie wieder aus der Versenkung auf, gibt sich mit richtigem Namen als Brigid O'Shaugnessy zu erkennen. Indem sie sich zerknirscht gibt und sich selbst der Lüge bezichtigt, nimmt sie Bogart den Wind aus den Segeln: Er wird den Fall weiter bearbeiten. Diese zweite Unterredung ist wiederum mit bedrohlichen Schatten charakterisiert, diesmal von Jalousetten. Bei einer dritten Unterredung mit Mary Astor tituliert Bogart sie bereits “Lady Wonderful”, weil sie ihm jedesmal neue Lügen auftischt. Sie verspricht, ihn nicht mehr anzulügen und markiert die schwache Frau, die Hilfe braucht. Auf seine Feststellung “Ich kann nur für Sie arbeiten, wenn Sie mir die Wahrheit sagen”, entgegnet sie ausweichend: “Dafür kenne ich Sie zuwenig.” Bogart revanchiert sich mit einem langen Kuß. Und dies, nachdem durch ihre Schuld sein Partner ermordet wurde, er in Mordverdacht geriet und wiederholt bedroht wurde. Mary Astor haspelt ihren Text nur so runter und verdeckt ihre Lügen durch eine rasante Produktion neuer Fallstricke. Bogart markiert den Coolen, reagiert mit sarkastischen Euphemismen wie “You're good, you're very good”, aber reitet sich sehenden Auges und dennoch blind gegenüber sich selbst immer weiter rein. Nach einigen weiteren Umdrehungen der Schraube kommt es zu der berühmten Schlußaussprache zwischen Mary Astor und Bogart. “Du lügst! Du lügst wieder” ... “Ich habe dich geliebt” ... “Wenn du Glück hast, dann kommst du nach 20 Jahren wieder raus, wenn sie dich nicht vorher aufknüpfen” ... “Du liebst mich nicht” ... “Ich will nicht den Trottel für dich spielen, auch wenn alles in mir danach verlangt ... Mag sein, du liebst mich, mag sein, ich liebe dich.” Danach ein Kuß. Und dann liefert er sie der Polizei aus: “Da ist noch einer für euch ... Sie hat Archer getötet.” Mary Astor wird zum Fahrstuhl geführt, zwei Gittertüren schließen sich vor ihr. Bogart geht zur Treppe: nach unten. Der Privatdetektiv war schon zu weit in das Labyrinth des Lügenrätsels verstrickt. Auf der Ebene des äußeren Scheins hat er den Fall gelöst. Auf der Ebene seines eigenen Falls hat er sich unrettbar an ein Phantom verloren. 153 http://www.mediaculture-online.de Ein Phantom, für das das Fetischobjekt des Falken, aus dem man die Träume macht, nur Metapher ist; die Frau, die echt und falsch, good girl und bad girl, Vamp und treue Gefährtin zugleich ist. Bleibt noch nachzutragen, daß Bogart in der Schlußaussprache eine scheinbare Erklärung für sein Verhalten liefert. “Hör zu: Wenn der Partner eines Mannes getötet wird, erwartet man, daß er was unternimmt.” Die Ähnlichkeit des Wortlautes mit F. D. Roosevelts berühmter Erklärung vom 17.12.1940, die den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg früher oder später unvermeidlich machte, ist eine bemerkenswerte Koinzidenz. Und beide Erklärungen sind moralisierende Lügen, die den Eigennutz verdecken. Bogart/Spade hat zum Schluß seine Haut gerettet, aber – trotz zahlloser anderslautender Interpretationen – seine Integrität verloren. Anm.: Die hier wiedergegebenen deutschen Textvarianten und Teile des Originaltextes sollen etwas von der Prägnanz des Originals vermitteln. Aber wenn Peter Lorre “black burrd” sagt, muß man das wirklich im Original gehört haben! Horst Schäfer 50 Nosferatu (Deutschland 1921-22) Regie: Friedrich Wilhelm Murnau. Buch: Henrik Galeen, frei verfaßt nach dem Roman “Dracula” von Bram Stoker. Kamera: Fritz Arno Wagner und Günther Krampf. Kostüme und Bauten: Albin Grau. Begleitmusik: Dr. Hans Erdmann. (Neue Musikverfassung: Peter Schirmann). Darsteller: Max Schreck, Alexander Granach, Gustav von Wangenheim, Greta Schröder. Länge: 64 Minuten (bei 24 Bildern pro Sekunde). Vertrieb: atlas film + av. 154 http://www.mediaculture-online.de Bremen 1838. Aus dem Tagebuch des Johann Cavallus, des begabten Historikers seiner Heimatstadt Bremen: “Nosferatu! Dieser Name allein kann das Blut erstarren lassen! Nosferatu! War er es, der im Jahre 1838 die Pest nach Bremen brachte?” Ja! Und das kam so: Jonathan Harker erhält von seinem Arbeitgeber, dem Makler Renfield, den Auftrag, nach Transsylvanien zu fahren. Graf Dracula möchte in Bremen ein Haus kaufen, das genau dem von Harker gegenüberliegt. Kurz vor dem Ziel seiner Reise wird Harker von Bauern gewarnt, die Burg des Grafen zu betreten. Nachts im Gasthof liest er noch im “Buch der Vampire” eine weitere Warnung vor “Nosferatu”: “... dieser Name ist wie der Schrei eines Raubvogels. Sprich ihn niemals laut aus ... ” Am nächsten Tag gelangt Harker auf gespenstisch anmutende Weise in die Burg des Grafen, eines sonderbaren Mannes mit kantigen Gesten, finsterem Aussehen, einer skelettartigen Figur, düsteren Augen und langen, krallenähnlichen Fingern. Nach und nach entdeckt Harker, daß er sich in der Gewalt eines Vampirs befindet, der nicht nur für ihn, sondern auch für seine ferne Frau Nina zur Bedrohung wird. Nach der Vertragsunterzeichnung bereitet der Graf seine Abreise vor. Er nimmt sechs Särge mit ungeweihter Heimaterde mit, in denen er ruht, wenn es Tag ist. Harker bleibt allein zurück, kann aber wenig später fliehen, wird verletzt und von Bauern gepflegt. Graf Dracula reist nach Bremen; wo er sich aufhält, bricht eine Pestepidemie aus. Mit einem Schiff, dessen Mannschaft unterwegs stirbt, gelangt er ans Ziel; unbemerkt geht er an Land und zieht in sein neues Domizil ein. Fast gleichzeitig mit ihm trifft auch Harker zu Hause ein. Mit dem Schiff kam auch die “Pest” nach Bremen, die täglich neue Opfer fordert. Nina ahnt, wie sie das Unheil beenden kann. Sie “hält den Vampir an ihrer Seite, bis daß der Hahn kräht”. Die Sonne geht auf, Nosferatu löst sich in ein Rauchwölkchen auf, und die Stadt ist gerettet. Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) gehört zu den Regisseuren, die zu Beginn der zwanziger Jahre den deutschen Filmexpressionismus begründeten (der indes nicht mit dem Vorbild des Expressionismus in der Literatur und in der Malerei verwechselt werden sollte). Durch die Ausformung expressionistischer Stilmittel (unter anderem die Verzerrung der äußeren Welt, um die Psyche des Menschen auszudrücken) entstand ein 155 http://www.mediaculture-online.de filmkünstlerisches Genre, das den Ruhm der deutschen Filmklassik begründete. Zu Murnaus bekanntesten Filmen zählen die Dr. Jekyll and Mr. Hyde-Version “Januskopf”, “Der letzte Mann”, “Tartüff” und “Faust”. 1926 ging er nach Hollywood, wo er sein Meisterwerk “Sunrise” drehte. Murnau starb 1931 an den Folgen eines Autounfalls. “Nosferatu” hält sich nicht an die Handlungsabfolge und Struktur des 1897 erschienenen Romans “Dracula” von Bram Stoker. Personen, Charaktere und Schauplätze wurden wesentlich geändert. Seine besondere künstlerische Bedeutung gewinnt der Film dadurch, daß Murnau den Vampir-Grafen Dracula nicht als billige Spukgestalt oder Horrorfigur zeichnet, sondern zur Personifizierung der Pest erhebt – einer konkreten und vorstellbaren Gefahr. Im Gegensatz zu anderen expressionistischen Filmen, die in Studios gedreht wurden, bevorzugte Murnau hier Außenaufnahmen; unter anderem dreht er in den Karpaten, in Wismar und in der Lübecker Altstadt, wo heute noch die Salzspeicher zu sehen sind, in denen Nosferatu seine Särge unterstellte. Natur, Landschaft, Gebäude und Menschen sind nicht Kulisse, sondern Teil einer durchkomponierten, sich verdichtenden Handlung, die von einer gespenstischen Stimmung getragen wird. Der Drehbuchautor war Henrik Galeen, dessen Vorliebe für phantastische Stoffe (“Golem”) bekannt war. Kostüme und Bauten stammen von Albin Grau, dem auch die Idee zugeschrieben wird: Im Kriegswinter 1916 hörte er in Serbien einen alten Bauern von einem “Untoten”, einem “Nosferatu”, berichten. Der Film “Nosferatu” jedenfalls ist das erste bedeutende Werk des Genres der Vampirfilme und löste eine Reihe von faden Imitationen aus, die beispielsweise heute noch in den Zombie-Filmen variiert werden. Nur wenige dieser Filme, unter anderem “Dracula” von Tod Browning, USA 1931, sind von filmgeschichtlicher Bedeutung; meistens wird der Stoff respektlos ausgebeutet. Exemplarisch geschah dies 1978 mit Werner Herzogs Remake des Murnau-Films “Nosferatu – Phantom der Nacht”: Murnaus filmschöpferische Leistung wurde als Vorlage für das Starkino amerikanischer Konfektion mißbraucht. 156 http://www.mediaculture-online.de “Nosferatu” wurde seinerzeit ohne Sicherung der Stoffrechte produziert. Bram Stokers Witwe führte gegen die Produktionsfirma einen Prozeß, den sie 1925 gewann. Der Film sollte vernichtet werden, aber dafür war es schon zu spät, denn zuvor waren schon Kopien ins Ausland verkauft worden. 1930 kam in Deutschland unter dem Titel “Die zwölfte Stunde” eine Fassung auf den Markt, die durch Hinzufügungen, Umstellungen und eine vertonte Überarbeitung dem Original wenig ähnlich war; Murnaus Name wurde nicht mehr erwähnt. Enno Patalas, der Leiter des Münchner Filmmuseums, hat sich jahrelang um die Rekonstruktion von “Nosferatu” bemüht und durch Auswertung der verschiedenen Auslandsfassungen und -bearbeitungen sich dem Original “angenähert”. Diese (vorläufige) Endfassung ist leider noch nicht auf Video erhältlich. Wer mehr über Murnaus “Nosferatu” erfahren möchte, ist auf das Buch von Lotte H. Eisner (“Murnau”, Kommunales Kino Frankfurt 1979, 664 Seiten) angewiesen. Es enthält unter anderem das Faksimile des von Murnau beim Drehen verwendeten Originalskripts des Films. Hans Gerhold 51 Apocalypse Now Apocalypse Now (USA 1976-79) Regie: Francis Coppola. Buch: John Millus, Francis Coppola, nach Motiven des Romans “Herz der Finsternis” von Joseph Conrad. Kamera: Vittorio Storaro. Musik: Carmine Coppola, Rock-Songs. Darsteller: Marlon Brando, Robert Duvall, Martin Sheen, Frederic Forrest. Länge: 153 Minuten. Vertrieb: marketing film. Es sollte ein kleiner “persönlicher” Film werden, doch die dreijährigen Dreh- und Montagearbeiten trieben die Produktionskosten von Francis Coppolas (den zweiten Vornamen “Ford” hat er 1977 streichen lassen) Vietnam-Kriegs-Vision auf den damaligen Rekord von 30,5 Millionen Dollar. Die Dreharbeiten auf den Philippinen verursachen eine 157 http://www.mediaculture-online.de Inflation im Land, Taifune und Umbesetzungen der Hauptrolle gefährden das Projekt, Coppola selbst findet keinen adäquaten Schluß; noch am 18. Mai 1979 wird “Apocalypse Now” als “work in progress” gezeigt und führt zu einem Präzedenzfall: Der noch unfertige Film erhält (ex aequo mit Volker Schlöndorffs “Blechtrommel” nach dem Roman von Günter Grass) die “Goldene Palme” der Filmfestspiele von Cannes, später, in der integralen Fassung, zwei der begehrten “Oscars” für Kamera und Ton. So berühmt wie umstritten, ist Coppolas opusmagnum ein Anti-KriegsFilm und einer über die Faszination des Krieges, ist er eine politische Stellungnahme zum Vietnam-Krieg und die Evozierung eines Bewußtseinszustandes, ist er eine Reise in den Wahnsinn und ein mystischer Monolith, ist er ein ästhetischer Rausch und die Beschwörung eines Rock'n'Roll- und Drogen-Paradieses im Inferno eines zeitgenössischen Krieges, ist er eine delirierende Weltuntergangs-Vision und eine die Maße sprengende Literaturadaption. Vorlage war der im Ersten Weltkrieg in Afrika spielende Kurzroman des englischsprachigen Polen Joseph Conrad: “Herz der Finsternis”, den Orson Welles 1939 verfilmen wollte, bevor er “Citizen Kane” drehte. Coppola behält das Motiv einer Flußfahrt in Wahnsinn und Horror bei und überträgt es nach Vietnam im Jahre 1969: Captain Willard (Martin Sheen) erhält im Hauptquartier der US-Truppen in Nha Trang den Auftrag, mit einem Patrouillenboot den Nam-Fluß nach Kambodscha hinaufzufahren und dort im Dschungel die Schreckensherrschaft des desertierten Elitesoldaten Colonel Walter E. Kurtz (Marlon Brando verbreitet in dieser Rolle mit träger Konsequenz lähmendes Entsetzen) zu beenden, der aus seinem delirierenden Zustand die Maßstäbe für wüste Eingriffe in die Welt um sich her bezieht. Auf dieser Reise, die eine Initiation in Verwüstung, Grauen, Tod und Mythos wird, erlebt Willard wie in einem Stationen-Drama nicht so sehr den historisch fixierbaren und situierbaren Vietnam-Krieg, sondern das, was man als die geistige und mythische Erfahrung dieses Krieges im Bewußtsein und Unterbewußtsein bezeichnen kann. Erschießungen, Panik, Feuersbrünste, Überfälle, Ausschreitungen und Bestialitäten über jegliches Maß hinaus lösen sich im Verlauf des Films von ihrem zunächst realistischen Hintergrund und verdichten sich zu einem Kontext, der die Philosophie des Schreckens, 158 http://www.mediaculture-online.de wie sie Kurtz dämonisierend predigt, mit einem Blick auf die im Umbruch befindliche amerikanische Kultur verbindet. Dieser ethischen und ästhetischen Prämisse konsequent folgend, eröffnet Coppola den Film mit dem psychedelischen Rock-Song der Gruppe The Doors: Zu den Klängen von “This is the end, beautiful friend, the end”, das Jim Morrison als ödipale Endzeitabrechnung angelegt hat, liegt Willard im Alkoholrausch in einem Hotelzimmer, während in faszinierenden Überblendungen und Doppelbelichtungen die Rotoren der Klimaanlage in die Rotoren von Helikoptern übergehen. Eine derartige Strategie der akustisch-visuellen Emotionalisierung durchzieht “Apocalypse Now” von der WasserskiSequenz zu Rolling-Stones-Musik bis zu einer Open-Air-Show mit eingeflogenen PlayboyBunnies, die vor den aufgeheizten Soldaten fliehen müssen, und zu jener gespenstischen Sequenz im nächtlich illuminierten Schützengraben im Stützpunkt vor Kambodscha, mit dem Feind in Ruf-, aber nicht Sichtweite. Seinen Höhepunkt erreicht der Film in jener Sechs-Minuten-Sequenz, in der Lt. Colonel Kilgore (Robert Duvall) mit seinen Helikoptern ein Dorf an der Flußmündung überfällt, um einen Champion surfen zu sehen. Zur Musik von Wagners “Walkürenritt”, die aus den Lautsprechern an den Helikoptern dröhnt, geht die Attacke wie ein Drogen-Trip vonstatten. In der Kritik wurde diese Szene so heftig diskutiert wie die im Halbdunkel gefilmten letzten Sequenzen in Kurtz' Lager und Dschungeltempel. Kurtz, der über den Horror philosophiert, wird von Willard in einem rituellen Akt erschlagen, während in der blutig allegorischen Parallelmontage die Dorfbewohner einen Büffel schlachten. Im Kontext gleichzeitig entstandener Filme über Vietnam (“Coming Home”, “Die durch die Hölle gehen”) und späterer Versuche der Abrechnung mit diesem Trauma der amerikanischen Nation (“Platoon”) kommt “Apocalypse Now” heute der Rang einer Prophezeiung zu. Denn fern des Realismus-Anspruchs schematischer Kriegs-Filme vermittelt er im Fieberrausch seiner ästhetischen Visionen eines Rock- und DrogenKrieges mehr über den Horror, die Bewußtseinslage einer Nation und ihrer Politik, als es ein Abbildungs-Maximen folgender Film leisten könnte. Darüber hinaus ist er durchaus als filmische “Widerstandshandlung gegen den offiziellen politischen Wahnsinn” (Peter W. Jansen) zu verstehen. 159 http://www.mediaculture-online.de Rolf-Rüdiger Hamacher 52 Singin' in the rain Singin' in the rain (USA 1952) Regie: Stanley Donen/Gene Kelly. Buch: Betty Comden, Adolph Green. Kamera: Wally Heglin, Skip Martin. Musik: Nacio Herb Brown, Arthur Freed. Darsteller: Gene Kelly, Debbie Reynolds, Donald O'Connor, Jean Hagen, Millard Mitchel, Cyd Charisse. Länge: 89 Minuten. Vertrieb: IMV. Wenn es ein Werk in der Geschichte des Filmmusicals gibt, das den Zuschauer in höchste psychische Erregung versetzt, ihm das Gefühl vermittelt, aufspringen und mittanzen zu müssen, dann ist es: “Singin' in the rain”, die Bild- und Tonwerdung der guten Laune. 1952 von Stanley Donen inszeniert, von Gene Kelly choreographiert, hat der Film die Patina vieler Musicals der dreißiger und vierziger Jahre angelegt. Diese werden liebevoll zitiert und karikiert. Ob man “Singin' in the rain” zum ersten oder zum hundersten Mal sieht, der ästhetische Genuß dieses vor Lebensfreude übersprudelnden Musicals bleibt der gleiche. Es ist wie die Erfüllung eines Traums, der uns zurückversetzt in die Sehnsuchtsära der Goldenen Zwanziger. Und obwohl die Handlung auf den ersten Blick banal klingt, die traditionellen Pfade des Musicals nicht zu verlassen scheint, gelingt es der Regie durch ihre Originalität und Poesie, dem Genre ständig neue Reize abzugewinnen. Hollywood 1927: Don Lockwood (Gene Kelly) und Lina Lamont (Jean Hagen), das Liebespaar des Stummfilms, stellen ihren neuesten Film “Prinz Übermut” vor. Schon in der Eröffnungssequenz zeigen sich Absicht und Qualitäten der Inszenierung, die gekonnt Realität und Illusion vermischt: Fast dokumentarisch wirkt die auf die Stars wartende Menge vor Graumanns Chinesischem Theater, bis sich für Sekunden das herrlich 160 http://www.mediaculture-online.de komische Gesicht eines ausgeflippten Fans ins Bild schiebt. Und als Don der kreischenden Menge von seinem “würdevollen” Aufstieg über klassische Rollen und Musikakademie zum Musicalstar erzählt, zeigen die Bilder ihn als steppenden Knirps in billigen Pubs und Stuntman in Seifenopern. Nach der Premiere flieht Don vor seinen zahlreichen Verehrerinnen und landet im Wagen des Chorus-Girls Kathy Seldom (Debbie Reynolds), das sich eigentlich zu Shakespeare hingezogen fühlt. Für Dons Filmerei hat sie allenfalls ein mitleidiges Lächeln übrig: Schließlich ist der Film nur eine Unterhaltung für die breite Masse. Und auch diese These machen Donen/Kelly zu einem Thema ihres Films, beweisen, wie sehr man diese Spezies unterschätzen kann. Ohne jede Länge, ohne ein überflüssiges Detail schlagen die beiden Regisseure uns vom ersten bis zum letzten Bild in Bann. Don gelingt das bei Kathy erst im zweiten Anlauf. Nachdem er sie bei einer Party aus einem überdimensionalen Geburtstagskuchen springen sah, war sie verschämt geflohen, nicht ohne die eifersüchtige Lina, wenn auch versehentlich, mit einer Sahnetorte beehrt zu haben. Die Diva verfügt daraufhin Kathys Rausschmiß. Aber Don sucht sie fortan allerorten in allen Torten. Da kommt ihm die (Film-)Geschichte zu Hilfe: Der Tonfilm erobert Hollywood. Für die einen bedeutet das neuen Starruhm, für andere das Ende ihrer Karriere. Auch das dumme Blondchen Lina muß um seine Zukunft bangen, denn die piepsige Stimme ist völlig ungeeignet für das neue Medium. Don überzeugt den Produzenten, Kathy als Stimm-Double für Lina verpflichten zu müssen und gemeinsam mit seinem Freund Cosmo (Donald O'Connor) schreiben sie das geplante Melodram zu einem Musical um. Der Film wird ein triumphaler Erfolg. Lina, die Don auch privat besitzen will, versucht Kathys Karriere zu verhindern, aber Don und Cosmo verhelfen Kathy durch einen Trick zum verdienten Applaus. Das Happyend zeichnet sich ab: Don und Kathy werden im Film und im Leben ein Paar sein. Auch hierfür findet der Film eine schöne Bildmetapher: Auf einem überdimensionalen Filmplakat zu “Singin' in the rain” lächeln sich Don und Kathy an. Und als die Kamera zurückfährt sieht man beide vor der Plakatwand stehen und sich küssen. 161 http://www.mediaculture-online.de Von diesen ironischen Brechungen und einer gleichzeitig allgegenwärtigen Poesie lebt der ganze Film, der sich wie eine Anthologie der Geschichte des Musicals ansieht und anhört, ohne zum Plagiat zu verkommen. Nicht zufällig sind die Songs – bis auf einen – bei der Entstehung des Films schon 13 bis 23 Jahre alt, wurden von Nacio Herb Brown (Musik) und Arthur Freed (Text) für ihre Broadway-Shows und Filmmusicals der späten zwanziger und dreißiger Jahre komponiert. Es beginnt mit dem in der traditionellen Vaudeville-Szenerie spielenden Kelly/O'ConnorDuett “Fit as a fiddle”, setzt sich in der auch musikalisch an den Kelly/Garland-Song “Be a clown” aus “The Pirat” (1948) erinnernden Burlesque “Make 'ein laugh” fort und gipfelt in einer Hommage an Busby Berkely, dem Kelly/Donen in einer grandiosen Bild- und Ton-Montage huldigen, als sie die Geburt des Tonfilms feiern. In “Beautiful Girl” bekommen die extravaganten, statischen Ausstattungsrevuen der dreißiger Jahre ihr Fett ab, während das große Schlußballett “Broadway Melody” einerseits die Einfallslosigkeit der MusicalAutoren persifliert, anderseits eine das Original übertreffende Reminiszenz an die erfolgreiche “Broadway-Melodies”-Serie der Metro ist. Gene Kellys eigener dynamischer Tanzstil feiert wahre Triumphe in dem schon zum Klassiker gewordenen Wasserballett “Singin' in the rain”, in dem das Regisseurgespann sein Gespür für die Einheit von Musik und Bild auf eine schon geniale Ebene bringt. Wie ein Partner begleitet die Kamera Gene Kelly bei seinem Tanz durch die Pfützen. Dieser optische Rhythmus, auch ein Markenzeichen der später entstandenen Kriminalkomödien Stanley Donens (“Charade”, 1963, “Arabesque”, 1965), wird noch augenfälliger in dem Song “Moses supposes”, indem er sich mit dem Rhythmus der Sprache und der Choreographie zu einem einzigen Bewegungsablauf verbindet, der in einer furiosen Stepnummer und der Demontage des Dekors endet. Und wie “Make 'em laugh” zeigt auch diese “Nummer” das große komödiantische und tänzerische Talent des Co-Stars Donald O'Connor, der im Film und im Leben zu Unrecht im Schatten der Stars stand. So gesehen ist “Singin' in the rain” auch die Wiederentdeckung eines von der Filmgeschichte stiefmütterlich behandelten Künstlers, der zur Genialität von “Singin' in the rain” das i-Tüpfelchen beisteuerte. 162 http://www.mediaculture-online.de 163 http://www.mediaculture-online.de Walter Schobert 53 King Kong und die weiße Frau King Kong und die weiße Frau (USA 1932) Regie: Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack. Buch: James Ashmore Creelman, Ruth Rose, nach einer Story von Edgar Wallace. Kamera: Edwin G. Linden. Technische Leitung: Wallis O'Brien. Musik: Fay Wray, Robert Armstrong, Bruce Cabot, Frank Reicher. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: VPS. “King Kong” zählt im Horrorgenre zum Typus der Monsterfilme und da wiederum zur Spezies “Die Schöne und das Ungeheuer”. Der Film war besser als alle seine Vorbilder und die meisten seiner Epigonen; er ist immer noch einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten in seiner Gattung. Die Quellen, zumindest in Einzelmotiven, sind beim deutschen Kino der zwanziger Jahre und in der englischen “Gothic novel” zu suchen, die wiederum aus der Volksmythologie schöpfen konnte. Verantwortlich für den Film war, abgesehen von Wallace, der den kleinsten Anteil daran haben dürfte, ein Dreiergespann, das alle Voraussetzungen mitbrachte, einen Film zu schaffen, der sogleich zum Klassiker wurde. Es handelte sich um den für die kleine und rührige RKO Selznicks arbeitenden Produzenten Cooper, der die Idee für die Hauptfigur des riesigen Menschenaffen hatte; um Regisseur Schoedsack, der schon einige Erfahrungen mit exotischen Abenteuerfilmen gesammelt und gemeinsam mit Cooper “The Most Dangerous Game” gemacht hatte; außerdem um jenen Mann, der es überhaupt erst ermöglichte, die Ideen der beiden anderen filmtechnisch umzusetzen: Wallis O'Brien, einen der brillantesten Trick-Leute Hollywoods. O'Brien schuf die nur 45 Zentimeter große Figur der King-Kong-Puppe und erfand für den Film ein neues Verfahren, bei dem, so Rolf Giesen in “Special Effects”, “die Darsteller während der Animationsarbeiten einbildweise auf kleine Rückpro-Wände projiziert wurden, die auf den Animationstischen zwischen Trickdekor und Trickpuppen aufgebaut 164 http://www.mediaculture-online.de waren. Auf diese Weise war eine vollkommene Integration der Hauptdarsteller in das Trickgeschehen möglich geworden.” O'Briens Gorilla ist ein von den Eingeborenen als König verehrter Menschenaffe, der auf einer abgeschiedenen Südseeinsel lebt, als Urzeitungeheuer, das über die Menschen ebenso uneingeschränkt herrscht wie über die anderen Fabelwesen, an denen sich O'Briens Phantasie entzündete und von denen Fachleute versichern, es handle sich um Stego-, Bronto-, Tyranno-, Elasmo- und Flugsaurier. Kong soll Hauptdarsteller eines Films werden, den der Regisseur Carl Denham auf der Insel drehen will. Zum Team gehört auch das Starlet Ann Darrow, eine arbeitslose Statistin; Denham weiß, daß das Publikum nicht nur Nervenkitzel sucht, sondern sich auch am Anblick einer schönen Frau delektieren will. Doch die kühle Blonde wird von den Eingeborenen geraubt, denen sie als Opfer für den großen Kong gerade recht kommt. Folgt der zweite Teil, der im Dschungel spielt und nicht nur zeigt, wie die Rettungsexpedition Ann zu befreien versucht, sondern vor allem, daß der furchterregende Affe sich ganz menschlich in die weiße Frau verliebt und sie gegen alle Angriffe der anderen Ungeheuer und der Schiffsmannschaft verteidigt. Kongs Liebe ist so groß, daß er den schützenden Urwald verläßt. Am Strand wird er von Denham mit einer Gasbombe betäubt und schließlich überwältigt. 165 http://www.mediaculture-online.de Im dritten Teil wird der Streifen zum Katastrophenfilm. Denham bringt Kong nach Amerika, um das urgeschichtliche Ungetüm in New York, dem Inbegriff der städtischen Zivilisation, als achtes Weltwunder auszustellen. Doch Kong sprengt die Ketten, flieht und versetzt die Stadt in Panik, um sein geliebtes Wesen wieder zärtlich in die mächtige, haarige Pranke schließen zu dürfen. Mit Ann flüchtet er sich vor den Verfolgern auf das Empire State Building. Flugzeuge greifen ihn an, er hascht nach ihnen, als wolle er Fliegen fangen. Aber schließlich erwischt es ihn doch, er stürzt hinunter in die Straßenschluchten. Getötet haben ihn aber eigentlich nicht die Flugzeuge mit ihren MGs. Die Regisseure lassen es durch ihren Kollegen im Film so sagen: “It was Beauty killed the Beast.” Zeitgenössische Kritiker bewunderten vor allem den technischen Aufwand und verglichen das filmische Können mit der frappierenden Naivität des Stoffes und der Story. Seitdem hat sich die Einschätzung freilich geändert: Geblieben ist der Respekt vor der Meisterschaft beim Bau der Monster und bei ihrer Animation, aber immer mehr hat man gelernt, den Inhalt ernst zu nehmen und seine tiefere Bedeutung neu zu sehen. Was sich als triviale Unterhaltung gibt, spiegelt, Kracauer hat das am Beispiel des deutschen Films der Weimarer Republik wegweisend dargestellt, gesellschaftlichpolitische Probleme der Zeit ebenso wie individuell-psychologische Traumata. “King Kong” ist da keine Ausnahme: Seltsam ambivalent das Verhältnis zwischen dem Biest und der schönen weißen Frau, die zwar Angst hat, sich aber auch zu dem Tier hingezogen fühlt. Wie die Figur des Vampirs ist das Monster die Verkörperung sexueller Bedrohung und Faszination, das unbewußte und verdrängte Wünsche evoziert: eine Beschwörung pueriler Ängste. Freilich: die Tierphobie hat durchaus eine politisch-historische Dimension – wie alle Fantasyfilme. Sie waren (und sind) manchmal Vorboten kommenden und oft Metaphern erlebten Schreckens – Godzilla etwa, der japanische Nachfolger Kongs, erscheint geradezu als Atombombe in mythologischer Verkleidung. “King Kong” läßt sich ebenso auf dem Hintergrund der Depression sehen wie auf dem des Rooseveltschen “New Deal”, der aus ihr herausführen sollte: als eine eskapistische Einladung zum Verdrängen der Angst ebenso wie die – optimistische – Beschwörung, daß beim anachronistischen Kampf des alten Riesen mit dem modernen Giganten das zivilisierte Amerika siegt. 166 http://www.mediaculture-online.de Horrorfilme sind Spiegel ihrer Zeit. Und wie man heute manchmal bange und ängstlich fragt, ob die wachsende Zahl von Endzeitfilmen uns auf neue, nie dagewesene Schrecken vorbereiten soll, so muß man darauf hinweisen, daß “King Kong” nur einer, wenn auch einer der schönsten, von vielen Filmen aus einer anderen Vorkriegszeit war – gerade weil er uns, die von immer grelleren, lauteren, scheußlicheren und blutrünstigeren Filmen überflutet werden, vergleichsweise brav, zahm und harmlos erscheint, wie ein geradezu beruhigendes Märchen aus grauer Vorzeit, dessen Ungeheuer weniger Angst als Mitgefühl vermittelt und richtig liebenswerte Züge hat. Aber harmlos ist höchstens King Kong, der Film ist es nicht. Meinolf Zurhorst 54 Gilda Gilda (USA 1945) Regie: Charles Vidor. Buch: Marion Parsonnet. Adaption: Jo Eisinger. Kamera: Rudolph Maté. Musik: Morris Stoloff. Darsteller: Rita Hayworth, Glenn Ford, George Macready, Joseph Calleia, Steven Gray. Länge: 110 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Sie verkörperte die weibliche Verführung schlechthin: Rita Hayworth, mit richtigem Namen Margarita Carmen Cansino, war die Sexgöttin des Hollywood-Kinos der vierziger Jahre. Vor allem ein Film brachte ihr diesen Ruf ein – “Gilda”, 1945 von Charles Vidor inszeniert, die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Der eher mittelmäßige Film wurde zum Klassiker des sensuellen Kinos allein durch ihre Auftritte. Berühmt wurde ihr Song “Put the Blame on Mame, Boy”, in dem sie ironisch-verzweifelt ihre Stellung als Frau umschreibt. Anschließend beginnt sie einen Striptease und fordert die Männer auf, ihr beim Öffnen des Reißverschlusses behilflich zu sein. Es war ein neues Frauenbild, das sich da in “Gilda” formulierte. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, zählt der Film zu der zweiten Phase des Films “Film noir”, der 167 http://www.mediaculture-online.de Schwarzen Serie. Der Begriff, erstmals 1946 von dem französischen Kritiker Nino Frank verwandt, um die Kriminalfilme der frühen vierziger Jahre (“Der Malteser Falke”) zu beschreiben, meint weniger eine thematische Homogenität als vielmehr einen Zeitraum und dessen gesellschaftliche Ereignisse. Als Gegenstück zum heldenverehrenden Kriegsfilm erzählen die “Film noirs” düstere Geschichten aus dem urbanen Dschungel oder aus dem Dickicht extremer Leidenschaften. Da im Krieg vor allem die zu Hause gebliebenen Frauen den stärksten Zuschaueranteil stellten, gewannen Frauenfiguren im Kino an Profil. Nicht selten waren sie, im Guten wie im Bösen, die treibende Kraft einer filmischen Handlung, bestimmten sie das Schicksal (der Männer). Stars jener Jahre waren Joan Crawford, Bette Davis, Barbara Stanwyck, Lauren Bacall und eben, seit “Gilda”, auch Rita Hayworth. Die Figur des “good bad girl” erfuhr in diesem Film seine eindeutigste Formulierung: Im Grunde hat sie einen guten Charakter, doch nach außen hin scheint Gilda verdorben und berechnend. Erst am Ende bemerkt der männliche Held, daß ihr gesamtes Verhalten nur dazu diente, ihn zurückzugewinnen. Der Spieler Johnny Farrell (Glenn Ford) wird im nächtlichen Buenos Aires von dem eleganten Ballin Mundson (George Macready) aufgelesen. Farrell übernimmt als Manager dessen Spielcasino, wird sein Freund und Vertrauter. Als der Zweite Weltkrieg beendet ist, verschwindet Mundson, kehrt aber wenig später verheiratet zurück – mit Gilda, einem Luxusgeschöpf. Farrell erkennt in ihr seine frühere Geliebte wieder. Er sieht mit an, wie Gilda ihren Mann, dem er in Freundschaft verbunden ist, offen betrügt. Mundson, der mit den Nazis kooperiert hatte und Vorsitzender eines Wolfram-Kartells ist, täuscht seinen Tod vor, weil er wegen eines Mordes vom allgegenwärtigen Kommissar Obregon (Joseph Calleia) gesucht wird. Farrell heiratet daraufhin Gilda, nicht aus Liebe, wie diese glaubt, sondern aus Rache. Er zwingt sie, nun jene Treue zu bewahren, die sie Mundson gegenüber nie hatte. Für Gilda wird das Leben zur Hölle. Sie versucht zu entkommen, vergeblich. Sie flüchtet in den Alkohol, beginnt eine Karriere als Nachtclubsängerin und landet doch wieder bei Johnny. Ihr Haß sei so stark, schleudert Gilda ihm entgegen, daß sie sich selbst zerstören würde, nur um auch ihn zu zerstören. Die von gegenseitiger Quälerei geprägte Haßliebe 168 http://www.mediaculture-online.de erfährt ihren Höhepunkt in jenem berühmt gewordenen Auftritt, bei dem Gilda in unverschämt provokanter Weise zurückschlägt – auf die ihr einzig mögliche Weise: mit Sex. Johnny läßt sie von der Bühne zerren und schlägt sie. Nun ist Gilda bereit, ihn zu verlassen, doch Johnny merkt, daß er sie in Wirklichkeit liebt. Als er sie bittet, sie begleiten zu dürfen, taucht der totgeglaubte Mundson wieder auf. Er will Farrell und Gilda töten, wird aber vom Toilettenwärter des Casinos erschossen. Für Johnny und Gilda ist nun endgültig der Weg in eine gemeinsame Zukunft frei. Die betont weiche Lichtsetzung des ungarisch-stämmigen Kameramannes Rudolph Maté verklärt die Figur der Gilda (und mit ihr Rita Hayworth) zum übernatürlichen Traumbild. Als Johnny Gilda von der Bühne holt und ohrfeigt, ist dies zugleich ein puritanischer Traum. Das kollektive Pin-Up-Girl Rita Hayworth wird zurechtgerückt für den privaten Bereich, Gildas Eingeständnis der Monogamie decouvriert ihr exhibitionistisches Verhalten als vorgetäuscht – aus dem “bad” wird endlich das “good girl”. In ihrem nächsten bedeutenden Film, “Die Lady von Shanghai” (1947), von ihrem damaligen Mann Orson Welles inszeniert, erfüllt sich dagegen das Schicksal des wirklichen “bad girl”. Welles ließ Rita Hayworth in ihrer Rolle als Sexidol zur Gefahr für den Mann werden, denn die begehrte Frau setzte ihren Appeal nur dazu ein, den Mann in ein Mordkomplott zu verwickeln. Es sollte zugleich auch der letzte, historisch bedeutsame Film der Hayworth werden. Die verführerische Diskretion ihrer erotischen Erscheinung mußte neuen Idealen weichen. Die Zeit der Marylin Monroe kam. Rita Hayworth machte in den folgenden Jahrzehnten weniger durch ihre Filme auf sich aufmerksam, als durch ihre Ehen, unter anderem mit Ali Khan. 1971 drehte sie ihren letzten Kinofilm. Am 14. Mai 1987 ist sie an der tückischen Alzheimer'schen Krankheit gestorben. Die überaus stilisierte visuelle Präsentation des Stars Rita Hayworth in “Gilda” bildet einen gelungenen Kontrast zur zynischen Weltsicht des Regisseurs Charles Vidor. Das Spielcasino, nahezu ausschließlicher Schauplatz, ist ein Mikrokosmos der gesellschaftlichen Auflösung. Betrug, die Gier nach leichter Beute, das Verlangen nach billigem Vergnügen, die Frauen als minderwertiges Objekt (“Laut Statistik”, sagt Farrell einmal, “gibt es mehr Frauen auf der Welt als alles andere ... ausgenommen vielleicht Insekten”) – das korrespondiert mit dem Kulturpessimismus der Schwarzen Serie und macht “Gilda” zu einem exemplarischen Vertreter dieser Strömung. 169 http://www.mediaculture-online.de Wolfang Schwarzer 55 Es war einmal... La belle et la bête (Frankreich 1946) Buch und Regie: Jean Cocteau, nach der Erzählung von Leprince de Beaumont. Kamera: Henri Alekan. Musik: Georges Auric. Darsteller: Jean Marais, Josette Day, Mila Parély, Nane Germon. Länge: 95 Minuten. Vertrieb: (All Video). Madame Leprince de Beaumont (1711-1780) schrieb ein für ihre Epoche typisches moralisches Kunstmärchen, in dem sie das Aschenbrödelmotiv aufnahm. Die gute Fee belohnt darin das Mädchen, welches Tugend der Schönheit und dem Esprit vorzieht. Das Tier dient als Katalysator für den Fortgang der Erzählhandlung und als Symbolfigur für Bedrohung, negative Versuchung und Belohnung, wie sie dem moralischen Gehalt der Geschichte zugrunde liegen. Cocteau übernimmt die Fabel, verdichtet sie und belebt ihre Konturen mit seiner ureigenen Poesie. Kunstmärchen und Moral des 18. Jahrhunderts weichen dem Mythos von Liebe und Tod. Mythos, im besten Sinne der Kulturgeschichte als Urerfahrung menschlichen Daseins. Das Tier, einst Chiffre, wird zur leidenden Kreatur par excellence. Ein reicher Kaufmann, ruiniert durch den Untergang seiner Schiffe, lebt zusammen mit drei Töchtern und einem Sohn, Ludovic. Félicie und Adélaïde sind hartherzige Mädchen, die Belle, ihre jüngste Schwester, als Aschenbrödel behandeln. Avenant, Ludovics lustiger Freund, liebt Belle und bittet um ihre Hand. Das Mädchen aber will lieber beim Vater bleiben. Plötzlich erreichen den Vater gute Neuigkeiten. Eines seiner Schiffe hat doch noch den Hafen erreicht. Hoffnung lebt auf. Als er den Ritt zur Küste antritt, wünschen sich Félicie und Adélaïde Schmuck und Kleider. Belle erbittet nur eine Rose. Die Schwestern lachen sie aus. 170 http://www.mediaculture-online.de Im Hafen erfährt der Mann, daß die Gläubiger bereits von der Schiffsladung Besitz ergriffen haben. Bettelarm tritt er den Rückweg an. Des Nachts kommt er im Wald vom Weg ab und entdeckt ein prächtiges, geheimnisvolles Schloß. Kein Mensch ist dort zu sehen, doch Leuchter entzünden sich von selbst. Ein Tisch mit Obst und Wein erwartet ihn, vor dem er erschöpft einschläft. Der Todesschrei eines Tieres weckt ihn des Morgens. Ängstlich verläßt er das Schloß und entdeckt im Park einen Rosenstrauch. Froh, wenigstens Belles Wunsch zu erfüllen, bricht er einen Zweig. Da erscheint hinter ihm das Tier, gekleidet wie ein Adliger. “Ihr habt meine Rosen gestohlen, also müßt Ihr sterben”, sagt es. “Es sei denn, eine Eurer Töchter willigt ein, für Euch zu sterben.” Gegen den Willen des Vaters und die Auflehnung Avenants begibt sich Belle in das Schloß des Tieres. Es leidet unter seiner Mißgestalt und umhegt die Schöne mit all seiner Güte. Belle achtet das Tier und ist empfänglich für die Wohltaten. Doch erkrankt sie selbst, als sie von der Krankheit des Vaters erfährt. Das Tier beurlaubt sie für acht Tage. Im Vertrauen auf ihre gute Seele überantwortet es ihr die letzen Geheimnisse seiner Macht, darunter den Schlüssel zum Tempel der Diana, in dem seine wahren Schätze ruhen, die bis zu seinem Tod niemand berühren darf. In der Familie verspätet sich Belle über die Frist hinaus. Die Schwestern umschmeicheln sie ob ihrer Reichtümer und stehlen den Schlüssel. Sie geben ihn Ludovic und Avenant und stiften die beiden an, das Tier zu töten, um in den Besitz seiner Schätze zu gelangen. Belle ist einsam und sieht in einem Spiegel das Tier weinen. Sie kehrt zurück und findet es sterbend an einer Quelle. Im selben Augenblick steigen Ludovic und Avenant in den Dianatempel ein. Avenant wird von einem Pfeil der Dianastatue tödlich getroffen und verwandelt sich in das Tier. In dieser Sekunde wird das Tier unter dem liebenden Blick Belles zu einem zauberhaften Prinzen mit den Zügen Avenants. Gemeinsam entschweben sie in ein geheimnisvolles Reich, wo Belle Königin sein wird, ihren Vater wiederfindet, und wo die Schwestern ihr den Schleier tragen. Das Märchenhafte und Phantastische in “La Belle et la Bête” steht in der Tradition von Murnaus “Nosferatu”. Das Tier ist Charles Laughtons anrührendem Quasimodo, dem Glöckner von Notre Dame, mehr verbunden als irgendeinem anderen Monster der Filmgeschichte. Cocteau nähert sich dem Irrealen durch disziplinierte Reduktion auf 171 http://www.mediaculture-online.de realistische Bilder. Das Märchenhafte verträgt sich für ihn schlecht mit dem Nebelhaften, und das Geheimnis existiert nur im Präzisen. So versagt er auch der Kamera, im Pittoresken zu schwelgen. Die barocke Ausstattung gerade im wunderbaren Schloß verkommt nie zum Selbstzweck. Das Personal, sogar das Tier, entzieht sich dem Symbolhaften, erst recht der Moralität. Zwei Wesen aus Fleisch und Blut leben wortarm, in ausdrucksstarker Körpersprache, die Urerfahrung von Liebe und Tod. Nach den gleichen Prinzipien entsteht fünf Jahre später die Verfilmung des Mythos von Orpheus. Jean Cocteau (1889-1963) verstand sich nicht als Regisseur. Ihm ging es um ein Gesamtwerk, das er als Poesie bezeichnete. Sein poetisches Universum, eines der individuellsten in der Kulturgeschichte, macht sich eine Vielzahl von Ausdrucksformen untertan: Graphik und Malerei, Essay, Roman, Lyrik, Kleinkunst, Ballett. Auch den Film. So manches dieser Werke ist schlecht gealtert, einiges mit den Jahren schlicht ungenießbar geworden. “La Belle et la Bête” und “Orphée” jedoch gehören zu den Höhepunkten der französischen Kunst in den 40er Jahren. Ihnen kann zeitlose Kraft und Schönheit zugesprochen werden. Rolf-Rüdiger Hamacher 56 Züchte Raben Cría Cuervos (Spanien 1975) Buch und Regie: Carlos Saura. Kamera: Theo Escamilla. Schnitt: Pablo G. del Amo. Musik: Federico Mompou. Darsteller: Ana Torrent, Geraldine Chaplin, Chonchit Pérez, Mónica Randall, Hector Alterio. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: (Taurus Video). Es sind die großen, dunklen Augen im ausdrucksstarken Gesicht der kleinen Ana, die einen über den Film hinaus gefangen nehmen. Augen, die voller Angst und Traurigkeit in die Gegenwart und in freudiger Erwartung in die Vergangenheit blicken, um diese in Tagund Nachtträumen wieder heraufzubeschwören. 172 http://www.mediaculture-online.de Die Augen gehören Ana Torrent, die Carlos Saura in Victor Erices “Der Geist des Bienenkorbs” entdeckte. Und das Bild des Mädchens verschwamm gleichsam mit der letzten Einstellung seines eigenen Films “Cousine Angélica”, in der eine Mutter ihre Tochter vor dem Spiegel kämmt, der die Kamera ist. Dieses Bild erweckte in Saura den Wunsch, einen Film über die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer kleinen Tochter zu entwickeln. Saura sah nur eine Möglichkeit, diese Idee zu realisieren: Ana Torrent mußte die Hauptrolle spielen. Und so beschloß er, auf die Einwilligung von Anas Eltern, die ihre Erlaubnis zuerst verweigerten, zu warten – oder aber sein Drehbuch nicht zu verfilmen. Tatsächlich ist “Züchte Raben” wie kein anderer Film Sauras auf eine Person zugeschnitten, zeigt an ihr und durch sie sein immer wiederkehrendes Thema von der Dekadenz der großbürgerlichen spanischen Familie der “Franco-Ära”, ihre politischen, sozialen, religiösen und psychischen Zwänge, die sich durch Generationen ziehen. “Züchte Raben” – der Titel verweist auf das spanische Sprichwort “Züchte Raben und sie werden dir die Augen aushacken” – demontiert aber auch das von Pädagogen so gerne angemahnte und vom Volksmund besungene Bild von der “glücklichen Kindheit”. Carlos Saura, Sohn einer zwar konservativen, aber beruflich den Republikanern verpflichteten Familie, wuchs ab dem vierten Lebensjahr in den spanischen Bürgerkrieg hinein. 1939, nach Beendigung des Krieges, wurde er von seinen streng katholischen und franquistischen Tanten und der Großmutter “umerzogen”. Schon in “Cousine Angé1ica” unternahm Saura die jetzt fortgesetzte subjektive Erinnerungsreise in die Kindheit, die zugleich zu einer Abrechnung mit dem Bürgerkrieg wurde, die ihm das “Paradies der Kindheit” zerstört hatte. In “Züchte Raben” sind es nun die Kinder des Bürgerkrieges, die ihre inneren Wunden immer noch nicht ausgeheilt, geschweige denn bedacht haben. Und so können sie ihren eigenen Kindern auch nicht die selbst so vermißte Lebensfreude vermitteln. Ana ist ein Kind jener Generation, deren Eltern die alten Zöpfe weiter flechten, die Neuerungen gar nicht an sich herankommen lassen. Der alltägliche Faschismus hat schon so sehr von der Familie Besitz ergriffen, daß sie ihre kleinkarierten Machtkämpfe bereits verinnerlicht hat. 173 http://www.mediaculture-online.de Ana versucht, sich dieser “Zeit der Traurigkeit” einerseits durch ihre Träume zu entziehen, andererseits sieht sie nur “Gewalt” als Möglichkeit der Veränderung: Nach dem frühen Tod der Mutter, für den sie ihren Vater verantwortlich macht, und nach dessen Ableben in den Armen seiner Geliebten, das sie selbst durch eine Prise Gift verursacht zu haben glaubt, wachsen Ana und ihre beiden Schwestern unter der Obhut der Tante auf. Diese, eher herrschsüchtig als verständnisvoll, kann den Kindern weder emotionale Wärme noch Geborgenheit vermitteln. Ana flüchtet sich immer weiter in ihre Träume, wo sie die Mutter trifft. Nur mit der stummen, an den Rollstuhl gefesselten Großmutter verbindet sie eine innige Zuneigung. Als Ana die Situation nicht mehr zu ertragen glaubt, verabreicht sie auch der Tante das vermeintliche Gift ... Der Kunstgriff, sowohl die kommentierende Rolle Anas als Erwachsene, wie auch die Rolle der verstorbenen Mutter von Geraldine Chaplin – von Sauras langjähriger Lebensgefährtin und Lieblingsschauspielerin darstellen zu lassen, macht den Parabelcharakter der Inszenierung deutlich. Ana lebt nur im Traum, in den Begegnungen mit der Mutter, “wirklich”. Als sie sich schließlich der Realität stellt, sieht sie nur den Mord als Ausweg aus Konvention und Heuchelei. Die vermeintlichen “Vergiftungen” – des ungeliebten Vaters und der verhaßten Tante – befreien von ihren Zwängen. Und am Ende des Films setzt Saura noch ein Zeichen auch der “äußeren” Befreiung. Nach den langen Sommerferien verläßt Ana zum erstenmal das wie eine abgeschiedene Festung wirkende Haus und trifft auf ihrem Weg zur Schule andere Kinder. Nur Kinder, scheint diese Bild-Metapher auszudrücken, sind Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft. Daß die Kinder dennoch schwer am Erbe ihrer Väter zu tragen haben nicht von ungefähr ähnelt die Physiognomie von Anas Vater der des verstorbenen Diktators Franco –, ist ja auch eine Erfahrung, die Carlos Saura während seiner Regietätigkeit in der Franco-Ära ständig machte. Kaum einer seiner Filme hatte nicht mit der Zensur zu kämpfen, bei der Aufführung von “Cousine Angélica” kam es sogar zu Ausschreitungen rechtsradikaler Gruppen und einem Bombenattentat in einem Kino von Barcelona. 174 http://www.mediaculture-online.de Die oft unwürdigen Arbeitsbedingungen, die nur durch das unermüdliche Engagement seines Produzenten Elias Querejeta – mit dem er seit seinem dritten Spielfilm (“Die Jagd”, 1965) zusammenarbeitet, etwas gemildert wurden, zwangen Saura zur Entwicklung eines unverkennbaren Stils, der ihn, neben Buñuel, zum bedeutendsten spanischen Regisseur heranwachsen ließ. Sein formales Spiel mit verschiedenen Zeitebenen, die oft ohne Schnitt ineinandergreifen, ließen ein künstlerisches Universum entstehen, in dem er alles, wenn auch verschlüsselt, ausdrücken kann. Dabei blieb seine Aussage klar und scharf und entbehrte, wie bei seinem großen Lehrmeister Buñuel, nicht eines gewissen Sarkasmus. In “Züchte Raben” bedankt sich Saura in einer kleinen, wunderschönen Szene auf dessen ureigenste Art bei ihm: Als Ana den Kühlschrank öffnet, liegen darin ein paar Hühnerfüße. Obwohl Carlos Sauras Film auf vielen Festivals preisgekrönt wurde, fand er in der Bundesrepublik keinen Verleih, der seine Werke in die Kinos brachte. Lediglich von “Die Jagd” existiert eine kaum gespielte Kinokopie, und “Züchte Raben” gelangte nach der Fernsehaufführung in einigen Programmkinos zu Ehren. Walter Schobert 57 Mein Kampf Dem blodiga tiden (Schweden 1959/60) Buch und Regie: Erwin Leiser. Produktion: T. O. Sjöberg. Länge: 122 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Nur zwei Dokumentarfilme vertreten das Genre in dieser Reihe der “Meisterwerke des Kinos auf Video” – nur zwei, die zudem so grundverschieden sind, daß sich größere Gegensätze nicht denken lassen, inhaltlich, politisch, historisch, ideologisch, formal, ästhetisch. Es ist gut, daß Riefenstahls “Triumph des Willens” (Folge 40) nicht allein 175 http://www.mediaculture-online.de stehen bleibt, daß ihm und ihr von Erwin Leiser mit “Mein Kampf” die notwendige und die gebührende Antwort zuteil wird. Selten ist die Begrenztheit der Auswahl dieser Reihe so schmerzhaft deutlich geworden, die sich ja nicht nur von dem großen, zeitlosen Maßstab des “Meisterwerks” abhängig macht, sondern auch von den Zufälligkeiten des deutschen Videomarktes. Abgesehen davon, daß doch die Frage gestellt werden muß, ob sich ein zweifellos formal brillanter Film wie “Triumph des Willens”, der so sehr den Ungeist propagiert, mit dem Etikett “Meisterwerk” schmücken darf – wie verheerend wäre es, wenn nicht auch der Film auf Video verfügbar wäre, der als einer der ersten und immer noch besten aufzuarbeiten begonnen hat, was die angerichtet haben, die ihren “Triumph des Willens” auch filmisch feiern wollten. Erwin Leiser, der Autor und Regisseur von “Mein Kampf”, gehört zu ihren Opfern: Seinen Film mußte er in Schweden machen. Sein Heimatland, seine Heimatstadt mußte der 1923 in Berlin geborene als halbes Kind noch verlassen – unmittelbar nach der “Reichskristallnacht”, die ihm endgültig klar gemacht hatte, daß die Nazis auch sein Leben vernichten wollten. In Schweden studierte er, wurde ein bekannter Publizist. Für “Nacht und Nebel”, Alain Resnais' bewegenden Film über die KZs, schrieb er die schwedische Textfassung. Seitdem ist er Dokumentarfilmregisseur. Filme über zeitgenössische Künstler sind ein Teil seiner Arbeit, der andere, größere, Teil galt und gilt der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Nachdenken darüber, wie er entstehen konnte, dem oft verzweifelten Bemühen, es niemals zu einem Wiederaufleben kommen zu lassen. “Mein Kampf” war sein erster Film, der erste überdies, der die Dinge beim Namen nannte, der keine Ausreden gebrauchte, der sagte, wer die Täter waren und wer die Opfer. Vielleicht konnte dieser Film, damals, nur im Ausland gemacht werden. Leiser schildert Aufstieg und Fall des Hitler-Systems; im Unterschied zu anderen Filmen zum Thema klammert er die Vorgeschichte nicht aus, beginnt er mit dem Ersten Weltkrieg, zeigt auch, welchen Anteil die Großindustrie an Hitlers Emporkommen hatte, gibt den Jahren vor dem Krieg breiten Raum, in denen die Nazis auf der Grundlage des Rassismus Europa neu “ordnen” wollten. Bei den Kriegsjahren setzt Leiser die richtigen 176 http://www.mediaculture-online.de Akzente: Wie es sich gehört, nehmen bei ihm die Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto mit seinem unendlichen Leid und seinem Übermaß an Grausamkeit, nehmen die Bilder aus den Folter- und Todeskammern des KZs mehr Raum ein als die Darstellung des Kriegsverlaufes anders als bei anderen, vor allem deutschen Filmen, die manchmal den Eindruck hinterlassen, Hitlers größtes Verbrechen sei es gewesen, den Krieg zu verlieren. Das Material zu seinem Film hat Leiser aus den Archiven der ganzen Welt zusammengetragen, das meiste aus dem Staatlichen Filmarchiv der DDR, Szenen darunter, die die Nazis gedreht, aber nie verwendet hatten, weil sie sich der – für sie – negativen Wirkung bewußt waren. Diese Bilder sind seither oft wiederzusehen gewesen – und sie gehen immer noch so unter die Haut wie damals, als sie Leiser als erster verwendet und zu einer bedrängenden und bestürzenden Folge zusammengefügt hat, die eigentlich nur die Unverbesserlichen unbekehrt lassen dürfte. Einige Szenen stammen übrigens aus dem Film der Riefenstahl, die sich nicht schämte, in einem Prozeß dafür Geld einzuklagen, weil sie mit ihrer Nazi-Eloge auch noch an einem Antinazifilm verdienen wollte. Sie verlor den Prozeß. Manche haben dem Film seine Gestaltung vorgeworfen. So schrieb 1960 die “Filmkritik”, seine Verdienste seien “extra-kinematografischer Natur”. Das ist falsch. Denn wer so argumentiert, übersieht, daß gerade “Mein Kampf” für den Inhalt die adäquate Form gefunden hat, mehr, daß dieser Inhalt gar keine andere Form verträgt als die des nüchternen und schmucklosen Essays. Es war eine politische und eine filmästhetische Entscheidung, auf jede “brillante” Montage zu verzichten und das heißt auf jede Andeutung der suggestiven filmischen Manipulation. Nur ein-, zweimal, ganz sparsam spielt Leiser Text und Bild gegeneinander aus, gerade dadurch ihre Wirkung steigernd. Leiser wußte, daß ein Gegenpol zur Unmenschlichkeit des Riefenstahl-Films nur durch den Verzicht auf die Ästhetik der Überrumpelung eben durch Montage zu erreichen war. Die Grenzen seiner Methode sind offenkundig – aber sie waren niemand bewußter als ihm. Die Mängel des Films liegen denn auch nicht in seiner Methode, sie liegen im Genre: Es ist klar, daß die Verwendung dokumentarischen, authentischen Materials eben nicht, noch nicht, die Authentizität sichert und schon gar nicht die volle Wahrheit – schon 177 http://www.mediaculture-online.de deshalb nicht, weil es nicht zu allem authentische Bilder gibt. Leiser selbst war es, der später in “Die Mitläufer” die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen hat: Erst die “gestellten”, die Spielfilmszenen fördern in diesem Film über das Dritte Reich, die Machthaber und den “kleinen” Mann die ungestellte Wahrheit zutage. Heute erscheint Erwin Leisers “Mein Kampf” nicht nur als die erste und immer noch gültige umfassende Bestandsaufnahme zum Nationalsozialismus; der Film ist das Dokument des Kampfes um die politische Bewältigung der Vergangenheit – und er ist ein Lehrstück filmischer Moral und Ästhetik. Weil er methodisch und formal glaubwürdig bleibt, kann er auch inhaltlich sein Ziel erreichen. Leisers Trauerarbeit, stellvertretend für uns Deutsche geleistet, löst immer noch den Anspruch ein, den der in Theresienstadt nur knapp dem Tode entronnene Rabbiner Leo Baeck so formuliert hat: “Zu erkennen, was war, um zu verstehen, was ist, und zu erfassen, was sein wird.” Urs Jaeggi 58 Der Tod in Venedig Morte a Venezia (Italien 1970) Regie: Luchino Visconti. Buch: Luchino Visconti, Nicola Badalucco, nach der Erzählung von Thomas Mann. Kamera: Pasquale de Santis. Musik: Gustav Mahler (3. und 5. Sinfonie). Darsteller: Dirk Bogarde, Björn Andresen, Silvana Mangano, Mark Burns, Marisa Bereson. Länge: 130 Minuten. Vertrieb: Warner Horne Video. Schon immer haftete an diesem Film die Patina des Vergänglichen. Das hat sich in den 17 Jahren, in denen “Der Tod in Venedig” als Meisterwerk der Kinematographie, aber auch als Musterbeispiel für eine geglückte Literaturverfilmung unablässig gefeiert wird, nicht geändert. Das Werk, ein Meisterstück des unvergeßlichen Luchino Visconti, ist ein Film des Abschieds. Da nimmt der Komponist und Kapellmeister Gustav von Aschenbach Abschied nicht nur von seinem eigenen Ich, sondern auch von jenen Wertmaßstäben und 178 http://www.mediaculture-online.de -vorstellungen, die seine Kunst und damit auch sein Dasein prägten. Und gleichzeitig nimmt Visconti – nicht ohne Wehmut – Abschied von einer Epoche, die mit dem “fin de siècle” in ihre dekadente Phase geriet und deren Untergang damit vorgezeichnet war. Es hätte dieser Film uns heute wohl nicht mehr viel zu sagen, wäre die Patina des Vergänglichen einfach nur eine undurchdringliche Firnis der Erinnerung an eine Zeit, die einer sittlichen wie ethischen Ordnung sowohl im Alltag als auch in seinem Spiegel, der Kunst, verpflichtet schien. Aber gerade hier setzt Visconti seine Zäsuren. Gustav von Aschenbach – von Dirk Bogarde mit bewußter Zurückhaltung gespielt – ist einer, der an dieser Zeit und ihrer Zwiespältigkeit gescheitert ist. Die Erkenntnis der Fragwürdigkeit festgefügter, kaum mehr zur Diskussion gestellter Wertvorstellungen, wie sie auch sein künstlerisches Schaffen geprägt haben, läßt ihn zum Zweifler in erster Linie an sich selber werden. “Gustav”, fragt ihn sein Schüler Alfred einmal unvermittelt, “weißt du auch, was allem menschlichen Streben zugrundeliegt? – Die Mittelmäßigkeit.” Aschenbach hätte dieser kernigen Belehrung nicht mehr bedurft. Längst ist sein Streben nach dem Hehren, Edlen und ethisch Hochstehenden rissig geworden; so sehr, daß seinen Zweifeln und seinen allerdings vergeblichen Versuchen einer Neuorientierung folgerichtig der körperliche Zusammenbruch folgte. Auf dem Dampfer, der den Erholungssuchenden nach Venedig bringt – in jene Stadt also, die für die Ewigkeit als eine Ode an die Schönheit gebaut wurde und die doch wie keine andere zu versinken droht –, begegnen wir Aschenbach im Film zu ersten Mal. Scheinbar aus dem Nichts taucht dieses Schiff auf und nimmt Kurs auf den Lido. Längsschiffs nimmt die Stadt Konturen an. Bringt die Fahrt aus der leeren Weite des Meeres auch für Aschenbach neue Perspektiven? Sichtbar wird zunächst nur seine tiefe Verunsicherung, gesteigert noch durch die ganz und gar künstliche Welt im Grand Hotel les Bains. Der Versuch, an der Stätte seiner Jugenderinnerungen endlich wieder zu sich selber zu finden, nimmt in der Begegnung mit einem polnischen Jüngling von geradezu antiker Schönheit dramatische Züge an. Zutiefst erschrocken über die “absolute Herrschaft”, die der Knabe über ihn ausübt, aber auch bedrängt von dem Wunsche, seine Gebrechlichkeit zu überwinden und selber wieder jung zu werden, gerät von Aschenbach in einen Zustand, der die Grenzen zwischen realer Wahrnehmung und den Ausschweifungen seines Geistes Verwischt. 179 http://www.mediaculture-online.de Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, sein eigenes Ich in die Gestalt des Jünglings zu projizieren, und dem Bedürfnis, Herr seiner Sinne zu werden, gerät der Künstler in den Strudel des Zerfalls und wird schließlich das Opfer jener Seuche, die in der Stadt umgeht; Visconti versteht die Cholera – die vom Hoteldirektor ängstlich heruntergespielt und verdrängt wird, deren Präsenz aber durch die vom schwülen Scirocco überallhin verbreiteten penetranten Gerüche der Desinfektionsmittel allgegenwärtig ist – als ein Symbol des Todes und des Untergangs, des Absterbens auch, das immer zentrales Thema seines kompositorischen Schaffens war. Nun sind es nicht die Risse in der Patina des Vergänglichen allein, die “Morte a Venezia” zur Gültigkeit über die Zeiten hinwegverhelfen. Es ist vielmehr noch die Art und Weise, wie Visconti diese Geschichte nach Motiven einer Novelle von Thomas Mann inszeniert hat. Die Erzählung eines Sterbens, das nicht nur das Sterben eines Individuums, sondern auch das Sterben einer Gesellschaft mit ihren Wertvorstellungen und Maßstäben ist, findet in Bildern höchster ästhetischer Vollendung und in einem getragenen Rhythmus der Montage ihre Entsprechung. Diese Bilder sind geprägt von einer Liebe und einem zutiefst menschlichen Verständnis zu dieser verzweifelten Figur, die auch dann nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wird, wenn sie sich selber zum Clown macht, indem sie sich angesichts des Todes im Friseursalon ein jugendliches Antlitz aufschminken läßt. Bilder sind es, die über alles Vordergründige hinwegweisen und sich tief in die Seele einprägen. In der Musik aus Gustav Mahlers 3. und 5. Sinfonie – einem Zeitgenossen und bestimmt auch alter ego dieses Aschenbachs – finden sie mehr als bloß stilgerechte Untermalung: Bild und Musik verschmelzen in “Der Tod von Venedig” zu einem großartigen Zusammenklang, der den Film über alle Zeitbedingtheit hinweg zu einem einmaligen Erlebnis werden läßt. Wolfgang Schwarzer 180 http://www.mediaculture-online.de 59 Kinder des Olymp Les enfants du paradis (Frankreich 1943/45) Regie: Marcel Carné. Buch: Jacques Prévert. Kamera: Roger Hubert, Marc Fossard. Musik: Maurice Thiret, Joseph Kosma. Ausstattung: Léon Barsacq, Raymond Gabutti, nach Entwürfen von Alexandre Trauner. Darsteller: Arletty, Jean-Louis Barrault, Pierre Brasseur, Marcel Herrand, Maria Casarés. Länge: 184 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien. Olymp – das waren die billigen Theaterplätze, auf denen sich für ein paar Sous das Volk flegelte; Kinder des Olymp, das waren die Schauspieler. Straße des Verbrechens – wegen der zahllosen Bühnenleichen – nannte sich der Boulevard du Temple vor Haussmanns Kahlschlag und der urbanen Erneuerung der Stadt Paris. Dort drängelte sich vor Gauklerbuden, Schmieren und Theaterpalästen eine bunte Menschenmenge, gierig nach Klatsch, Skandalen und Sensationen. Carnés Hommage an das Theater läßt detailversessen und unverblümt die Epoche um 1840 aufleben. Aus dem Gedränge der Neugierigen treten, behutsam der Sympathie des Zuschauers anvertraut, vier Personen in den Vordergrund. Fréderick Lemaitre ist ein abgerissener Komödiant in der Menge, den Kopf voller Flausen und schöner Frauen, ehrgeizig, aber noch ohne Erfolg. Pierre-Francois Lacenaire, öffentlicher Schreiber, Poet und Autor von Komödien, sieht die Welt als skrupelloser Zyniker. Diebstahl und Hehlerei bringen ihm mehr ein als seine Lohnarbeit. Baptiste Debureau, ein verträumter Romantiker, beobachtet mit erstaunten Augen die Welt und spiegelt sie in charmant-naiven Pantomimen. Seinem Vater, dem ruppigen Theaterdirektor, gilt er als Nichtsnutz. Später gesellt sich Graf de Montray zu ihnen, ein reicher Lebemann. Vier grundverschiedene Typen, die das Schicksal für einen Augenblick zusammenführt, um sie sogleich wieder unerbittlich zu trennen. Das Schicksal trägt den Namen Garance. Oscar Wilde hätte sie als Sphinx ohne Geheimnis bezeichnet. Eine schöne Frau, der Vorstadtmisere entwachsen, weckt Leidenschaft in den vier Männern und läßt die Wahrheit ihres Seins an die Oberfläche treten. Ihr Leben erfährt eine radikale Wende. 181 http://www.mediaculture-online.de Fréderick, eher oberflächlich und flatterhaft, erkennt die Verheerungen der Eifersucht. Er wird zum Schauspielstar und kann endlich die Rolle seines Lebens kreieren, Shakespeares Othello. Lacenaire begreift Garance als freies Geschöpf seinesgleichen, das einzige, dem er “ohne Haß und Verachtung” entgegentreten kann. Für sie begeht er den Mord, welcher seiner Gaunerkarriere ein Ende setzt. Graf de Montray sieht in ihr die Schönheit der unnahbaren Statue, welche sie auf der Bühne verkörperte. Seine Liebe stellt sich als Besitzstatus dar und gerät zur gesellschaftlichen Affäre, die ihn ins Verderben führt. Für Baptiste ist Garance Sehnsucht und Liebe schlechthin. Die Rose, die sie dem scheuen Pantomimen zuwirft, läßt seine Seele erblühen und schenkt dem Körper jene unvergleichliche Ausdruckskraft, die Debureau zu seiner Zeit zum Liebling des Pariser Publikums machte. Für eine Nacht mit der Ersehnten verläßt er schließlich Bühne, Frau und Kind, um sie des morgens, verzweifelt gegen das Menschengewühl des beginnenden Karnevals ankämpfend, unwiederbringlich entschwinden zu sehen. Debureau, Lemaitre, Lacenaire – das sind historisch verbürgte Persönlichkeiten, die bereits zu ihrer Zeit Legende waren. Die Handlung entspringt allein dem poetischen Universum Jacques Préverts, in dem die Nähe Baudelaires zur Stimmung der Epoche und die Zeitgenossenschaft Genets spürbar sind. Marcel Carné (geboren 1909) als Regisseur und Jacques Prévert (1900-1977) als Drehbuchautor hatten seit 1936 zusammengearbeitet und mit den Filmen “Hafen im Nebel” (1938) sowie “Der Tag bricht an” (1939) Meisterwerke des poetischen Realismus geschaffen. Nach der Besetzung Frankreichs durch Hitlers Truppen siedelten sie ihre Geschichten wie viele Regisseure der Zeit, in vergangenen Epochen an, um den Schikanen der Vichy-Regierung zu entgehen. “Die Nacht mit dem Teufel” (1942), eine mittelalterliche Legende, war zum überragenden Erfolg geworden, zumal das Publikum die deutschen Produktionen boykottierte. Nur so wurde eine für die damalige Zeit einzigartige Mammutproduktion wie der dreistündige Film “Kinder des Olymp” möglich. Kriegsbedingte technische und personelle Schwierigkeiten unterbrachen die 1943 in Nizza begonnenen Dreharbeiten häufig, so daß Carné und Préverts in jeder Hinsicht größte Schöpfung erst im März 1945 als erster französischer Film im befreiten Paris zur Aufführung gelangte. Seither zählt er zu den schönsten und bedeutendsten Kunstwerken 182 http://www.mediaculture-online.de der Filmgeschichte, unerschöpflich in der Vielfalt seiner Gestaltungsmittel und der Aussagekraft der kunstvoll ineinander verschränkten Handlungsstränge. Die Produktion einer solchen zum Teil mit illegal arbeitenden jüdischen Künstlern (Trauner, Kosma) geschaffenen Teamarbeit in der Epoche, die geprägt war von Gestapo, Gaskammern und Massenmord, spricht für einen ungeheuren Überlebenswillen und die Kraft humaner Freiheitsbedürfnisse. Auch dies macht “Kinder des Olymp” zu einem unsterblichen Dokument. Walter Schobert 60 Easy Rider Easy Rider (USA 1968/69) Regie: Dennis Hopper. Buch: Peter Fonda, Dennis Hopper, Terry Southern. Kamera: Laszlo Kovaes. Musik: Steppenwolf, The Jimi Hendrix Experience u.a. Darsteller: Peter Fonda, Dennis Hopper, Jack Nicholson. Länge: 91 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Gespannte Erwartung zuerst: Wie wird dieser Film, den man vor fast zwanzig Jahren gesehen hat und den man, damals, in einer fast hymnischen Kritik ohne jede Einschränkung lobte, heute wirken? An das Lob erinnerte man sich manchmal mit Unbehagen, wenn die Rede kam auf Drogen und die fürchterlichen Katastrophen derer, die sich auf Marihuana und Stärkeres eingelassen hatten, um ihr “Bewußtsein zu erweitern”, und in Sucht endeten. Wie hat ein Film diese fast zwanzig Jahre überlebt, der damals der Kultfilm schlechthin war, Kultfilm einer neuen Jugendbewegung? Ist von ihm mehr geblieben als von den zusammengebrochenen romantischen Träumen, von dieser Hippieseligkeit, die dennoch für viele mehr war als eine jener sich immer schneller ablösenden Moden der kommerziell gesteuerten Jugendkultur? Ist es dem Film ergangen wie seinem Regisseur und Hauptdarsteller Hopper, der danach nur noch “The last Movie” machen konnte und sich 183 http://www.mediaculture-online.de heute mühsam hochrappeln muß aus der Hölle der Alkohol- und Drogenexzesse, in die er geraten war? Gespannte Erwartung also und sogar ein wenig Angst vor dem Wiedersehen. Die Exposition scheint die Befürchtungen zu bestätigen: Zwei junge Leute, Wyatt und Billy, in Ledermontur der eine und mit heller Sonnenbrille, in Cowboykluft mit Hut und Fransenjacke der andere, beim großen Deal. Sie beschaffen sich von Mexikanern Rauschgift, das sie am Rande des Flughafens von Los Angeles an einen Jüngling verdrehen, der im Rolls Royce heranchauffiert wird und eine seltsame Ähnlichkeit mit Polanski hat. Der Handel bringt ihnen das große Geld für die Reise. Aber dann: Detailaufnahmen von chromblitzenden Motorrädern, Harley-Davidsons, die so zärtlich abgefahren werden, als würde ein Cowboy sein Pferd streicheln. In Großaufnahme fliegt Wyatts Uhr in den Dreck, die Reise kann beginnen, Landschaft wird gezeigt, Räder rollen, endlos ziehen sich die einsamen Straßen, Rockmusik. Und plötzlich ist man wieder gepackt, fasziniert – und stellt fest, daß dieser Film immer noch funktioniert, daß ihn die Zeit relativ unbeschädigt gelassen hat – und es wird auch klarer als damals, warum dieser Film zum Mythos wurde. Seine Wirkung bezog er gerade aus der Einfachheit, mit der zwei Außenseiter der Filmproduktion zu Werke gingen. Sie erzählen die Geschichte von zwei anderen Außenseitern, von zwei drop-outs, die ausziehen, die Freiheit zu suchen und den Tod finden. Sie brechen in L.A. auf und wollen nach New Orleans, zum Mardi gras. Unterwegs auf der langen Reise treffen sie einen Farmer, der mit seiner katholischen Frau und vielen Kindern auf dem Land lebt – von dem was er gesät hat. Sie nehmen einen Anhalter mit, der sie zu einer Landkommune führt, deren Mitglieder die Städte fluchtartig verlassen haben und ein entbehrungsreiches Leben fristen, eine Art urbiblischer Gruppe. Zum Abschied schenkt ihr Anführer Wyatt ein Päckchen LSD. Nach diesen zwei Stationen, die so etwas wie alternative Lebensmöglichkeiten schildern, werden die beiden Reisenden von der amerikanischen Realität eingeholt. In der nächsten Stadt werden sie eingesperrt, wegen unerlaubter Teilnahme an einer Parade. Die verhaßten Langhaarigen werden von einem Säufer freigekauft, der mit ihnen eingelocht 184 http://www.mediaculture-online.de war: von dem jungen Rechtsanwalt Georg Hanson (die Rolle brachte Jack Nicholson den Durchbruch), der auch süchtig ist, aber nach einer gesellschaftlich sanktionierten Droge: dem Alkohol. Auch Georg hat vom Mardi gras geträumt; der Gouverneur von Louisiana hat ihm sogar die Visitenkarte des besten Bordells gegeben. Zu dritt fahren sie weiter. In einer Kleinstadt kriegen sie nichts zu essen. Die Teenager finden sie toll, aber der Sheriff und sein dicknackiger Freund sehen in ihnen Tiere. Nachts, am Lagerfeuer, werden sie überfallen und verprügelt. Georg überlebt die Lynchjustiz nicht. Zu seinen Ehren besuchen sie das Bordell. Auf einem Friedhof schlucken sie das LSD. Später fahren sie weiter. Wieder: Musik, Landschaft. Ein Jeep kommt ihnen entgegen. Der Beifahrer greift zum Gewehr. Zuerst holt er Billy von der Maschine. Dann stirbt Wyatt. Erst heute, in der Retrospektive, wird klar, wie verhaftet der Film dem alten HollywoodKino ist, seinen Mustern, dem Western vor allem: Die Motorräder sind die Pferde, die Landschaft ist die gleiche, die Gespräche am Lagerfeuer sind maulfaul, weil die beiden stoned sind, aber eben auch Cowboys. Schon die Namen sind ja Western-Legende: Hopper ist Billy (the Kid) und Fonda ist Wyatt (Earp), den sein Vater Henry so oft gespielt hat. In der Retrospektive erscheint der Film auch gar nicht mehr naiv. Man muß ihn nur von seinem Ende her sehen. Er ist darauf angelegt, daß der Traum heftig und letal endet. Was vor zwanzig Jahren als plötzlich hereinbrechender Schock wirkte, der nur Wut und Trauer auslöste, wirkt heute als konsequenter Schluß einer Entwicklung, die sich schon in den ersten Bildern und Gesprächen andeutet: Dieser Traum von der individuellen Freiheit muß tödlich enden, und das liegt an der Intoleranz der “schweigenden Mehrheit” ebenso wie an den Träumern, die nur fliehen und sich nirgends stellen. Fonda und Hopper, so scheint es jedenfalls heute, haben das gewußt, haben gewußt, daß auch sie kein Rezept hatten – und gerade darin liegt die Stärke des Films: daß er ehrlich seine Ratlosigkeit eingesteht. Wer ihn, damals, als eine Aufforderung gesehen hat, auszusteigen, hat ihn mißverstanden. “Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund” das funktionierte auch damals nicht. Als Billy, nach dem Mardi gras, kurz vor seinem Tod, jubelt: “Wir habens geschafft”, entgegnet Fonda: “Wir sind Blindgänger.” 185 http://www.mediaculture-online.de Die Kernszene ist, in der Retrospektive, der LSD-Trip auf dem Friedhof, eine Szene, die überhaupt nicht in den Film zu passen scheint, die ihn stilistisch sprengt, die in den ruhigen Fluß der Bilder platzt wie eben ein Trip im Kopf und in kurzer, harter Montage die Bilder explodieren läßt. Immer wieder sieht man Fonda seinen Kopf an das Gesicht einer Frauenstatue schmiegen, hört ihn von seiner Mutter reden, deren Liebe er gesucht habe, die er hasse: Das sind bis in den Tonfall die Worte, die lange vorher der andere große Rebell stammelte, James Dean: in Nicholas Rays “Denn sie wissen nicht, was sie tun”. Die Verbindung zwischen den beiden Filmen liegt nicht nur darin, daß Hopper mit Dean befreundet war (und in jenem Film mitspielte). Wie Rays Film die bis heute gültige Formulierung des Aufbegehrens der jungen Generation gegen das Establishment der fünfziger Jahre ist, so erscheint mehr denn je “Easy Rider” als das schlüssige Dokument des Denkens und Fühlens der Jugend am Ende der sechziger Jahre. Rolf-Ruediger Hamacher 61 Jeder für sich und Gott gegen alle (Bundesrepublik Deutschland 1974) Regie: Werner Herzog. Buch: Werner Herzog. Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein, Klaus Wyborny. Schnitt: Beate Mainka-Jellinghaus. Musik: Pachelbel, di Lasso, Albioni, Mozart. Darsteller: Bruno S., Walter Ladengast, Brigitte Mira, Hans Musäus, Willy Semmelrogge, Elis Pilgrim, Herbert Achternbusch, Reinhard Hauff. Länge: 109 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Am Pfingstmontag 1828 trat eines der berühmtesten Findelkinder in die Geschichte ein: Kaspar Hauser. Nur einen einzigen Satz – “Ich möcht ein solcherner Reiter wern, wie mein Vater einer gwen ist” –, von dem er nicht einmal wußte, was er bedeutete, konnte er sprechen. Da stand er nun, Hut und einen Brief in den Händen, auf dem Nürnberger Unschlittplatz, begafft von den Bürgern. Der vermutlich 16jährige, verwahrloste Findling 186 http://www.mediaculture-online.de wird zunächst ins Gefängnis gesteckt, dann – zur Entlastung des Steuerzahlers – muß er als Jahrmarktsattraktion herhalten. Er flieht und wird von dem Gymnasialprofessor Daumer aufgenommen, der ihm die Werte der Zivilisation nahezubringen versucht. 1829 scheitert ein Anschlag auf Kaspar Hauser, den 1831 der exzentrische englische Lord Stanhope adoptiert. Dieser wird seiner Laune aber schon bald überdrüssig und gibt Kaspar bei dem Ansbacher Volksschullehrer Meyer in Pflege. Bei dortigen Appellationsgericht wurde der Findling mit einfachen Schreibarbeiten betraut, verkehrte jedoch trotz seiner zurückgebliebenen geistigen Entwicklung in höchsten Gesellschaftskreisen. 1833 wurde er im Ansbacher Hofgarten von einem Unbekannten niedergestochen und tödlich verletzt. Über tausend Bücher befaßten sich seitdem mit dem rätselhaften Leben des Kaspar Hauser, versuchten die Wahrheit zu ergründen: War er ein badischer Erbprinz oder ein ganz gerissener Betrüger? Die Diskussion der Geschichtsund Geschichtenschreiber hält auch heute noch an. Erstaunlich, daß Werner Herzog der erste war, der Kaspar Hauser zur Titelfigur eines geradezu nach der Leinwand schreienden Filmstoffes machte. “Jeder für sich und Gott gegen alle”, 1975 bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem großen Sonderpreis der Jury, dem Preis der internationalen Filmkritik und dem der ökumenischen Jury ausgezeichnet, nimmt die historischen Fakten nur als Gerüst, um sich dann ganz auf die geschundene Kreatur Mensch zu konzentrieren – einen Menschen, dem trotz seiner Benachteiligung die Hilfe Gottes versagt bleibt. Herzog macht daraus kein religiöses Thema wie zum Beispiel Bresson in “Mouchette”, obwohl sein Film ein wenig die Askese Bressonscher Werke atmet. Und Herzog interessiert sich auch nur am Rande für die Sozialisation seiner Hauptfigur, wie es etwa Truffaut in seinem optimistischen Plädoyer auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen in “Der Wolfsjunge” getan hat. Herzogs Film entwickelt sich aus dem Satz, der über eines der ersten Bilder – ein wogendes Kornfeld in der Totalen – eingeblendet wird: “Hören sie denn nicht das entsetzliche Schreien ringsum, das man gewöhnlich die Stille heißt?” Diese inneren, lautlosen Schreie meint man dauernd zu hören, wenn Kaspar Hauser seine schmerzlichen Erfahrungen mit der Welt macht, in die er erst als Erwachsener 187 http://www.mediaculture-online.de geworfen wurde. Er, der jahrelang in einem Kellerloch angekettet im eigenen Kot dumpf dahinvegetierte, kann nicht laufen, kennt keine Sprache, ist bar jeder Erfahrung und jeden Wissens. Als ein Fechter vor ihm Angriffe simuliert, zeigt er keinerlei ängstliche Reaktion. Und als er eine brennende Kerze berührt, stößt er keinen Laut aus, verzieht sich sein Gesicht zu einer undefinierbaren Regung zwischen Lachen und Weinen, während ihm die Tränen die Wangen herunterlaufen. Schmerzen scheint ihm regelrecht das Erlernen der Sprache zu bereiten, so gequält preßt er die Wörter aus sich heraus. Aber der gesellschaftlich nicht vorgeformte Kaspar entdeckt auch sehr schnell die Absonderlichkeiten seiner Umwelt: “Wozu sind die Frauenzimmer eigentlich gut? Warum erlaubt man ihnen nur Häkeln und Kochen?” fragt er die Haushälterin seines Pflegevaters, ohne eine Antwort zu bekommen. Und als ob er der Gesellschaft ihre Abnormität vorführen wollte, setzt er sich bei einem Empfang der feinen Gesellschaft in eine Ecke und häkelt selbst. Einen Professor, der ihm eine logische Denkaufgabe stellt, die er per doppelter Negation lösen soll, entwaffnet er durch seinen Mutterwitz, der alle logischen Gesetze über den Haufen wirft und dennoch die Aufgabe löst. Da haben selbst die Äpfel, die nicht so auf dem Weg liegen bleiben, wie es Kaspars Erzieher gerne wollen, für ihn mehr Eigenleben als seine in Konventionen erstickte Umwelt: “Kluges Äpfelchen”, bewundert Kaspar das über den Fuß des Pfarrers springende Obst. Aber Kaspars Welt vereinigt sich nicht mit der ihn umgebenden Realität. Nur in seinen Träumen erfüllt sich die Vision von einer besseren Welt. Daß dieser Film über einen Außenseiter, der als einziger menschlich erscheint und seine normale Umwelt als unmenschlich erscheinen läßt, einen so bewegt, liegt vor allem an der Besetzung der Hauptrolle mit dem Laiendarsteller Bruno S., der ein Kaspar Hauser nicht unähnliches Schicksal hinter sich hatte: Ab seinem dritten Lebensjahr war er eingesperrt, wurde von seiner Mutter in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder gesteckt. Zwanzig Jahre lang war er von der Gesellschaft ausgeschlossen. Als man ihn geheilt entließ, war er im Grunde kaputt. 188 http://www.mediaculture-online.de Bruno S., ein Berliner Original, geht am Wochenende mit seinem Akkordeon als Moritatensänger auf die Hinterhöfe. In seinem Gesicht, das er hier Kaspar Hauser mehr als leiht, steht jene radikale Menschlichkeit geschrieben, die auch die vor “Jeder für sich und Gott gegen alle” entstandenen Filme Werner Herzogs (unter anderem “Lebenszeichen”, “Auch Zwerge haben klein angefangen”, “Land des Schweigens und der Dunkelheit”) ausstrahlten. Daß sich diese Radikalität in Form und Inhalt nicht steigern läßt, zeigen die späteren Arbeiten des Regisseurs (u.a. “Nosferatu”, “Fitzcarraldo”). “Jeder für sich und Gott gegen alle” allerdings ist ein Film, der den Ausspruch Truffauts rechtfertigt, Werner Herzog sei der (damals) bedeutendste lebende Regisseur. Meinolf Zurhorst 62 Taxi Driver Taxi Driver (USA 1976) Regie: Martin Scorsese. Buch: Paul Schrader. Kamera: Michael Chapman. Musik: Bernard Herrmann. Darsteller: Robert De Niro, Cybill Shepard, Jodie Foster, Harvey Keitel, Peter Boyle. Länge: 116 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Eine der kreativsten und wohl bedeutsamsten Partnerschaften des jüngeren amerikanischen Films ist die des Regisseurs Martin Scorsese und des Schauspielers Robert De Niro. Bereits mit ihrer ersten Produktion Mean Streets (Hexenkessel, 1973) setzten sie Maßstäbe und prägten das Erscheinungsbild des künstlerisch anspruchsvollen US-Kinos der siebziger und frühen achtziger Jahre. Wohl keiner hat den “loner”, den einsamen (Anti-)Helden der Großstadt, dessen Kampf gegen seine Umwelt und die Dämonen der eigenen Persönlichkeit sich meist in eruptiver Gewalt entlädt, so überzeugend dargestellt wie De Niro. Und kein anderer Regisseur hat dafür wie Scorsese so präzise wie stimmige visuelle Metaphern gefunden. 189 http://www.mediaculture-online.de “Taxi Driver” ist der zweite gemeinsame Film dieses kreativen Duos. De Niros Rolle des Travis Bickle, des Taxifahrers, wurde zum Synonym für ein entwurzeltes, orientierungsloses Amerika zur Zeit des Vietnamkrieges. Mit dem durch die nächtlichen New Yorker Straßen gleitenden gelben Taxi gelang eines der sinnfälligsten Bildsymbole für Einsamkeit und Suche nach eigener Identität. Es ist Nacht in New York, Dampf steigt aus den Kanalschächten auf, ein Taxi schiebt sich langsam ins Bild hinein. Sein Fahrer Travis Bickle, ein Ex-Marine, kann nach seinen Vietnam-Erlebnissen nicht mehr schlafen und hat deshalb begonnen, in der Nachtschicht eines Taxi-Unternehmens zu arbeiten. Travis ist der Stadt und ihren Menschen gegenüber voll dumpfer Wut, er findet keinen Platz mehr in dieser Gesellschaft. Als Travis dann der blonden Betsy (Cybill Shepard) begegnet, die als Wahlhelferin für einen Präsidentschaftskandidaten arbeitet, ist diese für ihn, inmitten des Schmutzes der Großstadt, eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Betsy verkörpert für ihn die Unschuld (was Scorsese durch ihre weiße Garderobe explizit verdeutlicht). Und doch weiß er nichts Besseres, als sie bei ihrem ersten Rendezvous in ein Pornokino zu führen. Entsetzt läßt der blonde Engel ihn stehen und weist auch in Zukunft seine Annäherungsversuche ab. In Travis läßt die Abfuhr eine dumpfe Wut entstehen. Als ein Fahrgast (Scorsese) ihm eines Nachts erzählt, seine untreue Frau mit einer 44er Magnum erschießen zu wollen, brechen bei Travis die Hemmungen zur Gewaltanwendung. Er kauft sich ein ganzes Arsenal von Waffen und beginnt vor dem Spiegel in seinem schäbigen Apartment mit rituellen Exerzitien wie vor den Kämpfen im Krieg. In einem Drugstore wird er Zeuge eines Überfalls und erschießt den Täter. Später rasiert er sich den Schädel zur Irokesenfrisur und beschließt, den Präsidentschaftskandidaten umzubringen. Doch Sicherheitsbeamte verhindern das 190 http://www.mediaculture-online.de Attentat. Travis kann entkommen und fährt zu dem Zuhälter (Harvey Keitel) der zwölfjährigen Prostituierten Iris (Jodie Foster), die er zuvor kennengelernt hatte und die er nun aus ihrem Elend befreien will. Es kommt zu einem Massaker, in dessen Verlauf Travis selbst verletzt wird. Die Zeitungen machen ihn zu einem Helden, da er ein Kind aus der Unterwelt holte. Scorsese charakterisiert während Bickles langsamer Nachtfahrten New York als einen urbanen Alptraum, unterstrichen von der elektrisierenden Musik des HitchcockKomponisten Herrmann. Er inszeniert eine irreale Atmosphäre durch den häufigen Einsatz von Slow Motion, roten Neonlichtern, die sich auf den nassen Straßen spiegeln, aufsteigendem Dampf, regennassen Scheiben, die die wahrzunehmenden Konturen und Gestalten verwischen. Es ist die Sicht eines Wahnsinnigen, und es ist zugleich das reale New York. Schnell wird klar, daß es sich bei den derart stilisierten Fahrten nicht um die Schilderung von Travis' Tagesablauf handelt, sondern um die langsame Einführung in seine psychische Konditionierung. So ist der Film vor allem auch das Werk seines Hauptdarstellers Robert De Niro, der wie sein Regisseur aus New York stammt. De Niro spielt diesen modernen Helden, der in seiner Ambivalenz an die Charaktere des “film noir” erinnert, mit konzentrierter Zurückhaltung. Die Augen häufig halb geschlossen, trotzdem intensiv beobachtend, läßt er das Blutbad als unausweichliche Eruption unterdrückter Gefühle erscheinen. Gewalt bei der Lösung alltäglicher oder psychischer Konflikte war eines der beherrschenden Themen des US-Films der siebziger Jahre. Auf den Schlachtfeldern in Vietnam verloren sich die gesellschaftlichen Wertvorstellungen und hatten eine zunehmende Isolierung des Individuums innerhalb des großstädtischen Gefüges zur Folge. Einzig die Gewalt schien einen Ausweg zu bieten. Travis gewinnt seine unheimliche, moralische Autorität – und darin unterscheidet er sich vom Helden des “film noir”, der sich am Ende immer zum Guten wandelt – aus der konsequenten Fortführung seiner psychischen Defekte. Das trennt ihn auch von spekulativen Rächern nach Art des Charles Bronson-Films “Ein Mann sieht rot”. 191 http://www.mediaculture-online.de Günter Lebailly 63 Die Drei von der Tankstelle (Deutschland 1930) Regie: Wilhelm Thiele. Buch: Franz Schulz, Paul Frank. Kamera: Franz Planer. Musik: Werner Richard Heymann. Darsteller: Lilian Harvey, Willy Fritsch, Oskar Karlweis, Heinz Rühmann, Olga Tschechowa, Kurt Gerron, Felix Bressart. Dauer: 98 Minuten. Vertrieb: UFA. “Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt”, erklang es im Kopf des Autors, als er gefragt wurde, ob er über “Die Drei von der Tankstelle” schreiben wolle. Vielleicht ist diese Reaktion bezeichnend für den Film, einen Musikfilm, eine “Tonfilm-Operette”. Vielleicht ist ja auch die Musik von Werner Richard Heymann dasjenige, was von diesem Film die Zeit am besten überdauert hat – und das Zweitbeste, wie Musik und Handlung sich im Film miteinander verbinden. Die Handlung folgt im Aufbau den Regeln der Operette. 1. Akt: Drei Freunde, Willy (Willy Fritsch), Kurt (Oskar Karlweis) und Hans (Heinz Rühmann), kommen von einer längeren Reise zurück, finden Haus und Mobiliar verpfändet. Ihr Bankier hat Bankrott gemacht. Der große Wirtschaftskrach von 1929 war gerade vorbei, als der Film entstand. Aber weder herrschen graue Misere noch Verzweiflung. Mit Humor tragen die Drei ihr Geschick, tanzen durch die Wohnung, tändeln mit dem “lieben Herrn Gerichtsvollzieher” (Felix Bressart) und sehen ihre Räume wie durch Zauberspuk sich leeren. 2. Akt: Es muß etwas geschehen. Als den Dreien während einer Autofahrt das Benzin ausgeht und weit und breit keine Tankstelle zu sehen ist, kommt die zündende Idee: Hier bauen wir eine Tankstelle. Gesagt, getan. Die Tankstelle steht und wird umschichtig bedient. Und wie es der Zufall oder das (Operetten-)Schicksal will: Lilian (Lilian Harvey) fährt vor und braucht für ihren schicken Wagen ein bißchen Öl. Sie wird von Hans bedient, der sie seine Sympathie spüren läßt. Die nächste Schicht hat Kurt; bei ihm ordert Lilian Benzin. Auch er ist von ihr hingerissen und vergißt, den Tank zuzudrehen, so daß 192 http://www.mediaculture-online.de Lilian noch einmal kommen muß, um ihrem Auto von Willy einen neuen Tankverschluß einsetzen zu lassen. Willy ist zunächst nicht so hingerissen. Doch kommen sich die beiden bei einem Gewitter – darunter tut's das “Schicksal” halt nicht – bald sehr nah. Vor dem Happy-End kommt jedoch erst einmal das Finale des zweiten Aktes mit dem obligaten Krach. Lilian hat jetzt drei Verehrer, liebt aber nur einen. Um das den anderen beiden “schonend” beizubringen, bestellt sie alle drei in den “Kitcat-Club”, damit die Szene auch den rechten Rahmen bekommt. Willy mißdeutet ihre Absicht und trennt sich von der herzlosen jungen Dame. Tränen und Verzweiflung, jetzt ist alles aus. “Liebling, mein Herz läßt dich grüßen”, singen die Comedian Harmonists noch einmal feinstimmig. Im 3. Akt muß das Happy End kommen, Darum heckt Lilian mit der Freundin ihres Vaters (Olga Tschechowa) wieder etwas Neues aus. Eine Tankstellen-Gesellschaft wird gegründet; Willy, Kurt und Hans sollen Direktoren werden. Die Drei sonnen sich in ihrem Glück, bis Willy herausbekommt, wer dahinter steckt. Aber Frauenlist ist stärker als Männerstolz. Lilian kriegt ihren Willy herum, und zum Schluß wird geheiratet. Eine Operette für die Zeit der Wirtschaftskrise, die Optimismus verbreitet, um die Massen ihre Misere vergessen zu lassen. Mit diesem Verdikt könnten wir zur Tagesordnung übergehen und das Ganze schnell vergessen, wenn nicht – wie bereits erwähnt – die hübschen Melodien wären, von denen einige ein halbes Jahrhundert frisch überdauert haben, und wenn nicht die Verbindung von Musik und Handlung wäre. Natürlich, es gibt, wie in anderen Filmen auch, die bebilderten Schlager, bei denen nichts weitergeht. An anderen Stellen wird die Musik leitmotivisch eingesetzt und schafft so die Verbindung späterer Szenen mit vorhergegangenen, ohne daß lange Erklärungen nötig sind. An wieder anderen Stellen werden durch die Musik verschiedene Handlungen miteinander verknüpft. Das waren am Anfang der Tonfilmzeit kühne Erfindungen. Was den Spaß ein wenig schmälert, sind die Herren Schauspieler, deren Charme durch die Zeit leicht verblichen ist. Ihre Spiellaune kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie nur ungenügend singen und noch weniger tanzen können. Man braucht gar nicht daran zu denken, was wenige Jahre später Fred Astaire auf dem Gebiet des Filmmusicals vollbrachte, es genügt schon, Lilian Harvey zuzuschauen. Sofort merkt man, daß sie das 193 http://www.mediaculture-online.de musikalische Metier beherrscht. Vergessen wir die bescheidenen Revue-Szenen im “Kitcat-Club”. Überhören wir außerdem die klägliche Tonqualität der vorliegenden Filmkopie. Halten wir uns statt dessen an die gute Laune, die über Unzulänglichkeiten hinwegträgt, dann ist der Film heute immer noch sehr vergnüglich anzusehen. Regisseur Wilhelm Thiele (1890-1975) hat den Erfolg nicht wiederholen können. Er kam aus Wien, wo er erste Filmerfahrungen gesammelt hatte, 1926 zur UFA nach Berlin. Vor “Die Drei von der Tankstelle” drehte er mit Lilian Harvey: “Adieu Mascotte” (Stummfilm, 1929) und “Liebeswalzer” (die erste Tonfilmoperette, mit Willy Fritsch, 1930), danach “Zwei Herzen und ein Schlag” (1932), außerdem unter anderem “Die Privatsekretärin” mit Renate Müller (1931). Als Jude mußte er 1933 emigrieren. Er ging nach Hollywood, wo er aber nur eine Reihe unbedeutender Filme drehte, unter anderem “Tarzan Triumphs” (Tarzan und die Nazis). Wilhelm Thiele war nicht der einzige Mitarbeiter des Films “Die Drei von der Tankstelle”, der aus Nazideutschland fort mußte oder fortging. Produzent Erich Pommer, Kameramann Franz Planer, Komponist Werner Richard Heymann, die Schauspieler Felix Bressart und Oskar Karlweis gingen nach Hollywood. Lilian Harvey verließ Deutschland bei Kriegsausbruch. Kurt Gerron wurde im KZ ermordet. Ruft man sich diese Tatsache ins Gedächtnis, dann bekommt der Frohsinn des Films bitteren Beigeschmack. Hans Gerhold 64 Ein Mann zu jeder Jahreszeit A Man for All Seasons (Großbritannien 1966) Regie: Fred Zinnemann. Buch: Robert Bolt, nach seinem Theaterstück. Kamera: Ted Moore. Musik: Georges Delerue. Darsteller: Paul Scofield, Robert Shaw, Orson Welles, John Hurt, Susannah York. Länge: 116 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. 194 http://www.mediaculture-online.de Der Fall ist wohlbekannt: Im Jahre 1529 wird der englische Humanist und Philosoph Sir Thomas More von König Heinrich VIII. zum Lordkanzler ernannt. Als der König sich von seiner ersten Frau, der Witwe seines Bruders, die er nur durch einen Dispens des Papstes heiraten konnte, scheiden lassen will, um seine Geliebte, Anne Boleyn, zu heiraten, widersetzt sich More. Heinrich macht sich mit der sogenannten Suprematsakte zum Oberhaupt der englischen Kirche; Thomas More verweigert den Eid auf die Akte, die zugleich ein neues Thronfolgegesetz festlegt; er wird in den Tower geworfen und im Jahre 1535 hingerichtet. Im Gegensatz zu anderen Versionen dieses historischen Stoffes, die sich vor allem für die vorgeblich ausschweifende Tudorzeit und das Liebesleben eines extravaganten Herrschers interessieren, stellt Regisseur Fred Zinnemann den Gewissenskonflikt eines Mannes in den Mittelpunkt, der zwischen Wirklichkeit und Moral, Treue gegenüber Gott und der Kirche, Staatsraison und öffentlichem Wohl, vor allem aber zwischen den Forderungen seines privaten Gewissens und den sozialpolitischen Druckmitteln eine schwierige Wahl treffen muß. More lebt nach einem Prinzip, dem zuliebe er alles opfert, auch sein Leben. Er kann keinem irgend gearteten außengelenkten Druck nachgeben, weil das einen Verrat an seiner Person und seiner Seele, seinem Ich darstellen würde. Dem König gegenüber äußert er einmal: “Respekt vergeht wie Wasser in der Wüste”, aber Standhaftigkeit, Ehre, Würde, Redlichkeit und Überzeugung seien Eigenschaften, die auch ein treuer Staatsdiener nicht über Bord werfen sollte, wenn es politischer Opportunismus verlange. Das ist die eine Seite von Mores Argumentation, die in dem sehr klugen und mit intelligenten Dialogen ausgestatteten Drehbuch von Robert Bolt (der es nach seinem gleichnamigen Theaterstück schrieb) angelegt ist. Die andere Seite besteht in Mores unbedingter Treue zu Gott, der er wie einer seiner historischen Vorgänger, Thomas Beckett, anhängt. Wie in Jean Anouilhs Beckett-Drama geht es More um die “Ehre Gottes”, dem er in eigenen Worten “mit aller Spitzfindigkeit des Geistes” dienen will. Das ist für die Zeit des Feudalismus eine geradezu subversive Herausforderung. Denn More beurteilt durchaus richtig Heinrichs willkürliche Maßnahme der Suprematsakte, der sich 195 http://www.mediaculture-online.de die offiziellen kirchlichen Würdenträger beugten, als Krieg gegen die Kirche. Zunächst und vor allem handelt es sich um eine Frage der Macht und ihrer Manipulation. Zinnemann findet dafür prägnante Beispiele. Mores Vorgänger Kardinal Wolsey (Orson Welles in einem seiner berühmt souveränen und wirkungsvollen Kurzauftritte) ist nicht nur ein Beispiel und ein Mann von Autorität und Macht, sondern durch seine Massigkeit, die alle ihn umgebende karge Dekoration überwältigt, die fleischgewordene Machtdemonstration; des Kardinals Dialog mit dem Lordkanzler über die richtige Staatsführung ist der eines Pragmatikers mit einem Idealisten. Machtsymbole, von den steinernen Tieren des Königs über Wolseys Siegel und Mores Amtskette, durchziehen den Film und bewirken eine permanente Atmosphäre von Bedrohung und Paranoia, was durch die kontinuierlichen Intrigen, Verhöre, Schwüre und Verfolgungen in Mores Umwelt noch unterstrichen wird. Nicht umsonst hat Neil Sinyard bemerkt, daß die Figuren ständig über ihre Schulter blicken oder mit ihren Reaktionen warten, bis der König (etwa in der signifikanten Szene, in der er im Uferschlamm watet) ein Zeichen gibt. Im Gesamtwerk Zinnemanns gehört Mores Passionsgeschichte zu jenen Filmen wie “Verdammt in alle Ewigkeit” (1953), “Geschichte einer Nonne” (1959) und vor allem dem Meta-Western “12 Uhr mittags” (1952), die von moralischen Konflikten handeln und sie an dem Postulat belegen, daß eines Menschen Charakter sein Schicksal bestimme. Deshalb zieht sich More in ein gefährliches Schweigen zurück, deshalb gibt er sich bewußt einer selbstgewählten Isolation hin und verstößt scheinbar Freunde und Familie, deshalb schließlich – als ihm mit dem Meineid eines Postenjägers jeder Ausweg versperrt wird – setzt er vor Gericht zu jener Abrechnung an, die definitiv die Parlamentsakte zugunsten der Gebote Gottes verwirft. Zinnemanns Film lebt von großartigen darstellerischen Leistungen, voran jener von Paul Scofield als More, der auch die pedantischen Züge des Gelehrten herausarbeitet, und jener von Robert Shaw als gefährlich heiterem König. Trotz des Charakters einer Theateradaption gelingt es Zinnemann, sein Werk visuell als Film zu präsentieren, durch eine die Farbnuancen und die Dekoration sowie die Positionen der Personen geschickt 196 http://www.mediaculture-online.de einfangende Kamera. Das mag einer der Gründe für den Oscar-Segen (sechs Oscars: für den Film, Regie, Buch, Hauptrolle, Kamera, Kostüme) gewesen sein. Horst Schäfer 65 Klassen Feind (Bundesrepublik Deutschland 1983) Buch und Regie: Peter Stein, nach dem Stück“Class Enemy” von Nigel Williams. Kamera: Robby Müller. Bühnenbild: Karl-Ernst Hermann. Darsteller: Greger Hansen, Stefan Reck, Jean-Paul Raths, Udo Samel, Ernst Stötzner und Tayfun Bademsoy. Länge: 125 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. “Klassen Feind” von Peter Stein, einem der führenden deutschen Theater-Regisseure, ist ein in vieler Hinsicht bemerkenswerter Film. Er verdichtet auseinanderstrebende und sich widersprechende jugendkulturelle Äußerungsformen und Protesthandlungen zu einer überzeugenden dramaturgischen Einheit, und er dokumentiert und konserviert eines der atemberaubendsten Stücke der an außergewöhnlichen Inszenierungen gewiß nicht armen “Schaubühne” in Berlin. Der Film ist aber mehr als nur eine für die Leinwand arrangierte Rekonstruktion der Bühnenaufführung, da die “meisterliche” Kameraarbeit von Robby Müller aus diesen Vorgaben und unter den Bedingungen eines Schauplatzes, dem Klassenzimmer, einen wirklichen Film mit seinen eigenen spezifischen Mitteln und Möglichkeiten gemacht hat. Dafür wurde Robby Müller 1983 zu Recht mit dem Deutschen Filmpreis (ex aequo) für die beste Kameraführung ausgezeichnet. Unter dem Eindruck der Jugendunruhen Ende der 70er Jahre in den Slums von Brixton schrieb der englische Autor und Ex-Lehrer Nigel Williams das Bühnenstück “Class Enemy”, das einen unverkrampften und realistischen Eindruck von der Situation und dem 197 http://www.mediaculture-online.de Lebensgefühl jugendlicher Outsider vermittelt und in England auf Anhieb zu einem großen Bühnenhit wurde. Sechs Schüler zwischen 16 und 18 Jahren warten in einem Klassenzimmer auf ihren neuen Lehrer. Alle Lehrer, die bisher in dieser Klasse unterrichten sollten, haben das Handtuch geworfen. Einer der Schüler hält Wache. Sobald irgendwelche Schritte zu hören sind, verbarrikadiert die Gruppe mit Tischen und Stühlen die Tür. Aber es kommt niemand. Die Schüler entschließen sich, während des Wartens selbst Lehrer zu spielen. Jeder hält eine Stunde, die anderen funken in gewohnter Manier dazwischen. Im Verlauf dieses Unterrichts an Lebenspraxis und -erfahrung erzählen die Jungens von sich, ihren Nöten, ihrem Hass, ihrer Angst und ihren Sehnsüchten. Es kommt zu einem blutigen Konflikt unter ihnen, als sie erfahren, daß man sie aufgegeben hat – daß in Zukunft kein Lehrer mehr kommen wird. Nach dem Ausbruch von Aggressivität, in dessen Verlauf das Klassenzimmer verwüstet wird, folgt der Zusammenbruch; bei offener Tür warten sie weiter auf einen Lehrer, auf einen Vertreter der Außenwelt – aber die Schule ist aus, und sie haben und finden keinen anderen Ort als die trostlose Betonburg Schule. Peter Stein hat die Ausgangslage des Stücks verändert und es nach Berlin-Kreuzberg – mitten in die Szene der Hausbesetzer, Punker und Null-Bock-Typen – übertragen. Sprache und Gehabe wurden dem Jargon und dem aggressiven Klima angepaßt. Das Ergebnis ist eine provozierende Zurschaustellung der Innenwelt dieser No-FutureGeneration. Stein's Regie steht auf Seiten der Jugendlichen; er führt seine Schauspieler zu artistischen Höchstleistungen, zu einer Sprach- und Sprechorgie mit hohen Anforderungen an junge Darsteller, die präzise und hochtourig den “fleischgewordenen Traum jedes Scheiß-Sozialarbeiters” bis an die Grenzen des Erträglichen verkörpern. Aus der Enge eines unwirtlichen Klassenraums entwickelt Robby Müller virtuose Bilder, ein komplexes Geflecht von Einstellungen, Fahrten und Schwenks, die exakt auf die Aktionen der Schauspieler abgestimmt sind, alle Höhepunkte unterstreichen und dabei auch scheinbare Nebensächlichkeiten genauestens beobachten. 198 http://www.mediaculture-online.de Bei den Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren, die den Hauptanteil unserer Kinobesucher bilden, kam “Klassen Feind” nicht sonderlich gut an. Stück und Film sind zu sehr auf eine gesellschaftliche Modell-Situation hin konstruiert; die Darsteller sind im Schnitt acht bis zehn Jahre älter als die Schüler, die sie zu spielen haben. Das wirkt sich vielleicht nachteilig auf den Kinoerfolg des Films aus, schmälert aber in keiner Weise den künstlerischen Rang einer beispielgebenden bildnerischen Symbiose von Theater und Film. “Klassen Feind” ist kein authentischer Report über den Zustand der Schule und der Jugend in Berlin, in der Bundesrepublik oder anderswo. “Klassen Feind” ist ein schockierender Science-Fiction-Film mit Horror-Elementen, der zeigt, was aus den jungen Menschen wird, wenn sie heute von den Teilen der Gesellschaft, die für sie auch unter schwierigen Umständen Verantwortung tragen sollten, aufgegeben werden. Walter Schobert 66 Der Student von Prag (Deutschland 1913) Regie: Stellan Rye. Buch: Hanns Heinz Ewers. Kamera: Guido Seeber. Bauten: Robert A. Dietrich, nach Entwürfen von Klaus Richter. Musik: Josef Weiß. Darsteller: Paul Wegener, Grete Berger, Lothar Körner, Fritz Weidemann, John Gottowt, Lydia Salmonova. Länge: 60 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé. “So entsteht im ›Kino‹ eine neue, homogene und harmonische, einheitliche und abwechslungsreiche Welt, der in den Welten der Dichtkunst und des Lebens ungefähr das Märchen und der Traum entsprechen: größte Lebendigkeit ohne eine innere dritte Dimension; suggestive Verknüpfung durch bloße Folge; strenge, naturgebundene Wirklichkeit und äußerste Phantastik; das Dekorativwerden des unpathetischen, des gewöhnlichen Lebens. Im ›Kino‹ kann sich alles realisieren, was die Romantik vom 199 http://www.mediaculture-online.de Theater – vergebens – erhoffte: äußerste, ungehemmteste Beweglichkeit der Gestalten, das völlige Lebendigwerden des Hintergrundes, der Natur... ; eine Lebendigkeit aber, die keineswegs an Inhalt und Grenzen des gewöhnlichen Lebens gebunden ist. ” Dies äußerte, im September 1913 in der “Frankfurter Zeitung”, Georg Lukács, der sich damals noch “von” schrieb. Wenige Wochen vorher, am 22. August, hatte im Berliner Mozartsaal ein Film Premiere, der sich ansieht wie die filmische Umsetzung der Thesen des damals noch bürgerlichen Ästheten, der diesen Streifen, “Der Student von Prag”, dennoch nicht unbedingt gesehen haben muß; er hätte wahrscheinlich, spätestens bei seinem Hinweis auf den Dichter E. Th. A. Hoffmann, sonst gewiß auch den Film ausdrücklich zitiert. Dieser Film gilt der deutschen und der internationalen Filmgeschichtsschreibung, von Einzelstimmen abgesehen, als das erste, wahrhaft künstlerische Werk der deutschen Kinematographie; mit ihm sei die deutsche Filmkunst geboren worden. Doch so sehr das erste richtig ist, so wenig stimmt das zweite. Vielmehr markiert das Jahr seiner Entstehung, 1913, überhaupt einen Einschnitt in der Geschichte des deutschen Kinos, das bis dato sowohl künstlerisch wie auch und vor allem kommerziell von französischen, italienischen und besonders dänischen Filmen dominiert war. Auch die wenigen vorher in Deutschland entstandenen anspruchsvolleren Filme verbanden sich ja mit skandinavischen Namen: mit Asta Nielsen, dem Star, und ihrem Gatten und Regisseur Urban Gad; nur ihr Kameramann, der Filmpionier Guido Seeber, der für die “Bioscop” in Babelsberg das erste Glasatelier gebaut hatte, war Deutscher. Das alles geschah 1913: Die Filmwirtschaft, schwer unter Beschuß sogenannter Kinoreformer, die in den “Schundfilmen” eine nationale Bedrohung sahen, griff zu einem Rezept, das einige Jahre vorher schon in Frankreich funktioniert hatte; das Image wurde aufpoliert durch den Versuch, bekannte Schriftsteller als Autoren und berühmte Theaterdarsteller als Stars zu gewinnen. “Film d'art” hieß das Zauberwort in Frankreich, “Autorenfilm” die deutsche Devise. Viele ließen sich einkaufen: Max Reinhardt drehte zwei Filme, Hofmannsthal und Lindau schrieben Stoffe, Pinthus lud Kollegen ein, Szenarios zu entwerfen, und veröffentlichte sie in seinem berühmten “Kinobuch”. Der erste große Schauspieler, der zum Film ging, war 200 http://www.mediaculture-online.de ausgerechnet der bildscheue Bassermann, der für Max Mack “Der Andere” drehte, einen relativ konventionellen Kriminalfilm, der aber immerhin das Motiv der Persönlichkeitsspaltung in den Film einführte. “Der Student von Prag” nahm es auf – und das ist nicht die einzige Parallelität zu jenen Aktivitäten des Jahres 1913. Er ist auch ein Autorenfilm – und gleichzeitig auch das Ergebnis einer Teamarbeit, des Zusammenwirkens einer Reihe von Könnern, die sich für das Kino begeisterten und meinten, es müsse mehr sein als nur triviale Unterhaltung, die es zur Kunst erheben wollten. Publikumswirksames Zugpferd war der Reinhardt-Mime Paul Wegener, der die Grundidee beisteuerte. Er wollte sich einen Traum erfüllen: in einer Szene mit sich selbst als Partner aufzutreten. In ein Szenario brachte sie der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers, Autor vor allem von phantastischen Büchern wie “Alraune”, der sich als einer der ersten seiner Zunft für den “Kintopp” erwärmt hatte. Der “Student von Prag”, für den er unter Verwendung zahlreicher literarischer Quellen die in Prag spielende Geschichte von dem Studenten Balduin erfand, der sein Spiegelbild an den zwielichtigen Signor Schapinelli verkauft, ist sein Meisterwerk, das er, der später den Nazis die Vorlage zum “Westmar”Film lieferte, nie mehr übertraf: ein vielgelesener und durchaus mittelmäßiger Tagesschriftsteller, nicht der erste, der bewies, daß aus schlechten Büchern gute Filme werden können. Altmeister Seeber photographierte und fand die technischen Lösungen für das Problem, im gleichen Bild ohne sichtbaren Bruch Balduin und sein Alter ego zu zeigen. Für die Regie freilich bediente man sich sicherheitshalber doch noch eines dänischen Imports: Stellan Ryes Anteil am Film dürfte weit höher sein, als nach dem Vorspann zu vermuten; dort wird als Regisseur schlicht “der Autor” genannt und auch Wegener gefiel sich in der Rolle. Nicht vergessen werden dürfen die auf den Expressionismus verweisenden Entwürfe Richters und der Komponist Josef Weiß. Freilich war seine Musik nicht die erste durchkomponierte Partitur zu einem Film; diesen Ruhm darf, einstweilen noch, “Richard Wagner” beanspruchen – wie es denn fast schon komisch ist, daß nichts von dem, was Ewers 1930 im Geleitwort zur Buchausgabe als Premiere reklamierte, wirklich das erste Mal geschah, daß er aber das nicht erkannte, was an seinem Film wirklich neu war. Helmut H. Diederichs zählt es in seinem langen einleitenden Essay zum Filmprotokoll (Focus-Verlag) auf: “die Filmtricks der Doppelgängeraufnahme und des Stoptricks, die 201 http://www.mediaculture-online.de Beweglichkeit der schwenkenden Kamera, die Inszenierung der Massenszenen in die Tiefe, die präexpressionistische Dekoration von Balduins Studentenbude, die klug genutzten Originalschauplätze, die Beleuchtungseffekte und die eingeschnittenen Dialogtitel.” Für Wegener, den Mann mit den mongolischen Gesichtszügen, die ihn prädestinierten zu seinen geheimnisvollen, oft dämonischen Charakteren, war “Der Student von Prag” der Beginn einer glänzenden Karriere, ein Durchbruch. Für die deutsche Filmgeschichte hat der Film nicht diesen Stellenwert, aber das liegt nicht an ihm, sondern am Weltkrieg, der den hoffnungsvollen Anfang von 1913 stoppte. Es sind vom “Student” keine Entwicklungen ausgegangen: Er ist eher ein ahnungsvoller Vorbote als der Beginn dessen, was später erst reifte. Ein Meisterwerk ist er dennoch. Über die Inszenierung und die ja sogar oft arg konventionelle Dramaturgie hinaus ist es vor allem das Grundmotiv dieses Films, das ihm seinen Rang verschafft: jene Gestalt des Doppelgängers, die im klassischen deutschen Kino immer wiederkehren sollte, das ja weit weniger vom Expressionismus beeinflußt wurde als von der deutschen Romantik, jener der schwarzen Ausprägung vor allem. Ewers hat den Film nicht zufällig um 1820 angesiedelt. Unschwer lassen sich, mehr oder weniger direkt, Geschichten von E. Th. A. Hoffmann ausmachen, auch Chamissos “Schlemihl”, und neben Poe wäre auch Oscar Wilde zu nennen. Das verkaufte Spiegelbild, das ein Eigenleben entfaltet, seinen Besitzer ins Elend stürzt und zu Tode bringt, der verkaufte Schatten, der Doppelgänger, der Staatsanwalt, der zum Verbrecher wird (“Der Andere”), die Doppelexistenz von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sie tauchen wieder auf im “Caligari”, im “Mabuse”. Sie alle sind, wie Balduin, Emanationen der Angst, daß das Ich von einem unkontrollierbaren Es beherrscht wird, verkörpern die furchtbare Erkenntnis, daß der Mensch von unbekannten Mächten zu Taten getrieben wird, für die er sich nicht verantwortlich fühlt. Balduin geht es nur um Reichtum und eine schöne Gräfin, wenn er sein Spiegelbild, seine Seele verkauft, aber wie Faust muß er erkennen, daß der Gegenspieler, in dessen Klauen er ist, niemand anders ist als er selbst. 202 http://www.mediaculture-online.de Hans Gerhold 67 1900 Novecento (Italien 1974/75) Regie: Bernardo Bertolucci. Buch: Bernardo Bertolucci, Franco Arcalli, Giuseppe Bertolucci. Kamera: Vittorio Storaro. Musik: Ennio Morricone. Darsteller: Gérard Depardieu, Robert De Niro, Donald Sutherland, Dominique Sanda, Stefania Sandrelli. Länge: 304 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Eines der ambitioniertesten Projekte der Filmgeschichte: ein Jahr Drehzeit, den Jahreszeiten folgend, ein Jahr Schnittarbeit, eine Laufzeit von fast fünfeinhalb Stunden (fünf in der Video-Fassung), der Versuch, mit den Produktionsmitteln des HollywoodKinos sozialrevolutionäre Inhalte zu transportieren und aus klassenkämpferischer Sicht ein Panorama der großen historischen Umwälzungen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Norditalien auf dem Lande zu entwerfen. Ein Gesamtkunstwerk, dessen Totalitätsanspruch Karl Marx wie Sigmund Freud, Giuseppe Verdi wie Georg Lukács vereinnahmt. Als “Novecento” – der italienische Titel meint nicht nur das Jahr, sondern das Jahrhundert und verweist somit auf die Bewegung der Zeit, die der deutsche Titel “1900” unterschlägt – vor elf Jahren in die Kinos kam und von der Kritik und vom Publikum eher ablehnend behandelt wurde, war der Film in mehrfacher Hinsicht ein Politikum. Vom kurzsichtigen Verleih in zwei Teilen mit mehreren Monaten Wartezeit dazwischen gestartet, wurde “1900” um seine Gesamtwirkung gebracht. In Italien war er zeitweise verboten, in den englischsprachigen Ländern kursierte eine gekürzte Fassung: Systematisch wurde einem epochalen Meisterwerk der Garaus gemacht. Wer dem Film heute wiederbegegnet, der erkennt, daß die Bertolucci vorgeworfene Maßlosigkeit ihren Sinn hat, daß die Analyse der Klassengegensätze in den dargestellten 203 http://www.mediaculture-online.de individuellen Biographien wie auch ihre Festschreibung in den Klassenverläufen historisch korrekt und sogar prophetisch geriet, daß das epische Kolossalgemälde zugleich ein dialektischer Diskurs über Geschichte und ein filmsprachlich schwelgerisches Kunstwerk ist, in dem reflektierende und analytische Inhalte und Impulse ihre korrespondierenden Formen und ästhetischen Argumentationsweisen finden. “Novecento” beginnt mit dem in Italien berühmten Gemälde “Il quarto Stato/Der vierte Stand” (1901) von Giuseppe Pellizza da Volpedo, das eine Demonstration von Landarbeitern zeigt und nicht als Standphoto fungiert, sondern wie eine Szene aufgenommen ist, indem die Kamera aus der Nahaufnahme langsam in eine Totale zurückfährt, damit den Eindruck erweckend, die Bauern träten in den Film und die Geschichte ein. Damit ist Bertoluccis Prämisse klar umrissen: den Anbruch einer neuen Zeit, von der sich das Landproletariat und die Arbeiterklasse Hoffnungen versprachen, nachzuzeichnen. In der gewiß modellhaften, aber darum nicht weniger zwingenden erzählerischen Konstruktion laufen zwei parallele Lebensgeschichten ab: Im Todesjahr Verdis werden Olmo (Gérard Depardieu) als Sohn des Bauern Leo Dalco (Sterling Hayden) und Alfredo (Robert de Niro) als Enkel des Großgrundbesitzers Berlinghieri (Burt Lancaster) geboren. Als Kinder spielen sie zusammen, sind als junge Männer in einer Art Haßliebe miteinander verbunden, die gewisse Gemeinsamkeiten über alle politischen Unterschiede hinweg aufdeckt. Während der Herrschaft des Faschismus getrennt, finden sie sich am 25. April 1945, dem Tag der Befreiung, wieder, als der Sozialist Olmo den Padrone vor einem Volksgericht der Bauern und Partisanen für tot erklärt. Soweit die vertikale Abfolge des Films, der durch eine große Rückblende – den Rahmen bildet der Befreiungstag – verklammert wird und mit einem kurzen Epilog (die beiden als streitende Tattergreise) endet. Die meisterhafte feste Kontur gewinnt “Novecento” auch durch seine strenge horizontale Struktur, indem er den Jahreszeiten folgt, denen bestimmte politische Entwicklungen zugeordnet sind. Der Sommer ist die Zeit der Kindheit, in der der Padrone beinahe noch in Einklang mit den Bauern lebt, die er wie die Natur und das Vieh liebt. Der Herbst ist die Zeit der Fragen und Vorentscheidungen, in der die Grundbesitzer (das Kapital) ihr 204 http://www.mediaculture-online.de verhängnisvolles Bündnis mit den Faschisten eingehen. Der Winter markiert die Zeit der Terrorherrschaft, der Frühling den Augenblick der Befreiung. Doch Bertolucci, dem hier Idealismus vorgeworfen wurde, ist keineswegs so naiv, zu zeigen, daß das Moment der sozialistischen Utopie mehr wäre als nur eine Illusion. Das nationale Befreiungskomitee, das in seiner Allianz aus allen Parteien den “historischen Kompromiß” zwischen Kommunisten und Christdemokraten Ende der siebziger Jahre vorwegnimmt, gibt ihm Gelegenheit zu einer ironischen Schlußwendung, indem die Bauern und Arbeiter die Waffen abliefern und das letzte Wort Alfredo bleibt: “Der Padrone lebt.” Bertolucci gelingt eine einmalige Verzahnung von psychologisch glaubhaften Charakteren, von hymnischen lyrischen Landschaftsaufnahmen und naturalistischen Elendsbildern, von Details und symbolischen Objekten. Das dramaturgische Beziehungsgefüge seines mit dem langen Atem des Epikers (den er in “Der letzte Kaiser” erneut unter Beweis gestellt hat) erzählten Films ist überreich an Parallelismen, Korrespondenzen und Kontrasten. Sie bilden ein geschlossenes System, das filmsprachlich durch eine in den verschiedenen Farbtönen rauschhaft agierende Kamera und ihrer stets funktionalen Kranfahrten und Schwenks gestützt wird, die Personen, Umwelt und Objekte integrieren. Beispiel: Der Abzug der Tagelöhner, der Aufmarsch des berittenen Militärs und die Treibjagd der Grundbesitzer finden alle durch die Blockade der Frauen ein Ende. Oder die Ereignisse, die Alfredos Hochzeit überschatten. Oder der Tag, den Alfredo und Olmo im Nachbardorf verbringen. Oder die dynamischen Massenszenen, die Griffith, Stroheim und Eisenstein ebenbürtig sind. Oder die bruchlose Verbindung der Schauspielerleistungen eines internationalen Starensembles und der echten Bauern der Emilia Romana, jener Landschaft, in der Bertolucci geboren wurde und der er mit seinem Film ein einmaliges Denkmal setzt. Bedauerlich ist, daß der Breitwandfilm, der im Format 1: 1,85 gedreht wurde, in der VideoFassung bildschirmgerecht “entzerrt”, das heißt verzerrt wurde. Durch diese Veränderung 205 http://www.mediaculture-online.de des Bildausschnitts, die auch Kamerabewegungen nicht wie intendiert erfaßt, geht viel vom visuellen Reichtum des verkannten Meisterwerks verloren. Reinhard Kleber 68 Yol – Der Weg Yol – Der Weg (Türkei, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich 1982) Regie: Serif Gören für Yilmaz Güney. Buch: Yilmaz Güney. Kamera: Erdogan Engin. Schnitt: Yilmaz Güney/Elisabeth Waelchli. Darsteller: Tarik Akan, Serif Sezer, Italil Ergün, Meral Orhonsoy. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Der Titel des Films “Yol – Der Weg” ist programmatisch. Zu Beginn treten fünf Häftlinge des Inselgefängnisses Imrali einen sehnsüchtig erwarteten einwöchigen Urlaub auf Ehrenwort an. Sie nehmen weite Wege quer durch die Türkei bis ins hinterste Kurdistan zu ihren Angehörigen auf sich. Am Ziel angekommen – wenn überhaupt –, müssen sie sich wieder auf den Rückweg machen. Die fünf Männer fahren zu fünf Frauen. Doch alle diese Beziehungen scheitern letztlich, enden in Erniedrigung, Schmerz, Verzweiflung, Tod. Yusuf, der jüngste, verliert seinen Urlaubsschein, wird kurz vor dem Ziel bei einer Militärkontrolle arretiert und kann seiner Liebsten nur einen gelben Kanarienvogel im Käfig als Lebenszeichen schicken. Mevlüt, der zweite, empört sich über den Brauch, mit seiner Braut nicht vor der Hochzeit unbeobachtet zusammensein zu dürfen, degradiert sie aber zugleich zur künftig gefügigen Dienerin und verschafft sich Triebentlastung im Bordell. Mehmet muß seiner Frau die Mitschuld am Tod seines Schwagers gestehen, entführt sie und die beiden Kinder aus dem Haus der feindlich eingestellten Schwiegereltern, wird aber mit ihr vom jüngsten Schwager erschossen. Der Kurde Seyit will seine Frau, die zur Hure geworden ist, für den Verlust seiner Ehre bestrafen und läßt sie im Schnee erfrieren. 206 http://www.mediaculture-online.de Ömer, der fünfte, verliebt sich in die junge Dorfschönheit, muß aber nach dem Tod seines Bruders dessen Witwe heiraten. Diese deprimierenden Schicksale beruhen auf authentischen Erlebnissen von Häftlingen, die sie dem Autor des Films, Yilmaz Güney, erzählt haben. Er hat nur wenig hinzuerfunden. Die Figuren sind keine Sprachrohre für persönliche Botschaften oder abstrakte Ideen, sondern dem wirklichen Leben abgeschaut. In einem höchst zweifelhaften Indizienprozeß wurde der sozial engagierte Filmemacher 1975 wegen angeblichen Totschlags zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Doch Güney, der bereits 1961 und 1972 inhaftiert worden war und insgesamt elf Jahre in Gefängnissen verbrachte, gab nicht auf. In seiner Zelle schrieb der politisch unliebsame Regisseur die Drehbücher zu den international beachteten Filmen “Sürü – Die Herde” (1978) und “Düsman – Der Feind” (1979), die sein Freund Zeki Ökten an der Zensur vorbei für ihn realisierte. Dabei legte Güney jede Einstellung äußerst präzise fest und “überwachte” die Herstellung vom Gefängnis aus. Nach der gleichen kollektiven Produktionsmethode drehte auch sein Assistent Serif Gören unter den scharfen Augen des Militärregimes “Yol – Der Weg”, den dritten Teil dieser Trilogie von Güney-Filmen. 1981 gelang Güney die Flucht. Im schweizerischen und Pariser Exil konnte er den Film selbst schneiden und fertigstellen. In den sechziger Jahren war der 1937 geborene Kurde der beliebteste türkische Schauspieler. In fast einhundert Rollen verkörperte er bis 1966 den Typus des wagemutigen Volkshelden. Als nationale Kultfigur bekam er gar den Beinamen “Häßlicher König des türkischen Films”. Schon seit 1954 schrieb Güney auch Bücher, die zum Teil verboten wurden. Seit 1968 führte er selbst Regie in Filmen mit sozialkritischer Tendenz; gleichzeitig spielte er die Hauptrolle. Den künstlerischen Durchbruch brachte der vom italienischen Neorealismus inspirierte Film “Umut – Die Hoffnung” (1970). Die allmähliche internationale Anerkennung milderte seine Haftbedingungen. Mit “Yol” holte sich Güney 1982 in Cannes, zusammen mit “Missing”von Costa-Gavras, die Goldene Palme. Im Exil drehte er nur noch den Film “Die Mauer” (1983). Im Alter von nur 47 Jahren starb der bedeutendste Vertreter der türkischen 207 http://www.mediaculture-online.de Kinematographie 1984 an Magenkrebs in einer Pariser Klinik. Zu Hause in der Türkei wurden seine Filme verboten, er selbst 1982 ausgebürgert. Das Meisterwerk “Yol” zeichnet ein erschütterndes Panorama der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter dem repressiven türkischen Regime. Gerade weil politische Instanzen nur am Rande vorkommen, ist “Yol” ein eminent politischer Film. Güney polemisiert nicht vordergründig, sondern führt lakonisch vor, wie die Hoffnungen von fünf Menschen in einer rückständigen, halbfeudalen Patriarchengesellschaft zerbrechen. Die Häftlinge sind nicht nur Objekte staatlicher Gewalt, sondern auch Opfer verinnerlichter Moralvorstellungen. Die Häftlinge nehmen das Gefängnis im Kopf mit auf den Weg ins “Gefängnis Türkei” – so sinngemäß Güney zum Film “Die Mauer”. Zwangsläufig werden aus den Opfern Täter. Am deutlichsten zeigt sich dieser Mechanismus bei den Schwächsten, den Kurden und den Frauen. Der Kurde Seyit etwa vollzieht dumpf seine Rache. Indem er seine schon von der Sippenhaft geschwächte Frau dem Kältetod ausliefert, bleibt er Gefangener der Tradition. Daß sein Sohn dies billigt, wirkt in dieser normativen Rigorosität für uns um so bedrückender. Das Patriarchat ist allgegenwärtig in der Türkei, die Frau immer noch eine “Halbsklavin” (Güney). Ausweglosigkeit und Schuldverstrickung werden mit schmerzhafter Konsequenz dargestellt. Damit prangert Güney zugleich die fatalistische Ergebenheit in die doppelte Männerherrschaft des Patriarchats und der Militärdiktatur an. Widerstand ist nur in Ansätzen sichtbar, etwa wenn der Kurde Ömer nicht ins Gefängnis zurückkehrt. Der Film weckt keine falschen Hoffnungen. Aber er rüttelt zum Nachdenken über Konsequenzen in der Realität auf. In der eindringlichsten Szenenfolge prügelt Seyit (hervorragend: Tarik Akan) auf seine erfrierende Frau ein, um sie bei Bewußtsein zu halten, obwohl er eigentlich das Schicksal entscheiden lassen wollte. Mühsam schleppt er sie auf dem Rücken ins Dorf. Doch die Besinnung kommt zu spät – sie ist bereits tot. Die lebensfeindliche Schneewüste dieser übermächtigen, fast mythischen Bergwelt korrespondiert mit der Gefühlskälte ihrer Bewohner. Immer wieder bietet Güneys vitaler Film solche pathetisch-stillen Bilder von großer Gefühlsstärke, die sich im Gedächtnis 208 http://www.mediaculture-online.de einprägen: Zum Beispiel wenn den kurdischen Dorfbewohnern die blutüberströmten Leichen ihrer Angehörigen wie Hundekadaver präsentiert werden und sie die Verwandtschaft um ihrer eigenen Sicherheit willen verleugnen müssen. Zu den kargen Dialogen kommen häufig einfache visuelle Symbole wie der gefangene Vogel – eine Leitund Leid-Metapher. Yilmaz Güney – der Vorname bedeutet “der Furchtlose” – war sich bewußt, daß sein Film “keine Chance hatte, in der Türkei gezeigt zu werden”. Dennoch hielt er bis zu seinem Tod unbeugsam am politischen Hauptziel, der “Befreiung des Volkes”, fest, das ihm nach eigener Aussage wichtiger als die Kunst war. In seiner Widmung am Ende von “Yol” danken die Filmemacher allen Freunden, die “mit viel persönlichem Risiko” geholfen haben: “Mit ihnen lebt dieser Film. ” Mit diesem Film lebt auch der Regisseur Yilmaz Güney. Günter Lebailly 69 Die Nacht von San Lorenzo La notte di San Lorenzo (Italien 1981) Regie: Paolo und Vittorio Taviani. Buch: Paolo und Vittorio Taviani, Giuliano, unter Mitarbeit von Tonino Guerra. Kamera: Franco di Giacorno. Musik: Nicola Plovani. Darsteller: Ornero Antonutti, Margarita Lozano, Claudio Bigagli, Massimo Bonetti, Norma Martelli, Enrica Maria Modugno. Länge: 107 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Der Film beginnt mit einem Blick durch ein Zimmerfenster auf einen Sternenhimmel von so unwahrscheinlich schönem Blau, wie es nur in Märchenillustrationen vorkommt. Eine Frauenstimme beginnt zu erzählen: Es ist die Nacht von San Lorenzo (10. August), und wenn in dieser Nacht Sternschnuppen vom Himmel fallen, dann darf man sich etwas wünschen. Sie will ihrem Kind von einer anderen Nacht von San Lorenzo erzählen, einer Nacht vor vielen Jahren, als sie selbst noch ein kleines Mädchen war. 209 http://www.mediaculture-online.de Die bis dahin ruhig dahinfließende Musik ändert ihren Ausdruck, ein bedrohliches Motiv erklingt. Eine Landschaft im Sonnenschein taucht auf, erntereife Felder, ein Baum. Im Hintergrund ertönt ein Donnern wie von Geschützen oder Detonationen. Ein plötzlicher Windstoß schüttelt den Baum, reife Birnen fallen herab, eine rollt groß ins Bild. Ein abgeerntetes Feld mit Garbenbündeln. Eines der Bündel hebt sich. Darunter erscheint ein junger Mann. Er schaut sich um, steigt aus der Grube, beginnt sich auszuziehen. Frauen kommen mit Kleidungsstücken. Er zieht sich festlich an, sieht eine hochschwangere junge Frau. Im Eilschritt geht es zur Kirche, wo beide getraut werden. Vor dem hastigen Auseinanderstreben der Hochzeitsgesellschaft bleibt ein kurzer Augenblick der Ruhe. Ein alter Mann zitiert Verse aus der Ilias, über Hektor und Andromache. Zwei junge Männer auf der Flucht haben sich bei der Hochzeitsgesellschaft eingefunden. Der eine von ihnen will ins nahegelegene San Martino. Aber der Ort ist von deutschen Truppen vermint worden und soll nun gesprengt werden. Der junge Mann geht dennoch. Er findet seine Familie mit vielen anderen Einwohnern von San Martino Schutz suchend im Keller des Hauses. Die Deutschen ordnen an, daß die verminten Häuser in der Nacht gesprengt werden und daß die Bewohner sich an einem Platz versammeln sollen. Der Bischof bietet seine Kirche als Zuflucht an und übermittelt die Befehle der Deutschen. Aber nicht alle wollen der Aufforderung, in den Dom zu kommen, Folge leisten. Der Bauer Galvano will San Martino in der Nacht verlassen und den heranrückenden Amerikanern entgegengehen. Eine Gruppe schließt sich ihm an. In der Folge erzählt der Film von der Wanderung dieser Gruppe durch die sommerliche toskanische Landschaft und von den Menschen, denen sie begegnet: Deutschen Soldaten, die eine junge Frau der Gruppe erschießen, italienischen Faschisten, die die Gruppe nach San Martino zurückholen wollen, italienischen Widerstandskämpfern, die einer Bauernfamilie bei der Ernte helfen, damit nicht die Faschisten das Korn holen – und dann den ersten Amerikanern. 210 http://www.mediaculture-online.de Die Landschaft ist voller Sommer und Sonne. Aber die Schönheit trügt eben; im Verborgenen lauert der Tod. Im Gebüsch liegen deutsche Soldaten versteckt, aus dem Wald kommen die Faschisten, über der Idylle im Wald und am Fluß zieht ein Aufklärungsflugzeug seine Kreise. Auch die Menschen trügen. Nicht zu ihrem Schutz haben deutsche und italienische Faschisten die Bewohner von San Martino in der Kirche zusammengeholt, sondern um sie mit einem Schlag zu verderben: Während des Gottesdienstes werden sie den Dom sprengen. Grausamer Höhepunkt ist die Schlacht im Kornfeld zwischen Widerstandskämpfern und Faschisten, ein erbarmungsloser und sinnloser Brudermord. Mitten darin die kleine Cecilia, angstvoll und fasziniert. Die Nacht der Befreiung erlebt die Gruppe aus San Martino in einem kleinen Dorf, wo sie für eine Nacht Unterkommen und Ruhe findet. Am nächsten Morgen läuten die Glocken das Ende des Krieges ein. Wieder sind die Gefühle gemischt: Die Sonne scheint, und es regnet. Die Mehrschichtigkeit von scheinbar harmonischer, einfacher Oberfläche und Irritation im Untergrund bestimmt auch die Struktur des Films. Er ist angelegt als Erzählung: Eine Frau berichtet ihrem Kind von den letzten Tagen des Krieges in Italien im Sommer 1944. Da die kleine Cecilia in vielen Szenen des Films anwesend ist, nimmt der Zuschauer die Geschichte zunächst als Erzählung Cecilias wahr, bis er bemerkt, daß sie etliche Szenen nur mittelbar und andere gar nicht kennen kann. Auch hier trügt die Oberfläche. Die Geschichte – in beiderlei Sinn des Wortes – besteht aus vielen Ereignissen. Hier erfahren wir sie aus der Sicht derer, die sie miterlebten, miterlitten. Später wird daraus vielleicht einmal ein Heldenlied, wie die Ilias, die in der Eingangsszene zitiert wird und später noch einmal in der Schlacht im Kornfeld, wo sich vor den Augen Cecilias die Kämpfenden in antike Krieger (Hektor und Achilles) verwandeln. Die zuweilen sprunghafte Folge der Szenen unterstreicht die epische Struktur des Films; der Einsatz der Musik, mit leitmotivisch wiederkehrenden Zitaten aus dem Requiem von Guiseppe Verdi, gibt ihm zudem einen Zug ins Opernhafte. Dabei ist die Verwendung der Musik Verdis zugleich Ausdruck nationaler Identität; – deutsche Soldaten singen Wagners “Lied an den Abendstern”. 211 http://www.mediaculture-online.de Die Brüder Taviani gehören zu den großen Geschichtenerzählern im italienischen Film der Gegenwart, wie zum Beispiel auch Ermanno Olmi (Der Holzschuhbaum). Paolo (geboren 1913) und Vittorio (geboren 1929) Taviani waren von Jugend an für den Film begeistert. Nach Jugendjahren in Pisa gingen sie nach Rom, arbeiteten dort mit Cesare Zavattini, dem großen Autor des Neorealismus, und dem Dokumentaristen Joris Ivens zusammen, waren Assistenten von Roberto Rossellini, Luciano Emmer und anderen. Ihre ersten Filme drehten sie in Zusammenarbeit mit Valentino Orsini. Die ersten eigenen Arbeiten entstanden 1967: “I sovversivi” und 1969: “Sotto il segno dello scorpione”. Deutsche Filmfreunde wurden erstmals auf die Tavianis aufmerksam, als das “Internationale Forum des Jungen Films” während der Berliner Filmfestspiele ihren Film “San Michele aveva un gallo” (1971) vorstellte. Einem breiteren Publikum wurden durch das Fernsehen ihre nächsten Filme “Allons enfants” (1974) und “Padre Padrone” (1977) bekannt. Seitdem schufen die Tavianis in Abständen von zwei bis drei Jahren: “II prato” (Die Wiese, 1979), “La notte di San Lorenzo” (1981), “Kaos” (1984). Mit ihrem neuesten Film “Good morning Babilonia” (1987) haben die Tavianis, die bisher ausschließlich Geschichten aus Italien erzählten, die Grenzen ihres Heimatlandes verlassen und erzählen eine Geschichte aus der Jugendzeit des Films, eine Hommage an das alte Hollywood. Hans Gerhold 70 Das Geld L'Argent (Frankreich/Schweiz 1982/83) Buch und Regie: Robert Bresson nach Motiven der Novelle “Der falsche Geldschein” von Leo Tolstoi. Kamera: Pasqualino de Santis, Emmanuel Machuel. Darsteller: Christian Patey, Sylvie van den Eisen, Caroline Lang. Länge: 84 Min. Vertrieb: VCL Virgin. 212 http://www.mediaculture-online.de Wie ein Geburtstagsgeschenk muß es für den am 25.9.1987 achtzig Jahre alt gewordenen Robert Bresson gewirkt haben, daß die Cinémathèque in Brüssel seinen verloren geglaubten Erstling “Les affaires publiques” (1934) wiederentdeckte. Damit ist das Werk eines der formalästhetisch und geistig radikalsten Regisseure der Gegenwart, der in fünfzig Jahren nur vierzehn Filme realisierte, komplett – ein Werk, das sich in seiner rigiden Stilisierung und konsequenten Auseinandersetzung mit Fragen des Religiösen und der spirituellen Sinnsuche nach außen hin verweigert und gleichzeitig herausfordert. “Das Geld” ist Bressons philosophische Bilanz. Als Parabel über den Götzen Geld, das Schuldigwerden und den Verfall einer Welt ohne Werte, in der Gott schweigt, ist das Werk Filmen wie Ingmar Bergmans “Das Schweigen” (1963) und Orson Welles' “Der Prozeß” (1962) bei aller Verschiedenheit verbunden. Alle drei Filme, die zu den hermetisch abgeschlossensten der Filmgeschichte gehören, zeigen eine Welt der Hoffnungslosigkeit, der geistigen Sinnleere und der Verweigerung göttlicher Gnade bei gleichzeitiger Akzeptanz der menschlichen Sühne. Wie meisterhaft “Das Geld” konzipiert ist, belegt die eindrucksvoll logische Kausalkette des Inhalts: Zwei verwöhnte Gymnasiasten bringen in einem Pariser Fotoladen einen falschen Fünfhundertfrancschein in Umlauf, dort gibt man ihn an den jungen Heizöllieferanten Yvon weiter, der in den Verdacht des Betruges gerät. Weil Besitzer und Angestellte des Ladens vorsätzlich lügen, verliert er seine Stellung. Wegen passiver Mitwirkung an einem Bankraub (als Fahrer des Fluchtautos) wird er zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Weil während dieser Zeit sein Kind an Diphterie stirbt und ihn seine Frau verläßt, begeht er im Gefängnis einen Selbstmordversuch. Nach seiner Entlassung aus der Haft, die ihn innerlich verhärtet hat, tötet er ein Hotelbesitzerehepaar, um an Geld zu kommen. Auf dem Lande tötet er wieder wegen einer lächerlich geringen Summe Geldes die Familie, die ihn aus Barmherzigkeit aufgenommen hat. Nach dem Massaker stellt er sich der Polizei. Bressons Bilanz und seine radikale Weltsicht sind so verstörend wie unbarmherzig konsequent. Er illustriert eine Welt, die den Unschuldigen schuldig werden läßt und sich dem “Goldenen Kalb”, dem Götzen Geld, hingegeben hat. An diesem Punkt trifft sich Bressons Jansenismus, der sich als Opposition zum offiziellen Denken innerhalb des 213 http://www.mediaculture-online.de französischen Katholizismus begreift, mit den Konsumismus-Thesen des Marxisten Pier Paolo Pasolini. Bressons verzweifelter und gedanklich unerbittlicher Puritanismus entdeckt in aller Schärfe in der Fülle der Welt und ihrer Produkte die Leere des geistigseelischen Daseins. Das daraus resultierende zwanghafte Verhalten der jungen Menschen, die der Vergottung des Geldes anheimfallen, setzt Bresson in jene Sequenz um, da sie, somnambul minutiös, einen Geldautomaten leeren. Wenn Freuds These, wahres Glück sei nur in der Kindheit möglich, weil die Menschen noch nichts vom Geld wüßten, stimmt, so muß der Kampf des Individuums zwischen äußeren Zwängen und dem freien Willen aussichtslos sein. Doch Bresson wäre nicht der Philosoph, als der er gilt, würde er nicht einer richtig verstandenen und einer gelebten Religiosität die Chance geben. Auf Yvons Frage “Warten Sie auf ein Wunder?”, die er der Bäuerin stellt, die er später töten wird, antwortet sie: “Ich warte auf gar nichts”, woraufhin er für sie Nüsse pflückt. Das ist wörtlich zu nehmen als Allegorie biblischer Bilder von Barmherzigkeit und Caritas. Selbst der Schluß läßt, so pessimistisch er stimmen mag, Hoffnung zu. Yvons Bekenntnis zu seiner Tat ist eine notwendige Stufe auf jenem Weg, den fast alle Helden Bressons durchlaufen: Auf die Sünde folgt die Sühne; diese impliziert einen Teil der göttlichen Gnade und führt vielleicht zur Erlösung. Bressons Bildsprache steht durch ihre Vollkommenheit in ironischem Kontrast zu der Unvollkommenheit der Welt. Atonale Farbwerte, eine sinngebende Lichtführung und die bei Bresson stets fragmentierte Welt angeschnittene Körper, Objekte, Detailansichten – sind Zeichen für die Disharmonie des Universums: der Mensch als Torso, die Welt als Gefängnis. Das Spiel der Hände jedoch, ihre Gestik und ihre Rituale, die den Film choreographieren, offenbaren nicht nur eine kinematographische Bewegung, sondern auch eine der Hoffnung. Ein Verbraucherhinweis: Die reißerische Aufmachung der Verleihkassette widerspricht Inhalt, Aussage und Bildsprache des Films. Das ist auch ein Sieg des Bösen – möglicherweise. 214 http://www.mediaculture-online.de Horst Schäfer 71 Der Strohmann The Front (USA 1975) Regie: Martin Ritt. Buch: Walter Bernstein. Kamera: Michael Chapman. Musik: Dave Grusin. Darsteller: Woody Allen, Zero Mostel, Herschel Bernardi, Michael Murphy, Andrea Marcovicci, Danny Aiello, Lloyd Gough und andere. Länge: 91 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Das ist ein Film über die Hexenjagd auf Unamerikanische Umtriebe, über die Zeit, die sich mit dem Namen des republikanischen Senators Joseph McCarthy verbindet. Das seit 1938 bestehende House Committee on Un-American Activities, ein Kongreßausschuß, erstreckte ab 1947 seine Ermittlungen auch auf das amerikanische Showbusiness. Autoren, Regisseure, Produzenten und Schauspieler kamen auf eine Schwarze Liste, wenn sie als Kommunisten oder Linksliberale verdächtigt wurden. Das bedeutete für die Betroffenen faktisch ein Berufsverbot – in einigen Fällen sogar bis zu zwanzig Jahren. In diesen Jahren der hysterischen Jagd auf vermeintliche Gegner des amerikanischen Staatswesens, die zu den dunkelsten Vorfällen in der amerikanischen Geschichte zählt, herrschte unter den Filmschaffenden ein Klima der Verunsicherung und Denunziation. Es war die Zeit des Kalten Krieges, die sich auch in antikommunistischen Hollywood-Produktionen – wie etwa in den Filmen über die Volksrepublik China und über den Korea-Krieg – widerspiegelte. Zehn Filmschaffende, die Hollywood-Ten, weigerten sich, die Rechtmäßigkeit des Untersuchungsausschusses anzuerkennen. Sie wurden vor Gericht gestellt, verurteilt und noch viele Jahre danach innerhalb der Branche nicht mehr beschäftigt. Andere ordneten sich unter und gaben willfährige Erklärungen ab, um ihre Jobs zu sichern. Bertolt Brecht und Charlie Chaplin gehörten mit zu denjenigen, die die Staaten verlassen mußten. McCarthy, von 1947 bis 1953 der Vorsitzende des 215 http://www.mediaculture-online.de Ausschusses, wurde das Opfer seiner eigenen Machenschaften. Der Geist seiner Politik aber überdauerte sogar noch seinen Tod im Jahre 1957. Über die McCarthy-Ära und ihre Auswirkungen auf die amerikanische Filmindustrie gibt es einige Dokumentationen; der große Hollywood-Film über dieses Thema steht bis heute noch aus. Für die Bühne hat der Autor und Regisseur Eric Bentley mit seinem Dokumentarspiel “Are you now or have you ever been” (“Sind Sie jetzt oder waren Sie jemals ... ?”) die Ermittlungen gegen das Show-Business in den Jahren 1947 bis 1956 rekonstruiert. Ansätze kritischer Aufarbeitung jener Zeit lassen sich jedoch im Spielfilm finden: beispielsweise in “The way we were” von Sidney Pollack, USA 1973. Zu einer Generalabrechnung allerdings kam es noch nicht, obwohl die Bespitzelung Andersdenkender und die Verhängung von Berufsverboten keineswegs Themen sind, die ausschließlich der Vergangenheit zugeordnet werden können. “Der Strohmann” versucht mit den Mitteln einer schwarzen Komödie, die sich mit fortschreitender Handlung zur Tragödie entwickelt, das Klima der McCarthy-Ära darzustellen. Der Film besitzt einen hohen Grad an Authentizität, da an ihm sechs Betroffene von der Schwarzen Liste, die es offiziell ja nie gab, beteiligt sind: Martin Ritt, Walter Bernstein, Zero Mostel, Herschel Bernardi, Lloyd Gough und Joshua Shelly. Die Handlung spielt in New York zu Beginn der fünfziger Jahre. Der Coffeeshop-Kassierer Howard Prince (Woody Allen) braucht wegen seiner Wettleidenschaft ständig Geld. Aus diesem Grund gibt er seinen Namen für seinen Freund Alfred her, der vom Fernsehen nicht mehr als Autor beschäftigt wird. Für einen Anteil von zehn Prozent am Honorar lebt sich Howard so gut in seine Rolle ein, daß er noch für zwei weitere Autoren “arbeiten” kann, die ebenso wie Alfred auf der Schwarzen Liste stehen. Howard wird schnell ein erfolgreicher und populärer Autor; der unverdiente Ruhm steigt ihm zu Kopf. Er wird übermütig und es dauert nicht mehr lange, bis er ebenfalls ausspioniert wird. Den Schnüfflern arbeitet der von FBI-Agenten unter Druck gesetzte Vollblut-Komödiant Hecky Brown (Zero Mostel) zu. Dieser hatte sich ein paar Mal leichtfertig für die falsche Sache engagiert. Zu den Spitzeldiensten gegen Kollegen läßt er sich nur herab, weil er seine Arbeit nicht verlieren will. Aus Verzweiflung über die 216 http://www.mediaculture-online.de Ausweglosigkeit seiner Situation und aus Scham über sein Handeln bringt Hecky sich um, nachdem er sich zuvor noch bei Howard entschuldigt hatte. In dem naiven Howard erwacht politisches Bewußtsein, als er Probleme mit dem Studio bekommt und sich falscher Anschuldigungen erwehren muß. Bei der Verhörung durch den Ausschuß bricht er die zuvor getroffene Vereinbarung, eine antikommunistische Erklärung abzugeben. Howard vergißt seine Kooperations-Bereitschaft und weigert sich, den Ausschuß anzuerkennen. Der kleine Hochstapler zeigt Charakter, bekennt sich zur Wahrheit und zu seinen Freunden. Auf dem Weg ins Gefängnis wird er von den Autoren der Schwarzen Liste als einer der ihren gefeiert. Die Story des Films verweist in kleinen Details auf die großen Zusammenhänge und erlaubt es den Zuschauern, das Gesamtbild zu erschließen. Gezeigt wird, mit welch sanften Mitteln und Mechanismen Menschen dazu gebracht werden können, sich anzupassen und ihre Ideale zu verleugnen. Die eigene Karriere ist wichtiger als Aufrichtigkeit und Loyalität; der Verrat, die Kooperation, wird zur patriotischen Pflicht. Das alles bereitet den Boden, auf dem fanatische Politiker wie Joseph McCarthy jahrelang ungestört ihre inquisitorische Politik betreiben konnten. “Der Strohmann” weist auf die unrühmlichste Epoche der nordamerikanischen Filmgeschichte hin, wobei das Geschehen in die Fernsehstudios verlegt wurde, um die Realisierung des Projekts nicht zu gefährden. Zum Erfolg des Films hat besonders beigetragen, die Hauptrolle mit Woody Allen zu besetzen. Er, sonst sein eigener Autor und Regisseur, spielt hier seinen Part in einer sehr verhaltenen und für ihn bis dahin untypischen Art. Daß der Film auch in den melancholischen und grotesken Sequenzen glaubwürdig bleibt, ist das Verdienst des Drehbuchs von Walter Bernstein, der in jenen Jahren selber gezwungen war, sich eines Strohmannes zu bedienen. Der Regisseur Martin Ritt, geboren am 2.3.1920 in New York, kam vom Theater zum Film und hat als Darsteller und Regisseur auch beim Fernsehen gearbeitet. Ritt wurde durch anspruchsvolle Literaturverfilmungen (Faulkner-Adaptionen) und sozialkritische Gegenwartsfilme bekannt. Zu seinen bekanntesten Werken zählen der Thriller “The Spy 217 http://www.mediaculture-online.de Who Came In From The Cold” (1965) mit Richard Burton, und der Western “Hombre” (1967) mit Paul Newman. Walter Schobert 72 Törichte Frauen Foollsh Wifes (USA 1921) Regie: Erich von Stroheim. Kamera: Ben Reynolds, William Daniels. Kostüme: Erich von Stroheim. Darsteller: Erich von Stroheim, Maude George, Mae Bush, Howard Hughes, Cesare Gravina. Länge: 107 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé. Lotte H. Eisner, die ihm mit ihren “Anmerkungen zu Stroheims Stil” einen der einfühlsamsten und schönsten Texte gewidmet hat, nannte den Regisseur und Schauspieler einen der drei Großen des amerikanischen Films neben Griffith und Chaplin, “einen jener Giganten, die einsam alles zu überragen scheinen”. Griffith war beides, sein Lehrer und sein Antipode. Bei ihm spielte er in “Intolerance” als Negerdarsteller. Er war aber schon vorher zum Film gekommen, nachdem er 1909 im Alter von 24 Jahren aus Österreich in die USA emigriert war, sich dort, um eine Markenzeichen zu haben, “von” genannt und sich als Statist zuerst durchgeschlagen hatte, dann, im Weltkrieg als Darsteller preußischer Offiziere, ein Image als “Hunne”, als “The Man Who Loves To Hate” aufgebaut hatte. Griffith machte ihn zum Regieassistenten und Militärberater. Immer wieder hat Stroheim dankbar vermerkt, daß er von ihm die liebevolle, gewissenhafte Sorgfalt des Inszenierens gelernt habe. Beider Filme verraten große Nähe zur sentimentalen Literatur des 19. Jahrhunderts – und zu Dickens, Zola und Frank Norris, dem amerikanischen Naturalisten, dessen “McTeague” Stroheim in “Greed” mehr als kongenial verfilmt hat. Bei Stroheim, der seine Liebe zum Melodram, zur Kolportage nie verleugnet hat, kam noch eine Verwandtschaft zur Wiener Schule der Jahrhundertwende dazu. 218 http://www.mediaculture-online.de Vor allem die genaue Kontrolle aller Details war Stroheim wichtig, ein fast monomanisches Beharren auf den richtigen Kulissen, den genauen Kostümen; sie seien, hat er immer wieder betont, eminent wichtig für das psychologische Einfühlungsvermögen der Schauspieler. Die Anekdoten darüber sind Legion, von der Klingelanlage in “Foolish Wifes”, die – in einem Stummfilm – funktionieren mußte, über die genauen Farbspiegel bei den Uniformen bis zu den Monogrammen auf der Unterwäsche. Die Industrie, seine Produzenten haben das immer wieder verständnislos als Verschwendungssucht gegeißelt und als Vorwand für ihre Eingriffe mißbraucht. Sie hatten aber nichts dagegen, damit zu kokettieren. In gewisser Weise sind Stroheims Filme fast Polemiken gegen Griffith. Lotte H. Eisner: “Ihre Lebensanschauungen unterscheiden sich grundsätzlich voneinander.” Bei Stroheim ist nichts von der Zärtlichkeit, von dem grundsätzlichen Optimismus, vom Glauben an das Gute im Menschen. Stroheim, ein unbarmherziger und gewissenhafter Analytiker, entwirft ein Bild von der Gesellschaft und vom Menschen, das sich härter und grausamer kaum zeichnen läßt. Man darf sich nicht täuschen lassen von den teilweise abstrusen und monströsen Stories. In seinen drei ersten Filmen, die keine Trilogie sind, aber alle die gleiche Grundkonstellation haben, fallen immer amerikanische Frauen auf das Werben europäischer Verführer herein. In “Foolish Wifes” ist es die Frau des amerikanischen Botschafters (in den vorhandenen Kopien wird nicht immer klar, daß der Mann nicht nur ein Geschäftsmann ist), die allzu bereitwillig den Verführungen des russischen Grafen Karamzin folgt. Der lebt im Exil in Monte Carlo, zusammen mit zwei Kusinen, ein schneidiger Bursche, ein großer Verführer, der von der Frau beides will: Sex und Geld. Der Ehemann bekommt nichts mit. Karamzins Dienstmädchen steckt den Turm, in den sich das Paar zurückgezogen hat, in Brand, nicht ohne vorher den Kanarienvogel freigelassen zu haben. Das Paar entkommt; Karamzin schämt sich nicht, als erster zu fliehen. Dieser Entlarvung folgt die zweite: Er ist genauso wenig adelig, wie seine Kusinen mit ihm verwandt sind. Aber er findet seine Strafe: Ein Geldfälscher, dessen schwachsinnige minderjährige Tochter er verführt hatte, verfolgt, tötet ihn – und wirft ihn in die Gosse; eine starke Metapher. 219 http://www.mediaculture-online.de “Foolish Wifes” zeigt Stroheim zum ersten Mal auf der Höhe seiner Meisterschaft – nur noch in “Greed” hat er sich übertroffen. Es ist wahrhaft ein danteskes Inferno, das er entwirft. Die Menschen sind, im Wortsinn, beschädigt, deformiert, wie das Mädchen und die Zofe. Immer wieder taucht die Figur eines Offiziers auf, der sich grob unhöflich verhält – bis am Ende klar wird, daß er beide Arme verloren hat. Die Botschafterfrau begegnet ihm erstmals, als sie in einem Roman liest – verfaßt von einem Erich von Stroheim, in dem wir den Satz sehen: “The written and unwritten codes of honour and etiquette.” Aber genau derjenige, der sich peinlichst genau an diese Codes hält, ist am weitesten von ihnen entfernt: Die Insignien stimmen, die Fassaden sind perfekt, aber hinter ihnen lauern abgrundtiefe Verderbtheit und Perversion – und es ist mindestens zweierlei, das Stroheim unerbittlich attackiert: das Bild des Mannes und die Gesellschaft, die dieser Karamzin repräsentiert. Opfer dieses Mannes, Opfer dieser Gesellschaft sind die Frauen – der Plural im Titel signalisiert, daß es nicht nur um die Botschaftergattin geht. Tatsächlich fallen ja in “Foolish Wifes” drei Frauen auf den falschen Grafen herein. Aber auch schon Stroheims erster Film, in dem die Frau eines amerikanischen Arztes (fast) von einem schneidigen Offizier verführt wird, heißt “Blind Husbands”: Kein Zweifel, Stroheim hat alle Personen dieses Dreiecks im Visier und dabei weniger den Don Juan (den er immer selbst spielt) als das amerikanische Paar. Stroheim hat für den Film die Sexualität entdeckt, er hat Stellung bezogen gegen Puritanismus und Prüderie. Und das sind nicht die einzigen amerikanischen Tabus, an die er zu rühren gewagt hat. Die amerikanische Frau – ein Opfer? Das Geld als Ursache für alle Schlechtigkeit und Verbrechen? Die Jagd nach dem Geld als Wurzel des gesellschaftlichen Verhaltens? Das war starker Tobak, das läßt sich niemand gern vorhalten, ein Filmproduzent am wenigsten. Kein Wunder, daß man Stroheim das Leben schwer gemacht hat. Man unterstellte ihm, seine Sehnsucht nach wahren und echten Gefühlen geflissentlich übersehend, Lust am Bösen, an der Perversion, an der Erniedrigung. Die Strafe folgte auf dem Fuß: Kaum einer seiner zehn Filme ist je so auf die Leinwand gekommen, wie ihn sein Schöpfer gewollt 220 http://www.mediaculture-online.de hatte. Ihm, dem besessenen Arbeiter, der monatelang und ohne Bezahlung im Schneideraum montierte, wurden die Filme aus der Hand genommen, gekürzt – um ein Drittel “Foolish Wifes”, um zwei Drittel “Greed”. Es sind zerstückelte Filme, Bruchstücke bestenfalls – und dennoch haben ihnen die Attentate fast nichts schaden können: Die Schnitte konnten den Geschichten, aber nicht seinen wunderbaren langen Einstellungen etwas anhaben, mit denen er Jean Renoir (für ihn hat er in “Die große Illusion” gespielt), Visconti, Welles beeinflußt hat und die heute seine Filme von einer herrlichen Perfektion erscheinen lassen, von einer großen Schönheit, einer luziden Klarheit, ironisch, witzig, brillant, scharfsinnig. Als Gesellschaftsund Sittenbilder sind sie von großer analytischer Kraft. Meinolf Zurhorst 73 Spiel mir das Lied vom Tod C'era una volta il West (Italien 1968) Regie: Sergio Leone. Buch: Sergio Donati, Sergio Leone, nach einer Story von Dario Argento, Bernardo Bertolucci, Sergio Leone. Kamera: Tonino Delli Colli. Musik: Ennio Morricorie. Darsteller: Henry Fonda, Charles Bronson, Claudia Cardinale, Jason Robards, Gabriele Ferzetti. Länge: 158 Minuten. Vertrieb: CIC Video. Eine karge Wüstenlandschaft, abweisend, kalt. Der Wind wirbelt vereinzelte Büsche über den Sand, eine Eisenbahntrasse zerteilt die Fläche in ihrer Mitte. Ein Bahnhof inmitten des Nichts. Drei Männer tauchen auf, um dort auf die Einfahrt des nächsten Zuges zu warten. Bodendielen knarren, Türen quietschen, Wasser tropft – Sergio Leone inszeniert die Exposition eines seiner Helden gegen die Zeit. Als der Zug endlich ankommt, steigt niemand aus. So scheint es. Doch die traurigen Weisen einer Harmonika deuten die Veränderung an. “Harmonika”, der gute Held, mit dem damaligen Film-Bösewicht Charles Bronson entgegen den Erwartungen besetzt, tritt aus dem Staub auf die Bühne: drei 221 http://www.mediaculture-online.de Männer, drei Pferde. “Zwei zuviel”, sagt Bronson und schießt aus der Hüfte. Die Geschichte beginnt. Wie in allen guten Western geht es auch in “Spiel mir das Lied vom Tod” (im Original: Es war einmal der Westen) um eine Rache. Doch das wird erst am Ende erkennbar. Ziel dieser Rache ist der professionelle Killer Frank, dem Henry Fonda mit blauen Augen und vollständig in schwarz gekleidet dämonische Größe verleiht. Frank arbeitet im Auftrag des Eisenbahnmagnaten Morton (Gabriele Ferzetti). Er kauft das Land, durch das die Eisenbahn führen wird und erschießt die, die sich weigern, es zu verkaufen. Wie den Farmern McBain mit seinen Kindern, die auf die Ankunft der neuen Mrs. McBain (Claudia Cardinale) wartet. Jill McBain kommt aus New Orleans und war eine Prostituierte. Nun ist sie unversehens Witwe und hat doch drei Männer. Neben “Harmonika” und Frank noch den Banditen Cheyenne (Jason Robards). Der Kampf um den Besitz der McBain-Ranch entbrennt. “Harmonika” und Cheyenne schlagen sich auf die Seite der Witwe, die dennoch das Land verkaufen will. Als Käufer kommt nur einer in Frage: Frank. Unterdessen wird die Eisenbahn immer weiter vorangetrieben. Cheyenne läßt sich von dem Mann mit der Harmonika zum Sheriff bringen. Mit der kassierten Belohnung ersteigern sie die Ranch und geben sie der attraktiven Witwe zurück. Es kommt zum unausweichlichen Duell zwischen Frank und “Harmonika”. Sergio Leone zerdehnt die Sekunden vor dem Schußwechsel zu einem bravourös montierten psychischen Kampf auf Leben und Tod; das Warten auf die endgültige Entscheidung wird zur Qual. Die finalen Schüsse vollziehen dabei nur, was die Blicke zuvor ausgedrückt haben. Durch die Musik von Ennio Morricone gewinnt die Sequenz einen rauschhaften Charakter – griechische Chorlieder standen ebenso Pate wie die klassischen Hollywood-Western. Vor allem John Ford, der Chronist des Westens, oder genauer, seiner Mythen, hat Leone beeinflußt. Doch kommt bei Ford der Blick auf Amerika aus dem Inneren, reproduziert Leone den Traum von Amerika aus der Sicht des Europäers. “Wenn bei John Ford einer zum Fenster 'rausschaut, hat er den Blick in eine strahlende Zukunft. Wenn bei mir einer 222 http://www.mediaculture-online.de das Fenster aufmacht, weiß jeder: der wird jetzt erschossen”, äußerte sich Leone einmal in einem Interview. “Spiel mir das Lied vom Tod” entstand 1968. In den Jahren zuvor hatte der Italo- oder Spaghetti-Western die Leinwände beherrscht. Leone selber war mit “Für eine Handvoll Dollar”, “Für ein paar Dollar mehr” und “Zwei glorreiche Halunken” einer der führenden Vertreter des Genres, das sich durch seine Verschärfung in der Figurenzeichnung auszeichnete und den Helden des amerikanischen Westerns zu einer gebrochenen, existenzialistischen Figur stilisierte. Mit “Spiel mir das Lied vom Tod” setzte Leone dem Italo-Western ein Ende und seinem eigenen Amerika-Traum ein Denkmal. Der Film wurde zum Höhepunkt der Gattung, und er verweist auf die damals herrschende Situation des Kinos in Italien, das eine Mischung aus linker Philosophie und trivialen Mythen darstellte. Bernardo Bertolucci, einer der Drehbuchautoren des Films, schuf 1968 mit “Partner” ein Werk, das Intellektualität mit Cinephile verband. Sein Einfluß auf “Spiel mir das Lied vom Tod” ist unverkennbar. Die Hauptfiguren wirken wie Philosophen, die den Sozialdarwinismus zitieren oder praktizieren und sich dabei in einem Rahmen bewegen, den die Pariser Cinémathèque ihrem filmbegeisterten Zögling Bertolucci vorzeichnete. Der fast dreistündige Film mit seinen klaren Konflikten und archaischen Lösungen wurde ein internationaler Erfolg. Sergio Leone drehte anschließend den zweiten Teil seiner Amerika-Trilogie, “Todesmelodie” (1971). War im ersten, in “Spiel mir das Lied vom Tod”, die Erschließung des Westens das Thema, wurde es im folgenden die mexikanische Revolution. “Todesmelodie” ist allerdings mehr ein Kolossalfilm mit Maozitaten und Bombenanschlägen als Auseinandersetzung mit dem Mythos Amerika. Erst 1984 konnte Leone den abschließenden Teil seiner Trilogie drehen: “Es war einmal in Amerika”, der sich mit dem Gangstertum als Kehrseite des Traums auseinandersetzt. Im Augenblick (Januar 1988) arbeitet Sergio Leone an dem wohl teuersten Film aller Zeiten: Er behandelt die deutsche Belagerung von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg. 223 http://www.mediaculture-online.de Urs Jaeggi 74 Network Network (USA 1976) Regie: Sidney Lumet. Buch: Paddy Chayefsky. Kamera: Owen Roizman. Musik: Elliott Lawrence. Darsteller: Faye Dunaway, William Holden, Peter Finch, Robert Duval. Originallänge: 122 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Howard Beale – vom inzwischen verstorbenen Peter Finch hervorragend gespielt – ist der erste Mensch in der Geschichte der Television, der erschossen wird, weil die Einschaltquoten seiner Fernsehsendung sinken. Veranlaßt wird der Mord durch die Bosse einer großen amerikanischen Fernsehanstalt, eines sogenannten Networks also, und die Ausführung besorgt – selbstverständlich live mitten in der Show – die “Ökumenische Befreiungsarmee”. Eigentlich war Beales unheimlich starker Abgang schon für früher und in eigener Inszenierung vorgesehen: Als sein Stern zu sinken und er deswegen zu saufen begann, erhielt er die Kündigung. Der Nachrichten-Moderator – solchermaßen seines Lebensinhaltes beraubt – kündigte damals in seiner vorletzten Sendung an, er werde sich bei seiner Abschiedsmoderation vor laufenden Kameras eine Kugel durch den Kopf jagen. Nichts hätte den Beachtungsgrad des abgetakelten Moderators sprunghafter in die Höhe treiben können als diese makabre Voranzeige. Eine junge, ebenso ehrgeizige wie gefühlskalte Programmchefin (Faye Dunaway) gibt ihm daraufhin eine neue Show. Beale wird so etwas wie die Stimme der unzufriedenen Amerikaner: Er schreit hinaus, was sich im Verlauf der Jahre an Unbehagen in unzufriedenen Bürgerseelen angestaut hat. Er wettert im Stil des zornigen Propheten gegen den Zerfall von Ethik und Kultur in der amerikanischen Gesellschaft, stellt sich gegen die Mächtigen und deren pausenlose Jagd nach dem schnöden Mammon, der zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden ist und dem sie mit allen Mitteln, die den Zweck heiligen, huldigen. “Wir sind fuchsteufelswild”, schreit Beale aus der Röhre, “wir lassen uns das nicht mehr bieten!” Er fordert seine Zuschauer auf, ans Fenster zu treten und ihr Unbehagen in die Straßenschluchten 224 http://www.mediaculture-online.de hinunterzuschreien. Und weil die Amerikaner so fernsehgläubig sind, brüllt es bald von Küste zu Küste und von Norden bis Süden aus allen Fenstern. Das geht so lange gut, bis Beale die “wahren” Ursachen des amerikanischen Zerfalls aufdeckt. Schuld an der Misere, der dauernden Gewalttätigkeit, der verlogenen Politik und der Korruption ist allein das Fernsehen. “Alles, was der Television in die Hände kommt geht kaputt”, sinniert Max Schuhmacher (William Holden), ein desillusionierter Nachrichtenchef des UBS-Networks. Was dieser in sich hineinfrißt, schreit Beale seinem Publikum zu: “Wir erzählen euch jeden Mist, den ihr hören wollt.” Hier spätestens beginnen sich die Bosse der TV-Gesellschaft Gedanken für Beales Abgang zu machen. Auf der Schlußfolgerung, daß das Fernsehen die Schuld an der Zerstörung aller Werte und Wertvorstellungen trägt – eine Theorie, die inzwischen etwa wie Neil Postmans “Wir amüsieren uns zu Tode” erneut große Publizität erlangt hat –, baut der Film von Sidney Lumet auf. Aus ihr bezieht er seine Kraft, indem er schonungslos bloßlegt, wie ein Fernsehen, das total kommerzialisiert ist und demzufolge nur noch auf die Einschaltquoten schaut, weil diese den Gang der Geschäfte bestimmen, sich nach und nach jeglicher Programmverantwortung entzieht. Hier weist der Film aber auch seine große Schwäche auf, indem er nicht einmal die Frage stellt, ob allenfalls eine Gesellschaft, in der alle Werte auch die kulturellen, die ethischen und die emotionalen – vermarktet werden, die Voraussetzungen für ein solches Fernsehen eben erst schafft. Dennoch: Lumets Arbeit entlarvt – im wesentlichen heute noch gültig – die unheimlichen Dimensionen eines Mediums, das, glaubt man dem Medienphilosophen Marshall McLuhan, auch gleich die Botschaft ist. Kaum jemals ist die Theorie des umstrittenen Denkers drastischer versinnbildlicht worden als in diesem 1976 entstandenen Film. Die Television wird als totale, den Spielregeln der Privatwirtschaft und dem Renditendenken unterworfene Show dargestellt, die dem Zuschauer längst Ersatz für die Wirklichkeit geworden ist. 225 http://www.mediaculture-online.de Wahr ist nicht mehr, was wirklich geschieht, sondern was sich auf dem Bildschirm ereignet. Daß es lästigerweise noch so etwas wie ein reales Geschehen gibt, das die Networks dazu zwingt, defizitäre Informationsabteilungen zu halten, will man bei UBS schon gar nicht mehr einsehen. Es entspricht so durchaus der Logik, daß die TVProgrammchefin Diana Christenson halt die News zu inszenieren beginnt, welche die Zuschauer sehen wollen. Der Film, dessen Skript der Schriftsteller, Theaterautor und Verfasser diverser Fernsehspiele, Paddy Chayefsky – ein herber und mitunter auch zynischer Kritiker amerikanischer Zustände – geschrieben hat, transportiert seine Botschaft mehr über die Wort- als die Bildebene. Sidney Lumet, ein tüchtiger Handwerker des Films, aber kaum ein Genie – Filme wie “The Pawnbroker”, “The Hill”, “Dog Day Afternoon” sind zusammen mit “Twelve Angry Men” gewiß die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen – ist es nicht gelungen, Chayefskys überbordende Phantasie in die Schranken zu weisen, geschweige denn zur Wortgewalt des Autors entsprechende Bilder zu finden. Der pausenlose Wortschwall, der auf den Zuschauer niederprasselt, wirkt auf die Dauer ziemlich ermüdend. Nicht das Formale, Filmkünstlerische macht Lumet/Chayefskys “Network” zum filmischen Meilenstein, sondern die fast prophetische Vorwegnahme einer Entwicklung des Fernsehens, die in den Vereinigten Staaten längst Realität geworden ist – es vermutlich in gemilderter Form schon war, als der Film entstand – und die nun, ein Dutzend Jahre später, auch bei uns Wirklichkeit zu werden droht. Walter Schobert 226 http://www.mediaculture-online.de 75 Kameradschaft (Deutschland, 1931) Regie: Georg Wilhelm Pabst. Buch: Ladislaus Vaida, Peter Martin Lampel, Karl Otten. Kamera: Fritz Arno Wagner, Robert Baberske. Darsteller: Ernst Busch, Alexander Granach, Fritz Kempers, Elisabeth Wendt. Länge: 89 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé. Fünfundzwanzig Jahre Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und Deutschland, jahrzehntelang Friede zwischen den beiden Nationen, die sich jahrhundertelang als Erbfeinde bekämpft hatten: Denen, die 1931 diesen Film machten, zur Verständigung mahnten, auf Versöhnung hofften, wäre das wohl als Erfüllung ihrer kühnsten Träume erschienen. Unrealistische, wenn nicht gefährliche Träumer waren sie denn auch denen, für die sie ihren Film gedacht hatten; die waren an ihm nicht interessiert und wählten den Mann, dessen Nationalismus noch einmal Millionen Menschenleben zu beiden Seiten der Grenze forderte. Gut zu wissen, daß es in jenen Jahren nicht nur die UFA gab, die Kongresse tanzen ließ. Es gab auch Filmgesellschaften und Regisseure, die sich nicht an den Zerstreuungskampagnen beteiligten, wenige zwar, aber es gab sie. Sie zogen es vor, zu Problemen der Gegenwart Stellung zu nehmen, das Publikum zu konfrontieren mit Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, Rüstung, Chauvinismus. Die “Nero” gehörte zu ihnen, ein Slatan Dudow, ein Piel Jutzi. Und Georg Wilhelm Pabst, er vor allem. Seine Anfänge reichen – mit dem romantischen Märchen “Der Schatz”, 1923 – in den Expressionismus zurück. Aber schon in “Die freudlose Gasse” bewies Pabst, daß er den gängigen Eskapismus nicht mitmachte; er wollte gesellschaftliche Situationen analysieren, wenn auch melodramatisch vorgetragen. Kaum ein Film hat den Zerfall des bürgerlichen Mittelstandes, seiner Moral- und Wertvorstellungen so beklemmend dargestellt. Seine glänzende Besetzung hat die Wirkung noch gesteigert: Pabst war ein großer Schauspieler-Regisseur mit einem untrüglichen Blick für “filmische” Gesichter. “Die freudlose Gasse” war Greta Garbos erster Film außerhalb Schwedens. Werner Krauss spielte mit, auch Asta Nielsen. 227 http://www.mediaculture-online.de Das war der Beginn einer, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schier unglaublichen Serie von bedeutenden Filmen. Der Psycho-Thriller “Geheimnisse der Seele” gehört ebenso dazu wie die Wedekind-Verfilmung “Die Büchse der Pandora”. Mit ihm machte Pabst die noch ganz unbekannte Louise Brooks zum Star. Ihre Sinnlichkeit verdreht noch heute die Köpfe. Sie spielte auch die Hauptrolle im “Tagebuch einer Verlorenen”. Doch erst im beginnenden Tonfilm der frühen dreißiger Jahre fand Pabst das Medium, durch das er sich vollkommen auszudrücken vermochte. Mit “Westfront 1918”, “Kameradschaft” und mit der skandalumwitterten Brecht-Verfilmung “Die Dreigroschenoper” wurde er der bedeutendste Regisseur Deutschlands in jener Zeit, ein Rang, den Carl Mayer für die erste, Fritz Lang für die zweite Hälfte der zwanziger Jahre innehatte. Pabst hat immer damit zu kämpfen gehabt, daß er den Rechten zu weit ging und den Linken nicht weit genug. Seine weitere Biographie machte es beiden Seiten leicht: Es ist ihm kein Film von Bedeutung mehr gelungen, und daß er zuerst im Exil in Frankreich mittelmäßige, dann (aus persönlichen Gründen zurückgekehrt) im Deutschland der Nazis schlimme und nach dem Krieg verkrampft für Sühne eintretende Filme machte, dies nahm seine Gegner auch nicht gerade für “Westfront 1918” und “Kameradschaft” ein. Müßig darüber zu streiten, welcher der beiden Filme “besser” sei. Es bleibt festzuhalten, daß der eine sich ebenso überzeugend wie glaubwürdig für den Frieden einsetzt wie der andere gegen den Nationalismus kämpft. “Westfront” ist einer der wenigen Kriegsfilme (und der einzige deutsche), der realistisch genannt werden kann, der den Krieg in seinem ganzen Wahnsinn zeigt und ihn nicht als Chance zur Bewährung verharmlost. “Kameradschaft” gehört, von seinem Hauptthema abgesehen, zu der Handvoll Filme, die Arbeiter und ihre Welt authentisch und ehrlich darstellen. Vor allem aber ist “Kameradschaft” das gültige Plädoyer gegen die Errichtung künstlicher Grenzen zwischen den Völkern, ein bewegender Appell zur Solidarität, Verständigung, Freundschaft. Pabst fand den Anlaß für den Film in einem Grubenunglück an der deutschfranzösischen Grenze, das sich schon vor dem Ersten Weltkrieg ereignet hatte, das er aber, die Bedeutung seiner Geschichte verstärkend, in die Zeit “nach Versailles” verlegt. Damals hatten deutsche Bergarbeiter, um ihren verschütteten französischen Kollegen zu 228 http://www.mediaculture-online.de Hilfe zu kommen, kurzerhand das Gitter niedergerissen, das tief unter der Erde den Verlauf der Grenze markierte. Pabst läßt seinen Film wie eine Reportage beginnen: Geschildert wird der Tagesablauf diesseits und jenseits der Grenze, die Arbeit im Stollen, das Familienleben. Wegen der Arbeitslosigkeit versuchen einige Deutsche, in Frankreich Arbeit zu bekommen, doch die Vorurteile sind unüberwindlich. Dann geschieht das Unglück. Die Deutschen erfahren davon, als sie unter der Dusche stehen. Unter Tage gehen die drei, die kurz zuvor von einer Französin beleidigt wurden, auf eigene Faust los. Die Rettungsaktion wird breit geschildert, sie ist gefilmt wie eine Wochenschau, spart dramatische Effekte nicht aus. Am Ende werden die deutschen Arbeiter nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus an die Grenze begleitet; die Abschiedsworte beschwören Freundschaft. Ein großartiger Film, nicht nur seiner “Botschaft” wegen, eine hervorragende Regieleistung, die den Gestus des Dokumentarischen vollkommen hält und schon die Zeitgenossen bewundernd an Pudowkin denken ließ. Pabst hatte den Mut, auf Schauspieler weitgehend zu verzichten, die Kumpels sich selbst darstellen zu lassen und Granach, Busch und Keinpers so zu führen, daß sie sich integrieren. Der Film endet übrigens nicht mit jener Szene der Verbrüderung, die die Zuschauer zur Erkenntnis zwingt, daß “ein so wunderbares Ereignis nicht nur die seltene Folge einer Katastrophe sein dürfe, seinen wahren Ort vielmehr im friedlichen Leben der Völker habe” (Kracauer). Pabst, der Realist, fügt ein bitteres Ende hinzu: Grenzbeamte ziehen unten im Stollen auf, das Gitter wird wieder eingesetzt, Protokolle verlesen, die Völker sind wieder ordentlich getrennt. Heute, endlich, sind die Gitter gefallen. Ist “Kameradschaft” überflüssig, im 25. Jahr der französisch-deutschen Freundschaft? Der Film sollte immer wieder gezeigt werden. Es gibt noch genug Gitter und Grenzen. Horst Schäfer 229 http://www.mediaculture-online.de 76 Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger Indagine su un cittadino al disopra di ogni sospetto (Italien 1969) Regie: Ello Petri. Buch: Elio Petri und Ugo Pirro. Kamera. Luigi Kuveiller. Musik: Ennio Morricone. Darsteller: Gian Maria Volonté, Florinda Bolkan, Salvo Randone, Gianni Santuccio, Orazio Orlando, Sergio Tramonti und Arturo Dominici. Länge: 115 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Die mit internationalen Preisen und Auszeichnungen bedachte Arbeit des italienischen Regisseurs Elio Petri ist ein Film über den Mißbrauch und die Korrumpierung von Macht, über die Doppelbödigkeit gesellschaftlicher und moralischer Werte und über die Repräsentanten einer staatlichen Ordnung, die – in diesem Zusammenhang – “über jeden Verdacht erhaben” sind. Der Chef des Morddezernats in Rom, allgemein Dottore genannt, hat ein Verhältnis mit einer Luxusprostituierten. Beide geben sich perversen Spielchen hin: Er plustert sich zum Herrn und Gebieter auf; sie sucht den Nervenkitzel in der Rolle der Gepeinigten und treibt ihn dabei zu immer größeren Risiken und Grenzüberschreitungen an. Dottore spürt, daß er sich in totale Abhängigkeit begibt und bringt sie kaltblütig um. Am Tatort arrangiert er die Spuren so, daß einige davon auf ihn als Täter verweisen. Im Präsidium feiert man an diesem Tag die Beförderung des Dottore zum Leiter der Politischen Abteilung. Nur für kurze Zeit übernimmt er noch die Ermittlungen in dem Fall des von ihm begangenen Mordes. Er lenkt den Verdacht auf den Ehemann und gibt der Presse gezielte Informationen. In seinem neuen Amt kann er sich nicht länger mit dieser Sache befassen. Blindwütig geht er gegen Oppositionelle – für ihn Revolutionäre, Umstürzler, Terroristen – vor, wobei er sie mit Kriminellen und Gewaltverbrechern in eine Reihe stellt. Dottore konstruiert ein Geflecht von Bespitzelungen und Überwachungen, um ein totales Kontrollsystem zu schaffen, von dem auch Untergebene, Kollegen und Vorgesetzte erfaßt werden. Die neueingeführte Computertechnik ist dafür das ideale Instrumentarium. 230 http://www.mediaculture-online.de Um herauszufinden, ob seinem Machtanspruch Grenzen gesetzt sind, verdichtet er in dem Mordfall die Indizien und Beweise, die ihn selbst in die verflossene Sache verwickeln. Aber niemand ist bereit, gegen ihn etwas zu unternehmen. Seine Manipulationen und sein selbstbewußtes Gehabe verstärken das Durcheinander der Amtshandlungen, die – ausgelöst durch ein Bombenattentat im Präsidium – zu einem unüberschaubaren Chaos führen. Dottore ordnet die Massenverhaftung von Studenten und Demonstranten an, die er als Anarchisten und Terroristen beschuldigt. Er selbst übernimmt einzelne Verhöre, scheitert schließlich aber bei dem infamen Versuch, einem der Festgenommenen den Prostituiertenmord anzulasten. Nicht mehr ganz Herr der Lage, spielt Dottore seinen letzten Trumpf aus, um an der Macht zu bleiben; durch ein Schuldeingeständnis stellt er die Unfähigkeit der Mitarbeiter und leitenden Beamten unter Beweis. Auch in diesem Moment ist er den anderen überlegen. Das Ende des Films zeigt, wie er sich die weitere Entwicklung vorstellt: Die von ihm in die Enge getriebenen und düpierten Männer wollen sich und ihren Berufsstand nicht diffamiert und blamiert sehen. Sie nehmen sein Geständnis nicht an, vernichten die Beweise und erzwingen einen Widerruf; es gilt, den “wahren Täter zu finden”. Der Film läßt keinen Zweifel daran, daß es auch so kommen wird. Der Täter hat seine Fahnder zu Mitwissern und Mitschuldigen gemacht. Er hat sie stärker als zuvor in der Hand. So ein Mann wie der Dottore ist nicht nur, sondern muß in den Augen der subalternen Beamtenschaft über jeden Zweifel hoch erhaben sein. Elio Petri (geb. 21.1.1929; gest. 10.11.1982) gehört zu den Regisseuren, die zu gesellschaftlichen und politischen Themen kritisch und aggressiv Stellung beziehen, auf der Seite der Unterdrückten, Ohnmächtigen und Benachteiligten stehen und unbequem sind für die, deren Macht auf solchen Mechanismen beruht. Zu den bekanntesten Filmen Petris zählen “Zwei Särge auf Bestellung” (1966; über die Mafia in Sizilien) und “Todo Modo” (1976; über die Verfilzung von Politik und Religion). Für seinen Film “Der Weg der Arbeiterklassen ins Paradies” (1971) erhielt er bei den Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme – begehrteste Trophäe des Wettbewerbs. “Ermittlungen gegen ... ” ist vor allem der Film des Schauspielers Gian Maria Volonté, geb. am 9.4.1933 in Mailand, der mit dem Charakterporträt des psychopathischen Dottore 231 http://www.mediaculture-online.de die ganze Bandbreite seines Könnens ausspielen kann: Zunächst nutzt er seine Rolle, um ganz den Typ des kleinbürgerlichen, karrieresüchtigen Staatsbeamten zu entwickeln, der seine Minderwertigkeitsgefühle und sexuellen Frustrationen dadurch kompensiert, daß er sich in den Amtsfunktionen suhlt und es genießt, von devoten Menschen umgeben zu sein. Die zunehmende Achtung und Anerkennung bestätigen diese Figur. In immer stärkerem Maße fühlt sich Dottore als Repräsentant einer Macht, die auf dem Führungsanspruch einer elitären und eng verschworenen Clique beruht und auf die bedingungslose Unterordnung gefügiger Mitläufer angewiesen ist, um Andersartige und Andersdenkende auszurotten und zu vernichten. Volonté gelingt es, den inneren Zustand und das äußere Gehabe eines alltäglichen Faschisten zu gestalten, ohne in Klischees zu verfallen. Er gehört heute zu den großen Schauspielern – nicht “Stars” – des europäischen Kinos. Seit gut zwanzig Jahren engagiert er sich in politisch ambitionierten Filmen von Petri, Rosi, Montaldo, Bellocchio und anderen Regisseuren und hat zuletzt in der Rolle des ermordeten Chefs der Democrazia Cristiana in dem Film “Der Fall Aldo Moro” (Italien 1986, Regie: Giuseppe Ferrara) den Beweis seiner Gradlinigkeit erbracht. Die Reihe “Privatmuseum Film” enthält bereits zwei Filme, die nicht zuletzt durch ihren Protagonisten Gian Maria Volonté diese Empfehlung rechtfertigen: “Sacco und Vanzetti” (No. 12) und “Lucky Luciano” (No. 25). Hilmar Hoffmann 77 Die Brücke (BRD 1959) Regie: Bernhard Wicki. Buch: Michael Mansfeld, Karl-Wilhelm Vivier, Bernhard Wicki, nach dem gleichnamigen Roman von Manfred Gregor. Kamera: Gerd von Bonin. 232 http://www.mediaculture-online.de Darsteller: Fritz Wepper, Michael Hinz, Volker Lechtenbrink, Cordula Trantow, Günther Pfitzmann. Länge: 98 Minuten. Vertrieb: Polyband. Deutschland im Jahre 45. Der kleine Ort wird nur noch von Kindern, Frauen, Greisen und Kriegsuntauglichen bevölkert. Der Kriegsalltag geht seinen erschreckenden normalen Gang, auch für die Halbwüchsigen in der Schule, die sich an der Übersetzung von Shakespeare versuchen, den Ausflug zum frischen Bombentrichter an der kleinen Brücke als gelungenes Nachmittagsvergnügen betrachten und darüber spekulieren, ob sie nicht auch bald zu den Waffen gerufen werden. Von den sieben Schülern lebt am Ende des Films nur noch einer. Die anderen sind bei der Verteidigung der Brücke buchstäblich verreckt, bei einer Verteidigung, die militärisch völlig sinnlos, ja unerwünscht war. Sie sind nicht gestorben, weil sie den Befehlen einer skrupellosen Nazi-Charge folgten, sondern weil sie Opfer einer Ideologie wurden, die seit Jahren ihr Denken vergiftete – so wirksam, daß kein Appell zu ihrer Rettung sie erreichen konnte. Als Ende 1959 Bernhard Wickis Film in die Kinos kam, war es um den deutschen Film schlecht bestellt. Dem unaufhaltsamen Siegeszug seichter Ware bis 1956 folgte der jähe Absturz. Dafür war keineswegs allein das gerade populär gewordene Fernsehen verantwortlich. Der wirtschaftliche Niedergang war notgedrungen die Folge des künstlerischen gewesen. Die Kassenschlager im Jahr 1960 hießen “Freddy unter fremden Sternen”, “Der brave Soldat Schwejk”, “Und ewig singen die Wälder”. Doch den vierten Platz behauptete ein Film, der vielen als Hoffnungsschimmer am düsteren Horizont leuchtete: “Die Brücke”. Auch heute noch erweist sich dieser erste Film des damals vierzigjährigen Regisseurs Bernhard Wicki als eindrucksvolles Dokument antimilitaristischer Humanität. Keinem anderen Regisseur im Nachkriegsdeutschland gelang ein so triumphales Debüt. Internationale Auszeichnungen bestätigten, was sich schon in der Gunst des Publikums ausdrückte. Hier war endlich ein Film, dessen man sich nicht zu schämen brauchte. 233 http://www.mediaculture-online.de Bis dahin hatte Bernhard Wicki, 1919 als Sohn österreichisch-schweizerischer Eltern in St. Pölten geboren, eine beachtliche Karriere als Filmschauspieler gemacht. Gleich seine erste Regiearbeit, ein kurzer dokumentarischer Spielfilm über Jugendliche, die sich nicht mit den Vorurteilen der Erwachsenen identifizieren wollen (“Warum sind sie gegen uns?”), findet weithin Beachtung und wird mit drei Preisen ausgezeichnet. Schon hier offenbarte Wicki sensibles Gespür für die Nöte seiner jugendlichen Helden. “Die Brücke” folgt dem Roman gleichen Titels, den Manfred Gregor, ein damals dreißigjähriger Autor, nach eigenen Erlebnissen geschrieben hat. Mit einem für jene Zeit beträchtlichen Aufwand an Geld und Drehtagen inszenierte Wicki nach dieser Vorlage einen Film ohne Stars – von einigen bekannten Schauspielern wie Günther Pfitzmann und Edith Schulze-Westrum abgesehen. Die unbekannten jungen Darsteller, die “Helden” seines Films, werden mit einem Schlag bekannt – und viele sind es bis auf den heutigen Tag geblieben: Cordula Trantow, Fritz Wepper, Volker Lechtenbrink, Michael Hinz. Behutsam, fast gemütlich entwickelt sich die Handlung; von den einzelnen erfahren wir, woher sie kommen, wie sie leben. Da ist der Sohn des Ortsgruppenleiters, über den ein Kamerad sagt: “Das ist ein armes Schwein, der glaubt an gar nichts mehr.” Der Vater weicht erschrocken der Konfrontation mit dem Sohn aus, als der ihm unbequeme Wahrheiten sagt. Er ist auf vielfache Weise in die Schuld am Tod seines Sohnes verstrickt. Nicht nur läßt ihn seine politische Verantwortung mitschuldig am ganzen 234 http://www.mediaculture-online.de entsetzlichen Geschehen werden, sondern auch seine Feigheit, die den Sohn später zum Mut, zur Tollkühnheit zwingt. Mit Wäschewaschen und Näharbeiten bringt die Mutter seines Schulfreundes Siggi sich und den Sohn mehr schlecht als recht über die Runden. Siggi ist wohl der Kindlichste unter den Freunden. Als die Mutter ihn aus der Gefahrenzone zu einer Tante schicken will, wehrt er ab, als wolle sie ihn an einem langersehnten Vergnügen hindern: “Mich kriegst du hier nicht weg!” Daß der Zeitgeist nicht spurlos an ihm vorüberging, zeigt sich auf fast rührende Weise in der Namensgebung seiner Kaninchen: Wotan und Alberich. Karl, der Friseurssohn, durchlebt ausgerechnet in diesen Tagen eine schwere Pubertätskrise. Er entdeckt, daß die hübsche Barbara, die dem verwitweten Vater im Laden hilft, dessen heimliche Geliebte ist. Ohne Abschied rennt er in die Kaserne und in den Tod. Der Sohn der Majorswitwe, den sie aus Traditionssinn in dem Wunsch bestärkt, Offizier zu werden, und mit der Pistole seines im Krieg gefallenen Vaters beschenkt; die beiden Freunde, von denen der eine aus den Bombennächten der großen Städte in die ländliche Ruhe geschickt wurde, während der andere zusammen mit seiner Mutter verzweifelt auf Nachricht vom Vater wartet – sie alle sind beseelt vom Glauben an den Endsieg, von unbedingter Vaterlandsliebe. Erst im Rückblick erkennt man die Saat der Falschmünzer, denen die einst achtbaren Ideale in die Hände fielen, wie es später ein Lehrer ausdrücken wird. Darin besteht dann auch die Meisterleistung Wickis: Mit psychologisch entwickelter Spannung führt er den Zuschauer allmählich, durch die Darstellung vieler kleiner Begebenheiten, die in der Summe eine große Wahrheit ausmachen, zur Erkenntnis. Sie wirkt wie ein Schock. Aus den braven Schuljungen, an deren Nöten man teils belustigt, teils mitleidig teilnahm, wird eine Horde wild entschlossener Krieger, die nichts davon abhält, den vermeintlichen Auftrag – die Verteidigung der Brücke – bis zum letzten Blutstropfen durchzuführen. Erbarmungslos erspart Wicki auch nicht die äußerste, die letzte Enttäuschung. Der einzige Überlebende weiß, daß die Verteidigung der Brücke absolut unnütz war. Der Tod seiner sechs Kameraden, das Sterben amerikanischer und deutscher Soldaten und der 235 http://www.mediaculture-online.de Anwohner, die in die Kämpfe verwickelt wurden, ist in der entsetzlichen Bedeutung des Wortes sinnlos. Als Dokument des kompromißlosen Pazifismus interpretieren die einen den Film, während andere darin die Warnung vor falschem Heldentum sehen – als Abkehr von einem Militarismus, dessen Ziele verbrecherisch waren. Auch heute noch erschüttert Wickis Film mit seiner kargen Bildästhetik und klaren Formsprache als aufrüttelnder Appell, der Vernunft und der Menschlichkeit zu folgen, anstatt dem blinden Wahn einer rücksichtslosen Ideologie. Wolfgang Schwarzer 78 Liebe und Anarchie Film d'amore et d'anarchia Ovvero: Stamatina alle diece in via dei fiori nella nota casa di tolleranza (Italien/ Frankreich 1973) Buch und Regie: Lina Wertmüller. Kamera: Giuseppe Rotunno. Musik: Nino Rota, Carlo Savina. Darsteller: Giancarlo Giannani, Marieangela Milato, Lina Polito, Eros Pagni. Länge: 122 Minuten. Vetrieb: VCL/Virgin. In den Vereinigten Staaten feierte man sie längst als Kultregisseurin, da wurde sie in Italien noch von Produzenten, Kritik und Publikum verschmollt. Deutschland durfte ihre Filme gar erst mit zehnjähriger Verspätung entdecken. Lina Wertmüller, am 14. August 1928 in Rom geboren, entzieht sich den etablierten Genres und sprengt die wohlgeordneten Schubladen der Kritiker. Kaum einem Regisseur gelang es wie ihr, absolute Gegensätze in stimmiger Einheit zu verschmelzen, was spontan Irritation und Befremden, oft nach großer Distanz erst Begeisterung, ja Bewunderung auslöste. Barbarisch und zärtlich, intellektuell und volkstümlich, grotesk, ironisch und tragisch, schrill und nachdenklich – das sind Attribute, die auf jeden ihrer Filme passen. Daß sie alle Muster des Marktes zu sprengen verstand und ihren individuellen Stil dickköpfig 236 http://www.mediaculture-online.de etablierte, führte dazu, daß ihr Werk nun gleichberechtigt zu den Klassikern der italienischen Filmgeschichte gerechnet wird. Nach der ungeteilten Beachtung, die “Mimi Metallurgico” (1971) fand, bedeutete “Liebe und Anarchie”, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, den Durchbruch in ihrer Erfolgslaufbahn. Zu Beginn fragt Tunins Kinderstimme: “Mutter, was ist ein Anarchist?” Die Antwort lautet: “Einer, der Könige tötet, Bomben wirft und dann dafür aufgehängt wird.” Mussolini hat bereits zehn Jahre lang über Italien geherrscht, da wird Tunin, ein einfacher, naiver Bauer, selbst zum Anarchisten. Weniger aus politischer Überzeugung, sondern weil er seinem Freund, einem von den Faschisten ermordeten Widerstandskämpfer, versprochen hat, das auf den Duce geplante Attentat auszuführen. Der unbeholfene, sommersprossige Provinzler kommt nach Rom, wo sich seine Kontaktadresse als luxuriöses Freudenhaus entpuppt, in dem die heißbegehrte Salomé für die Widerstandsgruppe Informationen sammelt. Einer ihrer Stammkunden ist Spatoletti, eine getreue Kopie seines Herrn Mussolini, der in großspuriger Selbstgefälligkeit Ort und Zeit des von ihm vorbereiteten Auftritts des Duce ausposaunt. Tunin verbringt die Tage bis zum Attentat in der quirligen, grellbunten Atmosphäre der Casa di Tolleranza. Hier verliebt er sich – zwischen der Vorbereitung auf das Attentat und den flammend antifaschistischen Reden Salomés – in die romantische Tripolina. Trotz seiner eigenen Zweifel und Ängste und Tripolinas Versuchen, ihn von dem Vorhaben abzubringen, hält Tunin an seinem Entschluß fest – nicht aus Idealismus, sondern “weil es immer noch besser ist, wie ein Mensch zu sterben, als wie ein Hund zu leben”. Den Morgen des Attentats verschläft er jedoch; nach einem heftigen Disput zwischen Salomé und Tripolina über Sinn und Unsinn politischer Morde unterlassen es beide, ihn rechtzeitig zu wecken. Rasend vor Enttäuschung, Scham und Verzweiflung rennt er, anarchistische Parolen brüllend, einer zufällig erscheinenden Mannschaft der Sittenpolizei in die Arme. Der Bauer Tunin wird wie ein Tier in die faschistischen Folterkeller verschleppt und dort zu Tode geprügelt. 237 http://www.mediaculture-online.de Die Leidenschaft, meint Lina Wertmüller, sei die einzige Begründung für das politische Chaos in ihrem Land. Ihrem überbordenden mediterranen Temperament gelingt, wie in “Liebe und Anarchie”, immer wieder die perfekte Illustration dieser Erkenntnis. Das Private mündet ins Politische, ins Zeitgeschichtliche, die Historie breitet sich unerbittlich über den kleinen Alltagsgeschichten der Menschen aus. Dabei wendet sich ihre Erzählweise niemals ins Analytische. Ihre Drehbücher, die sie selber schreibt, entstehen aus Kopf, Herz und Bauch, irisieren zwischen der Tradition der Comedia dell'Arte und Fellinis opulenter Phantasie. Ihre Frauen- und Männerfiguren verweigern sich allen Klischees – wenngleich sie damit kokettieren – und auch allen ideologischen Festlegungen und Forderungen. Lina Wertmüllers Stil, bisweilen zu Unrecht als Stillosigkeit denunziert, wird zum atemberaubenden Tanz auf Messers Schneide, wenn sie die faschistische Gesellschaft oder gar das Konzentrationslager wie in “Sieben Schönheiten” (1975) als Orte ihre Komödien wählt. Es gelingt ihr ohne Fehltritt durch die Wechselwirkungen von barbarischer Groteske, sensibler Poesie und nicht zuletzt der Zurückhaltung und bisweilen feinen chaplinesken Attitüde im Spiel ihres immer wiederkehrenden Hauptdarstellers Giancarlo Giannini. “Liebe und Anarchie” lief in den deutschen Kinos im Original mit Untertiteln. Auf Video liegt nun eine ambitionierte, überraschend gut gelungene deutsche Synchronisation vor (beileibe keine Selbstverständlichkeit), die einem breiten Publikum den Zugang zu diesem unterhaltsamen, mitreißenden Werk ermöglicht. Meinolf Zurhorst 79 Anatomie eines Mordes Anatomy of a Murder (USA 1959) Regie: Otto Preminger. Buch: Wendell Mayes nach dem Roman von Robert Traver. Kamera: Sam Leavitt (schwarz-weiß). Musik: Duke Ellington. Darsteller: James Stewart, 238 http://www.mediaculture-online.de Lee Remick, Ben Gazzara, Joseph N. Welch, Arthur O'Connell, George C. Scott. Länge: 149 Minuten (Original: 160), Vertrieb: RCA/Columbia. Ein Mord ist geschehen, der Täter wurde gefaßt, der Fall ist eindeutig. Rechtsanwalt Paul Biegler (James Stewart), gerade vom Angelausflug zurückgekehrt, soll die Verteidigung übernehmen. Publizität scheint garantiert, das Honorar auch: Der Festgenommene ist ein dekorierter Soldat. “Anatomie eines Mordes” erzählt die Geschichte einer Geschworenen-Gerichtsverhandlung mit der Präzision einer Prozeßakte. Daß er nicht so trocken wie diese geriet, ist zuvorderst den ausgezeichneten Darstellern zu danken, allen voran James Stewart, dem amerikanischen Leinwandsymbol von Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit. In seiner Rolle als Rechtsanwalt Biegler verband Stewart den aufklärerischen Impetus eines Detektivs oder Polizisten mit der hinterhältigen Taktik emotionaler Überrumpelung, die geradebiegt, was krumm ist. Der Film entstand 1959, in einer Zeit, in der das Genre des Kriminalfilms eine Veränderung erfuhr. Psychologische Feinzeichnung, wenn auch manchmal mit grobem Strich, ersetzt die Aktion des Gangsterfilms in den Dreißigern und die Depression des Films noir in den vierziger Jahren. Bevor er endgültig den Fall des angeklagten Lieutenants Manion (Ben Gazzara) übernimmt, läßt sich Biegler von dem mutmaßlichen Mörder den Hergang erzählen. Manion begründet den Mord an dem Barbesitzer Quill damit, daß der seine Frau Laura (Lee Remick) vergewaltigt habe, was diese bestätigt. Doch der Polizeiarzt hatte bei der aufreizenden Blondine keinerlei Spuren einer Vergewaltigung gefunden, sieht man vom blauen Auge ab. Außerdem verstrich zwischen der angeblichen Vergewaltigung und Manions Tat ungewöhnlich viel Zeit. Der Mord an dem Barbesitzer scheint also vorsätzlich begangen worden zu sein. Bei seinen Gesprächen mit Manion erkennt Biegler dessen Eifersucht und Jähzorn. Obwohl davon in der Mordnacht wenig zu spüren war, sieht der Anwalt darin eine Chance der Verteidigung. Er übernimmt den Fall. Mit Hilfe seines alten Freundes Parnell (Arthur O'Connell), ebenfalls Anwalt, doch nun der Whiskyflasche verfallen, treibt Biegler, der sich immer als hinterwäldlerisch bezeichnet, in Wahrheit aber ein ausgekochter Jurist ist, ein 239 http://www.mediaculture-online.de Präzedenzurteil auf, das seine Strategie gegenüber dem karrieristischen Staatsanwalt Claude Dancer (George C. Scott) festlegt: Biegler wird auf Unzurechnungsfähigkeit und damit Freispruch plädieren, weil der Angeklagte zur Tatzeit einem “unwiderstehlichen Impuls” gefolgt sei. Doch die Beweise, die in der Verhandlung vorgebracht werden, sind erdrückend. Zeugen marschieren auf, deren Aussagen eigentlich nicht zu erschüttern sind. Laura Manion selbst macht auch keinen sehr vertrauensvollen Eindruck: Sie gilt als leichtlebig und war an besagtem Abend angetrunken. Durch die geschickte Verhandlungsführung Bieglers rückt aber die juristische Ebene immer stärker aus dem Blickwinkel, verdrängt durch eine gefühlsbetonte Gestik und schon hinterhältig zu nennende Beeinflussung der Geschworenen, auf die ein emotionaler Ausfall mehr Eindruck macht als die Aufreihung trockener Fakten. Sogar der Richter (großartig gespielt von dem späteren McCarthyAnkläger Joseph N. Welch) läßt sich von der mal mitleidheischenden, mal aufgebrachten Mimik Bieglers beeinflussen. So nimmt die Verhandlung eine andere Wende als von der Staatsanwaltschaft intendiert. Nicht die Tat allein steht im Mittelpunkt, auch die möglichen Motive kommen zur Sprache. Die gerissene Taktik Bieglers führt schließlich zum Erfolg. Die Jury spricht Manion frei. Als Biegler und Parnell dann ihr Honorar abholen wollen, hat sich das zweifelhafte Pärchen aus dem Staub gemacht. “Anatomie eines Mordes” gilt vielen als der Prozeßfilm schlechthin. Der nach einem Beststeller von Robert Traver entstandene Film versteht es, aus einem eigentlich langatmigen Rededuell ein vielschichtiges Abbild der Welt zu machen und seine Protagonisten in komplexen Interaktionen agieren zu lassen. Regisseur Otto Preminger verzichtet fast völlig auf Großaufnahmen seiner Darsteller, stellt die Figuren vielmehr in einen durchkomponierten Beziehungszusammenhang. Nur sehr selten ist eine der Figuren in einer Einstellung allein zu sehen. Der Zuschauer wird durch diese stilistische Methode auf Distanz gehalten. Sein Blickwinkel ähnelt während der Verhandlung dem der Geschworenen. Wie diese ist er einem Wechselbad der Gefühle, des Glaubens und des Unglaubens ausgesetzt. Eigentlich bis zum Ende bleibt es offen, ob die Vergewaltigung tatsächlich stattgefunden hat. Sogar die Eindeutigkeit des Mordes wird durch die Einbeziehung widersprüchlicher 240 http://www.mediaculture-online.de psychologischer Gutachten angezweifelt. Das amerikanische Gerichtswesen mit seinen “unbeeinflußbaren” Geschworenen erscheint in keinem guten Licht, wird doch die Wirklichkeit ersetzt durch ein Geflecht von Vermutungen und Scheinrealitäten, erzeugt von einem skrupellosen Anwalt. Daß der Film seinerzeit den Protest der Fans von James Stewart heraufbeschwor, hat indessen eine ganz andere Ursache. Zum ersten Mal wurde derart explizit auf der Leinwand über das Tabuthema Vergewaltigung geredet. Zum ersten Mal auch wurde – der Film bemüht dazu eine eigene Szene – ein Damenslip beim Wort genannt – und das vom filmischen Saubermann der Nation. Otto Preminger wußte, wie man einen Film erfolgreich macht. In all seinen Werken fiel der publicitysüchtige, immer wieder Skandale produzierende Regisseur weniger durch die Raffinesse seiner Inszenierungen auf als vielmehr durch die kongeniale Führung seiner Schauspieler. In Filmen wir “Laura”, “Porgy and Bess”, “Der Mann mit dem goldenen Arm” oder “Carmen Jones” erbrachten die Darsteller meist eine der anspruchsvollsten Leistungen ihrer Laufbahn. James Stewart, dessen beste Rollen immer die waren, in denen er gegen sein Image spielte, wurde für einen Oscar nominiert, aber durch Fehlurteil von “Ben Hur” geschlagen. Uwe Künzel 80 Paris, Texas (Bundesrepublik Deutschland 1984) Regie: Wim Wenders. Buch: Sam Shepard. Kamera: Robby Müller. Musik: Ry Cooder. Darsteller: Harry Dean Stanton, Dean Stockwell, Aurore Clement, Hunter Carson, Nastassja Kinski und andere. Länge: 145 Minuten. Vertrieb: marketing film. Eine felsige Wüstenlandschaft, durch die ein einsamer Mann läuft. Er hat nichts weiter bei sich als eine Feldflasche aus Plastik. Daraus nimmt er noch einen letzten Schluck, bevor er sie fortwirft. Der Mann heißt Travis, wie der Zuschauer später erfährt – ist unrasiert, 241 http://www.mediaculture-online.de trägt schäbige Kleider. Ein festes Ziel scheint er nicht zu haben. Wo er herkommt, weiß man nicht; er wird es bis zum Ende seiner langen Reise auch nicht verraten haben. So beginnt “Paris, Texas”, jener Film, der seinem Autor Wim Wenders beim Festival von Cannes 1984 die “Goldene Palme” eingebracht hat. Als einer der wichtigsten Regisseure des “Neuen deutschen Films” galt Wenders längst – doch erst “Paris, Texas” brachte ihm auch die Anerkennung und Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums, die Filmen wie “Im Lauf der Zeit”, “Der amerikanische Freund” oder “Der Stand der Dinge” leider versagt geblieben war. “Paris, Texas”: Travis, der einsame Wanderer vom Beginn, ist auf der Suche nach seiner Familie. Frau und Kind hat er Jahre zuvor im Streit verlassen; nun kehrt er zurück, um jene Scherben zu kitten, die damals übriggeblieben sind. Zuerst jedoch trifft er seinen Bruder Walt. Bei Walt und seiner Frau Anne hat Travis' Frau Jane den Sohn Hunter untergebracht, nachdem Travis verschwunden war. Längst sieht Hunter Walt und Anne als seine richtigen Eltern an – an seinen richtigen Vater kann sich das Kind nur noch sehr unscharf erinnern. Dennoch gelingt es Travis nach und nach, das Vertrauen seines Sohnes zurückzugewinnen. Beide zusammen machen sich schließlich auf, um die verschollene Jane zu suchen. Travis wird sie finden: Sie arbeitet nun in einer Peep-Show, irgendwo in der Nähe von Houston. Als Kunde “getarnt”, schleicht sich Travis in das triste Etablissement; dort kommt es dann zur entscheidenden Begegnung zwischen dem entfremdeten Paar, das sich einst im Streit getrennt hat. Eine Art Lebensbeichte legt Travis nun ab, doch er muß erkennen, daß es eine gemeinsame Zukunft nicht mehr geben wird. So bringt er zwar noch Hunter und Jane zusammen, doch er selbst verläßt seine Familie erneut – diesmal, so scheint es, für immer... Der “zweite Film” von Wim Wenders. Alle früheren Werke seien sein erster gewesen – so hat er selbst mit einer gewissen Koketterie formuliert. Und tatsächlich: Thematisch verbindet “Paris, Texas” nichts mehr mit den “Männererfahrungen” von Filmen wie “Am Lauf der Zeit”, “Falsche Bewegung” oder “Der 242 http://www.mediaculture-online.de amerikanische Freund”. Einzig zu dem 1974 entstandenen Werk “Alice in den Städten” drängt sich manche Parallele auf: Hier wie dort wird ein einsamer, verzweifelter Mann durch die Beziehung zu einem Kind “sozialisiert”, gleichsam “wiedereingegliedert” in eine Gesellschaft, deren Konventionen und Banalitäten er nicht mehr länger ertragen zu können glaubte. Doch der Weg des Travis nimmt einen anderen Verlauf als jener der Hauptfigur Philip aus “Alice in den Städten”: Hat dieser nur für kurze Zeit die Verantwortung für ein kleines Mädchen übernommen, um dabei wie zufällig zu entdecken, daß er dazu überhaupt in der Lage ist, so sehnt sich Travis nach der Verantwortung für seinen Sohn. Doch als er sie dann tragen muß, gibt er sie schnell weiter, anders als für Philip scheint es für ihn keine Alternative zu seinem verkorksten Leben zu geben. Doch die Handlung, die melodramatische Geschichte einer unglücklichen Familie, bildet nur eine Ebene des Films. Mehr noch, so scheint es manchmal, hat sich Wim Wenders, der wie kein anderer deutscher Regisseur vom amerikanischen Kino, ja: von der amerikanischen Kultur schlechthin geprägt wurde, hier ein Trauma von der Seele gefilmt. “Paris, Texas” ist optisch eine einzige Hommage an die weiten Landschaften des amerikanischen Westens. Wenders' langjährigem Kameramann Robby Müller, der fast von Beginn an mit dem Regisseur zusammengearbeitet hat, sind schier überwältigende Bilder gelungen, die dennoch kein von der Handlung losgelöstes Eigenleben entwickeln, sondern sich stets ganz in den Dienst der Geschichte stellen. Vergleicht man etwa den optischen Stil des Beginns von “Paris, Texas” mit dem Mittelteil und dem Schluß, so wird man deutlich sehen, wie die Sprache der Kamera jedesmal mit der Befindlichkeit der Protagonisten korrespondiert. Die Weite der Landschaften zu Anfang, die Geborgenheit in den mit sanften Farben gezeichneten Räumen des Bungalows von Walt und Anne, schließlich die Kälte der Peepshow, gegen die sich die Wärme der Annäherung zwischen Travis und Jane zur Wehr setzen muß: All dies verweist auf ein dramaturgisches Konzept, das nicht an der Formulierung einer Botschaft hängt, sondern am schlüssigen Nachempfinden des Zusammenhangs von Innen- und Außenwelt im Empfindungsbereich der von Wenders geschilderten Personen. 243 http://www.mediaculture-online.de Dennoch war dieser Film in der Kritik nicht unumstritten: Das Lob für die handwerkliche Leistung des Regisseurs Wim Wenders fiel zwar recht einhellig aus, doch die Geschichte selbst, so meinten manche, erscheine doch über weite Strecken als unsäglicher Kitsch, und es sei geradezu ein Skandal, daß “Paris, Texas” die längst überholte These formuliere, Kinder würden zu ihren biologischen Müttern gehören. Das kann man so sehen, doch Wenders' Triumph wird dadurch kaum geschmälert: Wie kein anderer deutscher Regisseur – und das sieht man auch in “Paris, Texas” in jedem Moment – beherrscht er die Sprache des Kinos in all ihren Ausdrucksformen. Und mit seinem bislang letzten Film “Der Himmel über Berlin” hat er einmal mehr unterstrichen, daß der Kritiker der “Süddeutschen Zeitung” vielleicht doch nicht ganz unrecht hatte, als er 1984 anmerkte, mit “Paris, Texas” habe sich Wenders als “bester Regisseur der Welt” qualifiziert. Horst Schäfer 81 Die offizielle Geschichte La Historia Oficial (Argentinien 1985) Regie: Luis Puenzo. Buch: Aida Bortnik, Luls Puenzo. Kamera: Félix Monti. Musik: Atilio Stampone. Darsteller: Norma Aleandro, Héctor Alterio, Hugo Arana, Guillermo Battaglia, Chela Ruiz, Patricio Contreras. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Ein “Privatmuseum Film” ohne einen Beitrag des Lateinamerikanischen Filmschaffens? Das kann man sich nicht vorstellen. Leider aber ist das derzeitige Videoangebot nicht umfangreich genug, um repräsentative Beispiele aus diesem Kontinent auswählen zu können. In erster Linie kommt es ja darauf an, einen Film aus einem lateinamerikanischen Land vorzustellen und nicht einen, der lediglich dort spielt (wie die “RevolutionsOperetten” beispielsweise) oder von Europa oder Nordamerika aus über Vorgänge und 244 http://www.mediaculture-online.de Vorfälle in diesen Ländern gedreht wurde (wie “Missing”, “Der unsichtbare Aufstand” oder “La Victoria”). Bedauerlich, daß keine authentischen Exemplare des “revolutionären Kinos” aus Brasilien (etwa die Filme von Glauber Rocha) oder Cuba verfügbar sind. Ein glücklicher Zufall jedoch, daß zu den wenigen Titeln, die der Handel anbietet, auch “Die offizielle Geschichte” zählt: ein Film, der stellvertretend für viele andere belegt, wie sich die nationale Kinematographie filmkünstlerisch entwickelt, wenn sie von den Fesseln der Zensur befreit ist und um sie herum alle Bereiche der Kunst und Kultur von einer euphorischen Aufbruchsstimmung erfaßt sind. In diesem Sinne ist der Film – seine Handlung, seine Absicht und sein großer Erfolg – exemplarisch für eine Situation, die anderswo bereits bewältigt wurde oder noch herbeigesehnt wird. Im Mittelpunkt der 1983 in Buenos Aires spielenden Handlung steht Alicia, eine korrekte Geschichtslehrerin, die der bürgerlichen Schicht der Gesellschaft angehört und mit Roberto, einem juntafreundlichen Geschäftsmann, verheiratet ist. Ihre Ehe ist kinderlos, vor einigen Jahren haben sie ein kleines Mädchen adoptiert, die nun fünfjährige Gabi. Das Familien- und Berufsleben verläuft ungetrübt. Alicia und Roberto führen ein geborgenes Wohlstandsleben. Die “offizielle Geschichte” Argentiniens lehrt Alicia so, wie es in den Geschichtsbüchern steht. Die politische Realität dringt allenfalls in der gefilterten Form belanglosen Partygeplauders zu ihr durch. Die Idylle bekommt Schrammen, als Alicia von ihrer Freundin Ana besucht wird. Ana wurde vor einigen Jahren eines “subversiven” Bekannten wegen von den Militärs verhaftet, gefoltert und vergewaltigt; danach lebte sie im Exil in Europa. Von ihr erfährt Alicia erstmals von den Terrormethoden der Machthaber und auch davon, daß den gefangenen Müttern die Kinder weggenommen und zur Adoption an Regimetreue weitergegeben wurden. Alicia will mehr über die Hintergründe der Adoption ihres eigenen Kindes erfahren, doch Roberto blockt ihre Fragen ab. Es schleicht sich der Verdacht ein, daß Gabi die Tochter von “Verschwundenen” sein könnte. Alicia will durch Recherchen in den Krankenhäusern und mit Hilfe eines Suchdienstes die Zusammenhänge erkunden. Dabei verändert sich nach und nach ihr Leben. Sie nimmt mehr wahr von den Vorgängen um sich herum, von 245 http://www.mediaculture-online.de den Demonstrationen auf den Straßen und den beharrlichen Fragen der Oberschüler, die den Unterricht dazu nutzen, unbequeme Vergleiche zwischen historischen Ereignissen und der politischen Gegenwart anzustellen. Bislang hat Alicia in allen Fragen immer die “offizielle” Version akzeptiert, doch nun bröckeln die Fassaden des Regimes und ihres Umfeldes ab und hinter den Rissen wird eine ungeheure Lüge sichtbar. Alicia wird sensibilisiert für die Probleme der Unterdrückten und Verfolgten; sie engagiert sich immer stärker in der Suche nach der Mutter ihrer Adoptivtochter. Durch den Suchdienst wird eine Frau auf sie aufmerksam, die möglicherweise Gabis Großmutter sein könnte. Ihren Berichten nach ist Gabi das Kind ihrer Tochter, die sehr jung geheiratet hat. Als sie schwanger war, wurden sie und ihr Mann verhaftet. Über das weitere Schicksal gibt es keine Informationen; die beiden sind “verschwunden”. Geblieben sind nur noch schmerzende Erinnerungen und ein paar Fotos. Alicia will Klarheit. Auch als Roberto, der in eine Korruptionsaffäre verwickelt ist, den zusätzlichen Schwierigkeiten ausweicht, geht sie den einmal eingeschlagenen Weg auf der Suche nach Wahrheit unerbittlich weiter. Sie besucht die permanenten Demonstrationen der “Mütter von der Plaza de Mayo”, wo mit Transparenten, Plakaten und Fotowänden von den Behörden Auskunft über vermißte Angehörige verlangt wird. Alicia bricht endgültig aus der Ehe aus und verläßt ihren Mann. Gabi wird sie voraussichtlich behalten können, da das Kind jetzt bei ihr besser aufgehoben ist als in der Familie der wahren Eltern. “Die offizielle Geschichte” thematisiert das Schicksal der Kinder der “verschwundenen” – in Wahrheit: ermordeten – Gegner der argentinischen Militärjunta in den Jahren von 1976 bis 1983. Von einem Einzelfall ausgehend, werden die Mechanismen der Unterdrückung und der Gewalt, die alle Kreise der Gesellschaft erfaßt, deutlich sichtbar. Puenzos gesellschaftskritischer Film decouvriert bewußt die konservative Schicht des Bürgertums, die nur Bruchteile der Lebenswirklichkeit anderer wahrnimmt oder wahrnehmen will. Der gradlinig erzählende Film zeigt den Anteil der Mitwisser und Mitläufer am Überleben einer Diktatur, die sich mit Folter und Mord einerseits, Gunst und Gnade andererseits an der Macht hält. 246 http://www.mediaculture-online.de “Die offizielle Geschichte” entstand unmittelbar in der Aufbruchsphase des argentinischen Kinos, nach den Jahren der Diktatur. Der Film belegt einen Ausbruch zur Wahrheit, der sich kompromißlos mit der jüngsten Geschichte des Landes auseinandersetzt und somit konkret in die Gegenwart hineinwirkt; er ist gleichzeitig auch ein Beispiel dafür, wie sich das neue argentinische Kino um kulturelle Identität bemüht und auf die Stereotypen der internationalen Unterhaltungsware verzichtet. Luis Puenzo, 1946 in Argentinien geboren, arbeitete in vielen Sparten der Filmbranche und tauchte – wie viele andere auch – in den Jahren der Militärherrschaft als Werbefilmer unter. “Die offizielle Geschichte” ist sein erster Spielfilm nach der Zeit der Junta und wurde zu einem Manifest der Generation der neuen argentinischen Filmemacher. Die Darstellerin Norma Aleandro (Alicia) wurde 1985 in Cannes mit einem Preis für die beste schauspielerische Leistung ausgezeichnet; der Film wurde 1986 als bester ausländischer Film mit einem Oscar preisgekrönt. Urs Jaeggi 82 Blow up Blow up (Großbritannien 1966) Regie: Michelangelo Antonioni. Buch: Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra, nach dem Roman von Julio Cortazar. Kamera: Carlo di Palma. Musik: Herbert Hancock. Darsteller: Vanessa Redgrave, Sarah Miles, David Hemmings, Jane Birkin. Länge: 106 Minuten. Vertrieb: IMV. Thomas, der exzentrische Mode- und Livefotograf, ist der festen Überzeugung, mit seinen Bildern die Wirklichkeit einzufangen. Das Verlangen, mit seinem Objektiv im Brennpunkt des Geschehens zu sein, nimmt bei ihm ekstatische Formen an. Er schreckt vor nichts mehr zurück. Mit der Kamera dringt er – gleichgültig ob er nackte Männer ohne deren Wissen in einem Nachtasyl oder ein sich vor ihm windendes Modell fotografiert – in die 247 http://www.mediaculture-online.de ungeschützte Intimsphäre seiner “Opfer” vor. So auch, als er eines Tages in einem Park aus einem Versteck heraus ein Liebespaar ablichtet. Beim Entwickeln dieser Bilder im Labor entdeckt Thomas – von David Hemmings übrigens hervorragend gespielt – eine weitere Wirklichkeit, die zweite Dimension der Wahrheit sozusagen. Aufmerksam geworden durch die Tatsache, daß die Frau des heimlich gefilmten Paares, die ihn entdeckt hat, bei ihm auftaucht und zornig die Aufnahmen fordert, ja dafür schließlich gar Geld und ihren nackten Körper anbietet, schaut er die Bilder genauer an. Und siehe da: aus einer Hecke im Hintergrund ragt – unscharf zwar, aber doch deutlich wahrnehmbar – eine Hand, die eine Pistole umschließt. Und unter einem anderen Busch liegt, die immer stärkere Vergrößerung bringt es an den Tag, eine Leiche. Ist Thomas ungewollt Zeuge eines Mordes geworden? Noch nachts eilt er in den Park und findet in der Tat den Liebhaber der Frau tot ausgestreckt auf dem Boden. Geräusche, der Wind, der durch die Blätter streicht, und knackende Äste, schlagen den Fotografen in die Flucht. Wieder zu Hause angekommen, muß er feststellen, daß sein fotografisches Beweismaterial verschwunden ist. Als er am Morgen erneut in den Park geht, sucht er vergeblich die Leiche. Ist Thomas einer Täuschung erlegen, waren es bloß Halluzinationen, die ihn umfingen? Diesen Grundeinfall des 1966 entstandenen “Blow Up” etwas genauer zu beschreiben, drängt sich deshalb auf, weil darin gewissermaßen die Thematik dieses nach wie vor überraschenden Films exponiert wird. Das Pendeln zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Wahrheit und Illusion, Sein und Schein ist für Antonioni Charakteristikum der Lebensart in einer modernen urbanen Gesellschaft. Wo jeder andere Regisseur nun verbissen an der Lösung des kriminalistischen Falles herumgebastelt hätte, sei es nun als Krimiknüller oder als Psychothriller, schickt Antonioni seinen Helden per Rolls-Royce in das Getümmel der Großstadt London, zu jener Zeit Hochburg der Mods und Beatniks. Er konfrontiert ihn, der durch den Zwischenfall im Park und die mysteriösen Folgeerscheinungen etwas von seiner Selbstsicherheit verloren hat, mit Menschen, die ihren eigenen Zynismus bis zum Gehtnichtmehr pflegen, um damit ihre innere Leere zu verbergen. Und er führt Thomas in Milieus, die nichts anderes als die zum Stil erhobene Hohlheit eines sinnentleerten Daseins verkörpern. Zwar kennt Thomas diese Menschen und ihre Milieus. Aber er sieht sie nun mit anderen Augen – vergrößert sozusagen. So wie er auf seinen Vergrößerungen 248 http://www.mediaculture-online.de plötzlich die Hand mit der Mordwaffe und die Leiche entdeckt, so stellt er nun in seiner Welt einen Nihilismus und eine Kommunikationslosigkeit fest, die ihn zutiefst erschüttern. Nun ist diese Erschütterung gleichzeitig der Ausgangspunkt zu einer Selbstfindung. Thomas' persönliches Abbild der Wirklichkeit gerät ins Schlingern, Objektivität schlägt ins Subjektive um, und Begriffe wie Wirklichkeit und Einbildung oder Wahrheit und Illusion erhalten einen neuen Stellenwert, verlieren ihre einstige Klarheit. Es gehört zum Pessimismus des Michelangelo Antonioni jener Zeit – zuvor noch hatte er in kurzem Abstand die Filme “La notte”, “L'eclisse” und “Il deserto rosso” gedreht, Abbilder alle einer in Kommunikationslosigkeit und Kälte erstarrenden Gesellschaft, in der allenfalls noch die Liebe eine Hoffnung bildet –, daß er Thomas nicht aus seiner Umgebung ausbrechen läßt, sondern ihn vielmehr in ihr gefangensetzt. Wenn der Regisseur in der Schlußsequenz seinen Protagonisten in der Nähe des Tatortes das pantomimisch ausgetragene Tennismatch einiger ausgelassener Jugendlicher verfolgen läßt und ihn schließlich in das imaginäre Spiel miteinbezieht, indem er ihn einen scheinbar verirrten Ball “zurückwerfen” läßt, rundet er nicht nur das filmische Spiel um die Vermischung von Wirklichkeit und Illusion ab. Antonioni führt damit Thomas gleichzeitig zurück in die Welt des Scheins. Als Hoffnung gibt er ihm allein einen intensiveren Bewußtseinszustand mit auf den Weg. Während sich Thomas von der Gruppe entfernt, hört er immer deutlicher den Aufschlag des Balles beim Spiel. Die Wahrheit ergibt sich aus der Verbindung von Wirklichkeit und Imagination. Auch wenn die Jahre an diesem Film nicht spurlos vorübergegangen sind und die damalige Aufregung über einige freizügige Szenen in der Presse heute geradezu lächerlich wirkt, so bleibt “Blow Up” dennoch ein Meilenstein in der Filmgeschichte. Antonioni setzt in diesem Film in überzeugender Weise fort, was er in “II deserto rosso” erstmals versucht hat: die Verwendung der Farbe zur Spiegelung der inneren Befindlichkeit. In “Blow Up” erweist er sich erneut als ein Maler mit der Kamera. Die Stadt London und die Interieurs, die er in kühlen, verfremdeten Farben zeigt, sind das Abbild einer gefrorenen, erstarrten Seelenlandschaft. Sein bevorzugter Kameramann Carlo di Palma hat einmal mehr eine Meisterleistung vollbracht. 249 http://www.mediaculture-online.de Hans Gerhold 83 Danton L'Affaire Danton/Sprawa Dantona (Frankreich/Polen/BRD 1982) Regie: Andrzej Wajda. Buch: Jean-Claude Carrière, nach dem Stück "L'Affaire Danton” von Stanislawa Przybyszewska. Kamera: Igor Luther. Musik: Jean Prodromides. Darsteller: Gérard Depardieu, Wojciech Pszoniak, Patrice Chéreau, Angela Winkler, Jacques Villeret. Länge: 131 Minuten. Vertrieb: (atlas film + av). Ein Kapitel aus der Geschichte der Französischen Revolution: Im Jahre 4 des neuen Kalenders hat Robespierre (Wojciech Pszoniak) ein Terrorregime errichtet, der Tod durch die Erfindung des Herrn Guillotin ist an der Tagesordnung. Im November 1793 kommt Danton (Gérard Depardieu), der Justizminister und Mitinitiator der Revolution, der sich von dem Terror distanziert hatte, aus seinem Provinzrefugium Arcy-sur-Aube nach Paris zurück – vom Jubel des Volkes begleitet und doch gezwungen, seine Kutsche beim Eintritt in die Stadt einer Kontrolle unterziehen zu lassen. Das folgende Zusammentreffen der beiden politischen Kontrahenten wird zum Zentrum eines Films, der sich als Allegorie auf die Revolution, die ihre Kinder frißt, versteht. Das geistige Duell zwischen Danton und Robespierre, zwischen dem barocken Sinnenmenschen und dem zynischen Dogmatiker der permanenten Revolution, führt zu Gegnerschaft, Machtkampf und Waffengewalt. Es eskaliert in der Verhaftung Dantons, der dann in einem tumultartigen Gerichtsverfahren verurteilt wird und endet mit der Guillotinierung Dantons und seiner Anhänger am 5. April 1794 auf dem Platz der Revolution. Nicht mehr vermerkt wird Robespierres eigenes Ende: Knapp drei Monate später, der Triumph ist nur von kurzer Dauer, wird er gestürzt und Ende Juli 1794 hingerichtet. Wajda konzentriert sich mit der Wahl dieses knappen halben Jahres auf die größten 250 http://www.mediaculture-online.de Revolutionswirren. Das “Comité du Salut Public” (der Wohlfahrtsausschuß), das für die Innenpolitik zuständig ist und von Robespierre und seinen Anhängern, darunter der Maler David und der Politiker St. Just geleitet wird, ist vom Revolutionsgericht und Staatspolizei beherrscht. Totale Repression soll die Revolution aufrecht erhalten. Robespierre erscheint in diesem Film dennoch nicht als von der Ideologie besessenes Monster, sondern als von Zweifeln geplagter Revolutionstheoretiker, der zum vermeintlichen Wohle aller als sturer Bürokrat eine Strategie äußerster Härte praktiziert. Klein, verkniffen, steif und starr, ein verklemmt-bösartiger Demagoge, läßt er allgemeine Prinzipien über individuelle Gefühlsregungen siegen. Robespierre ist der Technokrat der Macht, der in seinen vergeblichen Versuchen, Jugendfreunde wie Camille Desmoulins vor der Guillotine zu retten, als schwächlicher Melancholiker erscheint. Ihm gegenüber ist Dépardieus Danton ein bacchantischer Volkstribun, ein Hedonist und lebenslustiger, sinnenfroher Genußmensch, der Liebling des Volkes, der sich bemüht, den dogmatischen Kurs Robespierres auszugleichen. Vor dem Tribunal spricht er heiser und kaum mehr vernehmbar davon, daß das Volk nicht Blut, sondern Brot wolle, daß es in Frieden vor äußeren und inneren Feinden leben müsse, daß es nur einen wirklich gefährlichen Feind habe: die Regierung. Neben dieser Schlüsselszene inszeniert Wajda im einzigen Zusammentreffen der Kontrahenten in Dantons großbürgerlichem Salon ein Kabinettstück politischen Disputs. Robespierre hockt wie ein lauernder Buddha, brütend über seinen Vorstellungen von Legitimität, während ihn Danton, ganz körperlich und spontan, mit auserlesenen Weinen und Saucen traktiert. Auch das eine Illustration der Gegensätze von lebenspraller Demokratie und puritanischer Dogmatik. Wajdas Sympathie gehört Danton, doch nicht uneingeschränkt, denn der wie Robespierre seinem kategorischen Imperativ folgende Vertreter von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der den Terror als Ausdruck von Verzweiflung deutet, ist andererseits ein hochmütiger Held, der die realen politischen Machtverhältnisse verkennt. Immerhin sieht er sich und Robespierre als Antipoden: “Wenn man uns trennt, fallen wir beide”, sagt er und weist auf beider Ende voraus. Farbdramaturgisch ist Robespierres Welt in fahles, kaltes Blau getaucht, Dantons in die der symbolträchtigen Farben der Trikolore. Dem 251 http://www.mediaculture-online.de Handeln der Mächtigen gegenübergestellt ist das Treiben des Volkes, Szenen, die von David inspiriert erscheinen. Als “Danton”, Wajdas erster nichtpolnischer Film, vorgestellt wurde, hat man ihn als Schlüsselfilm der aktuellen Situation Polens gedeutet, was heute nicht mehr so ohne weiteres verständlich ist. Jetzt sehen wir ihn eher als brillante Filmlektion in Geschichte, in der dem Prozeß der Revolution der Prozeß gemacht wird, darin Georg Büchners Dramen verwandt. Wajda, Jahrgang 1926, mit “Asche und Diamant” (1958) und “Der Mann aus Marmor” (1976) als Meister des politischen Aktionsdramas ausgewiesen, der über Macht und die Macht von Bildern reflektiert, wurde für den Film “Danton” mit dem “Prix Louis Delluc” und dem “César” für die beste Regie ausgezeichnet. Walter Schobert 84 Uliisses (Bundesrepublik Deutschland 1982) Regie: Werner Nekes. Buch: Werner Nekes, frei nach “Die Odyssee” von Homer, “Ulysses” von James Joyce, “The Warp” von Neil Oram. Kamera: Bernd Upnmoor. Musik: Anthony Moore. Darsteller: VA Wölfl, Tabea Bloomenschein (= Blumenschein), Russel Derson, Shezad Abbas, Sarah Antil. Länge: 94 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Ein Avantgardefilm: der modernste Film wohl in unserer Serie der Meisterwerke, einer, der beide Prädikate wahrlich verdient, ist er doch einer der schönsten, aufregendsten und innovativsten Filme der letzten Jahre. “Uliisses” ragt aus dem narrativen Einerlei des bundesdeutschen Films, der modern höchstens wegen seiner Inhalte, kaum jemals aber wegen seiner Ästhetik gewesen ist, heraus – und ist doch nur die Summe all der vielen aufregenden und innovativen Filme, die dieser Filmemacher in den letzten zwei Jahrzehnten geschaffen hat. 252 http://www.mediaculture-online.de In dieser Zeit ist Werner Nekes herangereift zum einzigen deutschen Regisseur, der wirklich neue Ausdrucksformen fand, ist zum Avantgardisten im Wortsinn geworden: Er ist den anderen voraus, bildet die Vorhut. Er hat mit neuen Aufnahmetechniken experimentiert, neue Erzählweisen ausprobiert. Sein großes Thema dabei war der Film selbst – und die Erforschung des filmischen Sehens. Er versuchte, die Grundlagen und Grenzen der Wahrnehmung auszuloten, grub dazu historische Entdeckungen aus, entwickelte umfangreiche Versuchsreihen, um das Sehvermögen zu testen, dabei manchmal konventionelle Sehgewohnheiten attackierend und die Zuschauer provozierend. Auch bei Nekes, dem inzwischen 44jährigen, hat sich das Wort vom Propheten und seinem Heimatland bewahrheitet. Im Ausland rechnet es sich jedes Filmmuseum zur Ehre, seine Filme zu besitzen, wird er, zusammen mit seiner Frau Dore O., zu den wichtigsten deutschen Filmemachern gerechnet, die höchste Reputation genießen. Hierzulande, wo auch die Filmkritik nur das herkömmliche Erzählkino wahrnimmt, ist sein Name immer noch nur einem allzu kleinen Kreis Eingeweihter bekannt, von den Filmen ganz zu schweigen. Er wird von der Kritik, den Medien und leider auch den Gremien, die Filmförderungsgelder verteilen, in das Ghetto des Experimentalfilms geschoben. Aber experimentell, sagt er in einer Mischung aus Stolz und Bitterkeit, seien an “Uliisses” höchstens die 300 000 Mark gewesen, mit denen er auskommen mußte, eine lächerliche Summe in einer Zeit, in der selbst ein bescheidener Anfängerfilm leicht mehr als eine Million kostet. Das Wunderbare ist, daß man seinem Film die Entbehrungen nicht ansieht, daß der überbordende Reichtum an Phantasie den Mangel an Geld vergessen läßt. Aber Nekes wäre wohl der letzte, der leugnen würde, daß der Zwang, mit eigenem Geld und auf eigenes Risiko zu arbeiten, nicht einschränken, einengen würde. Seit zwanzig Jahren trotzt dieser Mann seine Filme den widrigen Umständen selbst ab, setzt er mit jedem Film wieder seine Existenz aufs Spiel. Wenn einer mit einem solchen Filmverständnis ein Buch verfilmt, dann hat er anderes im Sinn als simple Literaturverfilmung. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Nekes auf Joyce stoßen mußte, seinem Verwandten im Geiste: Was der mit der Literatur machte, tut Nekes mit dem Film; das Verhältnis des James Joyce zur Sprache ist das gleiche wie jenes des 253 http://www.mediaculture-online.de Werner Nekes zu den Bildern. Bei Joyce ist die Literatur selbst das Thema, bei Nekes das Kino und seine Ausdrucks-, auch seine Illusionsmöglichkeiten, sein Wesen: Bewegung und Licht. Und wie Joyce benutzt auch Nekes, umfassend gebildet, neben eigenem viel fremdes, vorgefundenes Material, arbeitet er mit Zitaten, Anspielungen, Verweisen. Joyces Buch war ihm nicht einmal genug; er greift auch auf Homer zurück. Aus dem Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom wird bei Nekes Uli, der Fotograf; er “is' es”. Und wie jener vom Dichter, so unterscheidet sich dieser vom Filmemacher: Er macht ja nur unbewegte Bilder. Molly ist nicht Sängerin, sondern Fotomodell. Dublin wird zum Ruhrgebiet, dort lebt und arbeitet Uli (und Nekes zeigt uns seine Heimat in nie gesehenen Bildern, als eine mythische Landschaft), und dort schreibt er sie, im Jahr 1980, mit Licht, seine “Lichteratur”. In achtzehn Episoden gegliedert entfaltet Nekes die neue, seine Version eines alten Verhältnisses: das von Odysseus und Penelope, also von Leopold und Molly, von Uli und Tabea. Doch der “Gegenstand dieser Odyssee ist die Bildersprache selbst, das Sehenlernen und Sehenwollen”, formuliert Dietrich Kuhlbrodt, im Hauptberuf Staatsanwalt, sonst aber Verteidiger des Avantgardefilms in unserem Land. Und so wird Nekes' Film zu einer Entdeckungsreise, zurück in Filmgeschichte und noch weiter zur Vorkinematographie, bei der man mit Tabea einen veritablen Star sehen, Groucho Marx oder Marilyn begegnen kann, sich plötzlich in “Casablanca” befindet und die herrlichsten Dinge vorgeführt bekommt, die jahrhundertealt sind oder ganz neu und vom Polyorama panoptique bis zum Laserstrahl und dem Hologramm reichen. “Uliisses” ist, auch, eine Anthologie der Filmgeschichte, ihrer Prinzipien und Erfindungen, jener Wunderdinge, die, halb Kinderspielzeug, halb wissenschaftliches Gerät, den Film erst ermöglicht haben. Sie dienen zusammen mit ganz modernen Entdeckungen oder auch mit übernommenen Kunstaktionen (wie VA Wölfls “Lichtbrechen”) dazu, durch Optik und Licht Gedanken visuell auf den Punkt zu bringen. Nekes braucht keine Geschichte, um zu zeigen, daß die Beziehung zwischen zwei Menschen gestört ist. Er nimmt nur die Kamera, stellt davor Mutter und Kind – und manipuliert dann den Entwicklungsprozeß des belichteten Films. Er mischt Negativ und Positiv, Bildstörungen flackern, Fehlbelichtungen werden sichtbar: Zwei Menschen sind Opfer von Entwicklungsstörungen. 254 http://www.mediaculture-online.de Oder: Nekes benutzt die wunderbare Erfindung des Professors Schulze, das Phosphorpulver, um zu zeigen, wie sich Odysseus/Uli der lästigen Freier entledigt. Er hat sie photographiert, betrachtet ihre Porträts in der Dunkelkammer. Er schüttelt die Bilder – und geheimnisvollerweise, das Pulver macht es möglich, kommen sie ins Rutschen, fallen sie zusammen, werden zu Staub. Auch so kann man, filmisch, Rivalen auslöschen. “Uliisses” ist ein Film, der auf mehreren Ebenen funktioniert, gesehen werden kann: ein Avantgardefilm, aber einer, der einfach Spaß macht und Vergnügen. Man kann ihn naiv sehen oder als Vexierspiel oder als komplexes Kunstwerk. Der Zuschauer kann Pfadfinder spielen und Beziehungen und Anspielungen suchen, den Verweisen nachspüren, die Geräte, Spielzeuge, Erfindungen identifizieren. Je mehr man wiederentdeckt, desto größer der Genuß. Hilfreich kann dabei das bei Walther König in Köln erschienene Buch zum Film sein. Die Fans von Arno Schmidt haben weiland ein Dechiffriersyndikat gegründet, um die Werke des Meisters auszuschöpfen; auch er ein Jünger Joyces, ein Liebhaber gewaltiger Spaziergänge durch die Kulturgeschichte. “Zettels Traum” und “Uliisses”, wer sie vergleicht, kommt zu verblüffenden Ergebnissen, was Methoden, Selbstverständnis – und ihren Rang als Kunstwerke betrifft. Wolfgang Schwarzer 85 Z Z (Frankreich/Algerien 1968) Regie: Costa-Gavras. Buch: Costa-Gavras, Jorge Semprún, nach dem Roman von Vassill Vassilikos. Kamera: Raoul Coutard. Musik: Mikis Theodorakis. Darsteller: Yves Montand, Irene Papas, Jean-Louis Trintignant. Länge: 130 Minuten. Vertrieb: (zur Zeit nicht bekannt). Ministerpräsident Karamanlis hat seit 1955 Griechenland konsolidiert und an die EG herangeführt. Die politische Macht indes liegt außerhalb der Parlamentskontrolle beim König und seinen Beratern, bei der Armee, ihrem von der CIA kontrollierten Geheimdienst, bei Polizei, paramilitärischen Milizen und rechtsradikalen Geheimbünden. 255 http://www.mediaculture-online.de Illegale und scheinlegale Praktiken dominieren, Wahlkampfmanipulationen verfälschen demokratische Willensbildung. Am 22. Mai 1963 präsidiert in Saloniki Gregorios Lambrakis, Professor der Medizin an der Athener Universität, Sportidol der Jugend und Abgeordneter der “Union der Linksdemokraten”, bei einer Versammlung der “Freunde des Friedens”, um gegen die Aufstellung von Polarisraketen in Griechenland zu protestieren. Lambrakis gilt zu diesem Zeitpunkt als ernsthafte Gefahr für die konservative Regierung und das Königshaus vor den anstehenden Wahlen. Beim Verlassen dieser Veranstaltung wird er von einem Lieferwagen angefahren. Drei Tage später stirbt er im Krankenhaus. Die Autopsie belegt zweifelsfrei den Tatbestand des Mordes: Lambrakis' Schädelverletzung war nicht durch den Sturz, sondern durch ein kräftiges Schlaginstrument herbeigeführt worden. Da die Affäre erhebliches Aufsehen erregt, gelingt es den Militärs nicht, die Version eines “bedauernswerten Unfalls” aufrecht zu erhalten, zumal der Fahrer des Wagens und sein Komplize als Mitglieder eines rechtsradikalen Geheimbundes identifiziert werden konnten. Georgios Papandreou, Führer der Opposition, fordert Präsident Karamanlis auf, die “moralische Verantwortung” für den Vorfall zu tragen. Am 25. Mai 1963 beordert die Regierung einen jungen und unerfahrenen Untersuchungsrichter zur Aufklärung des Falles: Christos Sartsetakis, später (seit März 1985) selbst Staatspräsident. Der Sohn eines Gendarmerie-Offiziers ermittelt hartnäckig und objektiv, trotz Androhung von Sanktionen und anderer Einschüchterungsversuche von vorgesetzten Institutionen. Er trägt Belege für ein minutiös vorbereitetes Mordkomplott unter Beteiligung hoher Militärs zusammen. Noch in dieser Phase werden Zeugen massiv bedroht und eingeschüchtert. Der Fall Lambrakis beschleunigt den Sturz der Regierung Karamanlis am 11. Juni 1963. Die Opposition der liberalen und sozialdemokratischen Zentrumsunion unter dem Sozialisten Andreas Papandreou erringt bei Wahlen in der Folge die absolute Mehrheit. 256 http://www.mediaculture-online.de Die Verantwortlichen der Mordaffäre werden angeklagt und erhalten vergleichsweise milde Strafen. Nach dem Militärputsch vom 21.4.1967 werden fünf beurlaubte Generale umgehend rehabilitiert und wieder in ihre Ämter eingesetzt. Als Kriminelle werden nun diejenigen verfolgt, die, wie Sartsetakis und der Journalist Romeos, die Aufklärung des Falles Lambrakis betrieben hatten. Während der kurzen Ära Papandreou erhält der Jurist und Schriftsteller Vassilis Vassilikos Gelegenheit, die Gerichtsakten der Affäre zu studieren, auf deren Grundlage er den Roman “Z” verfaßt. Constantin Costa-Gavras, Jahrgang 1933, in Frankreich lebender Grieche, entschließt sich nach der Lektüre spontan, den Roman auf die Leinwand zu übertragen. Ihn fasziniert über die persönliche Betroffenheit hinaus die Anatomie eines politischen Mordes, dessen Fakten und Mechanismen in der Realität greifbar vorgegeben sind. Das Drehbuch verfaßt Jorge Semprún, geboren 1923 in Madrid, Exilspanier, Mitglied der französischen Resistance, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und bis 1964 einer der führenden Köpfe der im Untergrund arbeitenden Kommunistischen Partei Spaniens. Semprún hatte 1964 das Drehbuch zu Resnais' Film “Der Krieg ist vorbei” geschrieben, der dem französischen Kino neue politische Dimensionen eröffnete. Der Autor konzentriert die dreieinhalb Jahre andauernde Affäre auf vier Handlungsebenen: die Vorbereitung der Kundgebung des Abgeordneten Lambrakis und dessen Ermordung, Planung und Verschleierung des Attentates durch die Obristen, Aufklärung des Falles durch den Staatsanwalt und den Journalisten sowie schließlich die Konsequenzen der Wahrheitsfindung im Wechsel der politischen Regime. Hält sich die Handlung streng an die Realität, so bleiben Namen und Orte anonym. Die Wirklichkeit gewinnt modellhafte Dimensionen. Das Projekt droht an der Verweigerung der französischen und amerikanischen Produzenten zu scheitern: Es sei zu politisch und zu wenig kommerziell. Der Schauspieler Jacques Perrin ermöglicht die Realisierung, indem er selbst eine Produktionsfirma gründet und die algerische Filmindustrie interessieren kann. Die Dreharbeiten beginnen im Sommer 1968 in Algier. In den Hauptrollen erscheinen Stars des französischen Kinos, an erster Stelle Yves Montand, der als Sohn italienischer 257 http://www.mediaculture-online.de Emigranten seit 1949 durch linksgerichtete politische Aktionen das Image aufrechter Widerstandshaltung erworben hatte, ein gewisses Charisma, das er in seine Rolle einbringt. “Z” erweist sich als überragender Publikumserfolg und gewinnt Preise in Cannes und in den USA. Costa-Gavras hatte nach Jahrzehnten unverbindlicher Kinounterhaltung exakt den Nerv eines unruhig gewordenen, nach Information verlangenden Publikums getroffen. Sein Verfahren, etablierte Formen des Erzählkinos und eingeschliffene Sehgewohnheiten mit politisch relevanten Inhalten zu fällen, begründet ein neues Genre: den Polit-Thriller. Umstritten bleibt Costa-Gavras' Verfahren allemal. Partisanen des militanten politischen Kinos werfen ihm Verflachung, mangelnde Analyse und Starkult vor. Der Regisseur hingegen hält es für einen Erfolg, beim großen Publikum innerhalb des kommerziellen Verleihsystems Nachdenklichkeit und Mißtrauen den zu glatten Bildern der staatstragenden Kommunikationsmittel gegenüber zu wecken. Mit “Das Geständnis” (1969), “Der unsichtbare Aufstand” (1972) und “Missing” (1982) führt er das in “Z” erprobte Verfahren konsequent fort. Seine Anklage richtet sich gegen totalitäre Staatsformen und Unterdrückungsmechanismen, seien sie faschistisch oder stalinistisch orientiert. Bei aller berechtigten Kritik dem Konzept gegenüber zeigt die Wirkungsgeschichte, daß Costa Gavras' Filme als “Kino gegen die Intoleranz” einen unbestreitbar hohen Stellenwert besitzen. Meinolf Zurhorst 86 Gloria Gloria (USA 1980) Buch und Regie: John Cassavetes. Kamera: Fred Schuler. Musik: Bill Conti. Darsteller: Gena Rowlands, John Adames, Buck Henry, Julie Carmen. Länge: 123 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. 258 http://www.mediaculture-online.de New York. Seine unverwechselbare Skyline. Nervöse Free-Jazz-Klänge untermalen die Aufnahmen aus einem Hubschrauber. Manhattan, das in der Nacht brodelnde YankeeStadium, der Hudson River, die illuminierte Freiheitsstatue. Dann ein harter Schnitt, und die Kamera ist im Straßengewühl, folgt einer jungen Frau aus dem Bus, sieht sie stolpern und ihre Einkäufe verstreuen, folgt ihr weiter in ein Mietshaus, wo sie von einem verrückten Schwarzen bedroht wird, und endet schließlich in ihrer Wohnung, in der sich in Kürze ein Massaker ereignet. Diese auch stilistisch brillante Exposition, bei der Schnitt und Kamera in ihrer fahrigen, gehetzten Bewegtheit sich nie um die konventionellen Muster der Filmsprache kümmern, bei der sich durch zahlreiche Details eine Atmosphäre der Bedrohung fast zwangsläufig einstellt, macht es überflüssig zu zeigen, was wenig später passiert und Anlaß ist für die eigentliche Geschichte des Films. Mafia-Gangster liquidieren einen ihrer Buchhalter, weil der mit dem FBI zusammengearbeitet hat. Wichtiger aber als die Bestrafung ist ihnen ein kleines Buch, in dem der penible Buchhalter die illegalen Transaktionen festhielt. Kurz vor seinem Tod hatte der Mann seinen sechsjährigen Sohn Phil (John Adames) zu Gloria (Gena Rowlands), der Nachbarin, geschickt. Die mag zwar keine Kinder, doch sie weiß, was Phils Eltern widerfährt. Gloria kennt die Killer, sie war früher die Geliebte eines Gangsters. Ihr gelingt es, mit Phil aus dem Haus zu entkommen. Dabei wird sie fotografiert; die Gangster heften sich auf ihre Spur. Schon bald sieht sich Gloria von ihren Verfolgern eingeholt. Die wollen das Buch und den Jungen, aber sie haben ihre Rechnung ohne Gloria gemacht. Unvermittelt hat sie einen Revolver in der Hand und schießt. Nun ist auch sie die Gejagte, vogelfrei, denn sie hat sich gegen das System gewandt. Taxis, Busse, Untergrundbahnen, Hotels sind die wechselnden Aufenthaltsorte des ungleichen Pärchens. Gloria, die den Jungen anfangs so schnell wie möglich loswerden wollte, muß erkennen, daß sie Muttergefühle entwickelt hat. Wie eine Löwin kämpft sie von nun an um Phil. Sie schießt um sich, entwaffnet eine ganze Gang und erkämpft sich die Zuneigung des Jungen. Schließlich aber ist Gloria bereit, der Mafia das Buch auszuhändigen. Doch die will auch den Jungen. Wieder fallen Schüsse. 259 http://www.mediaculture-online.de Neben dieser aktionsreichen Geschichte inszenierte der Regisseur John Cassavetes, zugleich auch der Drehbuchautor, die romantische, psychologisch einfühlsame Chronik einer ungewöhnlichen Beziehung. Schritt für Schritt entwickelt sich zwischen Gloria und Phil mehr als ein Mutter-Kind-Verhältnis. Fast schon werden sie zu Partnern, verdienen sie sich den gegenseitigen Respekt. Es ist eine Entwicklung, die sich nicht mehr in den Grenzen der Wahrscheinlichkeit abspielt, bestimmt durch die hektischen Bewegungen von Flucht und Verfolgung. Aber darunter leidet die Glaubwürdigkeit nicht. Cassavetes erhebt keinen realistischen Anspruch, sein Film ist die Inszenierung einer Atmosphäre, eines permanenten Gefühls der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit der Protagonisten. Schauplätze wie Personen erscheinen nur in Ausschnitten, bleiben schemenhaft wie die Handlung, die nur vordergründig den Gesetzen des Genres gehorcht. “Gloria” war der zehnte Film von John Cassavetes, dem breiteren Publikum eher als Schauspieler (unter anderem in “Tod eines Killers”, “Das dreckige Dutzend” und “Rosemarie's Baby”) bekannt, und seit seinem Desaster mit einer großen Produktionsfirma wieder der erste, der unter konventionellen, kommerziellen Bedingungen entstand. Mit seinem Regiedebüt “Shadows” gab Cassavetes 1959 den Anstoß zum unabhängigen amerikanischen Film. Er hatte den Beweis geliefert, daß es möglich war, ohne den Rückhalt eines großen Studios für wenig Geld einen Film zu drehen und sich dabei künstlerischen Freiraum zu schaffen. In der Folge drehte Cassavetes mit seinen Schauspielerfreunden Peter Falk und Ben Gazzara, mit seiner Frau Gena Rowlands, zahlreichen Familienangehörigen und einem festen Team eine Reihe von improvisiert wirkenden Filmen, die auf zahlreichen europäischen Festivals preisgekrönt, in den USA aber kaum wahrgenommen wurden. Nachdem er 1961 und 1962 mit den beiden von Paramount produzierten Filmen “Too Late Blues” und “A Child Is Waiting” kommerziellen und vor allem künstlerischen Schiffbruch erlitten hatte, verließ sich Cassavetes auf eine völlig unabhängige Produktionsweise. Das nötige Geld verdiente er sich als Schauspieler. In Filmen wie “Husbands” (Ehemänner; 1971), “The Killing of a Chinese Bookie” (Mord an einem chinesischen Buchmacher; 1975) und vor allem “A Woman Under Influence” (Eine 260 http://www.mediaculture-online.de Frau unter Einfluß; 1974) festigte Cassavetes seinen Ruf als Amerikas ungewöhnlichster und kreativster Filmemacher der siebziger Jahre. Ihm gelang es, die Unsicherheiten und Umwälzungen der Zeit auf eine aufregend authentische Weise festzuhalten, in einer filmischen Sprache, die mit ihrem Gegenstand kongenial korrespondiert. Star aller Filme war seine Ehefrau Gena Rowlands, deren bravouröse schauspielerische Leistungen sie zu einer der bedeutendsten Charakter-Darstellerinnen des amerikanischen Kinos machten. Auch in “Gloria” ist sie Angelpunkt des Geschehens, das sich manchmal nur in ihrer Mimik abspielt. Ursprünglich wollte Cassavetes “Gloria” gar nicht selbst inszenieren. Er hatte das Drehbuch Columbia angeboten, deren Produzenten begeistert waren und ihm auch noch die Regie übertrugen. Bis heute schätzt Cassavetes, völlig zu Unrecht, seinen eigentlich als konventionellen Action-Thriller konzipierten Film als belanglos ein, abgesehen von der überragenden Präsenz seiner Frau. 1983 drehte John Cassavetes (als Regisseur und Hauptdarsteller) für die Cannon Group den Film “Love Streams”, 1984 in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, die verwirrende Geschichte einer Geschwisterliebe. Mit “Big Trouble” (Sterben ... und leben lassen), 1984 von Columbia produziert, inszenierte er erstmals eine turbulente Komödie. Beide Filme wurden Flops an der Kinokasse und zeigten einen Filmemacher, der sich am Ende im Netz des kommerziellen Studio-Films wiederfand. Cassavetes' persönliche Handschrift war immer noch zu erkennen, hatte aber ihre faszinierende Sperrigkeit verloren. Günter Lebailly 87 Die roten Schuhe The Red Shoes (Großbritannien 1948) Regie: Michael Powell und Emeric Pressburger. Kamera: Jack Cardiff. Ausstattung: Hein Heckroth. Musik: Brian Easdale (Die Musik des Balletts "Die Roten Schuhe”, gespielt vom Royal Philharnionic Orchestra unter Leitung von Sir Thomas Beecham). 261 http://www.mediaculture-online.de Darsteller: Anton Walbrook (Adolf Wohlbrück), Marius Goring, Moira Shearer, Leonide Massine, Albert Bassermann, Brian Esmond, Ludmilla Tscherina, Robert Helpman, Marie Rambert. Länge: 128 Minuten. Vertrieb: VPS. Premiere des neuen Balletts “Das brennende Herz”. Es tanzt das Ballett Lermontov. Die Aufführung wird von Julian Craster, einem jungen Musiker, und von Viktoria Paige, einem jungen Mädchen der Gesellschaft besucht, das als Tänzerin ausgebildet ist. im Anschluß an die Aufführung begegnen beide dem Ballett-Impresario Boris Lermontov und werden von ihm engagiert. Es dauert noch eine Weile, bis sie sich durch die gemeinsame Arbeit an dem neuen Ballett “Die roten Schuhe” näher kennenlernen. Julian schreibt die Musik, Viktoria tanzt die Hauptrolle. Das Ballett erzählt nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen die Geschichte eines Mädchens, das sich ein Paar rote Schuhe wünscht, um darin zu tanzen. Als der Tanz vorüber ist, kann es die Schuhe nicht ausziehen, sondern muß darin weitertanzen bis zum Tod. Julian und Viktoria verlieben sich ineinander. Da jedoch Lermontov keine persönlichen Eskapaden duldet, entläßt er beide aus seiner Truppe. Sie heiraten; Julian arbeitet an einer Oper. Während der Vorbereitungen zur Aufführung in London fährt Viktoria in Urlaub nach Monte Carlo, wo Lermontovs Ballett gastiert. Er kann sie überreden, wieder bei ihm aufzutreten. Am Tag der Uraufführung von Julians Oper soll Viktoria wieder “Die roten Schuhe” tanzen. Julian läßt seine Aufführung im Stich, reist seiner Frau nach und stellt sie vor die Wahl, sich entweder für ihn oder für den Tanz zu entscheiden. Es scheint, daß der Tanz siegen wird; Julian sagt sich von ihr los. Viktoria läuft ihm nach und wirft sich vor den Zug, mit dem er abfahren will. Während noch einmal “Die roten Schuhe” gezeigt werden – ohne Ballerina, bittet die sterbende Viktoria Julian, ihr die Ballettschuhe auszuziehen. Es ist erstaunlich, wie wenig Patina der Film angesetzt hat. Natürlich, die Geschichte hat ihre herzzerreißende Wirkung verloren. Zu oft haben wir inzwischen den Konflikt zwischen künstlerischer (beruflicher) Karriere und privatem Glück in allen möglichen Varianten, bald mit, bald ohne Happy End gesehen. Dafür tritt die Kunstfertigkeit stärker hervor, mit der die Geschichte erzählt ist. 262 http://www.mediaculture-online.de Der erste Teil des Films zeigt in kurzen, prägnanten Szenen den Aufstieg von Vickie und Julian in der Truppe Lermontovs und das Entstehen ihres neuen Balletts. Ohne daß besonderer Nachdruck darauf gelegt wird, aber vielleicht gerade deshalb um so eindringlicher, macht der Film dem Zuschauer deutlich, daß ein Bühnenwerk eine kollektive Arbeit ist, an der viele Einzelne beteiligt sind. In der Mitte des Films steht das fertige Ballett. Die fast zwanzigminütige Sequenz beginnt als gefilmte Bühnenaufführung, weitet sich aber bald zu einem selbständigen Filmballett, spielt mit den Möglichkeiten von Stoptrick, Mehrfachbelichtung, Zeitlupe und schiebt eine Passage ein, in der das subjektive Empfinden der Tänzerin gespiegelt wird. Sie verwandelt sich im Tanz in einen Vogel, eine Blume, eine Wolke – davon hatten Julian und Vickie in einer vorhergehenden Szene gesprochen; als ihr Widersacher auf der Bühne erscheinen ihr nacheinander Julian und Lermontov. Der dritte Teil enthält die Romanze zwischen Vickie und Julian und vor allem Lermontovs Reaktionen darauf. Der Schluß mit der Auseinandersetzung zwischen den drei Hauptpersonen ist nach der eher lockeren Szenenfolge des ersten Teils dramatisch stark zugespitzt. Natürlich wird das tödliche Ende im Märchen vorweggenommen. Und daß dieser Film nach einem Märchen von Hans Christian Andersen entstand, betont er sowohl im Vorspann als auch durch die Schlußvignette der herabgebrannten Kerze auf dem Buch, dessen Rücken den Namen des dänischen Märchendichters trägt. Dennoch ist der Schluß eben nicht “wie im Märchen”, das ja nicht unbedingt gut ausgehen muß, sondern “wie im Melodram”. Glücklicherweise verzichtet der Film auf alle Requisiten und Effekte dieses Genres. Was seinen besonderen Reiz ausmacht, ist die optische Gestaltung: die eleganten Innenräume, aber auch die attraktive Schäbigkeit hinter der Bühne, die Schönheit der Mittelmeerlandschaft und vor allem die phantastische Ausstattung der Ballettsequenzen. Für die Fülle der Details und die Delikatesse der farblichen Gestaltung wurde Hein Heckroth mit einem “Oscar” ausgezeichnet. “Die roten Schuhe” ist einer der wenigen Ballettfilme, die Tanzsequenzen nicht als unterhaltsame Einlagen verwenden, sondern sie als konstituierende Teile in die Handlung 263 http://www.mediaculture-online.de integrieren. Der Film ist aber auch ein Ballettdokument von seltsam schillerndem Reiz. Er zeigt dem Betrachter Beispiele für den Tanzstil der 40er und 50er Jahre. Die Gestalt des Boris Lermontov (von Adolf Wohlbrück mit eisigem Charme und hintergründiger Dämonie gespielt) ist ganz sicher nach dem Vorbild des großen Sergej Diaghilev erfunden, dem bedeutendsten Ballett-Impresario unseres Jahrhunderts. Darauf weisen nicht nur die Orte London, Paris und Monte Carlo hin, wo auch Diaghilev mit seinem Ballets Russes künstlerische Standquartiere hatte. Die Tänzer im Film tragen durchweg russische Namen; die Anwesenheit von Leonid Massine stellt eine unmittelbare Verbindung zu Diaghilev her. Eine Hommage an Massines Schaffen für Diaghilev sind Zitate aus “Der Dreispitz” und “Der Zauberladen”. Dem englischen Ballett, das in den 30er Jahren seinen Aufstieg begann, wird gehuldigt durch das kurze Auftreten von Marie Rambert, einer der Gründerinnen der englischen Ballett-Tradition; dazu durch Robert Helpman (im Film Viktorias Tanz-Partner), einen der bedeutenden Tänzer und Choreographen des jungen englischen Balletts; und natürlich durch Moira Shearer, die am Anfang ihrer Ballerinen-Karriere die Rolle der Viktoria bezaubernd spielt und tanzt. Für die deutschen Theaterfreunde beachtenswert ist die anrührende väterliche Gestalt des Bühnenbildners Ratov, gespielt von Albert Bassermann in einer seiner letzten Rollen. Die beiden englischen Produzenten und Regisseure Michael Powell und Emeric Pressburger haben versucht, den großen Erfolg ihres Films “Die roten Schuhe” mit dem gleichen Team einige Jahre später durch Jacques Offenbachs Oper “Hoffmanns Erzählungen” zu übertreffen. Aber trotz der phantastischen Ausstattung von Hein Heckroth erwies sich dieser Film als Fehlschlag. Er war in seiner Mischung wohl doch zu künstlich und fand weder bei den Opern- noch bei den Ballettfreunden rechten Anklang. Vielleicht ist es gerade die Mischung von märchenhafter Realität und phantastischer Künstlichkeit, die “Die roten Schuhe” aus allen vergleichbaren Filmen heraushebt und zum unwiederholbaren Ereignis macht. 264 http://www.mediaculture-online.de Walter Schobert 88 Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (Deutschland 1927) Regie: Walter Ruttmann. Kamera: Karl Freund, Reimar Kuntze, Robert Baberske, Lászlo Schäffer. Musik: Edmund Meisel. Länge: 65 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé. Das Mißverständnis begann gleich nach der Premiere – und es dauert bis heute an, dafür sorgend, daß Ruttmanns Film höchstes Lob ebenso auf sich versammelt wie heftigste Kritik. Es war sein erster abendfüllender Film, der am 23. September 1927 im Tauentzienpalast uraufgeführt wurde, und alles deutete auf einen neuen Triumph des Schöpfers avantgardistischer Kurz- und kommerzieller Werbefilme hin. Bis dahin hatte Ruttmann nur mit gemalten und gezeichneten Bildern gearbeitet. Im neuen Film verwendete er, wie er es nannte, “lebendes Material”, also reale Aufnahmen, die er, unterstützt von einem großen Stab, in Berlin machen ließ. Die amerikanische Fox finanzierte, als Produzent (und Chefkameramann) fungierte der große Karl Freund. Der Komponist Edmund Meisel, der kurz vorher für die deutsche Erstaufführung eine vom Regisseur autorisierte Musik zu Eisensteins “Panzerkreuzer Potemkin” geschrieben hatte, zeichnete für die “sinfonische Musik” verantwortlich (sie ist nicht identisch mit der auf der Kassette!). Das Orchester war mit 75 Mann besetzt, der Komponist stand am Pult. 265 http://www.mediaculture-online.de Das Publikum war begeistert, der Jubel groß, auch die Kritik überschlug sich; nur wenige skeptische, ablehnende Stimmen wurden laut – und sie begründeten ihre Verrisse mit den gleichen Argumenten, die Ruttmanns Anhängern als Gründe für ihre Hymnen dienten. Ruttmann hatte, so der allgemeine Tenor, sich etwas Gewaltiges vorgenommen: ein Portrait der Stadt, in der er (und seine Premierenzuschauer) lebten; er hatte versucht, die Dynamik, den Schwung, den Rhythmus, den Rausch dieser Stadt einzufangen, ihr ein Denkmal zu setzen, sie als Inbegriff der modernen Großstadt zu feiern. Die hingerissenen Berliner sahen in seiner “Sinfonie” ihr Bild von ihrer Stadt, fanden, daß ihr Lebensgefühl vollkommen ausgedrückt war. Seitdem gilt Ruttmanns Arbeit als Dokumentarfilm über Berlin schlechthin. In schöner Regelmäßigkeit kommt er bei Umfragen nach den besten Werken der Gattung auf einen der ersten Plätze. John Grierson, dem großen englischen Dokumentaristen und Autor eines Standardwerkes, gilt er als Meisterwerk. Ruttmann fand Nachfolger, Städtefilme in seiner Manier wurden Mode; Legionen von “Querschnittfilmen” und Städte-Sinfonien folgten. “Berlin” gilt den Kunsthistorikern als Meilenstein der “Neuen Sachlichkeit”. Auch seinen Gegnern gilt er als Dokumentarfilm. Und sie fanden ja genug Anhaltspunkte: Beginnt er nicht mit Bildern eines nach Berlin fahrenden und im Morgengrauen dort ankommenden Zuges? Hat der Regisseur seine Sequenzen nicht so angeordnet, daß sie den Ablauf eines Tages wiedergeben, beginnend mit dem Erwachen der Stadt, dem Szenen aus der Welt der Arbeit folgen, die von der Mittagspause unterbrochen werden? Dann folgen der Nachmittag, die hektischen Vergnügungen der Freizeit, ehe der Film mit mitternächtlichen Szenen endet. Hätte nicht der Krieg dafür gesorgt, daß diese Bilder das einzige sind, was nach den Bomben von diesem Berlin übrig geblieben ist und daß viele diesen Film mit den gleichen sentimentalen Gefühlen sehen, mit denen sie in einem Bändchen mit alten Ansichtskarten blättern – die Beliebigkeit, die Austauschbarkeit, die Oberflächlichkeit dieser Bilder wäre offensichtlicher. Man nehme nur die Passagen, die sich mit “der” Arbeit beschäftigen, oder, eindeutiger noch, die Zusammenstellung der Essensequenz: Impressionen von Luxuslokalen werden gemischt mit Aufnahmen von Stehimbissen, einer armen Frau mit ihren zwei aggressiv-zärtlichen Kindern. Auch säugende Kamele dürfen nicht fehlen. Und 266 http://www.mediaculture-online.de so ist der ganze Film: Er reiht Szene an Szene, läßt sich auf Assoziationen ein, montiert optisch Verwandtes aneinander. Scharf formuliert: Er läßt sich von der puren Oberfläche faszinieren. So gesehen, kann man Kracauer nur recht geben, der als erster heftig protestierte, dem Film zwar glänzende Bildeinfälle attestierte, sich aber entschieden verwahrte gegen diese Art, eine Stadt zu porträtieren. Er (und nach ihm Generationen von Filmhistorikern seiner Schule) wurde nicht müde, Ruttmann zu beschimpfen, ihn des Leichtsinns und der Gedankenlosigkeit zu zeihen, der politischen Blindheit und Verharmlosung zu beschuldigen und ihn haftbar zu machen für einen inhaltslosen und nur am formalen Glanz interessierten Dokumentarismus, dessen schlimmste Verkörperung Leni Riefenstahl ist. Leider hat Ruttmanns spätere Biografie den Gegnern (teilweise) recht gegeben: Was die Riefenstahl konnte, lernte sie von ihm, der auch am Parteitagsfilm anfangs mitarbeitete, ehe er sich (aus unbekannten Gründen) zurückzog; der nicht emigrierte, sondern in Deutschland blieb und seinen Namen hergab für so schlimme Machwerke wie “Deutsche Panzer”, einen der bösesten Propagandafilme der Nazis – eine sehr deutsche Filmkarriere, typisch, aber auch rätselhaft, galt Ruttmann doch noch in den Zwanzigern als “links”. Aber auch ohne solche Beurteilung aus dem Rückblick kann man, muß man Kracauer folgen: als Dokumentarfilm gesehen ist Ruttmanns Film mißlungen. Das Problem ist nur: Es ist gar kein Dokumentarfilm. Schon die Zeitgenossen hätten sehen können, daß Ruttmann ganz anderes im Sinne hatte. Wie anders wäre die zornige Enttäuschung Carl Mayers zu verstehen, der, wahrscheinlich im Gefolge des Bauhäuslers Moholy-Nagy (der schon 1921 einen ähnlichen Entwurf publiziert hatte) das Exposé zu einem Städtefilm verfaßte und seinen Namen zurückzog, als er sah, worauf Ruttmann hinauswollte? Und hatte nicht schon die Eingangssequenz gezeigt, daß Ruttmann, der Avantgardist, der Erfinder des absoluten Films, sich treu bleiben wollte? Da sieht man Wellen, Wasseroberfläche. Plötzlich Bilder, die abstrakt sind, konstruktivistisch anmuten. Die Streifen werden übergeblendet in 267 http://www.mediaculture-online.de Telegrafendrähte. Zwei zuklappende schwarze Balken finden ihr optisches Pendant in einer sich schließenden Schranke: Das sind direkte Zitate aus Ruttmanns 1925 fertiggestelltem “Opus IV”, und sie dokumentieren seine Absicht, abstrakte Bewegungsstudien fortzusetzen, diesmal mit Realfotografien, mit Bildern aus der Wirklichkeit. Nicht auf deren Inhalte kommt es Ruttmann an, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern auf die ihnen innewohnenden Bewegungsabläufe. Aus ihnen schafft er seine visuelle Sinfonie. Die Bilder Berlins sind ihm nur Material, der Ablauf des Tages gibt ihm die Struktur und verhilft ihm zu seinen temporeichen Etüden, zum Spiel mit Geschwindigkeit und Langsamkeit, mit dem sensibel und abwechslungsreich variierten Rhythmus. Der ehemalige Musiker Ruttmann, wohlvertraut mit den Gesetzen der Musik und sichtlich animiert von der Begegnung mit dem die Filmästhetik revolutionierenden “Potemkin”, ist in seinem Element: Er experimentiert; Versuchsfeld ist eben nicht Berlin, sondern: die Filmmontage. Wie seine “Opus”-Filme Versuche waren, die Theaterhaftigkeit zu überwinden, dem Film zum Bewußtsein der ihm eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu verhelfen, des Lichts, der Formen, der Farbe und vor allem und immer wieder: der Bewegung, so ist “Berlin” ein radikales Stück, das die Möglichkeiten der Montage ausprobiert. Ruttmann hat damit dem deutschen Kino, zu dessen kreativsten und potentesten Künstlern er gehört, die Möglichkeiten des neuen Ausdrucksmittels vordekliniert. Thomas Brandlmeier 89 Der kleine Cäsar Little Caesar (USA 1930) Regie: Mervyn Le Roy. Buch: Francis Faragoh, nach dem Roman von W. R. Burnett. Kamera: Tony Gaudio. Musik: Leo Forbstein. Darsteller: Edward G. Robinson, Sidney 268 http://www.mediaculture-online.de Blackmer, Glenda Farrell, Ralph Ince, Douglas Fairbanks jr. Länge: 76 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Zusammen mit “Scarface” (Howard Hawks/1932) und “Public Enemy” (William Wellman/1931) begründete “Little Caesar” (Mervyn Le Roy/1930) einen neuen und bis heute klassischen Typus des Gangsterfilms: die Geschichte von Aufstieg und Fall (“rise and fall”) eines monomanen und egozentrischen Gangsters. Das plötzliche Erscheinen einer Gangsterkarriere als Negativbild der klassischen success-story hat besondere historische Gründe. Die Ära der Prohibition in den USA (1920 bis 1934) hatte der Unterwelt ein Wirtschaftsimperium aus Schwarzbrennereien, Schmugglerflotten, Transportunternehmen und Flüsterkneipen in die Hände gespielt. Surplusprofite, kombiniert mit anderen illegalen Geschäften, brachten die ganze Nation ans Gängelband der Unterwelt. Nicht nur ein Heer biederer Bürger, auch Politiker und Polizisten standen auf den Lohnlisten der Syndikate, und wenn der Konkurrenzkampf um die Märkte nicht immer wieder in blutigen Bandenkriegen ausgetragen worden wäre, hätte niemand ernsthaft Anstoß an derart verständnisinniger Korruption genommen. In der Wirtschaftskrise erwies sich der Alkoholmarkt als relativ krisensichere Branche und ließ die Macht der Syndikate nochmals sprunghaft anwachsen. Die schweren Erschütterungen der Depression brachten für den frühen theaterhaften Tonfilm richtungweisende Innovationen. Auch in diesem Kontext muß man “Little Caesar” sehen: ein Film mit pointierten Dialogen, zügigem Schnitt und neuen, gewagten Themen. Mervyn Le Roy war ein Regisseur am Anfang einer Karriere, der immer wieder Vorlieben für rasant inszenierte und sozialkritische heiße Themen zeigt. Die Wahl des ebenfalls noch wenig bekannten Edward G. Robinson für die Rolle des größenwahnsinnigen kleinen Caesar erwies sich als seltener Glücksfall. Wäre “Little Caesar” ein ›realistischer‹ Zeitfilm, müßte er von korrupten Anwälten, Politikern, Polizisten und dem Management der Syndikate handeln, wo Männern wie dem kleinen Caesar – was der Film gelegentlich andeutet – nur die Rolle des austauschbaren Offiziers einer Privatarmee zukommt. Aber Hollywood hat aus dem Stoff einen 269 http://www.mediaculture-online.de amerikanischen Mythos gemacht: die anachronistische Figur des Einzelgängers mit hohem Identifikationswert. Robert Warshow schreibt in seinem berühmten Essay über den “Amerikanischen Mythos” von 1954: “Die zwei erfolgreichsten Schöpfungen des amerikanischen Films sind die Gangster und der Westerner – beides Männer mit Pistolen ... (Der Westerner) ähnelt dem Gangster, weil auch er einsam und bis zu einem gewissen Grade schwermütig ist ... Der Gangster muß andere entweder heftig abstoßen oder ebenso heftig anziehen; der Westerner ist nicht auf diese Weise gezwungen, Liebe zu suchen. ” Der Gangster ist der einsame tough guy, den der Kampf um Erfolg korrumpiert und die Großstadt neurotisch gemacht hat. Edward G. Robinson erscheint als der klare Held des Films: Der kleine Mann von der Straße, der beschließt, seine Machtphantasien auszuleben. Sein Gegenspieler von der Polizei, der als moralischer Zeigefinger der Zensur an jeder wichtigen Stufenleiter von Klein-Caesars Erfolg auftaucht und zum Schluß triumphieren darf, ist daneben nur eine blasse Figur. Aber die Moral (crime doesn't pay) glaubt sowieso niemand, und darum geht es auch gar nicht. Gangsterfilme sind Männerfilme. Die eigentliche Liebesgeschichte findet immer zwischen Männern statt. Edward G. Robinson liebt Douglas Fairbanks jr., und daß ihn dieser wegen einer Tänzerin verläßt, ist der Verrat, an dem er zerbricht. Fairbanks stößt ihn zurück in die Einsamkeit seines Aufstiegs und Falls. Wenn die beiden über Tanz (“Weiberjob”) und Liebe (“Kindergeschwätz”) streiten, ist das eine der schönsten Eifersuchtsszenen der Filmgeschichte. Aus Liebe verschont Robinson die Kronzeugen der Polizei. Und konsequenterweise stirbt er unter einem riesigen Werbeplakat für das Tanzpaar Fairbanks/Farrell. Die Worte “laughing – singing” werden durch das Rattern der Maschinenpistole bitter konterkariert. “O Heilige Mutter Maria, ist das das Ende von Rico!?”. The End. Reinhard Kleber 270 http://www.mediaculture-online.de 90 Fahrenheit 451 Fahrenheit 451 (Großbritannien 1966) Regie: François Truffaut. Buch: Truffaut, Jean-Louis Richard, nach dem Roman von Ray Bradbury. Kamera: Nicolas Roeg. Musik: Bernard Herrman. Darsteller: Julie Christie, Oscar Werner, Cyril Cusack, Anthony Diffring. Länge: 108 Minuten. Vertrieb: CIC Video. Der Regisseur des Films “Der Mann, der die Frauen liebte” (1973), liebte das Kino geradezu besessen. Mit “Die amerikanische Nacht” (1973) setzte er dem Kino und sich selbst ein Denkmal. Sein letzter Film hieß “Auf Leben und Tod” (1984). Im gleichen Jahr starb François Truffaut, 52 Jahre alt. Hinterlassen hat der neben Jean-Luc Godard wichtigste Repräsentant der französischen Nachkriegs-Kinematographie einundzwanzig abendfüllende Spielfilme. Der Durchbruch war ihm 1959 mit dem autobiographischen Erstling “Sie küßten und sie schlugen ihn” in Cannes gelungen. “Fahrenheit 451” (1966) spielt in Truffauts Werk eine besondere Rolle: Es ist sein erster Farbfilm, die einzige ausländische Produktion und sein erster Zukunftsfilm. Die literarische Vorlage lieferte der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury mit seinem gleichnamigen Roman von 1953. Titel und Buch beziehen sich auf den Hitzegrad (232 Grad Celsius entspricht 451 Grad Fahrenheit), bei dem Bücherpapier Feuer fängt. In einem totalitären Zukunftsstaat wird das Lesen von Büchern streng bestraft. Die Feuerwehr hat die Aufgabe, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. Ihr Mitglied Guy Montag tut sich dabei besonders hervor, um befördert zu werden. Einige Literaturfreunde versuchen, möglichst viele Bücher zu retten. Die Begegnung mit einer lesewütigen Nachbarin (ver)führt Montag selbst zum heimlichen Lesen. Bei einem Einsatz muß er zusehen, wie eine alte Frau sich mit ihrer Bibliothek selbst verbrennt. Von seiner obrigkeitshörigen Ehefrau denunziert, tötet er seinen Vorgesetzten mit dem Flammenwerfer und setzt sein eigenes Haus in Brand. Er flieht in die Wälder zu den verfemten “Büchermenschen”, die ihre Lieblingsbücher für zukünftige Generationen auswendig lernen. 271 http://www.mediaculture-online.de Truffaut lehnt sich in Geist und Atmosphäre eng an Bradburys Anti-Utopie an, verändert aber wichtige Handlungselemente durchaus selbstbewußt. Beispielsweise fehlt der im Buch so wichtige Kriegsausbruch – eine Anspielung auf Weltkrieg und Atombombe. Das Buch endet zuversichtlich mit dem Aufbruch der Waldmänner nach der Eliminierung der nahen Stadt durch einen Bombenangriff in die unberührte ländliche Provinz; im Film steht am melancholischen Ende die paradiesische Lernidylle im winterlichen Wald. Wie üblich hat Truffaut die Hauptrollen hochrangig besetzt: Der Österreicher Oskar Werner, der schon in “Jules und Jim” (1962) mitwirkte, gibt den Feuerwehrmann als coolen Eisblock, der erst allmählich auftaut; die Britin Julie Christie, die während der Dreharbeiten den Oscar für ihre Hauptrolle in John Schlesingers “Darling” erhielt, spielt virtuos eine Doppelrolle – die attraktive, gedankenlose Ehefrau Linda und die rebellische, junge Lehrerin Clarisse. Für die aufwendige Produktion der Hollywood-Firma Universal wurden erstklassige Mitarbeiter gewonnen: Die Musik lieferte Hitchcocks Hauskomponist Bernard Herrman, die brillanten Bilder Nicholas Roeg (“Wenn die Gondeln Trauer tragen”). “Fahrenheit 451” ist kein konventioneller Science-Fiction-Film. Neben den heute lächerlich wirkenden, primitiven Flugmaschinen und einer Schwebebahn sucht man futuristisches Design vergebens. Dieser Regisseur war nie ein radikaler Experimentator. Anders als Godard ist der romantische Ironiker nach seinen frühen Filmen bei einer traditionellen linearen Erzählweise geblieben. Sein skeptischer Zukunftsfilm knüpft gerade an die “Tradition der Qualität” an, die er als Kritiker der führenden französischen Fachzeitschrift “Cahiers du Cinéma” in jungen Jahren so heftig attackiert hatte. Die Originalität von Truffauts persönlichem Erzählstil liegt in der Feinstruktur. Die Sensibilität seiner Personenschilderung sowie Humor und Ironie in Darstellung und Thema haben den Ruf der “Leichtigkeit” seiner Filme begründet. Nicht wenig trägt dazu ein Kardinalthema Truffauts bei, das Verhältnis von Kunst und Leben. Dieses Spannungsfeld manifestiert sich vor allem in seiner Liebe zur Literatur und zum Kino. Zentrales Thema dieses Films ist die Liebe zu den Büchern. Im Zeitalter der audiovisuellen Medien plädiert Truffaut für die gute alte Schrift- und Lesekultur. Gegen 272 http://www.mediaculture-online.de den Triumphzug des allgegenwärtigen Fernsehens hält er an den traditionellen Werten der hohen Literatur fest. Montag erschließt sich zum Beispiel durch “David Copperfield” von Charles Dickens ein unbekanntes Phantasiereich. Durch die Bücherverbrennungen zerstört die anonyme Mediendiktatur gerade solche Individualitätsreservate. In der gleichgeschalteten Gesellschaft verlernen die Menschen mit dem Lesen das Denken. Auf das historische Vorbild verwies Truffaut schon durch die Wochenschauaufnahmen der nazistischen Bücherverbrennungen in “Jules und Jim”. In seiner orwellesken Anti-Utopie droht allen Nichtlesern der Verlust der Identität durch die sprachlose Entfremdung von den Mitmenschen. Aus der Kommunikationsöde retten sich manche in die Fluchtwelt der Literatur. In den Wäldern werden sie zu “Buchmenschen”, die nach dem Auswendiglernen die geliebten Bücher verbrennen – sicherheitshalber. Diese Reduktion des Menschen auf die Reproduktion von Wissen ist allerdings gerade wegen des vorgeblichen Kulturidealismus ethisch bedenklich. Kultur wird hier zum Selbstzweck! Zu bloßen ›Schutzumschlägen‹ degradiert, werden die Menschen als Menschen belanglos. Während Bradbury die missionarischen Aktivitäten der Buchmenschen noch ausdrücklich in den Dienst einer phönixhaften “Kulturdämmerung” stellt, läßt Truffaut seine melancholische Gemeinde in einer idyllischen Diaspora verharren. Gegenüber dem pragmatischen Optimismus des Amerikaners behält sein humanistischer Skeptizismus das letzte Wort, das letzte Bild. Die letzte der 963 Einstellungen (erster Schnee im Wald der Buchmenschen) “friert”, wie in vielen TruffautFilmen, zum Standbild ein. Die Allegorie ist sinnfällig. Der filmgeschichtliche Rang von “Fahrenheit 451” liegt nicht zuletzt in der unnachahmlichen Synthese von mitfühlendem Anliegen und elegant-ironischer Form, die den Zuschauer zum Nachdenken anregt. Darin ist Truffaut unübertroffen. 273 http://www.mediaculture-online.de Wolfgang Schwarzer 91 I ... wie Ikarus I ... comme Icare (Frankreich 1979) Regie: Henri Verneuil. Buch: Verneuil, Didier Decoin. Kamera: Jean-Louis Picavet. Musik: Ennlo Morricone. Darsteller: Yves Montand, Michel Etchevery, Jacques Sereys, Jean Negroni. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. “Die Schüsse, die Präsident Jary töteten, wurden von Carl Eric Daslow abgegeben. Aufgrund des der Kommission vorliegenden Beweismaterials kommt sie zu dem Schluß, daß Daslow allein gehandelt habe. Die Kommission ist während ihrer gesamten Untersuchungstätigkeit auf keinen Beweis für eine Verschwörung, subversive Tätigkeit oder einen Verstoß gegen die Treuepflicht seitens eines Beamten des Bundes, der Einzelstaaten oder Gemeinden gestoßen. Diese Schlußfolgerungen stellen das wohlbegründete Urteil aller Mitglieder der Heiniger-Kommission dar.” Ersetzt man die Namen Jary, Carl Eric Daslow und Heiniger durch Kennedy, Lee Harvey Oswald und Warren, so entsteht unvermittelt historische Realität und der getreue Wortlaut des Warren-Reports. Wenngleich angezweifelt und wegen seiner Unstimmigkeiten kritisiert, wurde die Veröffentlichung des Warren-Reports als amtlicher Schlußstrich unter die Aufklärung des Kennedy-Attentats akzeptiert. Die historische Realität fand allerdings keinen Generalstaatsanwalt Henry Volney, der wie in “I ... wie Ikarus” durch sein Veto den Heiniger-Report außer Kraft setzt und die Untersuchungen erneut aufnimmt. Volney findet von der Kommission unbeachtete Zeugen der Tat, die neue Sachverhalte einbringen und nun einer nach dem anderen getötet werden. Er rekonstruiert Indizien, die den Verdacht auf hohe Persönlichkeiten aus Staatsbürokratie und Geheimdienst lenken. Schließlich konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf eine geheimnisvolle Operation “I ... wie Ikarus”, die er jedoch nicht mehr entschlüsseln kann. Sie steht für seine eigene Exekution. Wie der griechische 274 http://www.mediaculture-online.de Sagenheld der Sonne, so war Volney der Wahrheit darüber, wie unsere politischen Systeme funktionieren, zu nah gekommen und mußte stürzen. Hat Verneuil eine der intelligentesten Filmversionen des Kennedy-Attentats inszeniert, so steht – entgegen dem ersten Anschein – dieser Aspekt doch im Hintergrund der Geschichte. Am Beispiel Carl Eric Daslows, der bereit war, den Mord durchzuführen, aber durch zynische Schachzüge der wirklichen Hintermänner der Tat lediglich als vorgeschobener Sündenbock diente, rückt ein ganz anderes Problem in den Mittelpunkt: der Bürger als Helfershelfer korrupter Politiker, das Verbrechen aus Staatsraison. Daslow als labiler Idealist erweist sich als Täter und Opfer zugleich. In seiner Person wird deutlich, was Professor Stanley Milgram zwischen 1960 und 1963 in der Yale-Universität bei Experimenten, die im Sommer 1970 durch die Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie in der Max-Planck-Gesellschaft München ergänzt wurden, schlüssig nachweisen konnte: In der menschlichen Zivilisation ist Gehorsam und Unterordnung unter Autoritäten, die sich im weißen Kittel der Wissenschaft, durch den Titel eines Amtes repräsentieren, zum Reflex geworden, zur unkritisch akzeptierten Größe. Verneuils Film nähert sich am Konzept eines politischen Mordes der Frage, wie nicht nur der bestellte Meineid eines Untergebenen, sondern auch Phänomene wie Auschwitz, die Gulags und Chile, wie Folter, Inquisition und Völkermord in unserer zivilisierten, humanitären Gesellschaft möglich sind. Eine minutiös ausgeführte Demonstration der Versuche Milgrams stellt die Schlüsselszene der Geschichte dar. Unter dem Vorwand, Versuche über menschliches Lernverhalten durchzuführen, muß ein freiwilliger Kandidat – Daslow gehört zu ihnen – in der Lehrerrolle einem festangeschnallten und an Elektroden angeschlossenen “Schüler” im Falle einer Fehlreaktion Elektroschocks zwischen 15 und 450 Volt versetzen. Die Schocks sind simuliert, der Schüler ist ein Schauspieler, was die Versuchsperson natürlich nicht ahnt. Nach Milgram ist Ziel des Experiments, “herauszufinden, wie weit ein Mensch in einer konkreten, meßbaren Situation geht, in der ihm befohlen wird, einem protestierenden ›Opfer‹ zunehmende Qualen zuzufügen. An welchem Punkt wird sich die Versuchsperson 275 http://www.mediaculture-online.de weigern, dem Versuchsleiter weiter zu gehorchen? ( ... ) Bei 285 Volt kann die Reaktion nur noch als qualvolles Schreien bezeichnet werden. Trotz dieser Reaktion, trotz der immer verzweifelter werdenden Schreie des Schülers, trotz der Tatsache, daß er ab 330 Volt überhaupt nicht mehr reagierte – trotz dieser Gegebenheiten war ein beachtlicher Prozentsatz der Versuchspersonen bereit, bis zur höchsten Stufe, bis 450 Volt weiterzumachen. Zwar protestierten nahezu alle Kandidaten beim Versuchsleiter und litten oft sichtbar unter dem, was sie taten – aber viele beließen es bei diesen Einwänden und unterwarfen sich, als der Versuchsleiter auf einer Fortsetzung des Experiments bestand, seiner Autorität.” Volney, Daslow und die Heiniger-Kommission – zwei Männer und eine Institution, die in ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung jeweils auf sehr unterschiedliche Weise scheitern. Drei Beispiele, individuell zu ergänzen durch alltägliche Begebenheiten. “I ... wie Ikarus”, vielleicht der beste Film des Unterhaltungsroutiniers Verneuil, ist nicht nur ein spannender Politthriller, sondern ein erschreckender Spiegel, vor dem sich Gesellschaftsordnungen jeder politischen Couleur und jeder Staatsbürger in Frage stellen müssen. Horst Schäfer 92 Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß They Shoot Horses, Don't They? (USA 1969) Regie: Sidney Pollack. Buch: James Poe und Robert E. Thompson, nach einem Roman von Horace McCoy. Kamera: Philip Lathrop. Musik: John Green. Darsteller: Jane Fonda, Michael Sarrazin, Gig Young, Susannah York, Red Buttons, Bonnie Bedelia, Michael Conrad, Bruce Dern. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP. Den Tiefpunkt erreichte die Depression in den Vereinigten Staaten 1932. Skrupellose Unternehmer veranstalteten in billigen Tanzschuppen spektakuläre MarathonTanzturniere. Für ein paar warme Mahlzeiten am Tag, ein Dach über dem Kopf und die 276 http://www.mediaculture-online.de Aussicht 1500 Silberdollar zu gewinnen, waren die Menschen bereit, unvorstellbare Strapazen auf sich zu nehmen – ausbeuterische Teilnahmebedingungen auf der einen, ein sensationslüsternes Publikum auf der anderen Seite. Tausende wollten an den berühmt-berüchtigten Turnieren teilnehmen. Wie beim Militär wurden sie gemustert: Ein Arzt untersuchte die Menschen, das Management ihr Gepäck. Vor dem Hintergrund dieser Jahre spielt “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß”. Im Mittelpunkt steht die junge Filmkomparsin Gloria (Jane Fonda) die abgeklärt und desillusioniert ihre Chance wahrnimmt, um durch die Siegesprämie unabhängig zu werden. Gemeinsam mit dem Gelegenheitsarbeiter Robert (Michael Sarrazin) bildet sie ein Zufallspaar, das – wie andere auch – mit zäher Verbissenheit in die mörderischen Runden geht: 42 Tage lang Dauerstreß. Ihr Gegenspieler ist der ölige, sarkastische Entertainer Rocky (Gig Young), der mit allen Schikanen das Letzte aus den gequälten Menschen herausholt, das Publikum aufputscht und ihm gibt, was es sehen will: Freude und Vergnügen am Leiden und der Verzweiflung von Menschen, die der Not gehorchend ihre Würde aufs Spiel setzen und ihre Selbstachtung verlieren. Neben der Geschichte der Zufallsbekanntschaft von Gloria und Robert werden auch andere tragische Schicksale in die Handlung einbezogen; der selbstzerstörerische Durchhaltewillen einer Hochschwangeren beispielsweise und das tragische Ende eines “ewig jungen” Seemannes, der sich übernimmt und eine Herzattacke erleidet. Zu den dramatischen Höhepunkten des Films zählen die Sequenzen, in denen die sogenannten “Derbys” gezeigt werden. Hier kommt es in einer Art Wettrennen darauf an, nach einem Rundlauf von zehn Minuten nicht auf den letzten Plätzen zu sein. Gezeigt werden auch Szenen aus den stickigen Umkleide- und Ruheräumen, wo sich die hysterischen Anfälle häufen. Die Paare streiten sich, Neid und Eifersucht bestimmen das Zusammenleben. Solidarität untereinander gibt es nicht. Kurz vor dem Finale – die meisten der Teilnehmer sind bereits ausgeschieden – erfährt Gloria, daß sie auch im Falle eines Sieges wieder einmal zu den Verlierern zählen wird. Die in Aussicht gestellte Preissumme zehrt sich auf durch Spesen und Sachleistungen, die das Management für das Sieger-Paar verauslagt hat. Sie gibt auf, findet noch nicht einmal mehr die Kraft zum Selbstmord und bittet Robert, sie zu erschießen. Während er 277 http://www.mediaculture-online.de draußen vor dem Ball-Room von der Polizei verhaftet wird, geht drinnen der Wettbewerb in seine letzte Phase. Schonungslos realistisch, mit virtuosen Bildern und ohne Happy-End führt uns Sidney Pollack in “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß” nicht nur Bilder aus den dreißiger Jahren vor Augen. Sein Film zeigt das Modell einer allgemeingültigen und daher auch gegenwärtigen Situation und steht parteilich auf der Seite der Menschen, die in dem unerbittlichen Existenzkampf unserer Leistungsgesellschaft auf der Strecke bleiben; er fragt provozierend nach unserer Anteilnahme, unserer Solidarität. Darüber hinaus ist der Film auch eine Abrechnung mit den zynischen Machenschaften des lärmenden Showbusineß, das Elend kommerzialisiert und als Unterhaltung präsentiert. Sidney Pollack, geboren 1934, war Darsteller und Regisseur bei Theater und Fernsehen, bevor er mit dem Psychodrama “Stimme am Telefon” (1965; mit Anne Bancroft und Sidney Poitier) seine Filmkarriere startete. “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß” wurde sein erster großer Erfolg. Pollack gilt als Regisseur, der bevorzugt mit StarSchauspielern zusammenarbeitet (unter anderem mit Barbra Streisand, Paul Newman, Dustin Hoffman) und dabei nicht auf ein bestimmtes Genre festgelegt ist. Zu den bei uns bekanntesten Filmen zählen der Schnee-Western “Jeremiah Johnson” (1971), der Film über Hollywood in der McCarthy-Ära “Cherie Bitter” (1973), der Rodeo-Abgesang “Der elektrische Reiter” (1978), der FBI-Krimi “Die Sensationsreporterin” (1981) und die Showsatire “Tootsie” (1982). Bevorzugter Darsteller von Sidney Pollack ist Robert Redford; in einem Zeitraum von zwanzig Jahren drehte er mit ihm sechs Filme, darunter auch seinen bislang erfolgreichsten: das mit sieben Oscars ausgezeichnete Kinomelodram “Jenseits von Afrika” (1985), die Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte der dänischen Schriftstellerin Karen Blixen. Für Jane Fonda – in einem späteren Pollack-Film auch einmal Partnerin von Redford – bedeutete “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß” die erste wirkliche Herausforderung als Schauspielerin, nachdem sie in vergleichsweise belanglosen Filmen wie “Cat Ballou” (1965) und “Barbarella” (1968) wenig Chancen hatte, sich hervorzuspielen und ihr tatsächliches Können zu beweisen. Auf den “Marathon-Tanz”, der hohe körperliche Anforderungen stellte, bereitete sie sich außerdem durch ein sportliches 278 http://www.mediaculture-online.de Trainingsprogramm vor. Im Gegensatz zu ihren früheren Filmen handelte es sich nun auch um einen Film, der mit ihrem gesellschaftlichen und politischen Engagement übereinkam. Als Gloria war sie so überzeugend, daß sie für einen Oscar nominiert wurde. Paradoxerweise (oder verständlicherweise) waren es aber gerade ihre spektakulären Aktionen für das Women's Liberation Movement und gegen den Vietnam-Krieg, die einer solchen Ehrung entgegenstanden (Einen “Oscar” erhielt 1969 nur Gig Young als bester Nebendarsteller). Für ausgleichende Gerechtigkeit sorgte dann die New Yorker Filmkritik, die Jane Fonda für die “beste schauspielerische Leistung des Jahres” ehrte. Hans Gerhold 93 Verrückte Musikanten More Silly Symphonies (USA 1932-1938) Regie: Walt Disney, Burt Gillett, Wilfred Jackson, David Hand, Ben Sharpsten, Hugh Harman. Länge: 83 Minuten. Vertrieb: Euro Video. In der Kunst des Zeichentrickfilms haben die von Walt Disney (1901-1966) und seinen Mitarbeitern entwickelten Techniken und Themen Maßstäbe gesetzt. Bis heute sind ihre Produktionen in der Sorgfalt der Phasen-Zeichnung, der Bewegungsfolgen, der Detailgenauigkeit, der liebevollen Charakterisierung in Mienenspiel und Gestik, der phantastischen Erfindungen und visuellen Reichhaltigkeit, der Hintergrundeinbeziehung und der Verbindung von illustrativer Musik (abwertend “Mickey Mousing” genannt) und geschickter Stoffwahl selten übertroffen worden. Bevor der Vater der Mickey Mouse und Donald Ducks mit “Schneewittchen und die sieben Zwerge” 1937 den ersten abendfüllenden Trickfilm der Filmgeschichte schuf, hatte er seine Begabung für das Erzählen von Geschichten mit Kurzfilmen erprobt, die im Vorprogramm in den Kinos liefen und ihm mehrere “Oscars” eintrugen. Von 1929 (“Skeleton Dance”) bis 1938 realisierte er in der Serie “Silly Symphonies” 77 Kurzfilme, in denen Mickey & Co. nicht auftraten, aber die drei kleinen Schweinchen und der böse Wolf debütierten. 279 http://www.mediaculture-online.de Fast alle “Silly Symphonies” sind kleine Märchenmusicals, die ihre Themen aus Fabeln (Aesop), Legenden und Märchensammlungen bezogen; einige sind Originalstoffe. Darin wimmelt es von Tieren, Zwergen, phantasievollen Gestalten und jener belebten Flora und Fauna, die Disneys Werk als unerschöpfliches Reservoir an Formenreichtum ausweist, von animierten Stiefmütterchen über tanzende Bäume bis zu grinsenden Wolken. Speziell die Waldesflora, Bäume, Blumen und Pflanzen sind perfekte anthropomorphe, das heißt, vermenschlichte Wesen. Doch wirken sie mit ihren menschlichen Gesichtern, Mienen und Gesten durchaus natürlich und ergänzen die Handlung in pantomimischer Eleganz. Ein Großteil der auch heute noch überzeugenden und ungeheuren Wirkung der “Silly Symphonies” entsteht aus der genialen Kombination dieser Wesen, ihrer die Gesetze der Physik mühelos überwindenden Schwerelosigkeit und dem Farbenreichtum, in den sie buchstäblich getaucht sind und der diese kleinen Perlen der Animation als StudioExperimente auf dem Weg zum Langfilm kennzeichnet. Ebenso wichtig und sinn- wie formkonstituierend ist der Einsatz der Musik, von Liedern, populären Songs, klassischen Kompositionen, Märschen, Symphonien oder Blues- und Jazz-Rhythmen: Da kennt die Virtuosität keine Grenzen. Die vorliegende Kassette enthält zehn “Silly Symphonies”, die repräsentativ für die Serie und ihren wahrhaft umwerfenden Charme sind: Kleine Meisterwerke der hohen Schule der Animation, wie sie genannt wurden, sind sie im besten Sinne anrührend, ohne sentimental zu sein, naiv, ohne kitschig zu wirken, lehrreich, ohne pädagogisierend aufzutreten, vor allem aber witzig, humorvoll, mit einer Rasanz der Erzählung und einem Rausch an farbenprächtigen Bildern, die visuellen Genuß garantieren. Im einzelnen: “Babes in the Woods” (1932) ist eine “Hänsel und Gretel”Variation, die mit typisch amerikanischer Pragmatik den Sieg über die Hexe als Ergebnis praktizierter Solidarität von Kindern und Tieren präsentiert: Auf dem Rücken der Gänse reiten Gnomen und bewerfen die Hexe mit Kürbissen. “The Goddess of Spring” (1934) erklärt die Herkunft der Jahreszeiten: Der Herr der Unterwelt entführt die Frühlingsgöttin und läßt sie wegen ihrer Tränen wieder auf die Erde, mit dem Versprechen (als Arie gesungen), zeitweise wieder zu ihm zurückzukehren. Wie später in “Cinderella” (1950) tragen Vögel die Schleppe des Gewandes der Göttin. 280 http://www.mediaculture-online.de “Lullababy Land” (1933) erzählt didaktisch klug von Babyträumen, den Gefahren für Kinder (“Messer, Gabel, Schere, Licht”) und dem Sandmann. Ein Leckerbissen ist “Music Land” (1934): Wegen der verbotenen Liebe zwischen einer Violine und einem Saxophon, das – wie anders? – in einem Metronom eingekerkert wird, bekämpfen sich das Land der Symphonie und die Insel des Jazz. Der Krieg der Töne endet mit einer Brücke der Harmonie über dem Meer der Zwietracht. “Toby Tortoise Returns” (1936) ist ein witziger Boxkampf zwischen Toby Schildkröte und Max Hase (der Warners' Bugs Bunny vorwegnimmt). Am Ring sitzt Mae West. “Three Little Wolves” (1936) variiert “Der Wolf und die sieben Geißlein” und endet wie immer bei Disney mit der Niederlage des Wolfes. “Merbabies” (1938) schildert die verspielten Unternehmungen von Meerkindern, Seepferdchen und anderen Unterwasserbabies, läßt die Tintenfische wie Elefanten paradieren und nimmt die Pastorale-Sequenz aus “Fantasia” (1940) vorweg: der optisch schönste der Kurzfilme. In “Broken Toys” (1935) reparieren sich die auf den Müll geworfenen Spielzeuge aus eigener Kraft und wandern ins Waisenhaus. “The Golden Touch” (1953) bringt einen wahren König Goldfinger (alles, was er berührt, wird zu Gold) zur Verzweiflung, an den Rand des Verhungerns und zur Einsicht, auf den schnöden Mammon zu verzichten: Zum Schluß sitzt er mit einer Konservendose auf dem Kopf in einer Grube und verspeist einen Hamburger (“mit Zwiebeln”). Der letzte Film, wieder ein Höhepunkt für Cineasten, ist eine Folge animierter Kinderreime: “Mother Goose Goes Hollywood” (1938), mit der Gans als MGM-Löwe, versammelt Karikaturen von Hollywood-Stars: Katharine Hepburn, die Marx-Brothers, Fred Astaire, Clark Gable, Edward G. Robinson mit Greta Garbo auf der Schaukel, Laurel und Hardy, Joe E. Brown, Cab Calloway und – besonders geglückt – W. C. Fields als Lewis Carrolls Humpty Dumpty. Ausgerechnet der Kinderfeind Fields half in “Broken Toys” Spielzeuge reparieren: ein geistreicher Einfall. Die “Silly Symphonies” sind, da ihre Bilder für sich sprechen, äußerst sparsam untertitelt worden: eine kluge Entscheidung des Vertriebs. 281 http://www.mediaculture-online.de Günter Lebailly 94 Adel verpflichtet Kind Hearts and Coronets (Großbritannien 1949) Regie: Robert Hamer. Buch: Robert Hamer und John Dighton. Kamera: Douglas Slocombe. Musik: Ernest Irving. Darsteller: Alec Guinness, Dennis Price, Valerie Hobson, Joan Greenwood. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. Wer Freude an einer gut erzählten Geschichte, dazu noch Sinn für jene Art von schwarzem Humor hat, den wir als “typisch englisch” zu bezeichnen pflegen, für den ist dieser Film sicher ein großer Spaß. Es geht, mit dem Titel eines Essays von Thomas de Quincey gesagt, um “Mord als schöne Kunst betrachtet”. Die Geschichte beginnt am Ende. Der Henker kommt ins Gefängnis, wo die Hinrichtung des zehnten Herzogs von Chalfont stattfinden soll. Gefaßt schreibt dieser seine Memoiren, aus denen er für uns zitiert. Louis Mazzini ist der Sohn einer Tochter des siebenten Herzogs von Chalfont und eines italienischen Tenors. Infolge ihrer unstandesgemäßen Heirat wird seine Mutter aus der herzoglichen Familie ausgestoßen, er selbst nicht als rechtmäßiger Nachkomme anerkannt. Da sein Vater bereits bei Louis' Geburt stirbt, zieht seine Mutter ihn allein auf und läßt ihn nie vergessen, welcher Abstammung er ist. Als ihr nach dem Tod die adelige Verwandtschaft ein Grab in der Familiengruft verwehrt, reift in Louis der Plan, die Familie d'Ascoyne auszulöschen, um Herzog von Chalfont zu werden. Acht Anwärter stehen zwischen Louis und der Herzogswürde. Da wir bereits wissen, daß er an sein Ziel gekommen ist, sind wir natürlich neugierig darauf, wie er es geschafft hat und was der Grund für sein Scheitern war. Wir sehen sechs raffiniert eingefädelte Morde, bei denen der berechnende Louis sich die Schwächen und Marotten seiner Opfer zunutze machte, sehen die Untaten auf elegante Art ausgeführt und dargestellt. 282 http://www.mediaculture-online.de Das erste Opfer ist der arrogante junge Ascoyne d'Ascoyne. Louis folgt ihm zu einem Weekendausflug mit seiner Geliebten. Während das Pärchen auf dem Fluß von Liebe träumt, bindet Louis das Boot los, als das Wehr geöffnet wird. Ebenso interessiert wie er schauen wir dem Boot nach, wie es ruhig den Fluß hinabgleitet, sich über dem Wehr kurz aufrichtet und verschwindet. Das nächste Opfer ist der junge Henry d'Ascoyne. Sein Hobby ist das Fotografieren. Allerdings erfahren wir, daß dies nur Fassade gegenüber der schönen, aber sittenstrengen Gattin ist, um im Fotolabor einen Schluck trinken zu können. Louis präpariert die Lampe in der Dunkelkammer, und während er mit der schönen Edith d'Ascoyne im Garten Tee trinkt, hören wir einen dumpfen Knall und sehen über der Gartenmauer Rauch aufsteigen. Der liebenswürdige, senile Reverend Lord Henry d'Ascoyne liebt gegen den Rat seines Arztes immer noch zu sehr den Portwein. Louis nähert sich ihm in der Verkleidung eines Kolonialbischofs aus Matabele-Land, wird erwartungsgemäß eingeladen und vergiftet seinen Wein. Die pointierte Darstellungskunst von Alec Guinness macht daraus ein Kabinettstückchen von Kinotod. Lady Agatha d'Ascoyne ist eine kämpferische Suffragette. Ihr stellt Louis mit Pfeil und Bogen nach, als sie von einem Freiballon aus Flugblätter auf die Stadt streut. Wir sehen Louis von seinem Fenster aus einen Pfeil abschießen, hören, vom Orchester gespielt, eine fallende Tonleiter und einen dumpfen Aufschlag, und erfahren, daß Lady Agatha auf den Berkeley-Platz gefallen sei. Admiral Lord Horatio d'Ascoyne wird ein Opfer seines eigenen Starrsinns, als er nach einer von ihm verursachten Havarie mit seinem Schiff untergeht. An General Lord Rufus d'Ascoyne schickt Louis eine Dose Kaviar, in der eine kleine Bombe versteckt ist. Während er im Club mit seinen Kriegsabenteuern renommiert, wird ihm die Delikatesse gebracht. Den Atem anhaltend, sehen wir, wie er sein Messer der verhängnisvollen Dose nähert, dann verschwindet er hinter einer weißen Rauchwolke. Dem Herzog Ethelred d'Ascoyne wird seine Jagdleidenschaft zum Verhängnis. Er fängt sich in einer Falle, die er für Wilddiebe hat aufstellen lassen, und Louis erschießt ihn. Diesen Mord nehmen wir Louis übel. Nicht aus moralischen, sondern aus ästhetischen 283 http://www.mediaculture-online.de Gründen. Dieser Mordist zu brutal, zu direkt, gar nicht elegant. Zwar gestehen wir Louis zu, daß er in diesem Fall unter Zeitdruck arbeiten mußte, da der Herzog im Begriff war, sich wiederzuverheiraten, aber wir haben das unabweisbare Gefühl, daß die Sache nicht gut ausgehen wird. Der letzte Anwärter auf die Herzogswürde, der Bankier Lord Ascoyne d'Ascoyne, stirbt am Herzschlag, als er erfährt, daß er neunter Herzog von Chalfont geworden ist. Louis Mazzini ist am Ziel. Jedoch, unter die Gratulanten für den zehnten Herzog von Chalfont mischt sich ein Inspektor von Scotland Yard, der ihn wegen Mordes verhaftet. Die Ironie des Schicksals will es, das er eines Mordes angeklagt wird, den er nicht begangen hat. Hier ist eine Frau im Spiele, seine Jugendliebe Sibella, die den langweiligen, aber wohlhabenden Lionel Holland geheiratet hat – und Louis' Geliebte geblieben ist. Als Louis sich der Herzogswürde nähert und dazu noch die verwitwete Edith d'Ascoyne heiraten will, kommt Sibella der Selbstmord ihres inzwischen bankrotten Gatten sehr gelegen, um sich an dem treulosen Geliebten zu rächen. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem die Geschichte begonnen hat. Aber sie ist noch nicht ganz am Ende. Die Pointen werden um zwei Drehungen weitergetrieben, halten den Schluß ironisch in der Schwebe und lassen unserem bereits erheblich gestörten moralischen Empfinden, das sich an den eleganten Morden delektierte, die Aussicht, daß der Gerechtigkeit vielleicht doch noch Genüge getan werde, vielleicht ... Die Qualität des Films liegt ganz zweifellos in seinem hervorragend konstruierten Drehbuch. Doch was wäre der schöne Text ohne die Bilder. Beide pointieren sich gegenseitig. Die Bilder werden nicht zum Selbstzweck, sondern bereiten in ihrer sorgfältigen Balance zwischen Realismus und Karikatur den Boden für den Nonsens der Geschichte, der doch in sich ganz logisch und glaubhaft ist. Und was wäre der Film ohne die Darsteller. Dennis Price spielt den Louis Mazzini mit einer Mischung aus Nonchalance und Snobismus, mit jener Haltung des Gentlemans, der auch das Unwahrscheinliche und Peinliche mit Würde zu nehmen weiß. Die Damen sind schön und kontrastiert: Valerie Hobson als Edith würdevoll und damenhaft; verspielt und ein bißchen lasterhaft Joan Greenwood als Sibella. Die Krone aber gebührt Alec 284 http://www.mediaculture-online.de Guinness, der sämtliche acht Mitglieder der Familie d'Ascoyne spielt, als nuancierte Karikaturen eines Adelsgeschlechts, und mit dieser Leistung seinen Weltruhm begründete. Horst Schäfer 95 Die verlorene Ehre der Katharina Blum (BRD 1975) Regie: Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll. Kamera: Jost Vacano. Musik: Hans-Werner Henze. Darsteller: Angela Winkler, Mario Adorf, Dieter Laser, Jürgen Prochnow, Heinz Bennent, Hannelore Hoger. Länge: 106 Minuten. Vertrieb: atlas film + av. Die Hausangestellte Katharina Blum, geschieden, bewohnt im Uni-Center in Köln ein Appartement; sie führt ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben. Gelegentlich erhält sie “Herrenbesuche” von einem Geschäftspartner ihres Arbeitgebers, was ihr etwas Abwechslung und kleine materielle Zuwendungen einbringt. In den Karnevalstagen im Februar 1975 lernt sie den von der Polizei observierten Ludwig Götten kennen, ein des Terrorismus verdächtigter Bundeswehr-Deserteur, der zusätzlich Wachsoldat-Gelder entwendet hat. Die ahnungslose Katharina verliebt sich in ihn und nimmt ihn mit in ihre Wohnung. Als ein Spezialtrupp der Polizei am nächsten Morgen dort einbricht, ist Ludwig bereits verschwunden. Katharina wird als Komplizin verdächtigt. Ein Konsortium aus Sicherheitstruppen, Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, daß ihr Treffen nicht auf einer Zufalls-, sondern auf einer “Plankontaktschaft” beruht, und unterzieht Katharina entwürdigender Verhöre. Ermittelt wird dabei nur in eine Richtung. Als sehr hilfreich erweist sich dabei die Unterstützung von Tötges, einem Skandalreporter der “ZEITUNG”, der sich mit showträchtigem Gehabe in den Fall schmeißt und ihn zur Titelstory seines Boulevardblattes hochpuscht. Tötges arbeitet mit 285 http://www.mediaculture-online.de zynischen Methoden, mit Verdrehungen, Unterstellungen, Halbwahrheiten und Lügen. Er zerrt das Privatleben Katharinas und das ihrer Freunde an die Öffentlichkeit und tauscht Informationen und Spekulationen mit dem Polizeiapparat aus. Kritik an diesem Vorgehen wird einem “Anschlag auf die Pressefreiheit” gleichgesetzt. Einige aus Katharinas Umfeld setzen sich von ihr ab; zu ihnen zählt auch der “Herrenbesuch”, über den sich die Beschuldigte ausschweigt, was zu weiteren Verdächtigungen seitens der Ermittler führt. Als Arzt verkleidet dringt Tötges zu Katharinas todkranker Mutter vor, um neue (falsche) Schlagzeilen zu produzieren. Katharina ist anonymen Belästigungen und hinterhältigen Schmähungen ausgesetzt. Das wahrscheinlich durch das Verhalten des Reporters verursachte plötzliche Ableben ihrer Mutter führt sie an den Rand der Verzweiflung. Hilfesuchend nimmt sie telefonisch Kontakt zu Ludwig auf, dem sie den Schlüssel zum Landhaus ihres “Gönners” gegeben hatte. Da ihr Telefon überwacht wird, ist es für die Polizei ein leichtes, in einer Großaktion Ludwig zu umzingeln, ihn anzuschießen und festzunehmen. Katharina erlebt nur noch das Ende dieses Einsatzes mit. Sie bestellt Tötges zu einem Exklusivinterview in ihre Wohnung. Mit skrupelloser Selbstgefälligkeit und provozierendem Auftreten spielt dieser sein Tun herunter. Er will den Fall weiter in den Medien kochen – diesmal aus Katharinas Sicht. Sie antwortet darauf mit gezielten Schüssen aus einer Pistole – in dem Glauben, damit ihre verlorene Ehre wiedergewonnen zu haben. Während die Täterin in ihrer Zelle zur Ruhe kommt, erhält Tötges ein feierliches Begräbnis, auf dem mit pathetischen Worten noch einmal die Ideale der Pressefreiheit beschworen werden: Wer sie angreift, vergeht sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staates. Die geradlinig erzählte Handlung des Films, die in diesem Punkte von der labyrinthischen Struktur der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll abweicht, spielt zwischen dem 5. und 9. Februar 1975 in Köln und Umgebung. Die Kulisse bildet der Kölner Karneval, was dem Geschehen makabre Pointen verleiht. Das “närrische Treiben” verdichtet sich zu einer unwirtlichen, bedrohlichen Atmosphäre. Schlöndorff hat die Böllsche Vorlage zu einer realistischen Kinogeschichte mit starker emotionaler Wirkung verarbeitet. Beide attackieren die Machenschaften des Revolver- und Scheckbuch-Journalismus, die 286 http://www.mediaculture-online.de menschenverachtende und -vernichtende Schlagzeilen-Presse, ihre profitgierigen Methoden und ihre korrupte Haltung gegenüber den “tragenden Kräften unserer Gesellschaft”. Böll hat in seiner Arbeit eigene Erfahrungen mit Presse-Hetzkampagnen verarbeitet, und wegen dieses Films wurde auch Schlöndorff von einem Teil der Presse öffentlich als Sympathisant der Terroristen diskreditiert. Wohl kein anderer Film der deutschen Nachkriegszeit hat derartige Auseinandersetzungen ausgelöst. Aus heutiger Sicht gewinnt ein Aspekt des Films eine besonders aktuelle Bedeutung: Die Tatsache, daß die Organe der Staatsgewalt mit überzogenen und rüden Methoden immer wieder in das Leben unschuldiger Personen einbrechen und ein Chaos hinterlassen, das viel größer ist als der angerichtete Sachschaden. Nicht zuletzt sind es doch auch solche hysterischen Übergriffe, die die davon Betroffenen auf die Seite der Verfolgten treiben. Schlöndorffs Film arbeitet beklemmend heraus, daß Katharina in eine Situation gedrängt wird, in der ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als Ludwig zu verteidigen und mit ihm zu sympathisieren. “Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann”, lautet der Untertitel von Heinrich Bölls 1974 erschienener Erzählung. “Die verlorene Ehre der Katharina Blum” wurde auch ein filmkünstlerischer Erfolg. Der Film erhielt eine Reihe von Auszeichnungen: unter anderem das Prädikat “Besonders wertvoll” der Filmbewertungsstelle Wiesbaden; den Preis der spanischen Filmkritik (CEC) und den Preis des Internationalen Katholischen Filmbüros (OCIC, 1975). Angela Winkler wurde mit dem Bundesfilmpreis (Filmband in Gold) sowie mit dem Kritiker-Preis 1975 in der Sparte Film für die Darstellung der Titelfigur ausgezeichnet. Für seine Kameraführung in Schlöndorffs Film (und in “Lieb Vaterland, magst ruhig sein” von Roland Klick) erhielt Jost Vacano ebenfalls einen Bundesfilmpreis (Filmband in Gold). Schlöndorffs Böll-Verfilmung bildet auch den Abschluß einer filmgeschichtlich überaus reizvollen Begegnung zwischen dem “Jungen deutschen Film” und der “Neuen deutschen Literatur”; der Zusammenarbeit von Filmemachern wie Schaaf, Fleischmann, Peter Schamoni, Fassbinder, Wenders, Hauff, Vogeler und Fengler mit Autoren wie Herburger, Seuren, Sperr, Kroetz, Handke, Driest, Miehe und Brandner. Volker Schlöndorff ist seinem schon früh eingeschlagenen Weg bis heute treu geblieben. Er verfilmte Musil (1966), Kleist (1969), Brecht (1969), Yourcenar (1976), Grass (1979), Born (1981), Proust (1983), 287 http://www.mediaculture-online.de Miller (1985) und Gaines (1986). Die internationale Wertschätzung, die er dabei gefunden hat, zeigt, daß Literaturverfilmungen Kino sein können und nicht nur Arbeitsfelder für Germanistik-Studenten. Urs Jaeggi 96 James Bond 007 – Goldfinger Goldfinger (Großbritannien 1964/65) Regie: Guy Hamilton. Buch: Richard Malbaum, Paul Dehn, nach dem Roman von lan Fleming. Kamera: Ted Moore. Musik: John Barry, Leslie Bricuse, Anthony Newley. Darsteller: Sean Connery, Gert Fröbe, Honor Blackman, Tanla Mallet, Shirley Eaton. Länge: 109 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Max Anderson, alias Aronson, der erste Cowboy der Filmgeschichte schlechthin, lebte in den 376 Filmen, die er innerhalb von sieben Jahren abdrehte, treu einer Devise nach: “Man wechselt nicht das Thema, man wechselt das Pferd.” Was für den Western gut ist, mag für die James-Bond-Filme billig sein. Obschon es deren bisher erst 15 gibt, gilt Andersons Grundsatz in leicht veränderter Form auch für sie: “Man wechselt nicht das Thema, man wechselt die Regisseure und die Hauptdarsteller.” Filmgeschichte geworden ist das Genre um den berühmten britischen Agenten im Dienste ihrer Majestät allemal, obschon dies in den seriösen Handbüchern, Lexika und Enzyklopädien des Films überhaupt nicht oder wenn, dann nur marginal erwähnt wird. Weit über eine Milliarde Erdenbürger aller Kontinente haben bis heute die Abenteuer des Gentleman-Agenten mit der Lizenz zum Töten miterlebt und damit ihr bescheidenes Scherflein zum Riesenerfolg beigetragen. Worauf dieser Erfolg beruht, ist indessen gar nicht so einfach auszumachen. Ist es die Identifizierung mit dem smarten Helden, dem die schönsten Frauen reihenweise zu Füßen und die miesesten Tunichtgute dieses Erdballs haufenweise zum Opfer fallen? Ist es die geheime Hoffnung, daß letztlich ein Sauber- und Supermann doch noch verhindern kann, 288 http://www.mediaculture-online.de daß irgendein Bösewicht die Welt aus den Fugen geraten läßt? Ist es der lässige Mix von Jet-Set, Abenteuer und technischem Schabernack in mitunter geradezu bombastischer Inszenierung? Ist es schlicht die Lust am Märchen, das zu guter Letzt die Bösen im Ofen schmoren läßt und den Unverzagten mit der schönen Prinzessin belohnt? Märchen sind die James-Bond-Filme allemal. Ihre Moral ist die Scheidung des Guten vom Bösen. Gut sind der Bentley oder der Aston Martin, der Champagner Dom Perignon (Jahrgang 1946) und Miami Beach, das savoir vivre und die Suite im Hilton Hotel. Böse sind der Kommunismus und die Schlitzaugen, die anonymen Massen und die uniformierten Schergen, die Habgier und die Hinterlist der Feinde. Klare Verhältnisse, wären da nicht noch die Frauen, diese verführerischen Wesen. Sie machen alles ein wenig komplizierter, denn sie lassen sich von 007 nicht nur gerne vernaschen, sondern sind auch jederzeit dafür gut, ihm eine gefährliche Falle zu stellen. Und mit schöner Regelmäßigkeit tappt der sonst so Umsichtige in sie hinein. Daß er weiblichem Charme stets erliegt, ist Bonds Achillesferse. Das macht ihn, bitte schön, so ungemein menschlich ... “Goldfinger”, 1964 von Guy Hamilton gedreht, ist der dritte Film der Serie. Auch er ist ein Märchen durch und durch, aber auch schon gekennzeichnet von einer Art Wende. War es in den zwei ersten Filmen – “Dr. No” und “From Russia With Love” – noch vorwiegend der Geistesblitz und der geniale Einfall, die den Agenten immer wieder überleben ließen, so sind es in “Goldfinger” mehr und mehr die Erfindungen jenes ominösen “Q”, der in der Waffenschmiede des britischen Geheimdienstes tätig ist: Ein Aston Martin vor allem hat es in sich, der nicht nur mit einem Schleudersitz und einer kugelsicheren Rückwand ausgestattet ist, sondern auch Nebel und Öl versprühen kann und für den Notfall über zwei gut getarnte Maschinengewehre verfügt. “Goldfinger” signalisiert den Beginn jener gewaltigen Materialschlachten und pyrotechnischen Feuerwerke, welche die James-BondFilme fortan immer nachhaltiger prägen sollten. Harry Saltzmann und Albert R. Broccoli haben als überaus geschäftstüchtige Produzenten bald gemerkt, daß sich die Zuschauerzahlen kräftig steigern lassen, wenn die JamesBond-Filme das Prädikat “jugendfrei” erhalten. Alsbald verschwanden alle Anzüglichkeiten und Zweideutigkeiten aus den Filmen. In “Goldfinger” darf Sean Connery, der erste und 289 http://www.mediaculture-online.de bisher immer noch beste James Bond, zwischendurch mal verbal verfänglich werden, im Bild aber bestehen selbst die Bettszenen mit den hübschen Gespielinnen vor den kritischen Blicken auch der allerstrengsten Zensoren – auch dies ein Markenzeichen der 007-Filme. Weniger zimperlich als mit dem Sex nehmen es die James-Bond-Filme mit der Ideologie. Da ist stramme Haltung gefragt. In “Goldfinger” noch ein wenig mehr als in den übrigen. God save the Queen and bless America. Die Kommunisten indessen schicke er zum Teufel. Die kleine, aber schmutzige Atombombe, die der Bösewicht zur Erpressung der Welt braucht, haben selbstverständlich die “Rotchinesen” geliefert. Die Bond-Filme sind wie die 13 Romane von Ian Fleming, die ihnen als Idee zugrunde liegen, Produkte des Kalten Krieges. Die eindeutige ideologische Botschaft wird allerdings so raffiniert verpackt, daß sie sich nicht nur weltweit verbreiten, sondern auch gleich noch vermarkten läßt. In der Bond-Filmserie spiegelt sich das Wesen des Kapitalismus in seiner reinsten Form: Man verbreitet das massenwirksam aufgebaute Feindbild nicht nur in den eigenen Reihen, sondern verkauft es gleich auch noch dem Gegner. Kaum verhohlener Rassismus, ein simples Gut-und-Böse-Schema sowie die Zementierung ohnehin schon festgefügter Normen wie etwa das Rollenverhalten der Frau bilden die tragenden Säulen der erzkonservativen Botschaft, die allen Bond-Filmen eigen ist. Die Geschichte von “Goldfinger”? Wie gehabt: Man wechselt nicht das Thema. Man wechselt den Bösewicht. Diesmal heißt er Gert Fröbe und hat es auf die in Fort-Knox gelagerten Goldreserven der Vereinigten Staaten abgesehen. 007 legt dem hochgradigen Hypertoniker und Exzentriker natürlich das Handwerk. Wo kämen wir sonst hin? Horst Schäfer 290 http://www.mediaculture-online.de 97 Wie ich den Krieg gewann How I Won the War (Großbritannien 1967) Regie: Richard Lester. Buch: Charles Wood, nach einem Roman von Patrick Ryan. Kamera: David Watkin. Musik: Ken Thorne. Darsteller: Michael Crawford, John Lennon, Roy Kinnear, Les Montague, Jack MacGrowan, Michael Hordern, Karl Michael Vogler. Länge: 110 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Richard Lester hat mit “Wie ich den Krieg gewann” einen Anti-KriegsFilm gemacht; einen Film, der gegen den Krieg und gegen den Kriegsfilm ist. Seine Arbeit steht nicht in der Tradition der klassischen Vorgänger “Im Westen nichts Neues” (USA 1930; Regie: Lewis Milestone), “Die Brücke” (BRD 1959; Regie: Bernhard Wicki) oder “Nobi” (Japan 1959; Regie: Kon Ichikava); eher entspricht er – Mitte der sechziger Jahre gedreht – dem Lebensgefühl der heranwachsenden Beatles-Generation, wie es Lester zuvor schon in seinen Filmen “A Hard Day's Night” (1964) und “Help!” (1965) visualisiert hatte. Sucht man nach Vergleichen in der Filmgeschichte, so bietet sich die freche, satirische Form an, mit der die Marx-Brothers 1933 in “Duck Soup” den Militarismus veralberten. Zwischen diesen beiden Filmen liegen jedoch 35 Jahre und der Zweite Weltkrieg, was eine so unbekümmerte Vorgehensweise wie die der Marx-Brothers heute nicht mehr legitim erscheinen läßt. Lester hat sich nicht zuletzt angesichts des aufkommenden Engagements der Vereinigten Staaten in Vietnam ganz bewußt für die plakative Dekuvrierung einer Haltung entschieden, die den Krieg einem nationalen sportlichen Ereignis gleichsetzt, das nach den Regeln des Fairplay geführt wird. “Wie ich den Krieg gewann” ist in vieler Hinsicht antiautoritär und bricht mit Absicht die Regeln und Klischees jener Kriegsfilme, die den Krieg glorifizieren, alte Schlachten wiederbeleben oder zu neuen motivieren. Bei der Erprobung neuer, zeitgemäßer Ausdrucksformen hat Lester Gestaltungsmittel benutzt, die sich den griffigen Definitionen der Film-Genres entziehen; eindeutig festzustellen ist die Verwandtschaft mit dem “Theater des Absurden”; die provozierende 291 http://www.mediaculture-online.de Darstellung der untergründigen Irrationalität und der gestörten Realitätsbeziehung des modernen Menschen in den Formen der Groteske und der Farce. In Lesters Film erzählt der an der Rheinfront gefangengenommene junge englische Lieutenant Goodbody (Michael Crawford) einem deutschen Offizier (Karl Michael Vogler) von einem absurden Unternehmen, das in Rückblende gezeigt wird. Nach einer vom Kolonial-Gehabe des britischen Militärs geprägten Grundausbildung in England erhält sein Zug eine Gruppe jämmerlicher Zivilisten, unter ihnen Musketier Gripweed (John Lennon) – den Auftrag, in Nordafrika hinter den feindlichen Linien ein Cricketfeld zu errichten. Goodbodys Leute treffen bei diesem Unternehmen immer wieder auf deutsche Truppen; sie werden in Kämpfe verwickelt und müssen Verluste hinnehmen. Der sinnlose Einsatz kostet fast allen Männern das Leben. Mit den paar verbliebenen Soldaten kehrt Goodbody nach Europa zurück, wo sie gegen die Deutschen kämpfen müssen. Nur Goodbody überlebt. Er kommt in Gefangenschaft und kann eine letzte wahre Heldentat verbringen: Die Deutschen bereiten den Rückzug vor und wollen eine strategisch wichtige Brücke sprengen; mit einem ungedeckten Scheck kauft Goodbody dem deutschen Offizier die Brücke ab und sichert den nachrückenden Alliierten den einzig intakten Übergang über den Rhein. In “Wie ich den Krieg gewann” jongliert der Regisseur mit schwarzem Humor, Slapstick und Klamotte; erbaut aber nicht auf ihre vordergründige Wirkung, sondern setzt sie gegen die Erwartungen eines Massenpublikums ein. Zusätzliche Irritationen besorgen einmontierte Dokumentaraufnahmen und scheinbar realistische, im Stil von Wochenschausequenzen gedrehte Episoden. Der gut getimte rasche Wechsel von scharfer Satire – ähnlich der in den Monty PythonFilmen – zum “blutigen” Ernst – ähnlich der fingierten Dokumentation in Peter Watkins “Culloden” (1964) – schafft schockierende Gegensätze, die Lester viel Kritik eingebracht haben: schlechter Geschmack, platte Technik, Unfähigkeit. Aber Lester verzichtet bewußt auf logische Übergänge und Abfolgen, er mischt Zeit- und Handlungsebenen, baut Varieté-Einlagen und Bühnensketche ein. Mal ist der Film albern und clownesk, mal bissig und respektlos. 292 http://www.mediaculture-online.de “Wie ich den Krieg gewann” ist so grausam-komisch wie “Picknick im Felde” von Fernando Arrabal; wie bei Jean Tardieu üben die Schauspieler das Beiseitesprechen (sie reden untereinander oder wenden sich direkt dem Zuschauer zu) und wie in Jean Genets Algerien-Stück “Die Wände” sind die Toten nicht tot, sondern weiterhin am Geschehen beteiligt, wenn auch als “Außenstehende”, durch auffallende Farben gekennzeichnet und verfremdet. Von daher liegt es nahe, Lesters Film mit dem Theater zu vergleichen. In den fünfziger Jahren hatten sich Beckett, Ionesco & Co. die Bühnen der Welt erobert. Martin Esslin schrieb 1961 in seinem Buch “Das Theater des Absurden”: “Wenn es auch den Anschein hat, als würde das Theater durch die Massenmedien verdrängt, so übt es doch weiterhin einen sehr großen, ja wachsenden Einfluß aus – gerade, weil Film und Fernsehen sich derart ausgebreitet haben. Die Massenmedien sind in der Produktion zu umständlich und zu kostspielig, um viele Experimente und Neuerungen zu erlauben. Deshalb blieb das Theater, obwohl seine Mittel beschränkt sind und es nur einen kleinen Kreis erfaßt, der Ort, an dem Schauspieler und Autoren der Massenmedien geschult werden und ihre Erfahrungen sammeln.” Lesters Filme aus den sechziger Jahren sind der direkte, überzeugende Beweis für diese These. Richard Lester, am 19.1.1932 in den USA geboren, arbeitete für verschiedene Fernsehprogramme, ab 1955 auch in England. Er wurde bekannt durch Kurzfilmgrotesken und turbulente Filmkomödien. 1965 erhielt er für “The Knack”/“Der gewisse Kniff” – ein Porträt des Swinging London – in Cannes die Goldene Palme. In seinen späteren Filmen spezialisierte er sich auf Genre-Parodien und komödiantische Mantel- und Degen-Filme, mit denen er aber nicht mehr an die großen Erfolge in den sechziger Jahren anknüpfen konnte. Hans Gerhold 293 http://www.mediaculture-online.de 98 Frühstück bei Tiffany Breakfast at Tiffany's (USA 1961) Regie: Blake Edwards. Buch: George Axelrod, nach dem Buch von Truman Capote. Kamera: Franz F. Planer. Musik: Henry Mancini. Darsteller: Audrey Hepburn, George Peppard, Patricia Neal, Mickey Rooney, Buddy Ebsen. Länge: 114 Minuten. Vertrieb: CIC Video. Ausgeflippt war Hollywood schon, bevor das Wort Mode wurde. Einer der schönsten kinematografischen Beweise für diese zwischen ausgelassener Parodie, grenzenlos maniriertem Ambiente und surrealem Spaß pendelnde Ver-Rücktheit ist Blake Edward's Lippenstift-Pikareske “Frühstück bei Tiffany”, die gleich nach dem gleichnamigen Kurzroman (1958) von Truman Capote entstand. Wie später noch öfter war der Regisseur Blake Edwards seiner Zeit damit um Jahre voraus. Holly Golightly (Audrey Hepburn in der Rolle ihrer Karriere) ist ein Manhattan-Model, Playgirl, Darling und immer auf Männerjagd, Begleiterin schwerreicher graumelierter Herren. Zu den Künstlern in Greenwich Village, der Jeunesse dorée vom Hudson River und der Snobiety am Rande der Wall Street will Holly gehören, um jeden Preis, und deshalb nimmt sie jeden Morgen vor den noch geschlossenen Räumen des Juweliers Tiffany ihr Frühstück ein: Hörnchen und Milch. Tiffany ist das Ziel, die Endstation Sehnsucht einer höchst modernen Schwester von Joan Crawford; Tiffany ist das Symbol von Reichtum, Luxus, Macht und – Lebensstil. Doch kann diese Jagd manchmal so enden wie der Kater, den Holly in höchster Verwirrung ihrer widerstreitenden Gefühle in strömendem Regen aus dem Taxi wirft, um ihn flugs wieder zurückzuholen: Da steht er, das edle Fell zerzaust, zwischen Mülltonnen, wo er nun wirklich nicht hingehört, dieser zweite “drifter” auf den Wellen des Lebens, die Holly zwischen Parties, small talk und als unwissende Botengängerin für einige Gangster auf und ab wirbeln. Sie wird sich – im Gegensatz zum Roman, in dem sie in Afrika weiter nach den Millionen jagt – für den dritten “drifter” entscheiden, einen Schriftsteller (George Peppard), der seit 294 http://www.mediaculture-online.de Jahren nichts mehr geschrieben hat und seine Kreativität gegen das bequeme Leben als Gigolo einer älteren Frau eingetauscht hat. Diesen Happy-End-Zwang, dem auch Hitchcock und Welles in ihren Studioarbeiten nicht entgangen sind, mag man als Glättung eines Themas verstehen, aber damit wird eine Dimension für den Film eröffnet, an die man vor 27 Jahren noch gar nicht dachte: “Tiffany” ist nämlich auch eine Erlösungsgeschichte. Denn erlöst werden Holly und ihr erfolgloser Autor von der Sucht und dem Zwang, ständig Masken tragen zu müssen, mit geborgten Identitäten zu leben. Sie finden, während der Sturzbach des New Yorker Regens sie von Puder, Make-Up, Tränen und kaschierten Gefühlen freispült, zu sich, zum Ich und damit zum Du. Damit nimmt Edwards heitermelancholisch jene Studien urbaner Einsamkeit vorweg, die Woody Allen in seiner mittleren Periode (von “Manhattan” bis “Hannah und ihre Schwestern”) so meisterhaft inszeniert. Edwards charakterisiert den hektischen Leerlauf dieses Lebens als das blinde Rennen, Retten, Flüchten einer Gesellschaft, die die ewige Party feiert, den Hedonismus als Sinn praktiziert und Kultur konsumiert. Konsequent realisiert er eine verrückte Partyszene (die nicht im Buch vorkommt), die als Miteinander aneinandervorbeiredender, -stehender und -laufender Sommergäste bei ihrer eitlen Selbstbespiegelung angelegt ist. Holly stolziert durch dieses planmäßige Chaos (das Edwards 1967 in “The Party” auf Spielfilmlänge dehnte) mit einer 40 cm langen Zigarettenspitze und löst eine brillante Serie von präzise getimten, sich selbst wieder aufhebenden Katastrophen aus: Sie brennt eine Perücke an, die ebenso unwissentlich wieder gelöscht wird. Diese Party versammelte zum ersten Mal eine Galerie von Personen, deren sexuelle Identität unsicher bis zweifelhaft ist, und setzte damit filmhistorisch ein Signal für den kommenden liberalen Umgang mit der Sexualmoral in Hollywoodfilmen. Regisseur Blake Edwards, Jahrgang 1922, ist in der Genealogie der Komödienregisseure der legitime Nachfolger von Lubitsch, Wilder oder Frank Tashlin und hat in seinen rund 40 Spielfilmen alle Arten von Komik ausprobiert – vom anarchischen Slapstick, der flotten Burleske und der treffsicheren Parodie bis hin zur beißenden Satire und ironischen Farce –, zumeist mit Erfolg. Zu seinen Meisterwerken gehören “Der Partyschreck” (1967), “Darling Lili” (1969) und zuletzt “Victor/Victoria” (1982). 295 http://www.mediaculture-online.de Edwards dreht stets in Cinemascope. Mit seiner außergewöhnlichen Kameraarbeit erzielt er Raumeffekte von erstaunlicher Souveränität und Tiefe, selbst in Studiokulissen und Interieurs, oft mit surrealen Effekten. Seit 1960 arbeitet er kontinuierlich mit dem Komponisten Henry Mancini, der für “Tiffany” zwei Oscars erhielt: für die Musik und den Song “Moon River”. Walter Schobert 99 Buster und die Polizei Cops (USA 1922) Regie: Buster Keaton und Eddie Cline. Kamera: Elgin Lessley. Ausstattung: Fred Gabourie. Darsteller: Keaton, Virgina Fox, Joe Roberts. Länge: 18 Min. Vertrieb: Inter Pathé. Er war der Mann mit dem steinernen Gesicht. The great stone-face war das Markenzeichen der Figur Buster, die der Komiker gleichen Namens für sich geschaffen hatte. Mit ihm ließ sich die Eigenständigkeit Busters gegenüber den Konkurrenten Lloyd, Langdon und vor allem dem Charlie Chaplin auf einen klaren Begriff bringen – und das war wichtig für das harte Geschäft der Filmkomik in Hollywood. Es ist viel geschrieben und gerätselt worden über dieses Gesicht. Es gab biographische Erklärungen, die auf Keatons frühere Theaterpraxis hinweisen und auf die Anforderungen, denen der Vater schon den Dreijährigen auf der Bühne aussetzte; da gab es wahrlich wenig zu lachen für ein Kind. Auch die Rolle des Herumgestoßenen in den rohen Vaudeville-sketchen wurde angeführt. Es gab auch quasi-philosophische Begründungen: Buster, der auch Rollo oder Jimmy heißen kann, ist in seinen Filmen immer mit Aufgaben konfrontiert, die die ganze Anstrengung des Seins symbolisieren; wie anders ließen sie sich bewältigen als durch äußere Ernsthaftigkeit? 296 http://www.mediaculture-online.de Man darf freilich nicht übersehen, daß dieses Gesicht mit dem weißen Oval und dem scharfen Strich des Nasenrückens, das ein wenig an eine archaische Maske erinnert, seltsam schön ist, zwar starr, aber niemals stumm; zumindest die Lippen bewegen sich, und die Augen sprechen eine sehr beredte Sprache. Es könnte auch sein, daß das Gesicht sich der sorgfältigen Arbeit des auf größte Wirksamkeit seiner Figur bedachten Komikers und Künstlers verdankt. Ein größerer Gegensatz läßt sich nicht denken: Dieser Körper ist reine Bewegung. Das Gesicht bleibt unbewegt. “Cops”, einer der kurzen Zweiakter aus den Anfängen seiner Karriere, ist dafür eines der schönsten und amüsantesten Beispiele. Wie oft bei Buster beginnt alles damit, daß er einer jungen Dame nicht gut genug ist, noch nicht. Er muß sich, wie im Märchen, erst Prüfungen unterziehen, ehe er hoffen darf. Schneller als erwartet, kommt er zu dem Vermögen, das die Angebetete verlangt: Er findet eine prall gefüllte Geldbörse. Die wird er zwar schnell wieder los, aber das Geld behält er. Wie Hans im Glück tauscht er es bei einem Gauner gegen ein Fuhrwerk mit betagtem Gaul, worauf er für einen lange erwarteten Spediteur gehalten wird. Die Länge der Nacherzählung dieser Exposition steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Kürze im Film, wo sie nur wenige Minuten dauert. Der Rest des Filmes läßt sich in einem Satz beschreiben, aber er macht Zweidrittel seiner Länge aus: Mit dem beladenen Karren platzt Buster in die jährliche Polizeiparade und sprengt sie, dank einer eingefangenen Anarchistenbombe, im Wortsinn, worauf die Cops ihn jagen. Diese Jagd und ihre Inszenierung sind das Ziel des Films: pure Bewegung, pures Kino. “Cops”: das ist eine der Sternstunden des Akrobaten Keaton, der ein durchtrainierter Athlet war und nie einen stuntman brauchte. Keiner konnte laufen wie er – in “Cops” kann man es sehen, wenn er einer immer größeren Zahl von Polizisten durch seine Behendigkeit durch die Lappen geht. Auch seine Stürze waren ein Markenzeichen. In “Cops” ist leider kein besonders spektakulärer Sturz zu beobachten. Dafür kann man aber sehen, wirklich sehen, daß die ganze Akrobatik, so lustig sie ist, erst zur Wirkung kommt durch den Regisseur Keaton. Mag im immerwährenden Duell zwischen ihm und Chaplin jeder selbst entscheiden: als Regisseur ist Keaton der Bessere. Kein Komiker kannte die Mittel des Films besser als er. Er war ein Meister in der Beherrschung des Raums und der 297 http://www.mediaculture-online.de Zeit. Präzise, mathematisch genau sind die Gags aufgebaut und mit einem untrüglichen Gefühl für timing. Sie entwickeln sich so klar wie eine Dreisatzrechnung. Und die Raumbeherrschung: das Spiel mit der Kamera, der Perspektive, der Einstellung! Schon die erste in “Cops” beweist es: Buster ist hinter Gittern und erst der Schnitt offenbart, daß es kein Gefängnis ist, sondern ein Parktor, an dem er mit seiner Braut plaudert. Kein Zufall, daß er die Totale liebt, zeigt sie doch die ganze Welt, die ihn herausfordert und der er sich stellt. In “Cops” sind die Läufe ins Bild gesetzt, wie Linien in einer geometrischen Figur, die geformt wird von Häusern, Straßen, den Polizeimassen und ihm. Keatons Komik ist eine der Symmetrie, mit der er genußvoll und kunstvoll balanciert; wie auf der erst zur Wippe, dann zu einer Schleuder werdenden Leiter über dem Bauzaun. Details über Details, schon bei diesem kurzen Film, über die man ins Schwärmen geraten könnte, die man nacherzählen möchte. Keaton, der Perfektionist, hat immer alle Kleinigkeiten kontrolliert; er war ein besessener Handwerker. Manchmal hat er sogar, wie im “General” (aus diesem Film stammt die Abbildung auf Seite 304), historische Fotos durch seine Filmbilder rekonstruiert. Selbst die Zwischentitel verraten die Sorgfalt, die er sich und seinem ständigen Team abverlangt hat. Sie sind oft ein Element eigenständiger Komik, wenn etwa der Bürgermeister, als die Bombe die Parade durcheinanderbringt, ausruft: “We need some cops to protect our policemen!” 298 http://www.mediaculture-online.de Natürlich ist “Cops” nur eine Etüde, auf seine Art ein Meisterwerk, aber keines, bei weitem nicht, der Hauptwerke Keatons. Die kamen erst in den Jahren darauf: “Our Hospitality”, “The Navigator”, “The General”. Andere stehen diesen kaum nach. Es war eine glänzende Serie, die erst Ende der zwanziger Jahre ihr trauriges Ende fand (nicht durch die Einführung des Tonfilms, wie oft behauptet wird, sondern eher durch persönliche Gründe.) “Cops” zeigt schon, welches Zeug Keaton und sein Buster hatten. Vieles weist auf die spätere Meisterschaft voraus. Aber in dem Kurzfilm fehlt, natürlich, jede tiefere Dimension der Figur, die Keaton ihr erst in den längeren Filmen geben konnte. Es fehlt zum Beispiel die Umkehrung Scheitern/Bewältigen; es fehlt zum Beispiel das Spiel mit den Analogien, das erklärt, warum er ein Liebling der Surrealisten war; es fehlt natürlich alles, was die schon angesprochenen philosophischen Diskurse provozieren könnte über Buster, der auszieht, trotz schlechter Voraussetzung, den Alltag, das Leben zu meistern, die Welt zu verarbeiten. Es fehlt auch der geniale Ingenieur Keaton, der seinen Buster hinreißende Maschinen bauen läßt. Aber, und hier sind wir wieder beim Grundproblem unserer Serie: auf Video gibt es eben nicht die Hauptwerke, sondern nur “Cops” (und “Balloonatics”). Das ist weiß Gott besser als nichts; denn ein Keaton soll und muß in dieser Reihe vertreten sein. Meinolf Zurhorst 100 Doktor Schiwago Dr. Zhivago (USA 1965) Regie: David Lean. Buch: Robert Bolt, nach dem gleichnamigen Roman von Boris Pasternak. Kamera: Fred A. Young. Musik: Maurice Jarre. Darsteller: Ornar Sharif, Geraldine Chaplin, Julie Christie, Tom Courtenay, Rod Steiger, Alec Guinness, Ralph Richardson. Länge: 184 Minuten. Vertrieb: IMV. 299 http://www.mediaculture-online.de Millionen in aller Welt waren zu Tränen gerührt. Von einem mehr als dreistündigen Mammutepos mit überbordenden Gefühlen förmlich in die Kinosessel gedrückt, von der Tragik der Leinwandschicksale überwältigt und dem Charme der (damals unbekannten Hauptdarsteller) begeistert. David Leans monumentales Epos “Dr. Schiwago” war einer der großen Kinoerfolge in den sechziger Jahren, zu deren Beginn der Autor der Romanvorlage gestorben war. Boris Pasternak, 1890 in Moskau geboren, erlebte – nach Studienaufenthalten in Paris, Marburg und Italien – die Oktoberrevolution und etablierte sich in seiner Heimat als Dichter. Doch schon 1933 geriet er in politisches Ungemach. Statt eigenen literarischen Arbeiten übersetzte er Shakespeare, Goethe und Schiller. Erst 1954 wurde sein berühmter Roman in der Sowjetunion angekündigt. Zugleich aber schickte Pasternak sein Werk in den Westen, wo es 1957 vom italienischen Verleger Feltrinelli veröffentlicht wurde. Der in viele Sprachen übersetzte Roman gilt inzwischen als eines der großen literarischen Werke dieses Jahrhunderts; er war nicht nur künstlerisch erfolgreich, sondern wurde auch viel gelesen. 1958 wurde Pasternak der Nobelpreis verliehen, doch er mußte die Auszeichnung ablehnen, denn man hätte ihn nach der Ehrung nicht wieder in seine Heimat einreisen lassen. Dreißig Jahre lang blieb dieses Hauptwerk der russischen Literatur in der Sowjetunion unveröffentlicht. Pasternak selbst zeigte sich dem politischen Druck in seiner Heimat nicht gewachsen und schrieb einen Widerruf. Sein Roman aber blieb weiter unpubliziert. Erst dreißig Jahre nach seinem Erscheinen wurden, dank des vielzitierten “Glasnost”, erste Passagen des Werkes gedruckt, Pasternak posthum in den sowjetischen Schriftstellerverband wieder aufgenommen. Das bringt auch den gleichnamigen Film wieder in Erinnerung, mittlerweile ein Klassiker des romantischen Epos, dessen Meister der Brite David Lean ist. Der Revolutions-General Jewgraf Schiwago (Alec Guinness) findet nach jahrelanger Suche ein Mädchen (Rita Tushingham), das er für die Tochter seines verstorbenen Halbbruders Jurij hält. Er erzählt dem nichtsahnenden Mädchen die traurige Geschichte seiner Eltern. 300 http://www.mediaculture-online.de Der als Waise bei reichen Verwandten aufgewachsene Jurij (Omar Sharif) studiert Medizin und schreibt Gedichte. Wie selbstverständlich heiratet er Tonja (Geraldine Chaplin), die Tochter seiner Pflegeeltern. Ihre Verbindung ist glücklich, auch die ersten Zeichen der Revolution können ihr Verhältnis nicht beeinträchtigen. Durch Zufall aber lernt Jurij die junge Lara (Julie Christie) kennen, die einen Selbstmordversuch unternommen hat, um ihrer Hörigkeit gegenüber dem opportunistischen Politiker und Geschäftemacher Komarovskij (Rod Steiger) zu entkommen. Immer wieder führt das Schicksal Jurij und Lara zusammen. 1914, im ersten Weltkrieg, während Jurij als Frontarzt arbeitet, ist Lara, inzwischen mit dem jungen Revolutionär Pascha (Tom Courtenay) verheiratet, seine Helferin und engste Vertraute. Ihre Bindung wächst und vertieft sich. Nach der Oktoberrevolution, vor deren Wirren Schiwago und seine Familie aufs Land fliehen, wird aus ihrer Bindung Liebe. Denn der Zufall will es, daß Lara mit ihrer Tochter in der Nähe von Schiwagos selbstgewähltem Exil lebt. Wieder werden sie voneinander getrennt, Partisanen verschleppen Schiwago und zwingen ihn, ihr Arzt zu sein, doch nach einigen Jahren findet Jurij Lara wieder. Sie verbringen einen gemeinsamen glücklichen Winter in der ländlichen Abgeschiedenheit. Jurij beginnt wieder zu dichten, doch ihr Glück währt nur kurz. Komarovskij taucht wieder auf und bietet seine Hilfe an. Er will Lara außer Landes bringen, denn als Frau eines in Ungnade gefallenen Revolutionärs ist sie selbst in Gefahr. Lara weigert sich, Jurij zu verlassen. Mit einem Trick gelingt es Schiwago, Lara dazu zu bringen, in Komarovskijs Schlitten zu steigen. Beide werden sich nie wieder sehen. Zurück in Moskau stirbt Jurij durch einen Herzanfall, als er versucht, eine Frau zu erreichen, die Lara sein könnte. Dem Mädchen, dem Jewgraf Schiwago diese herzergreifende Geschichte erzählt, bedeutet das alles sehr wenig. Sie kann sich an nichts mehr erinnern, sie lebt ihr eigenes Leben. Und das weist nur in die Zukunft. Zusammen mit dem Drehbuchautor und Dramatiker Robert Bolt gelang es David Lean, die gewaltige Stoffülle des Romans, der von einem mehr als dreißigjährigen Zeitraum handelt, in einem bewegenden und in seinen Massenszenen beeindruckenden Film zu komprimieren. Wie nur wenige Filmemacher versteht es Lean dabei, zuletzt in “Die Reise nach Indien”, einen historischen Hintergrund mit emotionaler Tiefe zu verbinden. Lean ist gewiß ein konventioneller Regisseur, doch ihm gelingen Szenen, die Filmgeschichte 301 http://www.mediaculture-online.de machten. Die Abschiede zwischen Jurij und Lara gehören zum klassischen Arsenal des romantischen Kinos. Wo viele in den Kitsch abgeglitten wären, behauptete Lean mit Stilwillen und inszenatorischer Raffinesse eine künstlerische Eigenständigkeit, die die literarische Größe der Vorlage respektierte. Sechs “Oscars” waren nur ein oberflächlicher Lohn für diese Bemühungen. Der anhaltende Publikumszuspruch, die emotionale Wirkung, die der Film noch immer erzeugt, deuten auf die Zeitlosigkeit des Werkes hin. Wolfgang Schwarzer 101 Die Regenschirme von Cherbourg Les parapluies de Cherbourg (Frankreich/BRD 1963) Buch und Regie: Jacques Demy, Kamera: Jean Rabier. Musik: Michel Legrand. Darsteller: Catherine Deneuve, Nino Castelnuovo, Anne Vernon, Ellen Ferner, Marc Michel, Mireille Perrey. Länge: 90 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Ein Außenseiter, der Unzeitgemäßes hervorbringt – dieses Etikett trifft wohl für Jacques Demy zu. Und es klingt wie Abwertung, wie Vorverurteilung. Das große Publikum hat seine Filme in der Regel gemieden. So mancher Kritiker fühlte sich zu einer Ehrenrettung bemüßigt. Andere sehen in ihm den größten französischen Filmemacher. Mit elf Spielfilmen für das Kino seit 1960 ist sein Werk schmal. Schmal wie der Rücken eines Bändchens Poesie, das zwischen Folianten auf dem Bücherregal darbt, und dessen Gehalt dem ihren allemal die Waage hält. Die beiden Kurzfilme, mit denen er 1956 und 1957 debütiert, nehmen Grundzüge seines Werkes vorweg. “Le sabotier du Val de Loire” dokumentiert bis zur kleinsten Geste getreu das aussterbende Metier des Holzschuhmachers. Die exakte Beobachtung eines Handwerks wird durch Demys Blick unvermittelt auch zum poetischen Essay über das Ausklingen einer Epoche, zu deren letzten lebendigen Zeugen diese abgeschiedene Werkstatt gehört, und damit auch über das Verrinnen der Zeit. “Le bel indifférent”, nach 302 http://www.mediaculture-online.de Cocteaus Einakter, experimentiert unkonventionell mit dem Zusammenspiel von Farbe, Dekors und Kameraeinstellungen. Das Produktionssystem der “Nouvelle Vague” eröffnet Demy die Möglichkeit, seinen ersten Spielfilm, “Lola” (1960), zu drehen, der auch Beginn einer für den Regisseur richtungsweisenden Zusammenarbeit mit dem Komponisten Michel Legrand ist. Wenn Roland Cassard drei Jahre später in den “Regenschirmen” von seiner enttäuschten Liebe zu einer Frau erzählt, so spielt er auf die Handlung dieses Films an. Mit den “Regenschirmen” entwickelt Demy seinen unverwechselbaren Stil, der ihm weltweite Anerkennung bei Kritik und Publikum und einen Platz in der Filmgeschichte sicherte. Ein unwiederholbarer Jubel indes. Der Film sollte als Erfolg vom Regisseur unübertroffen bleiben. Schule machte er nicht und fand keine Nachahmer, da die Konfrontation der ausschließlich gesungenen Dialoge mit dem realistischen Stil der Darstellung in dieser Form als sehr individuelle Ausdrucksform Demys angesehen werden muß. Sadoul sprach hilflos von “poetischem Neorealismus”. Die Geschichte präsentiert sich als lakonisches Melodram. Der 20jährige Automechaniker Guy liebt die 17jährige Geneviève, deren Mutter in Cherbourg ein Regenschirmgeschäft besitzt. Guy wird im November 1957 zum Wehrdienst nach Algerien einberufen. Geneviève, die ein Kind von ihm erwartet, leidet sehr unter der Trennung. Als lange Zeit keine Nachricht von Guy eintrifft, gibt sie dem Werben des Diamantenhändlers Roland Cassard nach, der sie heiratet und das Kind adoptiert. Guy trifft diese Nachricht tief, als er im März 1959, körperlich und seelisch angegriffen, aus Algerien heimkehrt. Nach einer Zeit der Verzweiflung eröffnet er im Juni desselben Jahres mit der Erbschaft seiner verstorbenen Tante eine Tankstelle und heiratet Madeleine, die ihm und der Tante seit langem still und zurückhaltend nahegestanden hatte. Am Weihnachtsabend des Jahres 1963 hält ein Mercedes vor der Tankstelle. Die Fahrerin ist Geneviève, nicht mehr das junge Mädchen, sondern eine sichtbar wohlhabende Frau. 303 http://www.mediaculture-online.de Guy und seine einstige große Liebe haben sich nichts mehr zu sagen. Sie trennen sich wie flüchtige Bekannte. Die Schritt für Schritt exakt datierte Entwicklung der Geschichte umfaßt sechs Jahre, in deren Verlauf sich das Leben aller Hauptpersonen schicksalhaft verändert – und nach denen auch Frankreich nicht mehr derselbe Staat ist wie zuvor. Demy gehört zu den raren Ausnahmen, die die Aktualität des Algerienkrieges thematisieren, welche sonst nur in der manipulierten Hofberichterstattung der staatlich gelenkten Medien angesprochen oder von der Zensur unter den Tisch gekehrt wird. Offiziell existiert dieser Krieg nicht, aber dennoch prägt er in undramatischen Entwicklungen von banaler Alltäglichkeit die Menschen. Diese Veränderungen sind es, denen Demy nachspürt. Genevièves Schicksal ist durch Guys Abwesenheit, durch das ihm aufgezwungene Schweigen geprägt. Guy verleiht jener verlorenen Generation ein Gesicht, die durch das Grauen verändert wurde, das man vor den Daheimgebliebenen verleugnete. Als er, gezeichnet von der Katastrophe, heimkehrt, findet er eine veränderte Welt vor. Die verrinnende Zeit, die Wandlung der Stadt Cherbourg und die Entfremdung der Menschen sind Demys zentrale Themen, deren Bitterkeit er in einer Atmosphäre melancholischer Poesie vermittelt. Die in Alltagssprache gehaltenen Dialoge werden ausnahmslos als Rezitative zu Legrands expressiver Musik gesungen. Ein Stilmittel, das als effektvoller Kontrapunkt zu den realistischen, bestechend komponierten Dekors und Farben Bernard Eveins erscheint. Jean Rabiers Bilder verleihen den Ebenen der Inszenierung, welche auf ein Gesamtkunstwerk zielt, bruchlosen Zusammenhalt. Die Schauspieler nehmen in bewundernswerter Disziplin und Natürlichkeit ihren Platz in dem fragilen Gebilde ein. Die junge Catherine Deneuve legte mit der Interpretation der Geneviève den Grundstein für ihren Weltruhm. Jacques Demy erhielt für “Die Regenschirme von Cherbourg” den prix Louis Delluc und die Goldene Palme beim Festival von Cannes 1964. 304 http://www.mediaculture-online.de Walter Schobert 102 Der Kontrakt des Zeichners The Draughtsman's Contract (Großbritannien 1982) Buch und Regie: Peter Greenaway. Kamera: Curtis Clark. Musik: Michael Nyman. Darsteller: Anthony Higgins, Janet Suzman, Anne Louise Lambert, Hugh Frazer, Neil Cunningham. Länge: 108 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Dies ist der seltene Fall eines Films, der exzellente Unterhaltung mit intellektuellen Ambitionen und formalen Experimenten verbindet: eine Versöhnung von Erzählkino und Avantgardefilm. Zu ihm, seiner (britischen) Variante des “structuralism”, rechnete Greenaway, der seinen Unterhalt als Filmcutter verdiente und sich auch als Maler, Romancier und Buchillustrator betätigte, fünfzehn Jahre lang, ehe er vom Britischen FilmInstitut nach intrigenreichen Auseinandersetzungen die Mittel für “Der Kontrakt des Zeichners” bekam. Die zugesagten 180 000 Pfund reichten zwar nicht aus und mußten am Ende auf 300 000 erhöht werden: für einen Spielfilm jedoch immer noch ein lächerlich geringer Betrag, der die Bewunderung für Greenaway und die visuelle Opulenz seines Films noch erhöht. 305 http://www.mediaculture-online.de Die Diskrepanz zwischen den ärmlichen Produktionsmitteln und dem Reichtum des Films erinnert an Werner Nekes' “Uliisses”, Greenaways bundesdeutschen Bruder im Geist, der methodisch ähnlich arbeitet und seine Geschichten entstehen läßt aus einer kaum je ganz entschlüsselbaren Fülle von literarischen, kunsthistorischen und kinematographischen Anspielungen, Verweisen, Assoziationen, mit einer aufund anregenden Selbstverständlichkeit, Eleganz und Sinnlichkeit, die den Film als außerordentlichen Genuß erleben, als im modernen Kino beispiellos erscheinen läßt und an literarische Abenteuer erinnert, wie sie ein Arno Schmidt, ein Joyce ihren Lesern schenken oder deren geistige Väter Jean Paul und Laurence Sterne und dessen “Tristram Shandy”. Der drängt sich überhaupt ständig auf, schon wegen des souveränen Witzes und des doppelbödigen Humors, aber auch wegen der Zeit, in der Greenaway seinen Film angesiedelt hat: Ende des 17. Jahrhunderts, genauer 1694. Das war die Zeit, als in England die landbesitzenden kleinen Adligen den Stolz auf ihre Nation und ihren Protestantismus durch wohlgepflegte Landsitze ausdrückten, sich prächtige Häuser bauten und eindrucksvolle Gärten anlegten. Sie liebten es auch, die Künste zu fördern was den angenehmen Nebeneffekt hatte, daß die bescheiden honorierten Maler mit ihren Porträts von Familienangehörigen und mit ihren Landschaftsbildern den Besitz und den Wohlstand ihrer Auftraggeber für die Nachwelt dokumentierten. Solch ein Adliger ist Mr. Herbert, auf dessen Gut in Compton Anstey in Wiltshire sich der ehrgeizige Zeichner Mr. Neville aufhält. Als Mr. Herbert nach Southampton abreist, um sich dort zu vergnügen, läßt sich Neville entgegen seiner ursprünglichen Weigerung von 306 http://www.mediaculture-online.de der Dame des Hauses überreden, zwölf Ansichten des Hauses und des Gartens anzufertigen; zu seinem Honorar gehört, daß Mrs. Herbert “ihm zu festgesetzten Zeiten zur Verfügung” stehen muß. Neville geht an die Arbeit, teilt den Tag in Abschnitte, in denen er jeweils an einem Motiv arbeitet, verlangt, daß in diesen Zeiten alles menschenleer zu sein und immer gleich auszusehen habe: er fühlt sich ganz als der allmächtige Künstler, der seinen Anspruch, die Wahrheit zu zeichnen, realisiert und allen seinen Willen aufzwingt. Eine Leiter hat immer am gleichen Fleck zu stehen, die Wäsche immer gleich angeordnet zu sein, und als der Schwiegersohn vor sein als Zeichenhilfe benutztes Perspektiv gerät, fordert er, daß er täglich wiederzukommen habe – im gleichen Rock. Greenaway erzählt in kräftigen, leuchtenden Bildern, den schönsten, den man seit Kubricks “Barry Lyndon” gesehen hat: Bilder einer herrlichen Landschaft, Bilder, die dunkel im Kerzenlicht schimmern. Er schwelgt in Schönheit, die durch die an Purcell sich orientierende Musik seines Komponisten Michael Nyman noch intensiviert wird. Es breitet sich das behagliche Gefühl aus, in einem äußerst sorgfältig inszenierten Historienfilm zu sein. Doch dann stören bei der Musik seltsame Disharmonien. Man wundert sich über die sexuelle Gewalttätigkeit des Malers. Man bemerkt, daß die Kostüme übertrieben sind, daß die kunstvoll aufgetürmten Perücken wohl niemals so hoch waren, die Sprache schwerlich so stilisiert. Plötzlich scheint auch das Gras des englischen Rasens unnatürlich, fast giftig: Unterderhand hat sich der Ausstattungsfilm in einen Thriller verwandelt. Tatsächlich muß Neville, spätestens als er an die zweite Serie seiner Zeichnungen geht, feststellen, daß nicht er die Handlung bestimmt, sondern andere ein Spiel treiben, in dem ihm eine Rolle zugedacht ist, die er (und der Zuschauer) bestenfalls ahnen. Der Kontrakt wird ergänzt: die Tochter des Hauses zwingt ihn dazu, “ihr zur Verfügung zu stehen”. Daß Neville Opfer einer kunstvollen und raffinierten Intrige ist, wird deutlich, als am Tage seiner Abreise der Leichnam des Hausherrn im Wassergraben gefunden wird. Der bleibt nicht das einzige Opfer: Neville wird, soviel sei gesagt, ohne das Spiel zu verderben und zuviel zu verraten, für seinen Hochmut bestraft – mit der zeitgemäßen Brutalität der Gesellschaft, die nur äußerlich elegant war und nicht zufällig für Hygiene und Kosmetik nur Unmengen von Puder benötigte. 307 http://www.mediaculture-online.de Als Krimi steht der Film in einer guten englischen Tradition: Seine anheimelnde Verpackung und sein Verzicht auf Grobheiten läßt das Schaudern noch fröhlicher genießen als sonst. Doch die wiedererzählbare Geschichte ist bestenfalls die äußere Haut dieses Films, der sich schälen läßt wie eine Zwiebel. Es ist der Geduld, der Hartnäckigkeit, der Wißbegier (und der Genußsucht) des Zuschauers überlassen, ob er sich mit der Oberfläche zufriedengibt oder zu weiteren Schichten vordringen will. Er wird dann vielleicht bestimmten Strukturen auf die Spur kommen, die die Montage bestimmen. Er wird feststellen, daß Greenaways Bilder denen der Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts entsprechen und fein durchkomponiert sind: Dies ist ein Film über und von einem Zeichner (die Ansichten im Film stammen von Greenaway), und zurecht nennt der Regisseur sein Werk einen Film über Figuren in einer Landschaft. Sie sind fotografiert, wie es seinerzeit Resnais in “Marienbad” gemacht hat; dessen Kameramann Sacha Vierny hat sich Greenaway für seine nächsten Arbeiten “Ein Z und zwei Nullen” und “Der Bauch des Architekten” geholt. Auch der fleißigste Zuschauer wird nicht alle Rätsel lösen. Was zum Beispiel bedeutet die immer wieder auftauchende und in die Handlung eingreifende lebende Statue? Ist sie mehr als ein witziger Einfall? Dieser Film ist ein Vexierspiel, und wer will, kann ihn auch als philosophischen Diskurs sehen, zum Beispiel über den Unterschied zwischen der Wahrheit (der Suche nach ihr) und der Wahrnehmung – ein Thema, das sich wie ein Leitmotiv durch den ganzen Film zieht: Das Perspektiv, das Neville benutzt, ist nicht nur Requisit, sondern macht, indem es sich ständig zwischen den Zuschauer und das Abgebildete schiebt, bewußt, daß wir uns in einer Schule der Wahrnehmung befinden. Auch dieses Thema übrigens teilt Greenaway mit Nekes (und Resnais). Verlorene Liebesmüh, hier fortzufahren und zu versuchen, den Film auszuschöpfen. Am besten, man schaut ihn sich an, wieder und wieder. Horst Schäfer 308 http://www.mediaculture-online.de 103 Nackte Jugend Seishun Zankoku Monogatari (Japan 1960) Buch und Regie: Nagisa Oshima. Kamera: Ko Kawamata. Musik: Riichiro Manabe. Darsteller: Miyuki Kuwano, Yusuke Kawazu, Yoshiko Kuga, Fumio Wataanabe. Länge: 93 Minuten. Vertrieb: VCL/Virgin. Tokio 1960. Kiyoshi, Student der Philosophie, hilft der Oberschülerin Makoto aus der Klemme, als sie von einem Mann belästigt wird; sie lernen sich kennen, bleiben zusammen. Kiyoshi hält nicht viel vom Studium, sondern träumt von einem freien und ungebundenen Leben mit Mädchen, Rockmusik, Whisky und Zigaretten; er sucht die Bekanntschaft von “harten Jungs”, die von Zuhälterei und kleinen Gaunereien leben. Die lebenshungrige Makoto trennt sich von ihrem Elternhaus, weil man ihren neuen Umgang nicht billigt, und zieht zu Kiyoshi. Besonders ihre ältere Schwester, die sehr früh ihre Ideale begraben mußte und streng erzogen wurde, hat kein Verständnis für Makotos Lebensweise. Aber um so leben zu können, braucht man Geld. Makoto und Kiyoshi nehmen ältere Männer aus. Zum Schein läßt sie sich auf sie ein, macht sie an und provoziert eine Situation, die das Eingreifen des zufällig auftauchenden Kiyoshi erzwingt. Mit der Drohung, zur Polizei zu gehen, erpressen sie Geld. Makoto vernachlässigt die Schule und gerät in schlechten Ruf. Sie versucht vergeblich, sich von Kiyoshis Einfluß zu befreien. Als sie schwanger ist, wird eine Abtreibung vorgenommen. Danach haben beide den festen Vorsatz, ihr Leben zu ändern und einen Neuanfang zu versuchen. Aber zu spät, die Vergangenheit holt sie ein. Wegen Nötigung und Erpressung kommt Kiyoshi ins Gefängnis. Die minderjährige Makoto wird in eine Besserungsanstalt eingewiesen. Durch alte Beziehungen und Verbindungen erreicht Kiyoshi, daß die Anzeige zurückgenommen wird und sie wieder freikommen, doch die Kraft für ein neues gemeinsames Leben bringen sie jetzt nicht mehr auf. Sie trennen sich. Kiyoshi wird von der Zuhältergang brutal zusammengeschlagen, weil er sich weigert, Makoto der Bande auszuliefern. Makoto springt an einer anderen Stelle der Stadt aus einem fahrenden Auto, weil sie sich von dem Fahrer bedroht fühlt. Beide sterben auf der 309 http://www.mediaculture-online.de Straße. Eine Parallelmontage führt sie im Schlußbild wieder zusammen – aber nicht zueinander. Oshimas Film erinnert in seinen schnellen Schnitten, mit seinen irritierenden Brüchen und harten Übergängen, im Handlungstempo und in der Verwendung von schriller, lauter Musik, sehr stark an die Eddie Constantine-Filme jener Zeit: schnörkellos und direkt zur Sache kommend. “Nackte Jugend” ist ein wütender und radikaler “Halbstarken”-Film, mit einer auf hektische Großstadtatmosphäre fixierten expressiven Kamera und mit den Neon-Farben der Beton- und Plastikwelt. Der Regisseur, 1932 auf einer Insel zwischen Japan und Korea geboren, politisch aktiver Student und Cineast, war 28 Jahre alt, als er diesen Film drehte. Er zeigt seine Generation als Opfer der Widersprüche dieser Zeit; es ist “die Geschichte einer Jugend, die ihren Zorn nur auf Umwegen zum Ausdruck bringen kann. Indem ich die Tragödie der Jugendlichen zeige, die eine schöne Jugend hätten haben können, jedoch so sehr in die Enge getrieben wurden, daß ihnen nur noch eine klägliche, erbärmliche Niederlage blieb, will ich meine eigene Empörung über die Situation zum Ausdruck bringen, mit der die heutige Jugend sich herumschlagen muß”. “Nackte Jugend” ist ein “Zeit- und Sittenbild” über existentialistische Lebensformen, über Jugend, Sexualität und Gewalt – und über das Cliquenverhalten, das sich in Japan nicht anders abspielt als in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten. Neben Kiyoshi und Makoto sind auch andere Jugendliche zu sehen; solche, die sich politisch engagieren, sich an Demonstrationen beteiligen. In die Spielfilmhandlung eingefügt sind Dokumentaraufnahmen von Studentenprotesten gegen den japanischamerikanischen Sicherheitspakt, was einen authentischen Eindruck von dem widersprüchlichen Lebensgefühl der japanischen Jugend vermittelt, die sich einerseits am amerikanischen Lebensstil orientiert, andererseits gegen die zu enge Bindung an die Politik dieses Landes protestiert. Die Handlung des Films ist schlicht und einfach, eigentlich banal. Aber sie wird erzählt in einer raschen Folge greller Momentaufnahmen von aufbegehrenden, rebellierenden Großstadtjugendlichen, und es ist deutlich zu erkennen, daß sie orientierungslos sind, die alten Werte verworfen, mit der Tradition gebrochen haben und ihre (kulturelle) Identität 310 http://www.mediaculture-online.de suchen. Es ist aber auch ein Film über und für die Elterngeneration, denn er führt ihr das Scheitern ihrer politischen Utopien vor Augen. Oshimas Film war seiner Zeit in vielen Dingen weit voraus. Er kam relativ schnell (1962) in unsere Kinos und wurde von der Kritik als “gröblich verzerrtes Bild” mit “pessimistischer und sadistischer Tendenz” abgetan. Heute – nach seiner Wiederaufführung 1986 – wird er mit anderen Augen betrachtet: als “Frühwerk des Meisters”, von “großer visueller Kraft” und “künstlerisch noch aktuell”. Zu der Neubewertung hat zweifellos die Auseinandersetzung beigetragen, die dem “Skandal” um die verbotene Aufführung von Oshimas Film “Im Reich der Sinne” 1976 in Berlin folgte. “Nackte Jugend” steht jetzt gleichrangig neben zwei anderen Klassikern, die zeitgleich entstanden sind: “Denn sie wissen nicht, was sie tun” (Nicholas Ray, USA 1955) und “Außer Atem” (Jean-Luc Godard, Frankreich 1959). VCL Communications verbreitet den Film unter dem Titel “Nackte Jugend” – so, wie er auch 1962 in unsere Kinos kam. Eine andere Titelübersetzung war “Grausame Geschichten einer Jugend”, was dem Werk gerechter würde. Das für die Entstehungszeit typische CS-Format “schmälert” das Erscheinungsbild und den Genuß des Films auf dem Bildschirm, leider. Dafür aber wurde der sehr schöne, plakative Original-Vorspann beibehalten; vielleicht als kleine Entschädigung für die reißerische und wenig subtile Aufmachung des Covers. Das Buch zum Film: “Die Ahnung der Freiheit”, streitbare Schriften des Regisseurs, erschien im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1982. Reinhard Kleber 311 http://www.mediaculture-online.de 104 Ronja, die Räubertochter Ronja Rövardotter (Schweden 1984) Regie: Tage Danielsson. Buch: Astrid Lindgren nach ihrem gleichnamigen Roman. Kamera: Rune Erikson. Musik: Björn Isfält. Darsteller: Hanna Zetterberg, Dan Håfström, Lena Nyman, Per Oscarsson. Länge: 121 Minuten. Vertrieb: Taurus Video. In einer stürmischen Gewitternacht bringt Lovis ihrem Mann, dem Räuberhauptmann Mattis, eine Tochter zur Welt. Zur gleichen Zeit spaltet ein Blitz die Räuberburg in zwei Hälften. Dazwischen klafft nun ein gefährlicher Höllenschlund im Berg. Zwölf Jahre später entdeckt Ronja, die Räuberstochter, daß der zweite, vermeintlich unzugängliche Felsenburgteil von der feindlichen Sippe des Räuberkonkurrenten Borka besetzt worden ist. Zwischen den rauhbeinigen Räuberhäuptlingen und ihren ungebärdigen Banden bricht eine alte Fehde wieder auf. Ronja lernt inzwischen Borkas Sohn Birk kennen, der in der gleichen Nacht wie sie selbst geboren wurde. Auf ihren abenteuerlichen Streifzügen durch die urwüchsigen Wälder, die von allerlei bedrohlichen und betulichen Fabelwesen bevölkert sind, bestehen beide gemeinsame Gefahren. Einmal rettet sie Birk in der gefährlichen Höllenschlucht das Leben, ein andermal rettet er Ronja knapp vor dem Sturz in einen Wasserfall. Die geschwisterliche Kinderfreundschaft blüht bald auf zur ersten Liebe. Doch die beiden müssen ihre aufkeimenden Gefühle verheimlichen. Weil sich ihnen die verfeindeten Räuberclans in den Weg stellen, reißen Ronja und Birk schließlich aus. In einer Bärenhöhle richten sie sich häuslich ein und ernähren sich von Lachsfang und von Stutenmilch. Doch der dickschädelige Räubervater Ronjas kann den Verlust der Tochter nicht ertragen und holt die Verstoßene wieder heim in die Mattisburg. Durch ihre Hartnäckigkeit schaffen es die Sprößlinge schließlich sogar, ihre Väter zu versöhnen, die sich nun mit vereinten Kräften gegen die feindlichen Landsknechte behaupten können. Ronja und Birk sind also nicht Romeo und Julia. Die zarten Bande werden in diesem romantischen Abenteuermärchen nicht abrupt gekappt wie in Shakespeares Tragödie. Die von ihren 312 http://www.mediaculture-online.de Kindern zur Raison gebrachten Eltern erlauben in Zukunft den gemeinsamen Sommeraufenthalt des Nachwuchses in der Bärenhöhle. Eines jedoch ist gewiß: Räuber wollen die beiden nicht werden. Mit diesem Film ist dem schwedischen Regisseur Tage Danielsson und der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren vor vier Jahren ein großer Wurf gelungen. Wie zu den meisten Verfilmungen ihrer Werke hat die greise Schriftstellerin auch diesmal das Drehbuch selbst geschrieben. Zwar ist die Liebesgeschichte im Film entschärft worden, ansonsten jedoch sind Geist und Sinn der literarischen Vorlage adäquat bewahrt. Der Kinderbuchfilm ist zugleich ein Bilderbuchfilm. Der einfühlsame Regisseur hat das Seinige dazugetan, indem er erstklassige Schauspieler zu Höchstleistungen anspornte. Börle Ahlstedt etwa weiß dem gutmütigen Mattis reiche Facetten abzugewinnen. Die beiden Hauptdarsteller Hanna Zetterberg und Dan Håfström als Ronja und Birk sind Glücksbesetzungen. Selbst Nebenfiguren sind noch psychologisch durchgezeichnet. Der Kameramann Rune Ericson hat traumhaft schöne, archaische Landschaften des hohen Nordens in leuchtenden Farben fotografiert. Die Tricktechniker und Kostümbildner haben Grau-Gnomen und Wild-Druden zum Leben erweckt. “Ich möchte gerne, daß meine Filme Kinderfilme und Filme für Erwachsene sind.” Dieser Wunsch hat sich erfüllt. Genau genommen ist “Ronja Räuberstochter” ein Familienfilm par excellence. Obwohl sich bei dem Robin-Hood-ähnlichen Thema Gewaltszenen angeboten hätten, verzichtet der Film auf unnötige Brutalitäten. Für seine “besondere Phantasie” erhielt die aufwendige schwedisch-norwegische Koproduktion bei der Berlinale 1985 einen Silbernen Bären. Kritik fällt bei diesem Meisterwerk nicht leicht. Immerhin ist der gut zweistündigen Kinobeziehungsweise Videofassung bei manchen harten Schnitten und abrupten Szenenwechseln anzumerken, daß ihr eine längere Fernsehfassung, die das mitproduzierende ZDF zum “Astrid-Lindgren-Jahr” (1987) ausstrahlte, zugrunde lag. Die niedlichenWichtel sind in überflüssiger Anlehnung an amerikanischen Fantasy-Kitsch allzu 313 http://www.mediaculture-online.de süßlich geraten. Auch die computeranimierten Wild-Druden, die wie Hitchcocks “Vögel” auf die Kinderköpfe niederstoßen, fallen aus der perfekt inszenierten Naturidylle heraus. Zwischen all den herrlichen Bildern erscheint nur gelegentlich verstohlen der pädagogische Zeigefinger: “Ronja Räubertochter” will gewiß nicht plump moralisieren, hat aber doch moralische Anliegen. So wirbt der Film dafür, Kinder als eigenständige Persönlichkeiten anzuerkennen. “Besonders wertvoll” – nicht nur durch das Filmbewertungsprädikat macht den Film die souveräne Art und Weise, wie hier gezeigt wird, daß kindliche Ängste spielerisch bewältigt werden können, indem man sich ihnen mutig, aber umsichtig aussetzt, und daß Erwachsenwerden ein schmerzlicher Abnabelungsprozeß ist, bei dem man lernen muß, Vertrauen zu sich und anderen zu fassen. Dabei wird allerdings der von Machtstreben beherrschten Welt der Erwachsenen das kindliche Reich der Liebe und Hilfsbereitschaft gegenübergestellt. Bei ihrem Plädoyer gegen Gewalt überzeugen die Kinder am Ende ihre Väter, sie nehmen ihre Zukunft in die eigene Hand. Hier schimmert die Überzeugung der Lindgren durch, daß die Erwachsenen, wenn sie sich überhaupt ändern wollen, von den Kindern lernen können, ja müssen. In einer solch friedlichen Utopie zählt dann selbst ein faustgroßer Silberklumpen nichts mehr – Ronja wirft ihn am Schluß einfach in den Fluß. Insgesamt hält der Film bewundernswerte Balance zwischen humanistischer Wertevermittlung und schwelgerischer Räuberballade, zwischen geschickter Räuberwaldpädagogik und beschwingtem Kinoabenteuer. “Ronja Räubertochter” ist ein Glückstreffer für's Kinderkino. Der Regisseur Tage Danielsson starb am 13. Oktober 1985 im Alter von 57 Jahren. Weitere heiter-skurrile Filme, wie sie typisch für ihn waren, wird es nun leider nicht mehr geben. Meinolf Zurhorst 314 http://www.mediaculture-online.de 105 Jäger des verlorenen Schatzes Raiders of the Lost Ark (USA 1981) Regie: Steven Spielberg. Buch: Lawrence Kasdan, nach einer Story von George Lucas und Philip Kaufman. Kamera: Douglas Slocomb, Paul Beeson. Musik: John Williams. Darsteller: Harrison Ford, Karen Allen, Paul Freeman, Ronald Lacey, Denholm Elliott, Alfred Molina. Länge: 115 Minuten. Vertrieb: CIC Video. Die Idee entstand im Mai 1977 auf Hawaii. Steven Spielberg und George Lucas, bereits als Wunderkinder des Neuen Hollywood gepriesen, obwohl ihre großen Erfolge noch bevorstanden, kreierten eine Filmfigur, die sowohl ihren Wünschen wie ihren Filmerfahrungen entsprach. Spielberg träumte immer davon, einen “James Bond”-Film zu machen, Lucas war fasziniert von den Abenteuerfilmen der dreißiger und vierziger Jahre. Serials wie “Spy Smasher”, “Commander Cody” oder “Tailspin Tommy” waren ihre konkreten Vorbilder. Beide konnten sich den phantastischen Geschichten der als Programmfüller gedachten und mit geringsten Mitteln realisierten Trivialfilmen nicht entziehen. So wurde der Protagonist “Indiana Jones” geboren- ein Abenteurer und besessener Wissenschaftler mit einer Vorliebe für hübsche Mädchen. Die Zeit waren die vierziger Jahre, was es leicht machte, überzeugende Schurken zu finden. Bis heute sind die Nazis die bevorzugten Bösewichte in Film und Fernsehen der angelsächsischen Länder. In einer atemberaubend schnellen, fast schon gewalttätig geschnittenen Exposition wird der Held eingeführt und der anschließende Film schon vorweggenommen. Indiana Jones, ein Archäologe mit der besonderen Fähigkeit, die Peitsche zu schwingen, pirscht durch den Dschungel und unheimliche Katakomben, um eine goldene Büste zu finden und an sich zu nehmen. Das löst bösartige, tödliche Mechanismen aus, denen Jones nur knapp entkommt. Doch am Ende seines Weges wartet sein größter Gegner, der französische Archäologe Belloq (Paul Freeman), der ihm seinen Fund stiehlt. Das Drehbuch von Lawrence Kasdan, wenig später selbst ein erfolgreicher Regisseur (“Body Heat”, “Silverado”), ist schulmäßig konstruiert. Es charakterisiert den Helden und 315 http://www.mediaculture-online.de die Konflikte, die ihn erwarten, in einer konventionellen aber dramaturgisch bestens erprobten Weise. Geschickt verstand es Kasdan, dem Zuschauer erst gar nicht die Möglichkeit zu geben, über all die Unwahrscheinlichkeiten nachzudenken. Denn schon folgte die nächste. In der Anhäufung gewinnen die zahlreichen Unwahrscheinlichkeiten an Glaubwürdigkeit, eine Glaubwürdigkeit, wie sie so nur die Logik des Kinos zuläßt. So ist auch die Kostbarkeit, um deren Besitz es im Film dann eigentlich geht, nur eine kinematographische Erfindung. Hitchcock nannte die Gegenstände, die Auslöser einer Geschichte, aber im Grunde völlig irrelevant sind, “McGuffins”. Der “McGuffin” im Film “Jäger des verlorenen Schatzes” ist die Bundeslade, in der die zehn, in Stein gemeißelten Gebote “Moses” aufbewahrt sind. Ihr Besitzer kann die Macht über die Menschheit erringen. Klar, daß die Nazis sie suchen. Jones soll ihnen zuvorkommen. Doch die zombiehaften Schergen des Führers, die sämtliche Klischees in der Darstellung von Nazis mit Anstrengung zu erfüllen suchen, sind ihm auf den Fersen und verwickeln ihn in zahlreiche Kämpfe. Zusammen mit Marion (Karen Allen), in deren Besitz ein Amulett ist, mit dem die Bundeslade gefunden werden kann, reist Indiana von Nepal nach Ägypten. Dort trifft Jones seinen Widersacher Belloq wieder, der für die Nazis die Ausgrabungen leitet. Marion wird von ihnen entführt, während Jones die Lade findet. Doch wieder kann er seinen Erfolg nicht genießen, denn Belloq steht mit seinen Mannen zur Übernahme des Fundes bereit. Die Lade wechselt noch einige Male ihren Besitzer, bevor sie von Belloq geöffnet wird. Das ausströmende Licht vernichtet alle, die sich an dem Heiligtum vergangen haben – bis auf Indiana und Marion. Darsteller des Indiana Jones ist Harrison Ford, der auch durch die “Star Wars”-Saga berühmt wurde. Ford entpuppte sich als ideale Projektionsfläche für die synthetischen und naiven, unreflektierten Vorstellungen der Macher von modernen Märchen, in denen die Phantasie durch Trivialität ersetzt wird. Er verband den Charme des gezähmten Wilden mit der Ironie des erfahrenen Abenteurers. In seiner Person gewinnen die Unglaubwürdigkeiten an Überzeugung. Er nimmt überkommenen Klischees die Peinlichkeit und ironisiert den aufdringlichen Chauvinismus der Figur. Durchaus überzeugend mimt Ford eine Mischung aus Humphrey Bogart, Zorro, Western-Held und 316 http://www.mediaculture-online.de Abenteurer Hemingwayscher Prägung. Spielberg verglich seinen Star mit einem Chamäleon, das den Charakter des jeweiligen Helden annimmt. “Jäger des verlorenen Schatzes” wurde ein weltweiter Erfolg und rangiert unter den zehn kassenstärksten Filmen. Die Kritik reagierte wohlwollend und betonte vor allem den hohen Unterhaltungswert. Wie auf einer Achterbahn wird der Zuschauer von einem Ereignis ins andere getrieben. Es entsteht ein Sog, der Details vergessen läßt. Die Fülle von Ereignissen überwältigt und läßt der Phantasie des Zuschauers keinen Raum. Im zweiten Film der Reihe, “Indiana Jones und der Tempel des Todes” (1984) wird dieses Prinzip der Überrumpelung noch auf die Spitze getrieben – am besten symbolisiert in einer rasenden Fahrt der Helden in einer führerlosen Lore durch einen Bergwerksschacht. Die Ereignisse sind noch unwahrscheinlicher, die Tricks und Effekte noch aufwendiger. Im dritten Teil der Serie, dessen Produktion derzeit noch läuft, finden dann die Vorbilder zusammen. Indiana Jones trifft seinen Vater, gespielt wird er von Sean Connery, dem ersten Darsteller des James Bond. Die Trivialmythen der vierziger vereinigen sich mit denen der sechziger und siebziger Jahre. Hans Gerhold 106 Gandhi Gandhi (Großbritannien 1982) Regie: Richard Attenborough. Buch: John Briley. Kamera: Billy Williams, Ronnie Taylor. Musik: Ravi Shankar. Darsteller: Ben Kingsley, Candice Bergen, Edward Fox, John Gielgud, Trevor Howard. Länge: 188 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia. Für Winston Churchill war er nur der “nackte Fakir”, der Mann, von dem Albert Einstein gesagt hat: “Ein späteres Geschlecht wird es vielleicht kaum glauben können, daß so einer als Geschöpf aus Fleisch und Blut wirklich auf dieser Erde gewandelt ist.” Die Rede ist von Mahatma Gandhi (1869 bis 1948), einer Persönlichkeit, die überragendes 317 http://www.mediaculture-online.de Ansehen, politische Bedeutung und geistig-moralisches Charisma vereinte und somit ein ideales Objekt für eine monumentale filmisch-historische Biografie abgibt. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte Produzent und Regisseur Richard Attenborough um die Realisierung seines Films gekämpft, der dann mit Unterstützung der damaligen indischen Regierung (Ministerpräsidentin Indira Gandhi, die mit dem Mahatma allerdings nicht verwandt war) an den Originalschauplätzen entstand: für 22 Millionen Dollar und mit über 200000 Statisten in 24 Wochen Drehzeit. “Gandhi” setzt mit dem Attentat, dem der Mahatma (“die große Seele”) zum Opfer fiel, ein und erzählt in episodenhafter Struktur die wichtigsten Stationen eines Lebens, in dem Politik und Privatleben, Überzeugung und öffentliches Wirken modellhaft und vorbildlichkonsequent aufeinander bezogen sind. Als junger Rechtsanwalt erlebt Gandhi 1893 in Pretoria die Rassendiskriminierung des Apartheidstaates Südafrika. Mit den Mitteln des gewaltlosen Widerstandes lehnt er sich dagegen auf, gründet ein “Ashram“ (Gemeinde) als Kommune, in der alle gleiche Rechte und Pflichten haben, und kann, trotz mehrmaliger Verhaftung, einen Teil seiner Ziele verwirklichen: die Aufhebung der Paßgesetze. Nach Indien zurückgekehrt, tritt Gandhi seit 1915 für die Unabhängigkeit seines Landes von der Kolonialherrschaft der Briten ein. Mit den Methoden der friedlichen Demonstration und Arbeitsverweigerung durch Fasten und Beten schwächt er die Position der Briten, die mit Gewalt und brutaler Unterdrückung reagieren, etwa 1919 im Massaker von Amritsar, dem 379 unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fallen. Weitere Stationen: der Boykott britischer Textilien durch die Förderung handgesponnenen Tuches in indischen Familien (die “home-spun”-Idee); die Verweigerung der Kooperation mit der Besatzungsmacht und 1930 der “Salzmarsch” (241 Meilen zum Meer) als Zeichen einsetzender ökonomischer Unabhängigkeit: Salz wird für den Eigenbedarf hergestellt. Immer wieder wird Gandhis Lebensweg durch Gefängnisaufenthalte und Fastenaktionen etwa zugunsten der Parias unterbrochen. Zwar kann der Mahatma seine Volksbewegung ausbauen, doch die anfängliche Zusammenarbeit zwischen Hindus und Moslems zerbricht. 1947 wird Britisch-Indien in zwei Staaten, Pakistan (für die Moslems) und 318 http://www.mediaculture-online.de Indien, getrennt: Gandhi kann den Bürgerkrieg mit einer Fastenaktion nur zeitweilig unterbrechen. Der politischen und geistigen Tragödie folgt die persönliche: Kurz nach der Unabhängigkeit beider Staaten wird Gandhi am 30. Januar 1948 von einem Hindufanatiker erschossen. “Gandhi” ist als Heiligenbild kritisiert worden, weil der Film die Massen zugunsten der Personalisierung politischer Bewegungen vergesse und ein nach Führern ausgerichtetes Staatsprinzip propagiere. Doch geht die Kritik an der Leistung des Films vorbei, dem es gelingt, sowohl Gandhis auch heute zeitgemäße Botschaften zu transportieren – Gewaltlosigkeit, Würde des Menschen und Aufzeigen sozialer Ungerechtigkeiten – als auch die Heiligenlegende durch ein gehöriges Maß an Selbstironie und Zweifeln zu brechen. Das ist vor allem das Verdienst des Hauptdarstellers Ben Kingsley (damals 39), der fünfzig Jahre eines Lebens glaubhaft und einfühlend, überzeugend und eindrucksvoll vermittelt und die Würde in den Film einbringt, die Gandhi auszeichnete. Bei allen historischen Ungenauigkeiten – Indiras Vater Pandit Nehru wird zum Beispiel als zweiter Held übermäßig aufgebaut – kommt jedoch das Verdikt des Historikers und ehemaligen US-Botschafters in Indien, John Kenneth Galbraith, dem Film am nächsten: Als historisches Prunkstück gelinge eine superbe Evokation des indischen Lokalkolorits. Vor allem aber sei es Gandhis Genie gewesen, jene grundlegende Symmetrie zwischen Aktion und Reaktion (Gewalt gegen Gewalt) zu durchbrechen, indem er sah, daß seine Stärke in der Asymmetrie (bedingungslose Gewaltlosigkeit gegen Gewalt und sorgfältig abgestufter ziviler Ungehorsam gegen Repressionen) lag: eine Lektion, die später etwa Martin Luther King mit ähnlichem Effekt nutzte (“Film Comment”, Jg. 19, Heft 1). Filmhistorisch steht “Gandhi” mit am Anfang des sogenannten “Neuen britischen Kinos”, das sich in den achtziger Jahren aus der Stagnation erholte. Er löste eine neue Welle des Indientourismus und eine Serie von Kino- und TV-Filmen aus, die den “Stolz des Empire” zum Gegenstand hatten, darunter David Leans “Reise nach Indien” (1984). Regisseur Attenborough, Jahrgang 1923, bis dahin vor allem als Schauspieler bekannt, setzte seinen Hang zu so kinowirksamen wie engagierten Monumentalfilmen 1987 mit 319 http://www.mediaculture-online.de “Cry Freedom – Schrei nach Freiheit” fort, der das Apartheidsystem Südafrikas attackiert. “Gandhi” gewann 1983 gegen starke Konkurrenz, darunter “E.T.”, überraschend und verdient acht Oscars: für den besten Film, die beste Leistung in Regie, Kameraarbeit, Schnitt, Kostüme, Originaldrehbuch, für den besten Hauptdarsteller und die beste künstlerische Gesamtleitung sowie Ausstattung. Horst Schäfer 107 The Killing Fields The Killing Fields (Großbritannien 1984) Regie: Roland Joffé. Buch: Bruce Robinson, nach einer autobiographischen Vorlage von Sydney Schanberg. Kamera: Chris Menges. Musik: Mike Oldfield. Special effects: Fred Cramer. Darsteller: Sam Waterston, Haing S. Ngor, John Malkovich, Julian Sands, Craig T. Nelson, Spalding Gray. Länge: 136 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP. Der Vietnam-Krieg spiegelt sich als zentrales Ereignis der nordamerikanischen Nachkriegsgeschichte in der nationalen und internationalen Filmproduktion wider. Vietnam-Filme sind zu einem Genre geworden. Die meisten beuten auf unterstem Niveau und mit reaktionärem Gehabe das Thema in immer rücksichtsloserer und gewaltverherrlichender Weise aus. Demgegenüber gibt es nur wenige kommerzielle Filme, die mit mahnendem und/oder kritischem Ansatz einen gesellschaftspolitischen Beitrag zur Aufarbeitung des Traumas leisten wollen. Der Film jedoch, der nach unwidersprochener Ansicht des Südostasien-Experten Peter Scholl-Latour am echtesten, nicht überdramatisiert und von einer unglaublichen Wahrhaftigkeit ist – das ist “Killing Fields”. Bis Mitte der sechziger Jahre konnte Kambodscha auf eine lange Zeit friedlichen Zusammenlebens mit seinen Nachbarländern zurückblicken. Durch den “Ho-Chi-MinhPfad” und seine Verlängerung, der sogenannten “Sihanouk-Piste” weitete sich der 320 http://www.mediaculture-online.de Vietnam-Krieg Anfang der siebziger Jahre auf Kambodscha aus. Unter CIA-Regie wurde Prinz Sihanouk, der eigenwillige und extrovertierte Alleinherrscher des Landes, beseitigt. Er stand der Politik Nixons im Wege, der das Vietnam-Abenteuer so schnell wie möglich beenden wollte. Nach einem Militärputsch im März 1970 mußte Sihanouk nach Peking fliehen, wo er eine Exilregierung bildete. Sein Nachfolger wurde General Lon Nol; er war nicht in der Lage, die verschiedenen Kräfte des Landes zu einigen und mußte immer mehr Provinzen an die “Roten Khmer” abtreten, die ihn aus dem Dschungel heraus bekämpften. Chaos und Korruption breiteten sich aus. Die Roten Khmer, seit Jahren im Urwald lebende Revolutionäre, orientierten sich ideologisch an einer Art Steinzeit-Kommunismus, der jede Form westlicher Zivilisation verneinte und radikale Gesellschaftsveränderungen und Umerziehungsprogramme vor allem für die in den Städten lebende Bevölkerung vorsah. Da sie in den Vietnamesen ihre traditionellen Feinde sahen, waren die von der Volksrepublik China unterstützten Roten Khmer auch gegen die Anwesenheit nordvietnamesischer Eliteverbände in ihrem Land. Im April 1975, mit dem Ende Saigons, besetzten die Roten Khmer nach zweijähriger Belagerung die Hauptstadt Pnom Penh. Sie schlossen Kambodscha von der Außenwelt ab, um innenpolitisch die gesellschaftliche und religiöse Revolution mit Gewalt voranzutreiben – in einem Land, das ohnehin schon infolge der von amerikanischen Bomben zerstörten Reisfelder kaum lebensfähig war. Die neuen Machthaber gingen mit blutigem Terror und unvorstellbaren Grausamkeiten gegen die Bevölkerung vor; es begann mit der Evakuierung der Einwohner von Pnom Penh und endete mit der völligen Zerstörung von Traditionen und Familienstrukturen. Fast zwei Millionen Menschen sollen diesem Vernichtungsfeldzug zum Opfer gefallen sein. Die Handlung von “Killing Fields” beruht auf authentischen Erlebnissen, und es liegt ihr eine Artikelserie des Südostasien-Reporters der “New York Times”, Sydney Schanberg, zugrunde. Zusammen mit seinem einheimischen Verbindungsmann und Freund Dith Pran berichtete er zwischen 1973 und 1975 über den Bürgerkrieg zwischen den von den Amerikanern unterstützten Regierungstruppen und den kommunistischen Roten Khmer von Pol Pot. 321 http://www.mediaculture-online.de Zunächst ist Schanberg die Hauptfigur des Films, der mit der irrtümlichen Bombardierung einer von Regierungstruppen gehaltenen Stadt durch einen amerikanischen Bomber beginnt. Hier schon zeigt Joffé eindringliche Szenen der Kriegsgreuel, die aber an keiner Stelle den Beigeschmack des Voyeuristischen, Actionhaften annehmen. Als zwei Jahre später die Roten Khmer die Hauptstadt Pnom Penh einnehmen, setzen sich die meisten Amerikaner ab. Schanberg bleibt zurück und kann sich erst später mit Hilfe von Pran nach New York retten. Die Handlung verfolgt jetzt Prans Schicksal, der das Land nicht verlassen durfte und in eines der berüchtigten Umerziehungslager gerät. Er leugnet seine Identität und gibt sich als Landarbeiter und Taxifahrer aus, da man die Intellektuellen schonungslos verfolgt. Als Jahre später die Roten Khmer den Vietnamesen weichen müssen, nutzt Pran das Durcheinander für seine Flucht aus. Schanberg erhält den Pulitzer-Preis für “Internationale Reportagen unter höchstem persönlichen Risiko”. Er spricht die Hälfte davon Pran zu, an dessen Tod er nicht glaubt. Als Journalist sieht sich Schanberg plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Er nutzt die Situation aus und analysiert in seiner Dankesrede die amerikanische Politik in Kambodscha, wobei er schonungslos ihre Fehler aufdeckt. Insgeheim wird er von Selbstzweifeln gequält, da er sich für das Schicksal Prans verantwortlich fühlt, und die Ungewißheit ihn nicht zur Ruhe kommen läßt. Am 9. Oktober 1979 erreicht ihn die Nachricht von der Rettung Prans, der sich nach Thailand durchschlagen konnte. “Killing Fields” wurde zu einer Metapher für das Schicksal des kambodschanischen Volkes unter der Herrschaft der Roten Khmer. Der Film hält den Überlebenskampf eines Volkes unter den unmenschlichsten Bedingungen für alle Zeiten fest; er ist gleichzeitig eine leidenschaftliche und überzeugende Anklage gegen die Indochinapolitik der Vereinigten Staaten und die Mitschuld Nixons am Verlauf des kambodschanischen Bürgerkrieges, dem – von einer Bevölkerung von sieben Millionen – insgesamt drei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Roland Joffé, 1945 in Kensington geboren, wurde 1973 der jüngste Regisseur am National Theatre. Seit 1975 arbeitet er für das Fernsehen; er inszenierte Serien und Fernsehspiele, die zum Teil mit internationalen Auszeichnungen bedacht wurden. “Killing Fields” ist seine erste Arbeit als Spielfilmregisseur. Produzent David Puttnam, 1941 in 322 http://www.mediaculture-online.de London geboren, war in der Werbebranche tätig, bevor er ins Filmgeschäft ging. Unter anderem produzierte er “Mahler” von Ken Russel und “Midnight Express” von Alan Parker. Sein größter Erfolg war bislang. “Die Stunde des Siegers” (1981). “The Killing Fields” erhielt viele Preise und ehrende Anerkennungen. Der Schauspieler und Performance-Künstler Spalding Gray, der in “Killing Fields” eine kleine Rolle als Mitarbeiter der US-Botschaft spielt, hat seine Erlebnisse bei den Dreharbeiten zu einer eigenwillig-autobiographischen Ein-Mann-Show verarbeitet. Die Aufführung von “Swimming to Cambodia” wurde 1987 von Jonathan Demma abgefilmt und unter dem gleichen Titel herausgebracht. Der Film war 1987 beim Münchner Filmfest zu sehen, fand aber in der Bundesrepublik noch keinen Verleiher. Der Text der Performance liegt allerdings in deutscher Sprache vor und wurde vom Kiepenheuer & Witsch Verlag (Köln 1988) veröffentlicht. Meinolf Zurhorst 108 Asphalt-Cowboy Midnight Cowboy (USA 1969) Regie: John Schlesinger. Buch: Waldo Salt, nach dem Roman von James Leo Herlihy. Kamera: Adam Holender. Musik: John Barry. Darsteller: Jon Voight, Dustin Hoffman, Brenda Vaccaro, Sylvia Miles, John McGiver Länge: 113 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video. Die sechziger Jahre bedeuteten auch für Hollywood eine Veränderung. Nicht nur neue Namen tauchten auf, auch die alten Mythen und Traditionen wurden einer Veränderung unterworfen. Das europäische Kino hatte sich, vor allem durch das Auftauchen der Nouvelle Vague in Frankreich, einem radikalen Wandel unterzogen. Kinematographische Erzählweisen wurden von Grund auf in Frage gestellt, inhaltliche Schranken und Einschränkungen fielen, die Filme bekamen einen persönlicheren Charakter. Die 323 http://www.mediaculture-online.de Studentenrevolten hatten eine weitergehende Liberalisierung von Verhaltensweisen zur Folge, die Hüllen fielen – wortwörtlich. John Schlesinger, ein britischer Regisseur, der zum Dunstkreis des New Cinema in England zählte, hatte nach seinem Welterfolg “Darling” (1965) schnell in Hollywood Fuß gefaßt und inszenierte mit “Asphalt Cowboy” einen Film, der im Trend der ausgehenden sechziger Jahre lag. Schlesinger, der immer behauptete, an Geschichten zu glauben, unternahm mit “Asphalt Cowboy” den Versuch, traditionelle Schemata aufzubrechen. Aus der Distanz von zwanzig Jahren wirkt seine Inszenierung zuweilen sehr synthetisch und gekünstelt. Joe Buck, Tellerwäscher irgendwo auf dem Land, lebt die populären Mythen des USAlltags. Angezogen wie ein Cowboy, beschließt er eines Tages, nach New York zu gehen und dort ein Vermögen zu verdienen als Gigolo für alte, reiche Frauen. Doch Joes plumpe Annäherungsversuche scheitern, der “Möchtegern”-Cowboy wird zur Spottfigur. Als seine Ersparnisse sich dem Ende zuneigen, lernt er den kränkelnden, humpelnden Ratso Rizzi kennen. Nach anfänglichen Streitereien raufen sich die beiden zusammen. Joe, pleite, zieht in Ratsos Behausung, die sich als halbzerfallene, leere Bruchbude erweist, in der es weder Wasser noch Heizung gibt. Auch Ratso hat einen Traum. Er will eines Tages soviel Geld besitzen, daß er im sonnigen Florida seine Krankheiten auskurieren kann. Ratso, der kleine, erfolglose Gauner aus der Bronx, wird Joes Manager. Er vermittelt den Pseudo-Westerner, der immer noch in seiner Cowboy-Kleidung herumläuft, an zahlungswillige Sexhungrige. Sie treffen auf eine bunte gesellschaftliche Mischung: Da gibt es den religiösen Eiferer, die Karrierefrau, die Kunstfilmerin, den heimlichen Homosexuellen und den Drogensüchtigen. Joes Potenz, mit der er immer wieder geprotzt hat, erweist sich ebenso als Bluff wie Ratsos angeblich so coole Straßenganoven-Mentalität. Beiden gemeinsam sind die Enttäuschungen, die ihnen das Leben bereitet, und das Bewußtsein, Verlierer zu sein. Als Ratso immer kränker wird, gelingt es Joe schließlich, das nötige Geld für die Fahrt in den sonnigen Süden aufzutreiben. Er schlägt einen ältlichen Homosexuellen mit dem Telefonhörer nieder und raubt ihn aus. Der Traum vom 324 http://www.mediaculture-online.de großen Erfolg und vom vielen Geld erweist sich als eine kleinkriminelle Tragödie. Doch die Reise nach Florida wird Wirklichkeit. In dem Augenblick aber, in dem Joe endlich sein lächerliches Cowboy-Kostüm abgelegt hat, stirbt Ratso. Joe ist wieder da, wo er hergekommen ist. Alleine, aber um einige desillusionierende Erfahrungen reicher. Schlesinger kehrte traditionelle Mythen und Figuren des amerikanischen Kinos in ihr Gegenteil um. Ratso ist eine Figur, die eher am Rande der Geschichte erscheint, ihr aber den Charakter geben sollte. In “Asphalt Cowboy” wird sie zu einer Hauptfigur, die dem Zuschauer eine Identifikation anträgt, wenngleich in der Distanz der Fiktion. Die Figur des Cowboys dagegen, im Kino ein Symbol von Aufrichtigkeit und Erfolg, gerät bei Schlesinger zum völligen Versager, zum Klischee, zu einem Charakter, der seine Identität aus Kindheitsträumen (die in Rückblenden erzählt werden), Jugenderlebnissen und aus den Massenmedien gewinnt. Aus dem Westerner wird ein Strichjunge für männliche Kundschaft. Das Image des Westerners verkommt bei Schlesinger zu seinem völligen Gegenteil. In dem Umstand, daß sowohl Schlesinger wie auch sein Drehbuchautor Waldo Salt sich mehr für ihre Intentionen als ihre Figuren interessierten, liegt auch eine Schwäche des Films. Die Botschaft wird da zum Inhalt, wo es die Geschichte hätte sein müssen. Die Kritik reagierte gespalten, warf dem Film nicht zu Unrecht seine etwas konfuse Inszenierung und Montage vor, in denen sich zwar die Zeit widerspiegeln sollte, die aber doch den nachhaltigen Eindruck hinterlassen, nur aus spekulativen, kommerziellen Erwägungen heraus realisiert worden zu sein. Dem Erfolg des Films tat dies keinen Abbruch. Das Publikum verlangte offenbar nach Geschichten, die sich ungewöhnlich präsentierten, die modische Trends des Alltags aufgriffen. In der Popmusik hielt eine psychedelische Selbstbespiegelung Einzug, die von den Drogenhalluzinationen der Musiker und Literaten profitierte und im Kino gerne und leicht aufgegriffen wurde. Verkantete Kameraeinstellungen, schnelle, assoziative Schnitte, monochrome Farbgebungen deuteten den Versuch an, imaginäre Kopfbilder unmittelbar kinematographisch umzusetzen. Drei Academy Awards (“Oscars”) für den besten Film, die beste Regie und das beste Drehbuch waren der Lohn für diese Mühe. Der Erfolg des Films aber beruhte nicht allein auf seiner modischen Aufmachung. Vor allem die beiden 325 http://www.mediaculture-online.de Hauptdarsteller, Jon Voight als Joe und Dustin Hoffman als Ratso, verstanden es, den schablonenhaften Charakteren wirkliches Leben zu geben, aus Kunstfiguren Menschen zu machen. Beider Schauspielkunst verschafft “Asphalt-Cowboy” große filmische Momente und macht das Werk auch über seine formale und inhaltliche Zeitbezogenheit hinaus zu einem Kino-Ereignis. Walter Schobert 109 Die zehn Gebote The Ten Commandments (USA 1957) Regie: Cecil B. DeMille. Buch: Aneas MacKenzie, Jesse L. Lasky jr., Jack Gariss, Frederic M. Frank. Kamera: Loyal Griggs. Musik: Elmer Bernstein. Darsteller: Chariton Heston, Yul Brynner, Anne Baxter, Yvonne de Carlo, Edward G. Robinson, John Derek. Länge: 207 Minuten. Vertrieb: CIC Video. DeMille war der Meister des Monumentalfilms, der seinerzeit, um die Alliteration fortzuführen, noch “Monstre-Film” genannt wurde; ein Magier der Massen, der es wie kaum einer vor und keiner nach ihm vermochte, riesige Statistenheere vor seiner Kamera zu dirigieren und mit grandiosen Massenszenen die Leinwand zu füllen. “Die Zehn Gebote” sind dafür nur ein Beispiel unter den mehr als siebzig Filmen, die der aus einer Theaterfamilie stammende Cecil B(lount) DeMille zwischen 1915 und 1959 drehen konnte, wenn auch vielleicht das spektakulärste. Zusammen mit dem ebenso legendären Lasky und dem damals noch Goldfish heißenden Samuel Goldwyn gründete er schon 1912 die Jesse Lasky Feature Play Company und machte für sie “The Squaw Man”, “The Verginian” und eine aufwendige “Carmen”, ehe die Firma mit der Gesellschaft Zukors zur “Famous Players” (der Name war Programm) fusionierte und schließlich zur Paramount wurde, einem der großen Studios mit einem für 326 http://www.mediaculture-online.de Eingeweihte leicht zu identifizierenden Programm und einem unverwechselbaren Studiostil. DeMille hielt der Paramount ein Leben lang die Treue. Der Spezialist für frivole Gesellschaftsdramen wandelte sich bald unter dem Einfluß und dem Druck der die Sittenlosigkeit jener Filme kritisierenden und vor allem mit Boykott drohenden Frauenverbände zum Experten für eben jene Monumentalfilme, die sein Markenzeichen wurden: Ein Kino, wie es das breite Publikum liebte, mit spannenden Geschichten, die in direktem, plakativen Stil erzählt waren und deren Aufwand für die Ausstattung, Dekoration, Inszenierung und deren kolossale Länge oft in verblüffendem Kontrast zur inhaltlichen Schlichtheit und Naivität stand; es waren oft ziemliche Schinken. Es ist durchaus imponierend, wie er mehr als ein halbes Jahrhundert so völlig unbeeinflußt die immer gleiche Geschichte in immer neuen Variationen erzählte: Eine Heldensage, deren Vorlage er in der amerikanischen (die Western “Union Pacific” und “The Plainsmen”) oder römische Geschichte (“Cleopatra”) fand. Auch die Bibel durfte es sein. Er erzählte “Im Zeichen des Kreuzes” und von “Samson und Delilah”. Und von den Zehn Geboten. Von ihnen gleich zweimal: Schon 1923 hatte er sie, schwarzweiß und stumm, verfilmt. Der Grund für ein Remake war angeblich ein Ideenwettbewerb beim amerikanischen Publikum, aus dem der Stoff als Sieger hervorging. Aber vielleicht war auch das schon Teil einer PR-Kampagne, die den Film von Anfang an begleitete und ebenso aufwendig und gekonnt betrieben wurde wie die Arbeit am Film selbst, ja, die ein Teil von ihm war und DeMille und der Paramount so perfekt gelang, daß man ihnen professionelle Bewunderung nicht versagen kann. Zehn Jahre habe die Planungsphase gedauert, vier Jahre die Realisierung, 1900 Bücher in dreißig internationalen Bibliotheken seien konsultiert, Hunderte von Wissenschaftlern um Auskunft gebeten worden. 3000 Photos habe man angefertigt: Zahlen, die so imponieren sollen wie die Zahl der eingesetzten Darsteller, der Legionen von Statisten. Selbst das Staraufgebot umfaßt ein gutes Dutzend. Das Budget betrug die damals ungeheure Summe von acht Millionen Dollar; es wurde, werbewirksam, um den gleichen Betrag überschritten. Der Aufwand sollte den Produzenten zufolge nur einem dienen: dem Streben nach Glaubwürdigkeit und Authentizität. Dafür war nichts zu gut und zu teuer. 327 http://www.mediaculture-online.de Gedreht wurde natürlich an den Originalschauplätzen, wenn sie auch noch so schwierig zu erreichen und unwegsam waren. Und selbstverständlich basiert der Film “auf der Heiligen Schrift”, mit der kleinen Einschränkung “und anderen alten Texten und modernen Forschungen”: will sagen, ganz so zimperlich war man denn doch nicht, um den guten Zweck zu erreichen. Für ihn ließen sich dann Kardinäle ebenso gern einspannen wie protestantische Bischöfe und besonders gern die Politiker. Sie alle lobten den Film und bereiteten dem Regisseur die Ehre eines Empfanges. In der Bundesrepublik ließen der Bundeskanzler und der Bundespräsident bitten, die Liga für Menschenrechte übernahm die Schirmherrschaft. Auch der Papst gewährte eine Audienz für DeMille. Der hatte alle seine Einkünfte aus dem Film einem Erziehungsfond gestiftet. Die Anerkennung galt einem Film, der tatsächlich (auch heute noch) in seinen Bann zieht und kaum eine der mehr als zweihundert Minuten langweilig werden läßt, der immer wieder durch “kolossale Bauten, kolossale Massenszenen, kolossales Pathos” (Lexikon des internationalen Films) fesselt, durch sein Gefühl für plastische Wirkungen und für Bewegung, durch effektvolle Szenen so beeindruckt, daß man darüber vergißt, wie zutiefst fragwürdig das Unternehmen ist, das die biblische Geschichte auf ein Hollywooddrama voller Verbrechen und Erotik reduziert. Ein Meisterwerk? Ganz sicherlich als ein bestimmter Typus Hollywoodkino, vielleicht sogar als Dokument des persönlichen Glaubens seines Regisseurs, gewiß nicht als gelungene und adäquate Bibelverfilmung. Das fängt mit Kleinigkeiten an: DeMille scheut nicht davor zurück, Lücken, die das Alte Testament läßt, zu füllen, zum Beispiel die zwischen 2. Mose 1,10 und 11; sein Hinweis auf “andere alte Texte”, ist da leider nicht stichhaltig. Und natürlich folgt er in der Charakterisierung seiner Figuren den Bedürfnissen des Historienfilms – und nicht der biblischen Geschichte. Sein Mose gleicht eher Maciste, ist mehr ein Volkstribun als ein Prophet, und besonders die Frauenfiguren geraten oft an die Grenze der Peinlichkeit. Vollends ablehnen muß den Film, wer sich nicht vor der bilderbogenhaften Opulenz und Naivität die Augen übergehen läßt, sondern biblisch-theologische Kriterien anlegt. Dabei ist nicht sein schlichter Umgang mit Wundern wie dem Durchzug durchs Rote Meer 328 http://www.mediaculture-online.de problematisch; das kann man akzeptieren, muß man aufgrund der Tricktechnik bewundern. Und natürlich hat sich die Binsenwahrheit, daß man Gott nicht filmen kann, auch bis zu DeMille herumgesprochen. Aber kann man dann die Stimme Gottes ertönen lassen, kann man gar zulassen, sie zu synchronisieren? Und fängt die Unmöglichkeit, das Heilige abzubilden, nicht schon früher an, vielleicht schon bei der Figur des Mose? Spätestens als er die Zehn Gebote bekommt, muß jedem klar werden, daß und warum DeMille scheitern muß, wie jeder gescheitert ist, der es vor und nach ihm versucht hat: Je nach Temperament wird der eine diese Szene lächerlich finden, der andere blasphemisch. Kein Zufall, daß DeMille bei seiner Rede anläßlich der Uraufführung, auf die ewige Gültigkeit der Zehn Gebote eingehend, das zweite nicht erwähnte. Es lautet: “Du sollst Dir kein Bildnis machen”. Walter Schobert 110 Emil und die Detektive (Deutschland 1931) Regie: Gerhard Lamprecht. Buch: Billy Wilder, nach dem Roman von Erich Kästner. Kamera: Werner Brandes. Musik: Allan Gray. Darsteller: Fritz Rasp, Hans Richter, Käthe Haack, Rolf Wenkhaus. Länge: 75 Minuten. Walt Disney Produktion. Vertrieb: EuroVideo. “Erste Verfilmung des Romans von Erich Kästner, die kaum etwas an Frische eingebüßt hat und auch jüngeren Kindern Werte wie Demokratie und Solidarität einsichtig macht. Fesselnde Unterhaltung.” – “Der renommierte Film der Vor-Hitler-Zeit offenbart schlagend die Nähe bürgerlicher, scheinbar unverdächtiger ›Law and order‹-Vorstellungen zum Faschismus ... Tatsächlich hat die Filmhandlung ihr Modell ebenso im Judenpogrom wie in der demokratischen Detektivarbeit ... Feind aller aber ist der Außenseiter, der Gesetzesbrecher mit der undeutlichen Physiognomie und dem polnischen Namen.” Schwer zu glauben, daß beide Kritiken denselben Film meinen, die eine vor wenigen Wochen im katholischen “filmdienst” erschienen, die zweite, verfaßt von Frieda Grafe und 329 http://www.mediaculture-online.de Enno Patalas, 1970 in der “Zeit”. Noch schwerer: einzusehen, daß beide recht haben könnten. Besonders der Verdacht rassistischer und faschistischer Tendenzen scheint weit hergeholt bei einem Film, der gedreht ist nach einem Jugendbuchklassiker, dessen Autor Erich Kästner zu denen gehörte, dessen Werke die Nazis auf den Scheiterhaufen warfen; einem Film, dessen Drehbuch von keinem Geringeren stammt als von Billy Wilder, der 1933 seine Heimat verlassen und ins Exil gehen mußte; einem Film, dessen Regisseur Gerhard Lamprecht in den zwanziger Jahren mit Arbeiten wie “Die Verrufenen”, “Menschen untereinander” und “Die Unehelichen” sich im Geiste Zilles und in dessen Milieu für “die im Schatten”, in den Berliner Slums Lebenden engagierte: Gestandene, aufrechte Demokraten alle drei, die über jeden Verdacht erhaben sind. Grafe/Patalas beziehen sich in ihrer Polemik auf Siegfried Kracauer, der den Film freilich auch “entzückend” nennt, was für ihn ein geradezu enthusiastisches Lob darstellt, und auch auf seinen legendären Erfolg im In- und auch im Ausland hinweist, aber doch auch anmerkt, daß die dem Buch in Ablauf und Charakterisierung streng folgende Geschichte “sich zu einem wahren Kinderkreuzzug” entwickelt, will sagen, manchmal zu fanatisch und rachsüchtig wirkt. Diese Geschichte, um sie noch einmal zu erzählen, handelt von dem kleinen Emil, der von seiner Mutter, die er über alles liebt, mit dem Zug nach Berlin geschickt wird. Dort lebt die Großmutter, der er 120 Mark bringen soll, eine Summe, die sich die Mutter sauer und mühsam erspart hat. Im Zug macht sich ein Fremder an Emil heran und stiehlt ihm das Geld. In Berlin angekommen, nimmt Emil die Verfolgung des Diebes auf – unterstützt von einer immer größer werdenden Schar neu und schnell gewonnener Freunde, die das Detektivspielen leidenschaftlich ernstnehmen und es so perfekt organisieren, daß schließlich die Polizei eingreift: Der Dieb ist ein langgesuchter Bankräuber, auf dessen Ergreifen eine hohe Belohnung ausgesetzt ist. Emil wird reichlich entschädigt für die erlittene Unbill und kehrt im Flugzeug nach Hause zurück, ein von der ganzen Stadt mit Jubel empfangener Held. 330 http://www.mediaculture-online.de Spätestens hier löst sich die kunstvoll aufgebaute Spannung in milder Ironie – die indes schon vorher immer wieder durchschimmerte: Weil der Film wie auch das Buch ja nichts weiter als eine nicht auf einem Schloß oder im Wald, sondern in der modernen Großstadt spielende Version des guten, alten Märchens ist, des Märchens vom Guten, der vom Bösen bedroht wird und Schlimmes erleiden muß, ehe er schließlich doch siegt: erzählt von einem, der fest daran glaubte – und daran, daß man es Kindern und Erwachsenen nicht oft genug neu erzählen könne, der sich der gattungsimmanenten Schwarzweißmalerei nicht entzog, sie aber durch feinen Humor und augenzwinkernde Selbstironie konterkarierte, und der einen Regisseur fand, der nicht zu den ganz Großen des deutschen Kinos gehört, aber mit grundsoliden Filmen zu dessen Ruf beigetragen hat. Lamprecht hat das Märchen-Schwarzweiß konsequent zum stilistischen Leitmotiv dieses Films gemacht. Er wurde sein Meisterwerk. Schon Kracauer hat gesehen, daß sich um den von Fritz Rasp in meisterlicher Selbstüberwindung unglaublich fies gespielten Dieb immer Schatten verbreitet, daß er selbstverständlich in Schwarz gekleidet ist, sich in einem schwarzen Mantel unsichtbar macht, jeder Zoll der Bösewicht aus dem Kindermärchen, während Emil und die Kinder der Helligkeit zugeordnet sind: Als der Dieb endlich gestellt ist, läßt strahlende Morgensonne alle unheimlichen Schatten verblassen. Das Licht siegt über die Finsternis und mit ihm siegen die Solidarität, die Gemeinschaft, der Geist der Freundschaft, der Ehrlichkeit, des Mutes über Falschheit, Verschlagenheit, Lüge, Gemeinheit. “Emil und die Detektive” gehört zu den wenigen Filmen aus der Weimarer Republik, die sich für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie einsetzten, die es wenigstens versuchten und sich bemühten, die soziale und politische Wirklichkeit jener Jahre abzubilden. Insofern ist der Märchen- auch ein Dokumentarfilm, der mit unprätentiöser Kameraführung und liebevoller Genauigkeit die quer durch Berlin gehende Jagd der Kinder nach dem “verfolgten Rattenfänger” (Kracauer) auch dazu nutzt, die damalige deutsche Hauptstadt und ihre Menschen zu porträtieren – wie es Drehbuchautor Wilder schon vorher in “Menschen am Sonntag” und später, als sie zerstört war, in “A Foreign Affair” versuchte. 331 http://www.mediaculture-online.de Solche Dimensionen in diesem Film zu entdecken, wird freilich nur die überraschen, die arrogant und verächtlich meinen, Kinderfilme seien nichts für Erwachsene: Diesen können alle lieben, er kann allen etwas geben. Für die Kinder ist er freilich ein besonderer Glücksfall, nimmt er sie doch wie wenige Kinostücke ernst und zeigt ihnen, wie stark Kinder sein können. Urs Jaeggi 111 Das Opfer Offret (Schweden/ Frankreich 1985) Buch und Regie: Andrej Tarkovskij. Kamera: Sven Nykvist. Musik: Johann Sebastian Bach. Schwedische und japanische Folklore. Darsteller: Erland Josephson, Susan Fleetwood, Valérie Malresse. Länge: 155 Minuten. Vertrieb: atlasfilm+av. Der siebente Spielfilm von Andrej Tarkovskij ist sein letzter geworden. Kurz nach Vollendung ist der im französischen Exil lebende Russe im Alter von erst 54 Jahren gestorben. “Das Opfer” ist mehr als ein Film. Dieses Werk muß als das Vermächtnis eines eigenwilligen Künstlers und eines unentwegten Suchers nach den letzten Dingen gelten. Der Film – 1986 entstanden – nimmt seinen Anfang in abgelegener schwedischer Küstenlandschaft mit einem stahlblauen See im Hintergrund. Hier pflanzt Alexander (Erland Josephson) zusammen mit seinem nach einer Stimmbandoperation noch stummen Sohn einen dürren Baum und erzählt dem Kind dazu die orientalische Legende vom gläubigen Mann, der einen abgestorbenen Strunk so lange und regelmäßig bewässert, bis eines Tages grüne Zweige ausschlagen: Ein Gleichnis des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Eine Handvoll Menschen dringt in die einsame Welt Alexanders ein, die dieser sich als begnadeter Diener des Wortes – er ist ein berühmter Schriftsteller und Essayist – 332 http://www.mediaculture-online.de philosophisch zurechtgelegt hat: Adelaide, die ängstlich Hysterische, Martha, die Jugendliche, Victor, der wissenschaftlich Auf- und Abgeklärte, der kauzige Briefträger, der mal Geschichtslehrer war und sich nun neben seinen Botengängen mit Nietzsche und parapsychologischen Erscheinungen beschäftigt. Sie alle wollen Alexanders Geburtstag mit einem Diner feiern, das Julia, die hingebungsvoll dienende Gouvernante, zusammen mit Maria, der geheimnisvollen Magd isländischer Abstammung, zubereitet. Gespräche im Familienkreis: Unter Belangloses mischt sich Existentielles; kleinere und größere Intrigen spielen sich ab, Sehnsüchte und Ängste werden formuliert, Egoismus flackert auf, Eitelkeit schlägt durch. Gezeigt wird – äußerst präzise wie immer bei Tarkovskij – der Mikrokosmos einer Gesellschaft, die sich in hohlem Raum bewegt, abgekoppelt von eigentlicher Sinnerfüllung, ständig bemüht, die innere Leere zu überspielen, die existentiellen Ängste zu verdrängen. Scheinwerte und Scheinwelten sind die Strohhalme, an die sich jeder klammert. Wortschwälle stürzen wie Kaskaden in ein unendliches Meer des Nichts. Dann das große Entsetzen durch eine kleine Meldung im Fernsehen: Raketen mit nuklearen Sprengköpfen sind abgefeuert worden. Die Welt steht in Erwartung des selbstverschuldeten Untergangs. Die Lichter gehen aus; aus der Bildröhre des Fernsehers flackern die letzten Lichtpunkte. Ungläubige Sprachlosigkeit hier, Hysterie dort als Reaktion. Der Arzt spritzt Beruhigungsmittel, betäubt das Entsetzen: sinnlose Symptombekämpfung. Inmitten der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus der bevorstehenden Katastrophe wirkt Alexander als einziger ruhig und gefaßt. Er zieht sich zurück, flüchtet ins Gebet. Dem Vater im Himmel verspricht er, alles hinzugeben, wenn seine Angehörigen verschont bleiben: das Opfer. Nach einer langen Nacht bricht der Morgen an. Es sieht aus, als wäre nichts geschehen. War alles nur ein böser Traum? Bereits quengeln und nörgeln die Mitglieder der Familie wieder. Alexander aber geht hin, türmt auf der Veranda Korbstühle auf, gießt Benzin darüber und reißt das Streichholz an. Bald steht das Haus lichterloh in Flammen. Alexander verzichtet darauf, über sein Opfer zu sprechen. Er legt alles ab, was in der menschlichen Gesellschaft als vernünftig gilt, schottet sich ab von jener Normalität, in der 333 http://www.mediaculture-online.de die menschliche Katastrophe sozusagen vorprogrammiert wird. Lieber geht er gleich ins Irrenhaus; allerdings nicht ohne Hoffnung: Der kleine, stumme Junge schleppt zwei Wasserkübel zum dürren Baum. Dann legt er sich ins Gras und schaut zwischen den Ästen der Krone zum Himmel empor. Erstmals im Film spricht er: “Am Anfang war das Wort. Warum, Vater?” Tarkovskijs “Das Opfer” ist von letzter Konsequenz. Auf die Suche nach dem Entscheidenden, dem in “Stalker” sein Spürtrupp nachforscht und auf die bohrende Sehnsucht nach einer in der Geborgenheit des Glaubens aufgehobenen Welt, wie sie in “Nostalghia” zum Ausdruck kommt, folgt jetzt die Gewißheit: Nur wenn der Mensch glaubt, liebt und hofft, vermag er zu überleben. Aber Glaube, Liebe und Hoffnung fordern eine radikale Abkehr vom eingeschlagenen Kurs und eine Überwindung der ideologischen Festungen, des Bollwerks des Materialismus und der Schanze des Egoismus. Es braucht die Überwindung auch jenes aufklärerischen, cartesianischen Geistes, der – fern aller Geheimnisse – alles im Griff haben und auf mathematische und physikalische Formeln reduzieren will. Für diese Botschaft, die Tarkovskij als eine wesentliche Lebenseinsicht an die nächste Generation weitervermittelt – er widmet “Das Opfer” seinem Sohn –, hat er eine Parabel geschaffen, die einerseits von bestechender Klarheit und Transparenz ist, andererseits in ihrem tiefsten Inneren geheimnisvoll bleibt. Der Film läßt sich nicht einfach aufbrechen. Zu seinem Kern vorzudringen, erfordert die Mitarbeit des Zuschauers. Tarkovskij wirklich zu begegnen, heißt in eine Welt der Symbole und Mythen einzutauchen, deren Maßstab nicht mehr die Stunde, sondern das Universum ist. Sven Nykvist, der schwedische Kameramann, hat “Das Opfer” in das magische Licht der Mittsommernacht getaucht, hat Bilder komponiert, die zu lkonen gerinnen: Nach strengen Mustern gefertigt auf der einen Seite, von dichtester Aussagekraft im Vordergründigen wie im geheimnisvoll Verborgenen andererseits. Horst Schäfer/Walter Schobert 334 http://www.mediaculture-online.de Nachwort Vor zwei Jahren wurde im “Rheinischen Merkur” das “Privatmuseum Film” geöffnet: 111 Meisterwerke der Filmkunst, die auf Video erhältlich sind, wurden ausgewählt und gewertet. Nicht in allen Fällen ist der Anspruch “Meisterwerk” haltbar. Von Regisseuren, die Filmgeschichte machten, waren manchmal nur Filme zweiter Wahl erhältlich. In der Startphase legten wir uns auf dreißig Titel fest und hofften, die Entwicklung des Marktes werde uns eine Fülle von Filmen bescheren, die aus dem vollen schöpfen läßt. Doch am Ende hatten wir große Mühe, die letzten Plätze sinnvoll zu besetzen. “Privatmuseum Film” ist im Endergebnis nur so gut, wie es das Angebot zugelassen hat. Wir identifizieren uns dennoch mit allen Titeln dieser Auswahl, bedauern gleichzeitig aber auch die großen Lücken, die einen Präsenzbestand zur internationalen Filmkunst und Filmgeschichte verhindern. Was wir vor zwei Jahren bemängelten – zu wenig FilmkunstKlassiker, kaum Beispiele für die nationalen Kinematographien von Ländern aus Asien, Afrika oder Südamerika, unterversorgte Genres – gilt unverändert. Dennoch: Das Erscheinungsbild der Videobranche hat sich in einigen Bereichen erfreulich verbessert. Die Video-Horror-Diskussion ist so gut wie abgeklungen, die Branche hat das Problem der Raubkopien besser in den Griff bekommen und viele Neugründungen oder Zusammenschlüsse auf Zeit von Programmanbietern und Vertriebsfirmen haben für Bewegung und Abwechslung gesorgt. Zu beklagen ist jedoch die mangelnde Sensibilität im Umgang mit der Geschichte des Films – von der “Ehrfurcht vor großen Meistern” ganz zu schweigen. Es bedarf noch vieler Anstrengungen, bis wir annähernd den Standard des Literatur- und Musikangebotes erreicht haben. Es war unsere Absicht, mit “Privatmuseum Film” eine Anthologie von großem Gebrauchswert zusammenzutragen – mit Filmen, deren Kenntnis für jeden lohnend ist, der sich für den Film und seine Geschichte interessiert. Abschließend stellen wir fest, daß wir trotz aller Einschränkungen und Engpässe dieses Ziel erreicht haben; ein Ergebnis, das wir dennoch später nachbessern, korrigieren möchten. 335 http://www.mediaculture-online.de Zu Beginn der Reihe haben wir unser Unbehagen formuliert, überhaupt Filme auf Video zu empfehlen und die Gründe dafür genannt, die uns (Kinogänger!) zu dieser Arbeit bewogen haben. Wir hofften, “daß ein ›Privatmuseum auf Video‹ den Film auf der Großen Leinwand nicht ersetzt, sondern erschließen hilft”. Diese Hoffnung geben wir nicht auf. In diesem Sinn haben wir, die in den letzten zwei Jahren im “Rheinischen Merkur/Christ und Welt” veröffentlichten Filmbesprechungen und -empfehlungen über die Einzelausgaben hinaus als Buch, Nachschlagewerk und “Museums-Führer” herausgegeben. Die Beobachtung des Videomarktes hat zu einigen Erkenntnissen geführt, die nicht schmeichelhaft sind für die Branche. Unvermeidbar ist wahrscheinlich, daß mit aufgemotzten Kassettenhüllen Käufer und Entleiher angesprochen werden sollen. Kinoplakate und Trailer verfahren nicht viel anders. Ärgerlich ist aber, daß in vielen Fällen Etikettenschwindel betrieben wird. Falsche oder irreführende Inhaltsangaben stehen auf dem Cover, die Laufzeiten sind ungenau und die Produktionsjahre unkorrekt oder überhaupt nicht angegeben. Festgelegte Berufsbezeichnungen für Regisseure, Kameraleute, Autoren, werden aus anderen Sprachen nicht sinngemäß ins Deutsche übersetzt: Aus dem Kameramann wird der Regisseur, aus dem Regisseur wird der Drehbuchautor. Die in vieler Hinsicht falschen Verpackungen finden ihre Zuspitzung in schlampigen Synchronisationen. Die Kritik trifft nicht in erster Linie die im “Privatmuseum Film” vorgestellten Produktionen, sondern die billigen Action- und Massakerfilme, die immer noch den größten Teil des Marktangebotes ausmachen. Nicht betroffen sind die marktbeherrschenden Programmanbieter, die ihre Gelder in annehmbare Synchronisationen investieren, die einen reichen Filmschatz im Rücken haben und über langjährige Erfahrungen beim Vertrieb anspruchsvoller Unterhaltungsware verfügen. In den deutschen Filmtheatern können aus Kapazitätsgründen pro Jahr nur rund 300 bis 350 Kinofilme aus der internationalen Produktion als Erstaufführungen starten. Zählt man die TV-Erstaufführungen (ARD und ZDF) hinzu, steigt die Zahl um weitere hundert Titel. Bei den Spielfilm-Video-Erstaufführungen errechneten wir für 1987 insgesamt etwa 400 336 http://www.mediaculture-online.de Produktionen mit einer Länge von mehr als 60 Minuten (reine Fernsehfilme und indizierte Titel ausgenommen); es waren gut 20 Prozent mehr als 1986. Was Neuerscheinungen angeht, hat Video folglich mit Kino und TV gleichgezogen. Außerdem steht den Zuschauern heute ein Gesamtangebot von circa 8000 Spielfilmen auf Video zur individuellen, zeitunabhängigen Verfügung. Damit kann das Kino nicht mehr konkurrieren. Gegenüber den Anfangsjahren des Videohandels hat sich das Verhältnis der Filmwirtschaft zur Videobranche etwas verbessert: Man redet miteinander. Wechselseitige Schuldzuweisungen am Besucherrückgang oder an Niveauverlusten sind verbraucht. Seit 1986 übertrifft der Videomarkt die Umsätze der Kinos; nun muß man sich arrangieren. Es geht um die gemeinsame Auswertung von Lizenzen, um die Aufteilung von Start- und Synchronisationskosten, um die Unterstützung “interessanter” bundesdeutscher Produktionen. Diese Entwicklung ist nicht unumstritten. Einige Verleiher und Kinobesitzer ziehen es vor, den Film im Kino zu fördern, in Kino zu investieren und Filme auf möglichst großen Leinwänden zu zeigen. Demgegenüber stellt das Deutsche Video-Institut (DVI) fest, daß Video heute schon mit einem Anteil von bis zu 60 Prozent zur Finanzierung von Spielfilmprojekten beiträgt: “Das unterstreicht die Bedeutung dieses Mediums für die gegenwärtige und zukünftige Filmkultur.” Die Euphorie des DVI in allen Ehren, aber man muß sich schon auf einen sehr weiten Kulturbegriff einigen, damit diese Gleichsetzung stimmt. Es ist noch immer richtig, zwischen dem “Film als Ware” und dem “Film als Kulturgut” zu unterscheiden. Wo Schrott angeboten wird und Filme verramscht werden, wäre etwas mehr Selbsterkenntnis und Zurückhaltung angebrachter. Es ist üblich geworden, daß in zunehmendem Maße kleine ausländische Fernseh-Serien als Videos zu uns kommen. Auf die meisten von ihnen kann man getrost verzichten, aber es sind auch Produktionen dabei, die unseren öffentlich-rechtlichen Anstalten gut anstehen würden. “Die Plutonium-Affäre” (Großbritannien 1985; Regie: Martin Campbell; Laufzeit circa fünf Stunden) ist ein solcher Fall. Diese britische TV-Produktion zählt zu den spannendsten und aufschlußreichsten Polit-Thrillern, die sich – vergleichbar mit den 337 http://www.mediaculture-online.de Filmen von Rainer Erler – mit illegalen Atom-Praktiken befassen. Der Film zeigt, wie mit Hilfe von Geheimdiensten Täuschungsmanöver inszeniert, Öffentlichkeit und Medien hintergangen werden. Er wurde mit sechs Oscars des britischen Fernsehens ausgezeichnet. Auch in einigen anderen Fällen hatten die Video-Anbieter die Nase vorn: “Blue Velvet” von David Lynch, “Crossroads” von Walter Hill, “Garp – und wie er die Welt sah” von George Roy Hill waren als Kassette früher da als auf der Leinwand. Der äußere und innere Zustand der Videobranche ist ablesbar an der alljährlichen Selbstdarstellung in Wiesbaden. Beim 3. Kongreß Ende August 1987 gab es gegenüber dem Vorjahr eine Umsatzsteigerung von 20 bis 30 Prozent; 6000 Besucher kamen zu den 85 Ausstellern, deren Präsentationsfläche sich im Vergleich zu 1985 verdoppelt hatte. Beim 4. Deutschen Video-Kongreß (8. bis 11. September 1988 in der Rhein-Main-Halle) blieb die Anzahl der Aussteller und der Besucher in etwa gleich: Die Zahl der Videorekorder in den Haushalten steigt zwar weiterhin, die Zahl der intensiven Nutzer von Videotheken ist hingegen rückläufig. Der Aufwärtstrend der Video-Wirtschaft hält jedoch an. Neue Programmanbieter sind hinzugekommen; das Titelangebot insgesamt ist vielfältiger geworden. Der Umsatz der Spielfilm-Programmanbieter stieg von (1986) 402 Millionen auf (1987) 525 Millionen Mark; der Absatz von bespielten Kassetten an den Fachhandel erweiterte sich von 3,6 auf 4,4 Millionen. Die Erwartungen für 1988 richteten sich auf sechs Millionen Kassetten mit einem Umsatz von 540 bis 575 Millionen Mark. Also: zufriedene Gesichter bei den Anbietern und Händlern allenthalben, auch wenn sich auf der Handelsebene die Verschärfung des Wettbewerbs über weiter sinkende Verleihpreise spürbar auswirkt. Bei dem 4. Deutschen Video-Kongreß in Wiesbaden wurden im Rahmen einer Video-Gala auch Preise vergeben. Der meistausgezeichnete Film ist der Überraschungs-Hit “Dirty Dancing” (bester Verkauf, weiblicher und männlicher Videostar des Jahres). “Beliebtester Video-Film des Jahres” wurde “Der Name der Rose”; er erzielte in den Videotheken zwischen dem 1.7.1987 und 30.6.1988 die meisten Vermietungen. Der hier erstmals verliehene Deutsche Video-Film-Preis erweist sich mit diesen Titeln und Namen als eine pure Verlängerung von Kino-Erfolgen, was aber nicht unsympathisch sein muß. Immerhin 338 http://www.mediaculture-online.de hätten ja auch “Platoon” oder “Rocky/Rambo/Schimanski”-Titel das Rennen machen können. Mit der Verleihung des Deutschen Jugend-Video-Preises will das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit seit 1985 Produktionen auszeichnen, die sich besonders für Kinder und Jugendliche eignen. Analog zum Deutschen Jugendbuch-Preis, den es seit über 25 Jahren gibt, sollen Orientierungswerte geschaffen werden, die sich positiv auf den Umsatz der speziell empfohlenen Titel auswirken. Dieses Ziel hat der Preis in den ersten Jahren seines Bestehens noch nicht ganz erfüllt; die mit ihm verknüpften Erwartungen werden enttäuscht. Ein Problem liegt mit Sicherheit in der Haltung einiger Videotheken, die aufgrund der Jugendschutzbestimmungen Kinder und Jugendliche gänzlich als Kunden ausschließen. Das hat der Gesetzgeber in dieser Konsequenz nicht beabsichtigt, doch die Videotheken selbst haben diese Fakten geschaffen und der Handel ist nun dabei, das zu überprüfen und zu revidieren. Erster Ansatz: “Woche des guten Kinder- und Jugendvideos” in den deutschen Videotheken; eine Gemeinschaftsveranstaltung, die BVV und IVD in Zusammenarbeit mit Unicef und dem Kinder- und Jugendfilmzentrum der Bundesrepublik Deutschland im September 1988 in allen deutschen Videotheken durchführten. Es wurden elf Titel ausgewählt, die als besonders wertvoll und förderungswürdig angesehen werden. Allesamt sind sie erhältlich. Diesen Vorstoß hin zur familienfreundlichen Videothek unterstützt ein anderes von sechs in der Bundesrepublik ansässigen Tochterfirmen der großen Hollywood-Studios gemeinsam betriebenes Vorhaben. Es wurde eine Gemeinschaftswerbung konzipiert, die auf “gute Unterhaltung für jede Altersgruppe und für jeden Geschmack” zielt. Über die großen Publikumszeitschriften hofft man, 70 Prozent der deutschen Besitzer von Video-Rekordern zu erreichen. Ziel dieser Aktion ist es, den Handel zu ermutigen, mehr Videotheken zu eröffnen, die auch für Kinder und Jugendliche zugänglich sind. Immerhin handelt es sich um das Kundenpotential der Zukunft. 339 http://www.mediaculture-online.de Videos für Kinder und Jugendliche nehmen im Angebot der öffentlichen Videotheken und Medienstellen schon jetzt einen breiten Raum ein. Nachdem das Berufsbild der Bibliothekare entsprechend erweitert wurde und sich das Deutsche Bibliotheksinstitut (DBI) an einigen erfolgreichen Modellprojekten beteiligt hat, ist eine Expansion über die bestehenden Initiativen hinaus absehbar. “Privatmuseum Film” mit seinen 111 Titeln zur Filmkunst und Filmgeschichte ist nicht nur ein Ratgeber für Cineasten. Die Videos dieser Serie sind gleichzeitig ein Präsenzbestandteil für Film- und Medienkunde, der in den kommenden Jahren komplettiert und erweitert werden kann. Das wurde erkannt. Von zentralen oder dezentralen Anschaffungsstellen öffentlicher Bibliotheken, Videotheken und Medienzentralen ist zu hören, daß sie mit den Titeln des “Privatmuseums Film” den Grundstock ihrer filmhistorischen Ecke bilden wollen. Diese Publikation – unser “Museumsführer” – ist folglich das “Buch zu den Meisterwerken der Filmkunst”. (Geschrieben zum Abschluß der Serie im Oktober 1988) 340 http://www.mediaculture-online.de Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren Thomas Brandlmeier, geboren 1950. Studium der Amerikanistik, Slawistik, Theaterwissenschaften sowie Biochemie. Dr. phil. Filmkritiker, Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, Herausgeber zahlreicher filmhistorischer Dokumentationen und Autor filmwissenschaftlicher Bücher. Fachgebiet: Filmkomödie. Lebt in München. Günter Engelhard, geboren 1937 in Frankfurt am Main, ist leitender Redakteur (Kultur) der Wochenzeitung “Rheinischer Merkur/Christ und Welt”. Er beobachtet die europäische Kunst- und Theaterszene für das Wirtschaftsmagazin “Capital”, ist Autor des Kunstmagazins “art”, Mitarbeiter der Schweizer Wochenzeitung “Die Weltwoche” und des Westdeutschen Rundfunks. Nach Redaktionsjahren in Dänemark, Bremen und Stuttgart war er 1970/71 Ressortleiter Feuilleton der “Frankfurter Rundschau”, 1972/73 Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus. 1975 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis für Kultur. Hans Gerhold, geboren 1948, Studium der Publizistik, Anglistik/Amerikanistik und Romanistik. Dr. phil., MA. Von 1980 bis 1983 Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Publizistik Münster. Autor einer Monographie über Jean-Pierre Melville (München 1982) und von “Medientransfer. Kurzgeschichten in Kurzfilmen” (Münster 1983); Fischer Taschenbuch: “Kino der Blicke”. Der französische Kriminalfilm. Eine Sozialgeschichte (Bd. 4484). Filmhistoriker, lebt als freier Journalist in Münster. Roff-Ruediger Hamacher, geboren 1946 in Bensheim an der Bergstraße. Buchhändler. Studium der Sozialarbeit. Gründung von und Mitarbeit bei verschiedenen Filmclubs. Seit 1971 Dozent für Medienpädagogik an der Fachhochschule Köln. Freier Mitarbeiter bei Tageszeitungen, Rundfunk und Filmfachzeitschriften. Programmkinomacher in Köln und Aachen. Lebt in Köln. Hilmar Hoffmann, geboren 1925. Bis 1970 Leiter der Internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen, seit 1970 Kulturdezernent in Frankfurt am Main . Lehrbeauftragter an den Universitäten Bochum, Frankfurt am Main, Marburg und Tel Aviv; Honorarprofessor. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. “Theorie der Filmmontage”; 341 http://www.mediaculture-online.de Fischer Taschenbücher: “Kultur für alle” (Bd. 3036), “Kultur für morgen” (Bd. 3082) und “Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit” (Bd. 4404). Urs Jaeggi, geboren 1941 in Bern/Schweiz. Redakteur der Medienzeitschrift “ZOOM” in Bern. Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission und Präsident des Begutachtungsausschusses, der beim Bundesrat als Expertengremium beantragt, welche Filmprojekte in den Genuß von Herstellungsbeiträgen durch den Bund kommen sollen. Heinz Kersten, geboren in Dresden. Studium der Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft. Film- und Theaterkritiker, freier Mitarbeiter verschiedener Zeitungen und Rundfunkanstalten. Beschäftigt sich besonders intensiv mit dem Film in der DDR und der Sowjetunion. Autor zahlreicher Buchbeiträge. Lebt in Berlin. Reinhard Kleber, geboren 1958 in Merzig/Saar. Studium der Germanistik, Geschichte und Publizistik bzw. Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Mainz und Frankfurt. Freie Mitarbeit bei Zeitungen und Zeitschriften. 1987/88 Seminarassistent bei der Zentralen Fortbildung der Programmitarbeiter von ARD/ZDF in Frankfurt und Wiesbaden. Seit 1988 Radio-Redakteur in Stuttgart. Uwe Künzel, geboren 1954 in Berlin. Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften. Seit 1978 als freier Filmjournalist in Freiburg tätig. Autor einer Monographie über Wim Wenders. Günter Lebailly, geboren 1937 in Warnemünde (Mecklenburg). Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft, Musik- und Kunstgeschichte in Köln und Wien. Seit 1962 als pädagogischer Mitarbeiter an Volkshochschulen tätig, seit 1968 hauptberuflich, derzeit in Gütersloh. Filmfreund von Jugend an. Zum genaueren Kenner der Materie vor allem durch die Bewegung der kommunalen Kinos ab Ende der 60er Jahre geworden. Selbst zwölf Jahre lang Leiter einer kommunalen Spielstelle. Hans Günther Pflaum, 1941 in München geboren. Studium der Germanistik, Zeitungswissenschaften und Theatergeschichte. 1972-76 Redakteur der “FilmKorrespondenz”, seither freier Journalist, u. a. für die “Süddeutsche Zeitung”. Autor mehrerer Filmbücher. Lebt in München. 342 http://www.mediaculture-online.de Helmut Regel, geboren 1935 in Frankfurt/Oder. Studium der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte. Einige Jahre Mitarbeiter der Zeitschrift “Filmkritik” in München. Archivoberrat im Bundesarchiv Koblenz, dort seit 1973 Referent im Filmarchiv, zuständig für Dokumentarfilm bis 1945, Spielfilm und Filmdokumentation. Zahlreiche Publikationen, u. a. “Der deutsche Stummfilm”, “Der Spielfilm im Dritten Reich”. Horst Schäfer, geboren 1942 in Duisburg. Pädagogischer Mitarbeiter der Volkshochschule Duisburg bis 1977. Ab 1970 Aufbau und Leitung des Kommunalen Kino Duisburg bis zur ersten Duisburger Filmwoche 1977.1978 und 1979 Mitarbeiter bei atlas Film + AV Duisburg. 1980 und 1981 Referent für Freizeitpolitik bei der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg. Seit 1982 Leiter des Kinder- und Jugendfilmzentrums in der Bundesrepublik Deutschland. Lebt in Köln. – Regelmäßige Beiträge für Rundfunk und Presse; Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen über Medienpädagogik, Medienpolitik und Film (u.a. Herausgeber des “Fischer Film Almanach”). Hans-Joachim Schlegel, geboren 1942, studierte Slawistik, Germanistik und Philosophie. Lebt als freier Filmwissenschaftler, Kritiker und Übersetzer in Berlin. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft. Mitarbeiter der Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen (1976-1987) und der Internationalen Filmfestspiele Berlin seit 1986. Herausgeber, Übersetzer und Kommentator einer sechsbändigen Edition der Schriften von Sergej Eisenstein und von Andrej Tarkovskijs “Die versiegelte Zeit”. Fachpublikationen zur Theorie und Geschichte vor allem der slawischen, arabischen und ungarischen Völker sowie zur avantgardistischen Frühzeit des Films. Walter Schobert, geboren 1943 in Erlangen (Franken), Studium der evangelischen Theologie und der Theaterwissenschaft. Von 1967 bis 1969 Vikar in Münchberg. Gründung und Mitarbeit bei verschiedenen Filmclubs. Von 1970 bis 1973 Filmreferent bei der Evangelischen Konferenz für Kommunikation. Seit 1974 Leiter des Kommunalen Kinos Frankfurt am Main. Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zum Film (u. a. Herausgeber des “Fischer Film Almanach”). Lehrauftrag für Filmgeschichte an der Universität Frankfurt. Professor an der HfG Offenbach. Direktor des Deutschen Filmmuseums Frankfurt a. M. 343 http://www.mediaculture-online.de Leo Schönecker, geboren 1930. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften sowie Soziologie, Dr. jur. Leitet das Filmkundliche Archiv und Referat für Filmgeschichte in Köln, korrespondiert in Deutschland u.a. für “film-dienst” und “Film-Korrespondenz”. Lebt in Köln. Wolfgang Schwarzer, geboren 1947 in Melle (Niedersachsen). Studium der Romanistik, Germanistik und Literaturwissenschaft. Seit 1972 Mitarbeit beim Kommunalen Kino Duisburg. Veröffentlichungen schwerpunktmäßig zum französischen Film. Regelmäßige Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Vortragstätigkeit über Themen französischer Kultur. Arbeitet als Fachbereichsleiter für romanische Sprachen bei der Volkshochschule der Stadt Duisburg. Wolfram Tichy, Herausgeber und Mitverfasser” von “Buchers Enzyklopädie des Films” sowie mehrerer Biographien über Chaplin, Keaton, Lloyd und andere Persönlichkeiten des amerikanischen Films. Lebt als Mitarbeiter eines Unternehmens der Filmbranche in München. Meinolf Zurhorst, geboren 1953 in Berg. Gladbach. Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Kunstgeschichte, Ethnologie und Philosophie. Seit 1977 regelmäßige, freie Mitarbeit bei Magazinen, Zeitungen und Fernsehen. Buchveröffentlichungen über den Gangster- und Kriminalfilm, Jack Nicholson, Lino Ventura, Robert De Niro, die neuen Gesichter von Hollywood und Mickey Rourke. Lebt als Film- und Videoproduzent in Köln. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 344
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