111 Meisterwerke des Films. Das Video

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Autoren: Engelhard, Günter / Schorbert, Walter / Schäfer, Horst.
Titel: 111 Meisterwerke des Films. Das Video-Privatmuseum.
Quelle: Günter Engelhard/Horst Schäfer/Walter Schorbert in Zusammenarbeit mit der
Wochenzeitung 'Rheinischer Merkur/Christ und Welt' (Hrsg.): 111 Meisterwerke des Films.
Das Video-Privatmuseum. Frankfurt a.M. 1989.
Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber.
Günter Engelhard/Horst Schäfer/Walter Schorbert u. a.
111 Meisterwerke des Films.
Das Video-Privatmuseum.
Inhaltsverzeichnis
Die Tücken der Serie: Wie das “Privatmus eu m Film” entstand ...................................................................6
Vorwort ...........................................................................................................................................................................
10
1 Panzerkreuzer Potemkin ......................................................................................................................................1 3
2 Casablanca .................................................................................................................................................................16
3 If....................................................................................................................................................................................18
4 Die Ferien des Herrn Hulot..................................................................................................................................21
5 Ekel...............................................................................................................................................................................24
6 Westside Story ..........................................................................................................................................................27
7 Zazie in der Metro...................................................................................................................................................30
8 Citizen Kane ..............................................................................................................................................................33
9 Modern Times ...........................................................................................................................................................36
1
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10 Der Untertan ...........................................................................................................................................................39
11 Mephisto ...................................................................................................................................................................42
12 Sacco und Vanzetti ...............................................................................................................................................45
13 Orfeu Negro ............................................................................................................................................................48
14 Lohn der Angst ......................................................................................................................................................51
15 Die Geliebte des französis ch e n Leutnants ..................................................................................................5 3
16 Die große Illusion .................................................................................................................................................55
17 La Strada ...................................................................................................................................................................57
18 Außer Atem ............................................................................................................................................................6 0
19 Der Fremde im Zug..............................................................................................................................................6 3
20 Der blaue Engel ......................................................................................................................................................66
21 Die sieben Samurai...............................................................................................................................................69
22 Vom Winde verweht ............................................................................................................................................7 1
23 Metropolis ................................................................................................................................................................74
24 The Getaway ...........................................................................................................................................................78
25 Lucky Luciano ........................................................................................................................................................81
26 Die durch die Hölle gehen .................................................................................................................................8 3
27 Eine Nacht in Casablanca ...................................................................................................................................8 6
28 Denn sie wissen nicht, was sie tun................................................................................................................8 9
29 Der eiskalte Engel.................................................................................................................................................92
30 Tommy .....................................................................................................................................................................94
31 Ich war 19 ................................................................................................................................................................97
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32 Tote schlafen fest .................................................................................................................................................9 9
33 Die Faust im Nacken .........................................................................................................................................1 02
34 Das 1. Evangelium Matthäus ..........................................................................................................................1 05
35 The Purple Rose of Cairo................................................................................................................................1 08
36 Karl Valentin I und II........................................................................................................................................1 10
37 Fontane Effi Briest ..............................................................................................................................................1 14
38 Der Teufelshauptmann ....................................................................................................................................1 17
39 Molière ...................................................................................................................................................................120
40 Triumph des Willens .........................................................................................................................................123
41 Die Fantome des Hutmachers ........................................................................................................................1 27
42 Von Angesicht zu Angesicht ..........................................................................................................................1 30
43 Fanfan der Husar................................................................................................................................................132
44 2001: Odysse e im Weltraum ..........................................................................................................................1 35
45 Große Freiheit Nr. 7...........................................................................................................................................138
46 Belle de Jour – Schöne des Tages ................................................................................................................1 41
47 Einer flog über das Kuckucksne st ...............................................................................................................1 43
48 Das Kabinett des Dr. Caligari.........................................................................................................................1 46
49 Die Spur des Falken ...........................................................................................................................................1 50
50 Nosferatu ...............................................................................................................................................................153
51 Apocalyp s e Now .................................................................................................................................................156
52 Singin' in the rain...............................................................................................................................................1 59
53 King Kong und die weiße Frau......................................................................................................................1 62
3
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54 Gilda........................................................................................................................................................................165
55 Es war einmal......................................................................................................................................................1 68
56 Züchte Raben .......................................................................................................................................................170
57 Mein Kampf ..........................................................................................................................................................1 73
58 Der Tod in Venedig ...........................................................................................................................................1 76
59 Kinder des Olymp ..............................................................................................................................................1 79
60 Easy Rider.............................................................................................................................................................1 81
61 Jeder für sich und Gott gegen alle...............................................................................................................1 84
62 Taxi Driver ............................................................................................................................................................187
63 Die Drei von der Tankstelle ...........................................................................................................................1 90
64 Ein Mann zu jeder Jahreszeit .........................................................................................................................1 92
65 Klassen Feind .......................................................................................................................................................195
66 Der Student von Prag........................................................................................................................................197
67 1900 ........................................................................................................................................................................2 01
68 Yol – Der Weg......................................................................................................................................................2 04
69 Die Nacht von San Lorenzo ............................................................................................................................2 07
70 Das Geld.................................................................................................................................................................210
71 Der Strohmann ....................................................................................................................................................2 13
72 Törichte Frauen ...................................................................................................................................................216
73 Spiel mir das Lied vom Tod ...........................................................................................................................2 19
74 Network .................................................................................................................................................................222
75 Kameradschaft ....................................................................................................................................................2 24
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76 Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger................................................227
77 Die Brücke .............................................................................................................................................................230
78 Liebe und Anarchie ............................................................................................................................................234
79 Anatomie eines Mordes ...................................................................................................................................2 36
80 Paris, Texas ...........................................................................................................................................................2 39
81 Die offizielle Geschichte ..................................................................................................................................2 42
82 Blow up..................................................................................................................................................................245
83 Danton ....................................................................................................................................................................247
84 Uliisses ...................................................................................................................................................................250
85 Z................................................................................................................................................................................253
86 Gloria......................................................................................................................................................................256
87 Die roten Schuhe ................................................................................................................................................2 59
88 Berlin. Die Sinfonie der Großstadt...............................................................................................................2 63
89 Der kleine Cäsar.................................................................................................................................................2 66
90 Fahrenheit 451 ....................................................................................................................................................2 69
91 I ... wie Ikarus .......................................................................................................................................................272
92 Nur Pferden gibt man den Gnadensch u ß ..................................................................................................2 74
93 Verrückte Musikanten ......................................................................................................................................2 77
94 Adel verpflichtet ................................................................................................................................................2 80
95 Die verlorene Ehre der Katharina Blum.....................................................................................................2 83
96 James Bond 007 – Goldfinger ........................................................................................................................2 86
97 Wie ich den Krieg gewann ..............................................................................................................................2 88
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98 Frühstück bei Tiffany .......................................................................................................................................2 91
99 Buster und die Polizei .......................................................................................................................................2 94
100 Doktor Schiwago ..............................................................................................................................................297
101 Die Regenschirme von Cherbourg ............................................................................................................3 00
102 Der Kontrakt des Zeichners .........................................................................................................................3 02
103 Nackte Jugend ...................................................................................................................................................307
104 Ronja, die Räubertochter ..............................................................................................................................3 10
105 Jäger des verlorenen Schatzes ...................................................................................................................3 12
106 Gandhi ..................................................................................................................................................................315
107 The Killing Fields .............................................................................................................................................318
108 Asphalt - Cowboy ..............................................................................................................................................321
109 Die zehn Gebote ...............................................................................................................................................3 24
110 Emil und die Detektive ..................................................................................................................................3 27
111 Das Opfer ............................................................................................................................................................330
Nachwort .....................................................................................................................................................................332
Kurzbiographien der Herausgeb er und Autoren ..........................................................................................3 39
Günter Engelhard
Die Tücken der Serie: Wie das “Privatmuseum Film” entstand
Koryphäen der Literaturkritik haben in den siebziger Jahren “Die Zeit-Bibliothek der
hundert Bücher” zusammengestellt. Jeweils hundert Wochen lang kam in jeder Ausgabe
ein Buch zur Sprache. Die ausgewählten Werke stehen in den Privatbibliotheken
anspruchsvoller Zeitungsleser; die gehen gewiß jedesmal mit sich zu Rate, wenn es gilt,
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dem Elite-Paket ein Buch eigener Wahl hinzuzufügen. Wird man sich blamieren, oder
gelingt der Beweis, daß die Kriterien für die Beschaffenheit eines weiteren Stücks
Weltliteratur begriffen worden sind?
Das publikumsfreundliche Fernsehen, stets um anspruchsvolle Sendestoffe verlegen,
befreit den Zuschauer von der Last der Entscheidung. In einer verblüffenden Anwandlung
kulturellen Sendungsbewußtseins wurden “100 Meisterwerke” der Malerei kurzerhand auf
“1000 Meisterwerke” verlängert, starke Qualitätschwankungen inbegriffen. Die hundert
Bücher kann sich jeder kaufen. Die tausend Bilder hängen in den internationalen Museen.
Die komplette Übersicht ist jederzeit durch Reproduktionsverfahren zu haben.
Ganz offen für Auge und Ohr liegt aber noch das Territorium der veränderlichen, in
bewegten Bildern erfaßten künstlerischen Wahrnehmung vor uns. Die schöne kalte
Wohnlichkeit des audiovisuellen Vermittlungsmobiliars verlockt dazu, sich nun auch diese
Botschaften frei Haus liefern zu lassen: Der auf optische und akustische Impulse
reagierende Mensch mit Sammlertrieb will sich die wichtigsten Produktionen im
persönlichen Umfeld verfügbar halten.
So wird die häusliche Bibliothek immer stärker von der Compact-Diskothek und
neuerdings unaufhaltsam von den Kassetten mit Filmkunst des 20. Jahrhunderts bedrängt
– dem zeitgemäßen Sammlermaterial für bürgerliche Kommunikationskultur. Auf beiden
Gebieten läßt sich die Zahl der Sammlungsstücke vorläufig nicht limitieren. Während die
Meisterwerke der Literatur und der Malerei dem Buchstaben und der Farbe nach
unveränderlich feststehen, ist das Repertoire faszinierender Interpretationsweisen der
Musikliteratur noch längst nicht erschöpft, schreitet die Produktion filmischer Meisterwerke
unaufhaltsam voran.
Die im Grunde beliebige, lediglich von der Optik her originelle Signalzahl 111 trägt
unbegrenzter Sammlertätigkeit Rechnung: Vollständigkeit ist einstweilen nicht zu haben.
Innerhalb privater Diskotheken lassen sich musikalische Werke leicht durch bessere
Interpretationen und Ersteinspielungen ersetzen; die Video-Industrie hat eine
systematische Edition von Meisterwerken für die häusliche Filmothek noch gar nicht in
Angriff genommen. 111 Empfehlungen ermutigen den Sammler folglich nur zu einer Art
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Grundausstattung; jenseits der Zahlengrenze wird er fürderhin ganz allein mit erhöhter
Aufmerksamkeit auf das wechselhafte Angebot meisterlicher Neuheiten achten müssen.
Mitte des Jahres 1986 war im Feuilleton der seit 1980 fusionierten Wochenzeitungen
“Rheinischer Merkur/Christ und Welt” die Serie “111 Schlüsselwerke der Musik: Stücke,
die den Ton angeben” beendet worden. Experten aus dem Bereich der Musikwissenschaft
hatten die Auswahl getroffen und durch ihre Plädoyers sogar gelegentlich die PhonoIndustrie zur Ersteinspielung vernachlässigter Partituren animiert. Friedrich Hommel,
Leiter des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD), überraschte den
verantwortlichen Redakteur Michael Globig damals mit einem bibliophilen Nachdruck der
gesamten Serie – gebundenes Reclam-Format in Miniatur-Auflage: Die zehn Exemplare
haben inzwischen einen gewissen Sammlerwert.
Die nächste Serie zielte von vornherein auf größere Breitenwirkung und zugleich auf
höheren Nutzwert. Das Weltbild der Leserschaft sollte von Woche zu Woche durch jene
kopierbaren, vergleichsweise aktuellen “Meisterwerke” ergänzt, korrigiert, irritiert werden,
mit denen der Film im Populärbereich des Kinos auf äußere Wirklichkeiten künstlerisch
reagiert. Vom ersten Erscheinungstag an erwachte die Neugier. Immer wieder wurde die
Bitte geäußert, alle “111 Meisterwerke des Kinos auf Video” gesammelt zu publizieren.
Die Gesamtplanung der Serie gemeinsam mit den Herausgebern des “Fischer Film
Almanach” öffnete uns das Tor zu “Fischer Cinema”. Walter Schobert, Direktor des
Deutschen Filmmuseums in Frankfurt, und Horst Schäfer, Leiter des Kinder- und
Jugendfilmzentrums in der Bundesrepublik Deutschland, delegieren im Einführungstext
die Kritikwürdigkeit der Auswahl an die Verleih- und Verkaufsfirmen: Deren meist
disparates, von einem künstlerischen Konzept noch kaum geprägtes Angebot, nötigte uns
manch anfechtbare Entscheidung ab. Wir trösteten uns mit dem Gedanken, auch am
Beispiel zweitrangiger Filme wenigstens hilfreiche Hinweise darauf geben zu können, wie
ein anspruchsvolles “Privatmuseum Film” eigentlich beschaffen sein müsse.
Die Idee ist inzwischen begriffen worden. Dank der Schützenhilfe des “stern”-TVMagazins, das kurz nach Beginn der Serie im “Rheinischen Merkur/Christ und Welt”
hundert Wochen lang ein eigenes Wunschprogramm von 100 weltbesten Filmen zu
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veröffentlichen begann, haben sich einige Video-Anbieter entschlossen, bessere Qualität
zu riskieren. Bei Drucklegung dieses Buches sind bereits einige Filme durch bessere
Arbeiten der gleichen Regisseure ersetzt worden. So wird die Serie ihrer animierenden
Funktion gerecht: Noch ist ja eine historisch konzipierte Video-Anthologie wichtigster
Werke der Filmgeschichte für die private Sammlung nicht einmal in Ansätzen sichtbar.
Unsere erste utopische Liste – zwischenzeitlich bei Zusammenkünften in Frankurt, Köln
und Bonn immer wieder betrüblichen Konzessionen an das aktuelle Angebot unterworfen
– beginnt mit den Namen Lumière und Méliès. Sie fährt sogleich fort mit “Birth of a Nation”
und dem ersten epischen Sozial-Panorama “Intolerance” (1916) von David Wark Griffith.
Auf Victor Sjöström (“Fuhrmann des Todes”), Wsewolod Pudowkin (“Mutter” und “Sturm
über Asien”), Abel Gance (“Napoleon”), Carl Theodor Dreyer (“Ordet”, “Passion der
Jeanne d'Arc”), Jean Vigo (“L'Atalante”) mußte verzichtet werden. Es fehlen zum Beispiel
die Namen Porter, Pastrone, Wertow, Dowshenko, Ives, Wassilew, Pereira, Rocha, Munk,
Angelopoulos, Straub, Ozu, Eustache, Tanner. Von Regisseuren wie G. W. Pabst, Luis
Buñuel, John Cassavetes, Robert Altman, Andrzej Wajda, Louis Malle waren nicht die
wichtigsten Filme verfügbar.
Unsere Autoren waren bereit, im Wechsel mit strengen künstlerischen Kriterien hin und
wieder auch jene perfekten Strategien zu würdigen, mit denen es gelang, das Publikum
gleich massenweise ins Kino zu locken sei es durch die starken Gefühlswirkungen des
Südstaaten-Melodrams “Vom Winde verweht” oder durch die verheerende Faszination
des nationalsozialistischen Kultfilms “Triumph des Willens”. Auch die ästhetischen
Verführungskünste des Mediums müssen beim Aufbau einer klassischen “Videothek der
Unterhaltung und des Wissens” dokumentiert werden.
Der Funke ist bereits auf den Verband Deutscher Bibliothekare übergesprungen. Noch
befand sich die Serie auf halber Strecke, als die Empfehlung ausgesprochen wurde, “111
Meisterwerke des Kinos auf Video” als Grundausstattung künftiger BibliotheksVideotheken zu nutzen. Und als die Universität von Tel Aviv ihrem Gastprofessor,
Frankfurts filmkundigen Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann, den Wunsch nach
sämtlichen 111 Kopien zu Lehrzwecken für den kinematographischen Nachwuchs
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übermitteln ließ, erblickten wir darin die Bestätigung, daß sich unser Sammlungsprojekt
auf dem richtigen Entwicklungsweg befand.
Auf der empfohlenen Basis wächst meine eigene Videothek inzwischen weiter. In den
mitternächtlichen Lichtstunden von ARD und ZDF habe ich inzwischen fast alle
Tarkowskij- und Truffaut-Filme aufgezeichnet. Murnaus “Faust” ist mir ebenso wenig
entgangen wie “Die freudlose Gasse” von G. W. Pabst. Raritäten wie Derek Jarmans
wunderbarer “Caravaggio” und Fredi Murers “Höhenfeuer” wurden hinzugewonnen. Sogar
die ungekürzte Fassung von Griffith' “Intolerance” habe ich (nur für private Zwecke) an
einem frühen Sonntagmorgen erwischt. Die Sucht wächst. Und mit ihr der Drang zur
Aussonderung der weniger guten Filme. Am Ende könnte es durchaus sein, daß meine
“111 Meisterwerke” mit denen, die jetzt in diesem Buch zusammengefaßt worden sind,
kaum noch übereinstimmen.
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Horst Schäfer/Walter Schobert
Vorwort
(Geschrieben zum Start der Serie im August 1986)
Schon 1939 versuchte das New Yorker Museum of Modern Art einen repräsentativen
Überblick über die Filmgeschichte. Und 1958 wurden anläßlich der Brüsseler
Weltausstellung renommierte Kritiker aus aller Welt gebeten, die “Besten zwölf Filme der
Filmgeschichte” zu benennen. Die Reihenfolge mag sich geändert haben, die Filmtitel und
hauptsächlich die Namen der Regisseure wären wohl auch heute noch in jeder Hitparade
zu finden:
Eisensteins “Panzerkreuzer Potemkin”, de Sicas “Fahrraddiebe”, Chaplins “Goldrausch”,
Dreyers “Die Passion der Jeanne d'Arc”, Renoirs “Die große Illusion”, Stroheims “Greed”,
Griffith' “Intolerance”, Pudowkins “Mutter”, Welles' “Citizen Kane”, Dowshenkos “Erde”,
Murnaus “Der letzte Mann”, Wienes “Das Kabinett des Dr. Caligari”. Seither hat es da und
dort Versuche gegeben, die Meisterwerke des Films zu einem Kanon
zusammenzufassen. “Cento film da salvare” (100 Filme für die Insel also) hieß ein Buch.
“Eine Geschichte des Films in hundert Programmen” (ein Trick, weil ein Programm
mehrere Filme umfassen kann) wurde vor Jahren im Kommunalen Kino zu Frankfurt
organisiert. Wir stritten damals engagiert und lustvoll mit Urs Jaeggi und Ulrich Gregor,
dem Co-Autor der “Geschichte des Films” und Leiter des Berliner “Arsenal”. Sein
Unbehagen an der Auswahl, am Kompromiß, am Verzicht auf manchen liebgewonnenen
Film wird nicht gewichen sein, als er kurze Zeit später ein ähnliches Unternehmen startete
– mit 150 Filmen. Seither wissen wir, daß Freundschaften gefährdet sein können bei
solcher Arbeit der Auswahl, daß hundert Filme so gut sind wie 111 – und nie Zufriedenheit
zu erzielen ist.
Bewußt geworden ist uns, daß jede Auswahl endlich ist, immer nur ein Notbehelf, daß die
ausgewählten Filme austauschbar sind, daß oft eigentlich nicht der Einzelfilm, sondern
das Gesamtwerk eines Regisseurs gemeint ist: Eisenstein könnte auch für “Oktober”
stehen, Murnau für “Nosferatu” und “Sunrise”, Lang für “Metropolis” und “Dr. Mabuse”,
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Buñuel für “Chien andalou” und “Viridiana”, und Howard Hawks müßte, natürlich, viermal
genannt sein. Nicht übersehen läßt sich auch ein nationaler Blickpunkt, wenn es auch
fragwürdig ist, dem Filmschaffen der Dritten Welt so wenig Rechnung zu tragen. Diese
Länder weisen ja nicht nur quantitativ große nationale Kinematografien auf, sondern sind
Japan, Indien – geradezu klassische Filmländer geworden. In Südostasien und
Lateinamerika gibt es junge Filmländer mit aufregenden Entwicklungen. Wer kann von
hier aus festlegen, was wirklich Schlüsselwerke sind für diese Länder? Die Fixierung auf
Europa und die USA ist also zwar bedauerlich, aber unvermeidlich.
Mit Bedacht heißt die Serie “Privatmuseum auf Video”. Darin liegt beides, das größte
Handikap und die große Chance dieses Unterfangens. Die Beschränkung auf Filme, die
als Videokassette verfügbar sind, engt die subjektiven und objektiven Kriterien der
Auswahl noch einmal und ganz entscheidend ein: Indem sie sie abhängig macht von
einem Markt, der von allem möglichen beherrscht wird, nur nicht von einem Gedanken an
die Filmkunst, und den einer, der an ihm beteiligt ist, schlicht “extrem filmfeindlich” nannte.
Die Auswahl konnte sich nicht, utopisch oder idealtypisch, nach einer abstrakten
Filmgeschichte richten, sondern nach den konkreten Gegebenheiten des in der
Bundesrepublik verfügbaren Angebotes, das sich auf über 6000 Titel beläuft. Durchforstet
man dieses Angebot, so reduzieren sich die in Frage kommenden Filme sehr schnell auf
ein paar hundert, die bei einer filmgeschichtlichen Betrachtung im weitesten Sinne
erwägens- oder erwähnenswert sind. Beim strengeren Maßstab des “Schlüsselwerks”
bleiben zur Zeit nicht mehr als 30 bis 40 Titel übrig, die ernsthafte Diskussion verdienen,
das heißt: die repräsentativ verschiedene Stilrichtungen, Epochen, Persönlichkeiten
visualisieren. Es überwiegt ganz eindeutig die amerikanische Produktion der letzten
zwanzig Jahre. Ein paar frühe deutsche Filme und einige Beispiele für das Filmschaffen
von Nachbarländern ändern nichts daran, daß entscheidende Filme fehlen. Augenblicklich
bietet kein Videohändler Werke von Dreyer, Pudowkin, Gance oder Ophüls an.
Sozialkritische Filme aus dem Amerika der 30er Jahre sind ebenso wenig erhältlich wie
exemplarische Filme des Neorealismus, der Nouvelle Vague oder des sozialistischen
Filmschaffens. Manchmal gibt es Filme von bedeutenden Regisseuren. Aber ist “Belle de
jour” beispielhaft für Buñuel, der “Killer von Alabama” für Buster Keaton?
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Aber der Videomarkt ist im Umbruch, die Goldgräber und/oder Raubritterzeiten sind
vorbei. Es kann gut sein, daß bald neben Erstaufführungen auch wichtige filmhistorische
Werke angeboten werden. Überdies ist für private Zwecke der Mitschnitt erlaubt. Auch
ausländische Quellen kämen in Frage, zum Beispiel die vorzügliche und ausschließlich
am filmhistorischen Wert orientierte Video-Edition des Britischen Filminstituts. Über die
Texte zu den Einzelfilmen werden die Autoren den Gesamtzusammenhang herzustellen
versuchen. Am Ende ist, so hoffen wir, trotz aller Einschränkungen eine Anthologie von
großem Gebrauchswert entstanden – mit Filmen, deren Kenntnis für jeden lohnend ist,
der sich für den Film und seine Geschichte interessiert.
Nicht den kleinsten Kummer macht uns der Gedanke, daß es sich bei dem ganzen
Unternehmen um einen weiteren Tort handeln könnte, der dem Kino angetan wird – weil
die Leser noch mehr davon abgehalten werden, ins Kino zu gehen. Doch das ist eine
Frage, die sich für den, der privilegiert in München, Berlin oder Frankfurt Kinematheken
und Filmmuseen mit hervorragendem Programm und exzellenter Technik besuchen kann,
anders stellt als für den, der in einer Stadt ohne Kino lebt. Ohne die Reihen des
Fernsehens bliebe für viele: Nichts. Wir gehören ganz gewiß zu denen, die mit
Unbehagen sehen, daß eine Generation statt mit dem Kino mit Bildschirm und Recorder
heranwächst. Aber gerade ihr muß man Entscheidungshilfen geben.
Die Autoren dieser Serie möchten noch einmal darauf hinweisen, daß ein “Privatmuseum
auf Video” den Film auf der Großen Leinwand nicht ersetzen kann, sondern erschließen
will.
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Hans-Joachim Schlegel
1 Panzerkreuzer Potemkin
Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925)
Regie: Sergej Eisenstein. Buch: Nina Agadshanowa. Kamera: Eduard Tissé. Darsteller:
Alexander Antonow, Wladimir Barski, Grigori Alexandrow. Länge: 1740 Meter. Vertrieb:
Taurus Video.
Sergej Eisensteins “Panzerkreuzer Potemkin” ist auch sechzig Jahre nach seiner
Premiere im Dezember 1925 für Filmhistoriker und Kritiker unterschiedlichster
ästhetischer wie ideologischer Überzeugungen noch immer der “beste Film aller Zeiten”.
Das Werk entstand als Auftragsarbeit für die Jubiläumsfeiern der ersten russischen
Revolution von 1905. Der Regisseur hatte keinerlei Scheu vor einer “politischen
Entjungferung der Kunst”, wie Walter Benjamin den Gegnern der “Tendenzkunst”
spöttisch entgegenhielt: “Potemkin ist ein großer, selten geglückter Film ... Schlechte
Tendenzkunst gibt es sonst genug, darunter schlechte sozialistische Tendenzkunst.
Solche Sachen sind vom Effekt her bestimmt, rechnen mit ausgeleierten Reflexen,
benutzen Schablonen. Dieser Film aber ist ideologisch ausbetoniert, richtig in allen
Einzelheiten kalkuliert wie ein Brückenbogen. Je kräftiger die Schläge darauf
niedersausen, desto schöner dröhnt er. Nur wer mit behandschuhten Fingerchen daran
klopft, der hört und bewegt nichts.”
Weder die Mäkeleien von Bürokraten, Kleinbürgern und Kollegen im eigenen Land, noch
das nervöse Sperrfeuer von Zensoren in aller Welt vermochte die international siegreiche
Fahrt des “Panzerkreuzer Potemkin” aufzuhalten. In Berlin beispielsweise setzten
Massendemonstrationen seine Vorführung durch und weckten so auch die Neugierde
jenes Moskauer Durchschnittspublikums, das zunächst der leichteren Kost des
gleichzeitig gestarteten Douglas-Fairbanks-Films “Der Dieb von Bagdad” den Vorzug gab.
Eisensteins Film verstand es, selbst den politischen Gegner in seinen Bann zu ziehen,
wie Lion Feuchtwanger in seiner “Potemkin”-Erzählung und im Roman “Erfolg” schildert.
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Sogar Joseph Goebbels, der wohl wütendste Feind des revolutionären Rußland, empfahl
den Regisseuren des “Dritten Reiches”, von dem Film des Marxisten und Juden Sergej
Eisenstein zu lernen, um dessen Inhalt ins Gegenteil umkehren zu können, was
ebensowenig gelang wie anders motivierte Imitationsversuche.
Was war das spezifische Erfolgsgeheimnis des “Panzerkreuzers Potemkin”, der sogar
“von der Leinwand ins Leben” trat, als 1933 indonesische Matrosen nach seinem Vorbild
ihre holländischen Schiffsoffiziere über Bord der “Zeven provincien” warfen?
Der Film traf gewiß den Nerv einer Zeit voller revolutionärer Sehnsucht und sozialer
Unruhe. Er vertritt einen Avantgardismus, der nach innovativer Wirkung jenseits
etablierter Normen suchte. Das Kino sollte nicht länger ein Ort unverbindlicher
Unterhaltung und “passivierender” ornamentaler Pathetik sein, sondern Geburtsstätte
eines gesellschaftlich wie ästhetisch aktiv veränderten Wirklichkeitsbezugs. Aus diesem
Grunde wird der “Storyheld” durch eine “Orchestrierung” typischer Gesichter und Gesten,
durch “kollektive Helden” und “soziale Masken” ersetzt.
Das bisherige “Beiwerk” der “Ausstattung” löst sich von seinem “Hintergrund” und
übernimmt in einer Zeit futuristischer, kubistischer und konstruktivistischer Schöpfungen
der bildenden Kunst tragende dramaturgische Funktionen: Der Schiffskörper des
Panzerkreuzers, die Bewegungen der Kolben und Kanonenrohre sind für Viktor Shklovskij
die besten “Schauspieler” in diesem Film. Auf die Mitarbeit professioneller Schauspieler
wurde verzichtet. Eisenstein spricht in diesem Zusammenhang von einem “Spiel durch
Gegenstände” und einer “Psychologisierung der Dinge”.
Besonders deutlich wird die “Dramaturgie der Objektbewegung” im fünften Schluß-“Akt”
des Filmes, wo Manometer und Kanonenrohre die Spannung der tödlich drohenden
Begegnung mit dem Zarengeschwader ausdrücken, die dann im Finale einer allgemeinen
Verbrüderung explodiert. Wilhelm Reich erkannte gerade im Rhythmus dieser Szene “eine
Fortsetzung des biologisch-sexuellen Rhythmus”. Eisenstein verwahrte sich zwar in einem
Antwortschreiben gegen die “Hypertrophierung” des Sexuellen, war sich aber zugleich der
Bedeutung der Psychoanalyse bewußt, die “den Anteil des Unbewußten an bewußten
Prozessen” aufzeige.
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Im “Panzerkreuzer Potemkin” dominieren noch Verfahren der bereits in “Streik” (1924)
erarbeiteten “Montage emotionaler Attraktionen”. Die Zuschauer-Aufmerksamkeit soll vor
allem durch “Guignol”-Bilder akzentuierter Grausamkeiten geweckt werden: In der
berühmten “Treppensequenz” etwa, wo Kosakenstiefel die “Solidaritätsdemonstration” der
Bevölkerung von Odessa “zertreten”, kommt das zerschossene Auge einer Gouvernante
in Nahaufnahme ins Bild und rollt ein Kinderwagen die Treppenstufen hinab. An jener
Stelle aber, wo die Logik des Aufstandes mit der Komplexmetapher von Statuen
schlafender, erwachender und aufbrüllender Löwen gedeutet wird, zeichnet sich bereits
der Übergang zu einer “Montage intellektueller Attraktionen” ab. Der Übergang also zur
grandiosen Utopie einer “intellektuellen Kinematografie der Begriffe”, die “Ideen im
Werden” zeigen und filmstrategisch in dialektisches Denken einüben will.
Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß man das “Erfolgsgeheimnis”, das Spezifikum
der “Potemkin”-Wirkung im Kontext der Eisensteinschen Theorie klären muß: Sergej
Eisenstein, der überaus gebildete Großbürgersohn, der “durch Revolution zur Kunst,
durch Kunst zur Revolution” kam, wurde auch deshalb immer wieder als “Leonardo da
Vinci des 20. Jahrhunderts” bezeichnet, weil er seine Kunst in einer kreativen Dialektik
von Praxis und Theorie entwickelte. Kunstarten unterschiedlichster Zeiten und Kulturen,
aber auch philosophisch-psychologisches und naturwissenschaftliches Wissen wurden
von ihm reflektierend einbezogen.
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Meinolf Zurhorst
2 Casablanca
Casablanca (USA 1943)
Regie: Michael Curtiz. Buch: Julius J. und Philip G. Epskin, Howard Koch. Kamera:
Arthur Edeson. Musik: Max Skiner. Darsteller: Humphrey Bogart, Ingrid Bergman, Paul
Henreid, Claude Rains, Conrad Velt, Sidney Greenstreet, Peter Lorre, Curt Bois. Länge:
99 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
“Louis”, sagt Humphrey Bogart zu Claude Rains, “ich glaube, dies ist der Beginn einer
wunderbaren Freundschaft.” Dieser letzte Satz, das Ende von “Casablanca”, markierte
den Beginn eines bis heute andauernden Kultes: “Bogey” blieb auch Jahrzehnte nach
seinem Tod eine mythische Figur – ein Einzelgänger, hart und zynisch, doch in
Wirklichkeit integer und solidarisch. “Casablanca”, das Kernstück des Kultes, erzählt
zudem eine überaus kinoträchtige Geschichte.
Casablanca, 1941. In “Rick's Cafe Americain” treffen sich Flüchtlinge, Schieber, Spieler,
Diebe und leichte Mädchen – “everybody comes to Rick's”, wie das zugrundeliegende
Theaterstück heißt. Casablanca ist zu der Zeit (Vichy-)französisch, der Stadtpräfekt ist
Capitain Renault. Ihm zur Seite steht der Gestapo-Major Strasser; er will verhindern, daß
der prominente Widerstandskämpfer Victor Laszlo mit einem Transitvisum das Land in
Richtung Amerika verläßt. Von Amerika träumen auch die vielen anderen, die sich in
Rick's Cafe eingefunden haben, doch nur die wenigsten besitzen eine Chance, dorthin zu
kommen.
Rick verhält sich in diesem Dschungel unterschiedlicher Interessen neutral, ist nur
Besitzer, unpolitisch und keinem verpflichtet außer sich selbst. Durch Zufall gelangt er in
den Besitz zweier Transitvisa, für die viele alles geben würden. Auch Laszlo ist an ihnen
interessiert. Dessen Frau Ilsa ist die frühere Geliebte Ricks. Als sein Pianist Sam noch
einmal den Song “As time goes by” spielt, steigt in Rick die Erinnerung hoch. Unmittelbar
vor der deutschen Besetzung hatte er in Paris mit Ilsa ein Liebesverhältnis. Gemeinsam
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wollten sie nach Marseille ausreisen, doch Ilsa kam nicht zum Treffpunkt. In Casablanca
nun gesteht sie, ihn immer noch zu lieben und jetzt ihren Mann, der damals als tot galt
und verletzt wieder aufgetaucht ist, verlassen zu wollen. Rick, den Laszlos Patriotismus
wider Willen beeindruckt hat, geht scheinbar auf ihr Angebot ein und verspricht, Victor ein
Visum zu überlassen. Doch am Flughafen gibt er Ilsa frei und erschießt Major Strasser,
als dieser Laszlos Abreise verhindern will. Capitain Renault läßt daraufhin die “üblichen
Verdächtigen” verhaften.
Als Warner Brothers “Casablanca” am 27. November 1942 uraufführten, entwickelte sich
der Film zum erwarteten Reinfall. Das Studio, das sich immer der jeweiligen sozialen und
politischen Situation verpflichtet fühlte, hatte als erstes daran gedacht, Amerikas
Kriegseintritt propagandistisch zu begleiten. Das Bogart-Vehikel “Casablanca” war dabei
nur ein Film unter vielen, keiner, in den man große Hoffnungen setzte. Von Beginn an gab
es Probleme. Die Autoren-Brüder Julius J. und Philip G. Epstein hatten Schwierigkeiten,
die Liebesgeschichte zwischen einer Frau und zwei Männern glaubhaft mit dem Zeitkolorit
zu verbinden und einen gelungenen Schluß zu finden. Ein weiterer Autor, Howard Koch,
wurde hinzugezogen. Noch während der Dreharbeiten war das Ende offen, was vor allem
den damaligen Jung-Star Ingrid Bergman verunsicherte.
Doch im Januar 1943 fand ein Ereignis statt, das Einfluß hatte auf das Schicksal des
Films. In Casablanca beschlossen Churchill und Roosevelt die alliierte Landung auf
Sizilien. Noch im Februar des gleichen Jahres erfolgte ein Massenstart des Films, der
nicht nur kommerziell ein großer Erfolg wurde, sondern auch drei “Oscars” für den besten
Film, das beste Drehbuch und die beste Regie erhielt.
Die zeitgenössische Kritik erkannte den Wert von “Casablanca” zunächst nicht. Den
ausschließlich im Studio entstandenen Streifen zeichnet eine besondere Atmosphäre, die
Klischees vermeidet und die Rick's Cafe Americain zur Bühne eines modernen Dramas
macht. Die Menschen des Films agieren in einer Ausnahmesituation, in der die komplexe
Dichotomie von Gut und Böse auf einfache Figuren reduziert wird. Berühmt wurde jene
Szene, in der die deutschen Soldaten “Wacht am Rhein” singen, dann aber von der
“Marseillaise” der anderen Barbesucher überstimmt werden. Optisch unterstrichen wird
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dies durch die exzellente Schwarzweiß-Fotografie von Arthur Edeson, dessen Licht- und
Schattendramaturgie nahezu mysteriösen Charakter gewinnt.
Die Menschen in “Casablanca” definieren sich nicht durch ihren Charakter, sie sind
vielmehr Typen: der freundliche, dicke Kellner aus Österreich, der “verrückte” Russe, der
wohlbeleibte, geschäftstüchtige Araber, der drahtige deutsche Offizier, der elegante
Widerstandskämpfer, dargestellt übrigens von Schauspielern, die selbst Emigranten
waren. Den Kult aber initiierte Humphrey Bogart: Sein Rick erschien als die ideale
Verkörperung amerikanischer Tugenden. Loyalität, Mut, Großzügigkeit, all dies verborgen
hinter der Maske des resignativen Zynikers und Egoisten, der am Ende dann doch die
Verantwortung übernahm, die er zuvor so vehement abgelehnt hatte und der auch noch in
der Niederlage zum moralischen Sieger avancierte.
In den deutschen Kinos lief “Casablanca” in einer gut 20 Minuten kürzeren Fassung, aus
der der deutsche Gestapo-Offizier verschwunden war und in der aus dem verfolgten
Widerstandskämpfer ein norwegischer Atomphysiker namens Larssen wurde.
Horst Schäfer
3 If...
lf... (Großbritannien 1969)
Regie: Lindsay Anderson. Buch: David Shervon. Kamera: Miroslav Ondricek. Musik:
Marc Wilkinson. Darsteller: Malcolm McDowell, David Wood, Richard Warwick, Christine
Noonan. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: CIC Video.
In der britischen Public School herrscht ein hierarchisches Über- und
Unterordnungssystem, das die jüngeren Schüler den Befehlen der älteren, ihrem
Wohlwollen und ihrer Willkür aussetzt. Zucht und Ordnung überantwortet die Schulleitung
einer Gruppe der ältesten Schüler, die ganz im Geiste der konservativen Elite und im
Sinne der jahrhundertealten Schultradition handeln.
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Am Beispiel von drei Oberschülern, die sich gegen dieses Kastenschema auflehnen (Mick
und seine beiden Freunde Johnny und Wallace), seziert Regisseur Lindsay Anderson das
klassische Autoritäts-Modell, indem er es schichtweise in seine Einzelteile zerlegt. Der in
einzelne Kapitel gegliederte und mit Zwischentiteln versehene Film entlarvt die
sinnentleerten Rituale, aufrechterhalten durch Kommandos und Kontrolle; er beschreibt
das von Heuchelei und Prüderie bestimmte Klima, attackiert die Arroganz der Oberschicht
und das biedere Gehabe der Lehrer, deren Individualität sich in ihren Marotten ausdrückt.
Fast alle Schüler haben sich angepaßt; nur bei wenigen flackert gelegentlich der Funke
des Widerstands auf.
Umgeben sich seine Mitschüler mit Studienutensilien, so hat Mick die Wände seiner
Wohnecke mit Postern und Fotos von Che, Mao und Lenin und mit Illustriertenseiten über
Rebellen und Aufständische vollgepinnt. Mick geht offen gegen die Schulordnung vor; er
provoziert durch Reden und Gesten und reibt sich an den Privilegien der Vorzugsschüler,
die die Jüngeren mit repressiven Methoden wie Leibeigene behandeln.
Die sich konsequent auf ein eskalierendes Ende zuspitzende Handlung wird nur selten
durch heitere, übermütige Sequenzen durchbrochen, in denen sich die Jungen
ausgelassen und unbeschwert geben können. Bei einer Spritztour mit einem geklauten
Motorrad lernt Mick ein junges, selbstbewußtes Mädchen kennen. Freizügigkeit und
Sexualität sind für ihn die konkreten Gegensätze zu dem System, dem er ausgeliefert ist.
Anderson verfremdet seinen Film mit Schwarz-weiß-Szenen, die das Verhältnis von
Unterdrückten pointieren. Die reale Erzählweise wird dabei von Wunschvorstellungen
unterbrochen, die sich immer stärker zu fiktiven Geschehnissen hin verdichten. Am Ende
verwischen sich beide Ebenen zu einer folgerichtigen Einheit, einer polemischen
Zukunftsvision: Nachdem sie vorher schon bei einer militärischen Übung den Aufstand
geprobt hatten, gehen Mick und seine Freunde zum bewaffneten Angriff über, dem sich
auch das Mädchen anschließt. Bei den pompösen Feierlichkeiten zum 500jährigen
Bestehen der Schule, an dem sich Vertreter des Establishments (Königshaus, Kirche,
Militär) beteiligen, legen sie einen Brand und schießen vom Dach der Schule aus auf die
durcheinanderlaufenden Menschen. Es dauert nicht lange, bis diese sich unter der
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Führung eines Generals formieren und das Feuer erwidern. Es kommt zum offenen
Kampf, dessen Maschinengewehrsalven in den Schlußchoral überleiten.
“if ... ” ist ein Film von 1968 und entspricht dem Geist und der Stimmung dieser Zeit.
Lindsay Anderson, geboren 1923, war in den fünfziger Jahren maßgeblich am Free
Cinema, der neuen Welle des englischen Films, beteiligt, die den Filmemachern eine
gesellschaftspolitische Verantwortung zusprach. Hier übt er scharfe Kritik an einem
selbsterfahrenen Erziehungsstil, der auf dem Prinzip des blinden Gehorsams gegenüber
der Autorität beruht. Anderson versteht “if ...” (“wenn ... ”) als ein allgemeingültiges
Manifest der Auflehnung des unterdrückten Individuums gegen gesellschaftliche Zwänge.
Der Film erhielt 1969 in Cannes die Goldene Palme. Neben weiteren internationalen
Preisen und Auszeichnungen bekam er in der Bundesrepublik das Prädikat “besonders
wertvoll”: “Es ist wohl die beste filmische Studie einer Schulrevolte, die bis jetzt in einem
Film gelungen ist, und es ist eine völlig eigenständige dramatische Gestaltung des alten
Themas vom Gegensatz der Generationen.” Die Evangelische Filmgilde wählte “if ... ”
zum “Besten Film des Monats September 1969”, weil er “... auf das explosive Verhältnis
der Generationen in aller Welt zielt. Die schockierende Vision einer blutigen Revolte
enthält die Aufforderung, umzudenken und neu anzufangen, bevor es zu spät ist. ” In
diesem Sinne ist der Film heute noch aktuell.
Den Schüler Mick spielt der 1943 geborene Schauspieler Malcom McDowell, der wenig
später durch Kubricks “Clockwork Orange” (England 1971) zum Weltstar wurde und in
zwei weiteren Filmen von Anderson wieder Hauptrollen übernahm: “O Lucky Man” (1972)
und “Britannia Hospital”.
Über den abwegigen Cover-Slogan “Die Terroristen von Morgen” sollte man ebenso
schnell hinwegsehen wie über die ersten zehn Minuten der Kassette mit den nervtötenden
Trailern von “Gotcha – ein irrer Typ”, “Miami Vice II”, “Airwolf III”, “Hit” und “Dr. Strange”.
Thomas Brandlmeier
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4 Die Ferien des Herrn Hulot
Les Vacances de M. Hulot (Frankreich 1953)
Regie: Jacques Tati. Buch: Jacques Tati und Henry Marquet. Kamera: Jacques
Mercanton und Jean Mousselle. Darsteller: Jacques Tati, Nathalie Pascaud, Louis
Perraut und Michèle Rolla. Länge: 95 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien.
Wer an filmischen Strukturen besonderen Gefallen findet, wird Tatis Spätwerk
(“Playtime”/1967, “Trafic”/1973, “Parade”/1973) seinen populären Werken (“Jour de
fête”/1949, “Les Vacances de M. Hulot”/1953, “Mon Oncle”/1958) vorziehen. Die Frage
nach Tatis bestem Film ist insofern müßig, als sein Werk ein filmisches Kontinuum
darstellt, in dem sich der Regisseur das Medium auf spezifische Weise aneignet. “Les
Vacances de M. Hulot” nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein, da Jacques Tati sich in
Monsieur Hulot jene Kunstfigur schafft, die fortan seine Leinwand-Persönlichkeit
transportieren wird.
In diesem Zusammenhang ist wieder einmal zu beklagen, daß Tatis Frühwerk (seine
Kurzfilme zwischen 1932 und 1947) seit Jahrzehnten unzugänglich ist. In diesen
Kurzfilmen, so die klassische Quelle von Claude Beylie, ist Tati noch sehr stark jenen
Sportpantomimen verpflichtet, mit denen er es in den 30er Jahren zu Varietéruhm
brachte. “Er hatte etwas erfunden, das halb Tanz, halb Sport, halb Satire und halb
‘Lebendes Bild’ ist. Ihm ist es zum ersten Mal gelungen, alles auf einmal zu sein:
Tennisspieler, Ball und Schläger, Fußball und Torwächter, der Boxer und sein Gegner,
das Fahrrad und der Radfahrer.” So schrieb damals Colette über seine Music-HallAuftritte.
Von der Pantomime hat Tati offenbar die Fähigkeit der beobachtenden Einfühlung in die
Person und ihr Accessoir mitgebracht. Er selbst äußert sich fasziniert über die Fülle der
Details, die ihm die Beobachtung enthüllt: “Der Arbeiter, der die Steine befördert, und der
andere, der sie in Empfang nimmt und an ihren Platz bringt ... die Präzision ihrer Gesten,
ihre wunderbare Exaktheit, Geschmeidigkeit, Leichtigkeit, Sicherheit und all das, was
Bewegung und Gangart von einem Menschen enthüllen können.” Claude Beylie bemerkt
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bereits zu Tatis Kurzfilmen: “Die Gestaltung der Tonspur ... erinnert direkt an die
audiovisuelle Struktur des ‘M. Hulot’.” Bei seiner Umsetzung von Pantomime in Film gilt
die audiovisuelle Struktur bis heute als das eigentlich Revolutionierende an Tatis Filmen.
Schon die Exposition des “M. Hulot” ist ein Paradebeispiel für die Methode. Ich will diese
Exposition – pars pro toto – für die geradezu bestechende Gesamtkonstruktion des Films
ausführlich analysieren. Während des Vorspanns sehen wir den Strand und hören die
Erkennungsmelodie des Films, die ‘Strandmelodie’. Nach dem Vorspann erscheint
halbnah ein Boot am Strand mit Meeresrauschen. Die nächste Sequenz spielt auf einem
Bahnhof. Ferienreisende werden von einem unverständlich quakenden Lautsprecher und
verschiedenen ein- und ausfahrenden Zügen auf Trab gehalten. Die Sequenz schließt mit
einer Aufnahme zwischen zwei Waggons, die den größten Teil des Bildes schwarz
abdecken. In der kleinen Lücke zwischen den Waggons sehen wir die völlig enervierten
Ferienreisenden hin- und herhasten. Hier, im Format einer amerikanischen Einstellung,
taucht zum ersten Mal auch Martine auf, der später M. Hulot den Hof machen wird.
Die Sichtblende, die Tati hier wählt, funktioniert wie eine Kreisblende im Stummfilm: Sie
lenkt den Blick aufs Wesentliche. Und tatsächlich, wenn man genau hinsieht, kann man
noch etwas sehen, was gerade im Hinblick auf die Entwicklung von Tatis Werk von
größter Wichtigkeit ist. Unter den fragmentarisch sichtbar werdenden Reisenden befindet
sich, mit dem Rücken zur Kamera, ein Doppelgänger von M. Hulot, ein Mann von seiner
Statur, in derselben Kleidung und mit einem Schmetterlingsnetz in der Hand. Die nächste
Sequenz beginnt mit M. Hulot in seinem Auto auf der Landstraße; deutlich sichtbar ragt
aus dem Auto ein Schmetterlingsnetz. In seinem späteren Film “Playtime” läßt Tati, um die
potentielle Überflüssigkeit von M. Hulot zu verdeutlichen, einen Doppelgänger auftreten,
der in der Totale nur an einem roten Schal als solcher zu erkennen ist. Tati selbst hat sein
Spätwerk so charakterisiert: “Ich habe die Gags den anderen überlassen und jeweils die
Person ausgewählt, die am geeignetsten schien, sie auszuführen.”
In solchen und ähnlichen Details ist in “M. Hulot” schon Tatis Spätwerk antizipiert. Dazu
gehört auch, daß das Ding selbst statt der Person zum Gagträger wird, wie etwa M.
Hulots Auto, ein altersschwacher, knatternder deux-chevaux. Oder auch, etwas später in
der Exposition, ein lautstarkes Gedrängel an einem Bus, als dessen Resultat zwei
ineinander verhakte Regenschirme am Boden zurückbleiben. In diesem Kontext ist es
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auch wichtig, daß sich Bilder und Töne gegenseitig bedingen. Die Urlauber, die von einem
Bahnsteig zum anderen hasten, werden sowohl durch den quakenden Lautsprecher wie
durch die Bewegung der Züge gelenkt. Und in der folgenden Sequenz mit M. Hulots Auto
hört man zuerst eine Hupe und sieht danach das überholende Auto. Oder man hört das
Knattern des deux-chevaux bevor man ihn sieht. Umgekehrt endet diese Sequenz mit
dem Blick auf den Strand und erst als Martine ihren Koffer vom Bus herunterholt, um sich
ins Hotel de la Plage zu begeben, ertönt die ‘Strandmelodie’. Die Exposition ist so durch
die ‘Strandmelodie’ eingerahmt, die beim zweiten Mal bereits als Erkennungsmelodie
funktioniert.
Die Wege von Martine und M. Hulot kreuzen sich in der Exposition zweimal. Das erste
Mal abstrakt im Schnitt vom Bahnhof zur Landstraße. Das zweite Mal konkret auf der
Landstraße, wo Martine in den Bus umsteigt. Sie schwimmt dabei jedesmal im Strom der
Urlaubsmasse, während M. Hulot ganz deutlich als Einzelgänger davon abgesetzt ist. Der
seltsame M. Hulot wird Martine später zwar amüsieren, aber nicht gewinnen können.
Alles, was wir über M. Hulot wissen müssen, erfahren wir bereits aus der Exposition. Ein
seltsames Individuum kriecht mit atemberaubender Fahrkunst über südfranzösische
Straßen und ist dennoch schneller als all die Raser, die ihn überholen, da er obskure
Abkürzungen benutzt. Ein Hund, der sich faul auf der Straße sonnt, flieht, wenn er die
Raser hört, und bleibt liegen, wenn M. Hulot angeknattert kommt, wedelt im Rhythmus
des scheppernden Fahrzeugs mit dem Schwanz und trollt sich erst nach einigen
Streicheleinheiten. An den Rändern der Sozialisation liegen die Sympathien Tatis: M.
Hulot, Tiere und Kinder. Die hektische Bahnhofssequenz beginnt mit einem Jungen, der
eine Ohrfeige bekommt, gegen Ende der Autosequenz erscheint der Strand das erste Mal
aus der Perspektive neugieriger Kinderaugen. Wo alle Welt hektisch und enerviert dem
Erholungszwang entgegenhastet, ist M. Hulot ein Saumseliger, der keine Katastrophen
verursacht, sondern dem die Gags zustoßen. Ein Slapstick-Komiker voller sanfter Poesie.
Neben Martine und M. Hulot führt Tati in der Exposition auch noch die beiden
‘Hauptfiguren’ seiner Dramaturgie ein. Wie er selbst ausführt, geschieht auch dies auf der
Ebene der audiovisuellen Struktur: “Da ist der Wagen von Hulot, der ‘stumm’ vielleicht
zwei Einstellungen amüsieren würde, weil er eine äußerst ulkige Silhouette hat. Durch den
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Ton aber wird dieser Wagen zu einer sehr wichtigen ‘Gestalt’ im Film. Mit der ganzen
Geräuschkulisse, die vergebliche Startversuche und Auspuffprobleme verursachen, weckt
er das Hotel auf, er ruft Ärger hervor. Dieser Wagen wird zu einem wichtigeren Akteur als
jemand, der nächtelang gesungen hätte, um das Hotel aufzuwecken ... Der Ton kann
auch eine räumliche Tiefe geben. Ich habe zum Beispiel den Meereswellen im
Hintergrund mehr akustische Bedeutung beigemessen, als einem bedeutungslosen
Ereignis im Vordergrund. Denn in diesem Moment nimmt man visuell und auditiv das Meer
wahr, das zum Hauptakteur wird.”
Die audiovisuelle Struktur des Films transportiert in einer geradezu mathematisch
strengen Form eine Handlung (fast) ohne Worte. Die Tonspur ist reiner Bruitismus.
Thematisch und typologisch ist Buster Keaton der große Vorläufer Tatis. Was Tati über
Keaton sagt, klingt programmatisch: “Niemand arbeitet perfekter mit den Beinen als
Keaton. Seine Beine könnten eine Tonspur, ein Dialog für sich sein: Erst die Frage, dann
die Entscheidung, schließlich Angst.” Keaton hat seinerseits erstaunlich scharfsichtig den
Zusammenhang formuliert: “Tati knüpft an dem Punkt an, an dem wir vor 40 Jahren
stehengeblieben sind.” Wo Keaton noch davon absorbiert ist, die Welt mit Selbstdisziplin
und Technik zuzubauen, versucht Tati, mit Spontaneismus die Sachzwänge zu
überwinden. Die mißlichen Lagen, in die er dabei gerät, relativieren dieses Vorhaben,
aber werfen ein Licht auf den Zustand, den unsere Zivilisation erreicht hat.
Horst Schäfer
5 Ekel
Repulsion (Großbritannien 1965)
Regie: Roman Polanski. Buch: Roman Polanski, Gérard Brach. Kamera: Gilbert Taylor.
Musik: Chico Hamilton. Darsteller: Cathérine Deneuve, Yvonne Furneaux, Ian Hendry,
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John Fraser, Patrick Wymark, Helen Fraser, James Villiers. Länge: 102 Minuten.
Vertrieb: VPS.
Roman Polanski, 1933 als Sohn polnischer Eltern in Paris geboren – als er drei Jahre alt
war, kehrte die Familie nach Krakau zurück –, zog es Anfang der 60er Jahre wieder nach
Paris, wo er sich u.a. mit dem Journalisten und Produktionsassistenten Gérard Brach
anfreundete. Die Kino- und Cafészene der einschlägigen Viertel bot das stimulierende
Ambiente für die absurdesten Filmideen, aus denen sich “Wenn Katelbach kommt”
herauskristallisierte und zum Traumobjekt der beiden Filmenthusiasten wurde. Bevor es
dazu kam, bot sich ihnen die Chance, für eine englische Produktion, die bislang nur mit
“Filmen für das Bahnhofskino” in Erscheinung getreten war, einen Horrorfilm zu machen –
mit sparsamen Mitteln und geringem Budget selbstverständlich. Polanski und Brach
griffen zu; sie waren sich darin einig, daß “ihr Film” aus der Masse der
Durchschnittsproduktionen dieses Genres herausragen sollte. Innerhalb von siebzehn
Tagen schrieben sie das Drehbuch, das sich an die Erzählungen einer gemeinsamen
Bekannten anlehnte, die sich von “Sex” gleichermaßen angezogen und abgestoßen
fühlte. “Ekel” (“Repulsion”) wurde mit einem englischen Team realisiert, was für den
frankophilen Polen eine starke Herausforderung war. Die konsequente und beharrliche
Haltung Polanskis führte dazu, daß der Zeitplan überschritten wurde und sich die
Produktionskosten mehr als verdoppelten.
Protagonistin des Films ist die Maniküre Carol, eine aus Belgien stammende attraktive
junge Frau mit langen blonden Haaren, die mit ihrer älteren Schwester Helen in einer
kleinen Londoner Vorstadtwohnung lebt. Während ihre Schwester die Abwechslung
bevorzugt und eine Beziehung mit dem verheirateten Michael unterhält, lebt die
schüchterne und sensible Carol zurückgezogen; sie fühlt sich vor allem von den Männern
belästigt, von denen, die ihr auf der Straße nachstellen und von denen so oft an ihrem
Arbeitsplatz die Rede ist. Carol liebt es, wenn die Dinge ihre Ordnung haben, und erträgt
keine Männerbekanntschaften. Die Liebesnächte ihrer Schwester, die sie vom
Nebenzimmer aus akustisch miterlebt, bestätigen Carol in ihrem Abscheu.
Als Helen und Michael für einige Tage verreisen, bleibt Carol alleine in der Wohnung
zurück. Ihrer Arbeit kommt sie lustlos, fast apathisch nach. Sie verhält sich ungeschickt
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und wird von der Chefin nach Hause entlassen, wo sie sich einschließt und jeglichen
Kontakt zur Außenwelt vermeidet. Die Gegenstände in der Wohnung entwickeln plötzlich
ein Eigenleben; bedrohliche Schatten entstehen aus dem Nichts; nachts leidet Carol unter
der Halluzination, vergewaltigt zu werden. Beunruhigt über ihre Verschlossenheit dringt
einer von Carols Bekannten mit Gewalt in die Wohnung ein und wird von ihr mit einem
Kerzenleuchter niedergeschlagen. Die Leiche wirft Carol in die mit Wasser gefüllte
Badewanne; die Tür wird verbarrikadiert. Der danach folgende Zustand von Ruhe und
Entspannung hält nicht lange an. Carol fühlt sich mehr und mehr attackiert; in den Mauern
tun sich Risse auf, und aus den Wänden wachsen Hände, die nach ihr greifen. Der
Hauswirt kommt und will die Miete kassieren. Er verlangt energisch Zutritt zur Wohnung
und bricht die Tür auf. Nachdem er sein Geld bekommen hat, wird er gegenüber Carol
zudringlich und versucht, sich ihr mit Gewalt zu nähern. Rasend vor Ekel und Abscheu
bringt Carol ihn mit einem Rasiermesser um.
Als Helen und Michael von ihrer Reise zurückkehren, stoßen sie in der verwüsteten
Wohnung zuerst auf die Leiche in der Badewanne. Die völlig erschöpfte und bewußtlose
Carol finden sie unter einem Bett liegend. Die Polizei wird benachrichtigt, und die
Nachbarn strömen in die Wohnung. Sie sind völlig fassungslos, daß sich so etwas in ihrer
Nähe zutragen konnte. Michael nimmt die bewußtlose Carol auf die Arme und trägt sie in
einen andern Raum ... die Kamera zieht sich langsam von dem Schauplatz zurück und
tastet noch einmal das Interieur der Wohnung ab – endend mit einer Großaufnahme eines
Fotos, das Carol als kleines Mädchen zeigt.
“Ekel” hatte bei seiner Uraufführung in London einen großen Erfolg. Entgegen den
Erwartungen des Regisseurs brachte die britische Zensur keine Einwände gegen den Film
vor, obwohl dieser einige für die damalige Zeit gewagte Szenen enthält. Polanski
inszenierte den Prozeß der psychischen Zerstörung eines Menschen unter Verzicht auf
billige Grusel-effekte oder schockierende Bilder. Behutsames Auf- und Abblenden fast so
wie das liebevolle Umblättern von Buchseiten – läßt den Zuschauer daran Anteil nehmen,
wie das anonyme Böse von Carol zunehmend Besitz ergreift. Ihre Empfindsamkeit
überträgt sich allmählich auf den Betrachter, was das Geschehen miterlebbar oder
nachvollziehbar macht; Carols Aggressionen werden fühlbar und ihre Reaktionen
begreifbar. Um die Isolation und die aus ihr keimenden Ängste zu verdeutlichen, gibt es in
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dem Film lange Passagen ohne Worte oder Musik; zu hören sind nur die
Alltagsgeräusche, die wie durch einen Filter von außen in die Wohnung dringen.
“Ekel” wurde Polanskis großer internationaler Erfolg; der Film fand auch den begeisterten
Beifall der deutschen Filmkritik – sieht man einmal ab von der Einschätzung der
konfessionellen Bewertungsstellen, die ihn “abstoßend und verwirrend” fanden und ihn
wegen seiner “selbstzweckhaften Ekeligkeit” in die Nähe modischer Horrorfilme rückten.
Bei der Berlinale 1965 wurde der Film mit einem “Silbernen Bären” (Sonderpreis der Jury)
und dem FIPRESCI-Preis (Preis der Internationalen Filmkritik) ausgezeichnet.
Aus heutiger Sicht fällt auf, wie sehr die Kritik damals den Regisseur lobte und wie
vergleichsweise gering die schauspielerische Leistung von Cathérine Deneuve
hervorgehoben wurde. Die 1943 in Paris geborene Darstellerin (ihr eigentlicher Name ist
Cathérine Dorléac) stammt aus einer Schauspielerfamilie und stand schon als junges
Mädchen vor der Kamera: Sie debütierte 1958 in “Junge Rosen im Wind”; Regie: André
Hunebelle. Ihren ersten großen Erfolg konnte sie 1963 mit “Die Regenschirme von
Cherbourg” (siehe Seite 30f.) feiern. Von der Zusammenarbeit mit ihr zeigt sich Roman
Polanski auch im nachhinein noch begeistert; in seiner Autobiographie hob er ihren Anteil
am künstlerischen Erfolg des Films ausdrücklich hervor. Die bislang überzeugendste
Analyse und Interpretation dieser Rolle liefert Marion Kroner in ihrer Studie “Roman
Polanski: seine Filme und seine Welt” (Schondorf/Ammersee 1981).
Günter Lebailly
6 Westside Story
West Side Story (USA 1960)
Regie: Robert Wise. Buch: Ernest Lehmann, nach dem Musical von R. E. Griffith und H.
S. Price. Kamera: Daniel L. Fapp. Musik: Leonard Bernstein. Darsteller: Nathalie Wood,
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Russ Tamblyn, Richard Beymer, Rita Moreno, George Chakiris. Länge: 151 Minuten.
Vertrieb: Warner Home Video.
Der Ouvertüre ist eine farbige Graphik unterlegt. Daraus entwickelt sich die Luftaufnahme
der Südspitze Manhattans. Luftbilder von New York führen den Zuschauer in raschem
Flug zum Schauplatz der Handlung, und ein schneller Zoom bringt die ersten “Jets” ins
Blickfeld, Mitglieder einer Jugendbande in den Einwanderervierteln von New York.
Pfeifsignale, Fingerschnipsen, erste tänzerische Bewegungen, es beginnt eine der
hinreißendsten Eingangssequenzen. Aus dem Gehen entwickeln sich kleine Tanzgesten,
erst solistisch, dann in der Gruppe. Plötzlich stehen die ersten “Sharks” da – die
rivalisierende Gruppe puertoricanischer Jungen. Aus Neckereien werden rasch ernsthafte
Streitereien, Hetzjagden durch Straßen, Torwege, Hinterhöfe, sie enden in einer Prügelei,
gestoppt durch das Dazwischentreten des Revierpolizisten.
Nach den Gruppen der Jets und Sharks mit ihren Anführern Riff und Bernardo lernt der
Zuschauer die Hauptpersonen kennen, Tony, ehemals zu den Jets gehörig, und Maria,
Bernardos Schwester. Sie begegnen sich zum ersten Mal auf einem Tanzabend, der von
den Jets und den Sharks besucht wird, die hier ihre Rivalitäten auch auf der Tanzfläche
fortsetzen und die Gelegenheit benutzen, einen Termin für den alles entscheidenden
Kampf um die Oberherrschaft im Revier auszumachen.
Um Tony und Maria jedoch versinkt die Welt. Sie glauben, mit ihrer Liebe alle
Zwistigkeiten überwinden zu können. Als Maria am nächsten Tag durch Bernardos
Freundin Anita vom Kampf zwischen den Jets und Sharks erfährt, beschwört sie Tony,
hinzugehen und den Kampf zu stoppen. Sein Intervenieren endet jedoch damit, daß
Bernardo Riff ersticht und Tony aus Wut und Verzweiflung über den Tod seines besten
Freundes Bernardo tötet. Er flüchtet zu Maria; beide wollen gemeinsam aus New York
fliehen. Das Verhängnis ist nicht aufzuhalten. Gino will Bernardos Tod rächen und lauert
Tony mit einem Revolver auf. Erst an Tonys Leiche beginnt den Jungen zu dämmern, daß
Rivalitäten und Haß fortzeugend immer nur neues Unheil bringen, und gemeinsam tragen
Jets und Sharks den Toten fort.
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Das ist die Story von Romeo und Julia, in das Milieu jugendlicher Bandenkämpfe
übertragen und zu einem hinreißenden Gesamtwerk aus Musik, Szene und Tanz
gestaltet. Motor ist die Musik Leonard Bernsteins mit ihrer sich modern gebenden
auftrumpfenden Rhythmik und ihrer unverschämten Sentimentalität, die nie süßlich wird.
Dieser Motor treibt die Bewegungserfindungen von Jerome Robbins an, der in seinem
Tanzstil Alltagsbewegungen, Gesellschaftstanz und Akrobatisches mischt. Seine
Ballettszenen sind keine dekorative Show; sie wachsen aus der dramatischen Szene und
setzen sie um in mitreißende Ensembles. Die Modellinszenierung, die Robbins für den
Broadway schuf, wurde von ihm gemeinsam mit Robert Wise für den Film adaptiert und
behutsam dem neuen Medium angepaßt. Die Herkunft vom Theater wird nicht verleugnet.
Die Szenen bleiben als Komplexe bestehen; das ist schon durch die geschlossenen
Musiknummern vorgegeben. Das Szenenbild zeigt, daß es sich um Kulisse handelt, die
aber in der Eingangssequenz in die Realität der Straßen New Yorks ausgeweitet wird.
In der ersten Hälfte des Films sucht der Regisseur, um Tempo zu machen, “filmische”
Übergänge von einer Szene zur anderen durch Überblendungen, Fahrten, Tricks. In der
zweiten Hälfte, wenn das Geschehen sich zuspitzt und seinem dramatischen Ende
zustrebt, werden die Szenen ab- und wieder aufgeblendet; ein ebenso einfaches wie
wirkungsvolles Verfahren.
Die Stärke des Films ist eine perfekte Vorlage, der mitreißende Handlungsfluß von der
Eingangssequenz bis zum großen Kampf der Jets und Sharks, der danach bis zum
ergreifenden Ende langsam abebbt. Dieser Fluß, umgesetzt in Szene und Bewegung,
trägt auch die Schauspieler: Die etwas blaß und betulich wirkenden Nathalie Wood
(Maria) und Richard Beymer (Tony) werden von Russ Tamblyn (Riff), George Chakiris
(Bernardo) und der hinreißenden Rita Moreno (Anita) in den Schatten gestellt. Ihre
Präsenz, ihr Agieren, Tanzen und Singen wirken so viel farbiger und kraftvoller als die
Darstellung des Liebespaares.
Das Musical “West Side Story” war ein Glücksfall; ein gutes Stück mit einer mitreißenden
Musik in einer herausragenden Inszenierung. Der Film wurde zum Glücksfall, weil er nicht
den Ehrgeiz hatte, alles anders machen zu wollen, sondern sich an den Grundriß des
Modells hielt und dieses so sorgfältig wie möglich in das andere Medium übertrug, so daß
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die Qualitäten des Originals erhalten und womöglich noch gesteigert wurden. Deshalb
zeigt der Film 25 Jahre nach seiner Entstehung fast keine Alterungsspuren. Die
Ballettszenen lassen den Atem schneller gehen; die Musiknummern, längst zu
“Klassikern” geworden, kann man inzwischen mitsingen; und zum Schluß steigt immer
noch jene süße Beklemmung auf, wie sie ein anrührendes Ende hervorruft.
Robert Wise, geboren 1914, kam 1933 nach Hollywood. Er arbeitete bei RKO zunächst
als Cutter (unter anderem für Welles' “Citizen Kane” und “The Magnificent Ambersons”).
1944 debütierte er als Regisseur und drehte von da an 25 Jahre lang mit ziemlicher
Regelmäßigkeit einen bis zwei Filme pro Jahr in den verschiedensten Genres: HorrorFilme (The Body Snatcher), Western, Kriminalfilme (Odds Against Tomorrow), Science
Fiction (The Day the Earth Stood Still, The Andromeda Strain), Kriegsfilme (The Desert
Rats, The Sand Pebbles), Box-Filme (The SetUp, Somebody Up There Loves Me),
Melodramen (I Want to Live). Seine größten Erfolge errang er mit den MusicalVerfilmungen “West Side Story” und “The Sound of Music”; für beide erhielt er den
“Oscar”.
Wolfgang Schwarzer
7 Zazie in der Metro
Zazie dans le Métro (Frankreich 1960)
Regie: Louis Malle. Buch: Louis Malle, Jean-Paul Rappenau, nach dem Roman von
Raymond Quenau. Kamera: Henri Raichi. Darsteller: Catherine Demongeot, Philippe
Noiret, Carla Marlier, Vittorio Caprioli, Hubert Deschamps, Jacques Dufilho. Länge: 89
Minuten. Vertrieb: (Mike Hunter).
“Stilübungen” heißt ein Buch, das Raymond Queneau (1903-1976), ehemaliges Mitglied
der Gruppe der Surrealisten, 1947 veröffentlichte. Eine einzige, völlig unbedeutende
Alltagsbeobachtung wird darin in 99 grundverschiedenen sprachlichen Varianten gestaltet.
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Ein amüsantes Lesevergnügen – und mehr. Queneau gehört zu den wenigen, die
unkonventionell und konsequent darzustellen wußten, wie Wirklichkeit aus der Sprache
heraus entsteht, in welch frappierender Art Worte Realität formen und deformieren.
Diese Beobachtung liegt auch dem zwischen 1945 und 1958 entstandenen
humoristischen Roman “Zazie in der Métro” zugrunde. Oueneau schildert die Abenteuer
einer kessen neunjährigen Provinzgöre im Paris der kleinen Leute. Er tut dies zum großen
Teil durch Dialoge, die jede Figur in ihrer spezifischen Sprechweise charakterisieren. Die
Travestie des Vornehmen steht gleichberechtigt neben der unflätigen Anschaulichkeit des
Argot. Da sieht einer dem Volk nicht nur aufs Maul, sondern geht noch einen Schritt
weiter: Der Autor läßt die Alltagssprache – mäßig und in der Wirkung gezielt – bisweilen
auch so drucken, wie sie gesprochen wird.
Fonwostinktsnso – das erste Wort des Romans ist nicht nur skurriler Auftakt, sondern
linguistisches Programm. Stiller Protagonist der Geschichte ist die Sprache als Medium
und mit ihr eine Wirklichkeit, die erst in der Verfremdung ihren schillernden Reichtum an
Facetten offenbart. Ein solches Werk in das scheinbar völlig entgegengesetzte Medium
des bewegten Bildes zu übertragen, mag auf den ersten Blick unmöglich erscheinen. Für
den zur Zeit der Dreharbeiten 28jährigen Louis Malle, der sich als “Abenteurer des
Mediums” empfindet, war es eine willkommene Herausforderung. Er übernimmt zunächst
getreulich Queneaus Handlungsfaden:
An der Gare de Lyon in Paris wird Onkel Gabriel (Philippe Noiret), der als Transvestit
spanische Tänze in einem Nachtlokal vorführt, die Aufsicht über die kleine Zazie
(Catherine Demongeot) übertragen, denn ihre Mutter will zwei Tage mit einem Liebhaber
verbringen. Zazie träumt nur von einem: Metro fahren. Doch die streikt, und so muß sich
das quirlige Mädchen, sehr zum Leidwesen des Onkels und all derer, die ihr über den
Weg laufen, andere Abenteuer suchen. Stets Chaos verbreitend, tobt sie durch die
Vorstadt, über den Flohmarkt, auf den Eiffelturm, durch die verstopften Pariser Straßen
und schließlich in die Nachtbar des Onkels, wo sich das ganze Knäuel ihrer unterwegs
angesammelten Bekanntschaften in einer deftigen Prügelei aller gegen alle endgültig
unauflösbar verwirrt.
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Ein köstliches Sammelsurium skurriler Typen kreuzt ihren Kriegspfad gegen die
Erwachsenenwelt. Da ist der Taxifahrer Fédor (Nicolas Bataille) und die Bistrowirtin Mado
(Annie Fratellini). Dann der Lustmolch Pédro (Vittorio Caprioli), dem sie beim
Muschelessen ihre Vergangenheit beichtet und der sich später als Flic Troussillon an die
liebestolle Madame Mouaque (Yvonne Clech) heranmacht, um schließlich als
augenrollender Mussolini durch die Fensterscheibe in die bewußte Nachtbar einzufallen.
Da sind die kokette Tante Albertine (Carla Marlier), der pittoreske Schuster Gridoux
(Jacques Dufilho), eine hochmoralische Heilsarmeekapelle und viele andere mehr.
Nach 48 turbulenten Stunden bringt Tante Albertine ihre schlafende Nichte – ohne daß
diese es bemerkt – per Metro zurück zum Zug. “Hast Du Dich gut amüsiert?” fragt ihre
Mutter. “Es geht ...” – “Bist Du Metro gefahren?” – “Nein.” – “Was hast Du denn gemacht?”
Philosophisch beschließt Zazie das Chaos mit der aufschlußreichen Betrachtung: “Ich bin
älter geworden.”
Queneau selbst fand seinen Roman adäquat verfilmt, gerade weil Malle eine sehr
eigenständige Bearbeitung geschaffen hatte, denn der Regisseur geht mit der Grammatik
der Bildsprache wie der Schriftsteller mit Worten und Sätzen um.
Ein etabliertes Repertoire von Techniken, Darstellungsformen, Tricks und Zitaten aus der
Filmgeschichte wird in seine Versatzstücke zerlegt und überraschend neu in
ungewöhnlichem Zusammenhang präsentiert. Der frühe Stummfilm, Harold Lloyd, Charlie
Chaplin, Laurel und Hardy tragen ihre Slapsticks, Verfolgungsjagden, Fassadenklettereien
und Zerstörungsorgien bei.
Zeitraffer, Zeitlupe und Stoptricks schaffen irreale und surrealistische Sequenzen,
wechselnde Kameraperspektiven verfremden Personen und Gegenstände. Wie aus dem
Ärmel geschüttelte Bild- und Sprachwendungen ironisieren, manchmal fast unmerklich im
Hintergrund, das Frankreich der fünfziger Jahre mit blitzschnellen, exakt treffenden
Seitenhieben. Einen davon kriegt auch die gerade aus der Taufe gehobene Nouvelle
Vague ab.
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Frech, unbotmäßig, poetisch, gegen den Trend der Zeit, war “Zazie” 1960 ein
kommerzieller Mißerfolg. Einige Kritiker empörten sich über die Unmoral in Sprache und
Handlung, andere beschuldigten den Film des Verrats an der literarischen Vorlage.
Vielleicht waren die Erwartungen von Publikum und Presse an den Regisseur falsch, der
hier zum erstenmal demonstrierte, was sein Schaffen bis heute prägt: daß er sich keinem
Genre verpflichtet fühlt, vielmehr stets nach den angemessensten Bildformen für sein
Thema sucht.
Louis Malle, 1932 geboren, wurde in Deutschland vor allem durch “Fahrstuhl zum
Schafott” (1957), “Viva Maria” (1965), “Herzflimmern” (1970), “Lacombe Lucien” (1973),
“Pretty Baby” (1977) und zuletzt “Alamo Bay” (1984) bekannt. (Literatur: Louis Malle, Carl
Hanser Verlag, München 1985).
Meinolf Zurhorst
8 Citizen Kane
Citizen Kane (USA 1940/41)
Regie: Orson Welles. Buch: Hermann J. Mankiewicz, Orson Welles unter Mitarbeit von
Joseph Cotten und John Houseman. Kamera: Gregg Toland. Musik: Bernard Herrmann.
Darsteller: Orson Welles, Joseph Cotten, Dorothy Comingore, Agnes Moorehead. Länge:
113 Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
Ein Geniestreich, 1962 und 1972 von internationalen Kritikern jeweils zum besten Film
aller Zeiten gekürt: Orson Welles' Citizen Kane, das Spielfilmdebüt eines
Fünfundzwanzigjährigen, der damit 1941 Filmgeschichte schrieb. Ein Werk, das dem Kino
seine erzählerischen Fesseln nahm.
“Rosebud” lautet das mysteriöse letzte Wort des Zeitungszaren Charles Foster Kane
(Orson Welles), bevor er auf seinem monströsen Schloß Xanadu stirbt. Diesem
Geheimnis möchte der Reporter der Wochenschau “News of the March” auf die Spur
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kommen. Dazu befragt er die Menschen, die dem legendären Pressemagnaten am
nächsten standen: dessen zweite Frau Susan (Dorothy Comingore), eine
heruntergekommene Barsängerin, Mr. Bernstein (Everett Sloane), den früheren
Chefredakteur, Jedediah Leland (Joseph Cotten), Kanes besten Freund. Nach und nach
entsteht ein Bild der Persönlichkeit.
Als Fünfundzwanzigjähriger gelangte Kane in den Besitz eines riesigen Vermögens, mit
dem er erst die marode Zeitung “Inquirer” kaufte, zu einem auflagenstarken
Sensationsblatt machte und sich dann rastlos in neue Aktivitäten stürzte. Seine Ehe
zerbricht darüber, die – wie Leland den Reportern erzählt – endgültig scheitert, als Kane
mit der Sängerin Susan Alexander ein Verhältnis eingeht, das von seinem politischen
Rivalen an die Öffentlichkeit gebracht wird. Aber auch die Verbindung mit Susan scheitert
an Kanes Eigenwilligkeit und dem Egoismus, mit dem er seine Frau in seinem
Prunkschloß Xanadu einschloß. Vom Butler Raymond (Paul Stewart) erfährt der Reporter
schließlich, daß dem sterbenden Kane eine Schneeglaskugel aus der Hand glitt, wobei er
jenes ominöse “Rosebud” murmelte. Während der Reporter das Schloß verläßt, ohne
dessen Bedeutung zu kennen, fährt die Kamera auf einen Ofen, in dem allerlei Gerümpel
verbrannt wird. Gerade wird ein alter Schlitten hineingeworfen, auf dem “Rosebud” zu
lesen ist.
François Truffaut meinte von Citizen Kane, daß dies wohl der Film sei, der die meisten
jungen Leute veranlaßt habe, Regisseur zu werden. Unbestritten zählt Citizen Kane zu
den Maßstab setzenden Werken der Filmgeschichte – ein ungemein reiches,
vielschichtiges Werk, verwirrend wie ein unfertiges Puzzle, ebenso exzentrisch wie
poetisch. Orson Welles hatte für seinen Erstlingsfilm völlige künstlerische Freiheit
erhalten, im starren Studiosystem der dreißiger und vierziger Jahre eine Ausnahme. Doch
RKO, das den Film produzierte, erhoffte sich von dem jungen Welles Wunderdinge. Als
Theaterschauspieler und -regisseur genoß er bereits einen guten Ruf, als
Rundfunkmacher war er legendär. 1938 hatte seine Reportage über die (fiktive) Landung
von Marsmenschen in New York eine Panik verursacht.
Welles' erstes Projekt war die Verfilmung von Joseph Conrads “Heart of Darkness”. Dazu
experimentierte er mit einer “subjektiven” Kamera, die die Geschichte gewissermaßen mit
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den Augen der Hauptfigur sehen sollte. Doch das Verfahren erwies sich als
undurchführbar. Welles nahm es aber in seinem zweiten Projekt Citizen Kane in
abgeänderter Form wieder auf. So ist der Reporter fast nur von hinten zu sehen, schaut
ihm die Kamera über die Schulter. Geradezu revolutionär aber sind Erzählweise und
Kameraführung. Zwar gab es auch schon 1941 im Hollywood-Kino Ansätze, eine
Geschichte nicht mehr chronologisch zu erzählen, doch erst Welles und sein Co-Autor
Herman J. Mankiewicz führten einen weitgehenden Bruch mit dieser Tradition herbei.
Dauernd wechselt die Perspektive, werden die jeweiligen Erzähler konterkariert. Sie
kennen immer nur Teile des Puzzles Kane, der Zuschauer indes erfährt mehr. Er kennt
das Bild als Ganzes und erlebt nun mit, wie es von den Beteiligten nur unvollständig
zusammengebracht wird. Angeschnittene Bilder, Einstellungen aus der
Froschperspektive, eine an den deutschen Expressionismus erinnernde Lichtsetzung tun
das ihre, die Person des Charles Foster Kane in ihrer Größe zu relativieren und ihr
Geheimnis zu bewahren.
Innovativ war hierbei der Einsatz von Tiefenschwärze. Wie auf einer Bühne spielt sich das
Geschehen mal vorne, mal hinten im Raum ab, ohne daß durch Schnitte Figuren oder
Aktionen herausgehoben oder isoliert werden. Das Bild wurde in seiner
Unberechenbarkeit zum Spiegel der im Raum agierenden Personen – die Visualisierung
der menschlichen Psyche.
Reales Vorbild für die Figur des Charles Foster Kane war der Zeitungszar William
Randolph Hearst, der in seinen Blättern den Film heftig angreifen ließ. Eingeschüchtert
verzichteten vor allem ländliche Kinobesitzer darauf, Citizen Kane zu spielen, obwohl die
Kritik begeistert war. Die enttäuschend schwachen Einspielergebnisse veranlaßten RKO
zu einer Vertragsänderung. Seinen nächsten Film, The Magnificent Ambersons, konnte
Welles bereits nicht mehr selbst montieren, worauf er bei seinem dritten RKO-Projekt,
Journey Into Fear, die Regie einem anderen überließ. Welles' weitere Karriere war fortan
bestimmt durch die Beschneidung seiner künstlerischen Freiheit. Mit den Gagen als
Schauspieler in anderen Filmen finanzierte er seine eigenen Projekte, etwa die
Shakespeare-Verfilmungen Macbeth und Chimes at Midnight. Doch erreichte Welles, der
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im Oktober 1985 starb, mit keinem seiner anderen Filme mehr die Wirkung und
Bedeutung wie mit Citizen Kane, seinem ersten.
Wolfram Tichy
9 Modern Times
Modern Times (USA 1936)
Produktion, Regie, Buch, Musik: Charles Chaplin. Kamera: Roland H. Totheroh, Ira
Morgan. Darsteller: Charles Chaplin, Paulette Goddard. Länge: 89 Minuten. Vertrieb.
neue atlas medien.
Gleich einer Herde von Schafen drängelt sich eine anonyme Horde von Fabrikarbeitern an
der Zeiterfassungsmaschine vorbei an die durchautomatisierten Arbeitsplätze. Einer ist
der uns wohl vertraute Tramp, der hier seinen 75. und zugleich letzten Spielfilmauftritt
absolviert. Von den Kollegen unterscheidet er sich allenfalls dadurch, daß er noch etwas
unbedeutender wirkt (und sich daher am besten zum Ausbeutungsobjekt eignet). Wie bald
zu sehen sein wird, ist er aber sensibler und daher in der beneidenswerten Lage, verrückt
zu werden, bevor er selbst zur menschlichen Maschine wird.
So beginnt eine der großen Komödien der Geschichte menschlichen Kunstschaffens, die
in dieser ersten Phase gleich ihre besten, weil klarsichtig formulierten Momente hat. Als
der Film – vor genau einem halben Jahrhundert – nach fast fünf Jahren Vorbereitungsund Drehzeit herauskam, war das Thema der industriellen Vermassung dem Zuschauer
aus vielen Werken der Kunst und der Literatur vertraut: Fritz Lang hatte es bereits in
“Metropolis” formuliert, und im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskatastrophe, die dem
Optimismus der “roaring twenties” ein brutales Ende bereitete, brachte gerade die
angelsächsische Literatur zwischen Aldous Huxleys “Brave New World” und George
Orwells “1984” eine Fülle pessimistischer Utopien heraus. Alle thematisierten sie die
Auflehnung des Individuums gegen die Vermassung des modernen Menschen. Schon
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1931 hatte René Clair in seiner (programmatisch betitelten) Komödie “A nous la liberté” so
auffällig ähnlich wie später Chaplin das gleiche Thema formuliert, daß die
Produktionsfirma einen unautorisierten, aber nicht aussichtslosen Plagiatsprozeß
anstrengte.
Chaplins herausragende Leistung war also nicht die Originalität seiner Geschichte, und
schon gar nicht die Modernität seiner Stilmittel, sondern die Verdichtung verschiedenster
Inspirationen zu einer Aussage von souveräner Bildhaftigkeit. Große Wirkung wurde
erzielt, ohne die Komplexität des Themas an den billigen Effekt zu verraten.
So hat Chaplin das von Fritz Lang sehr plakativ inszenierte Bild von dem
menschenverschlingenden Moloch Maschine mit so viel Witz und effektsicherem
Sarkasmus variiert, daß allein diese Sequenz als ergiebige Illustration seines profunden
Verständnisses sowohl seines Themas wie seiner Beherrschung der Mittel komischer
Darstellung dienen kann: In jedem Moment, selbst im Inneren der Maschine, ist sein Held
sichtbarer Mittelpunkt des Geschehens. Obwohl der Filmtrick durchschaubar bleibt, ist die
Glaubhaftigkeit des Geschehens davon unberührt, und am Schluß sorgt ein sublimer
komischer Kontrast – die Ungerührtheit des eben noch in Panik geratenen Kollegen
während der Frühstückspause für eine Ableitung der aufgestauten Emotionen in die
gewünschte Richtung.
Man braucht sich nur vorzustellen, wie teuer, technisch perfekt, dabei aber seelenlos die
gleiche Sequenz im heutigen Hollywood inszeniert werden würde, um ermessen zu
können, wie bescheiden der Beitrag technischer Mittel zur Wirkung einer komisch
formulierten Aussage im Vergleich zu der subtilen Kunst der mimischen Pointierung ist,
als deren Meister sich Chaplin gerade in dieser Sequenz wieder erweist.
Im weiteren Verlauf des Films bleibt Chaplin auf dem Niveau dieses fulminanten
Einstiegs, ändert aber die Orchestrierung. Eine zweite Stimme, eine Frau, kommt hinzu
und erweitert die bisher aufgezeigten, trostlosen Alternativen um eine dritte,
sympathischere Lösungsmöglichkeit: die Solidarität der Individuen miteinander. Indem er
beide veranlaßt, zugunsten der Bewahrung ihres Lebensinhalts auf eine vermeintliche
Verbesserung ihrer Lebensumstände zu verzichten, verlegt sich Chaplin, der
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schwärmerische Träumer, wieder einmal auf die ihm vertrauten Mittel des viktorianischen
Melodrams, mit dem er aufgewachsen und das, ironisch gebrochen, seine Stärke war.
Dies gipfelt in der berühmten Schlußsequenz, in der beide ihre Vergangenheit abschütteln
und auf einer verlassenen Landstraße einer zwar ungewissen, aber sicher trostreichen
Zukunft entgegengehen. Die Suggestionskraft dieser Szene, die ein Happy End
unterstellt, ohne es wirklich zu formulieren, ist vielleicht das beredteste Beispiel von
Chaplins überragender Illusionskunst. Chaplin bringt den Zuschauer zunächst dazu, seine
Misere in einem satirischen Spiegel zu erkennen und nutzt dann dessen Betroffenheit, um
ihn von der Möglichkeit zu überzeugen, daß er entkommen kann. Dieser
psychotherapeutische Effekt ist ein Teil von Chaplins Erfolgsgeheimnis.
Ein Erfolg auf Anhieb war “Modern Times” allerdings nicht. Dies lag nicht zuletzt daran,
daß der Film im wesentlichen ein Stummfilm war, obwohl zum Zeitpunkt seines
Erscheinens der Tonfilm schon längst seinen Siegeszug abgeschlossen hatte. So wurde
Chaplin – wie bei all seinen Filmen seither – mit dem für alle sich treu bleibenden
Künstlern vertrauten Vorwurf bedacht, altmodisch zu sein. Damals versuchte er, seine
Entscheidung als bewußte Demonstration für die Überlegenheit jener ausgestorbenen
Kunstform darzustellen. Später gab er jedoch zu, daß in der von ihm gewählten
Lösungsmöglichkeit der einzige Ausweg aus einem Dilemma lag, mit dem er sich stärker
noch als jeder andere Stummfilmstar konfrontiert sah: einer essentiell stummen
Identifikationsfigur von hoher Abstraktion das realistische Element der Stimme zu
verleihen, ohne ihren Status zu zerstören. Selbst dieser Ausweg, das war Chaplin bewußt,
war ihm nur noch dieses eine Mal vergönnt.
Mögen andere Filme noch bissiger, noch witziger oder konsequenter sein: In seiner Fülle
von Verweisen, Selbstzitaten und unübertrefflich ausgefeilten Standardbearbeitungen,
aber auch dort, wo er bereits auf die Zerrissenheit der späteren Tonfilme hinweist, ist
“Modern Times” der Schlüsselfilm.
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Heinz Kersten
10 Der Untertan
(Deutschland 1951)
Regie: Wolfgang Staudte. Buch: Wolfgang und Fritz Staudte, nach dem Roman von
Heinrich Mann. Kamera: Robert Baberska. Darsteller: Werner Peters, Paul Esser,
Blandine Ebinger, Sabine Thalbach, Eduard von Winterstein. Länge: 90 Minuten.
Vertrieb: Euro Video.
Auch die Beurteilung von Filmen unterliegt Zeiteinflüssen. Wolfgang Staudtes HeinrichMann-Verfilmung “Der Untertan” liefert dafür ein bezeichnendes Beispiel. Daß diese beste
deutsche Filmsatire vor 35 Jahren in einer Fachkorrespondenz als “Film gegen
Deutschland” diffamiert und wegen eines heute unvorstellbaren, bis Ende 1956 gültigen
Bonner Verbots nur im “Untergrund” besichtigt werden konnte, hängt auch mit der Person
ihres Regisseurs und der Produktionsfirma zusammen.
Wolfgang Staudte, Jahrgang 1906, drehte seine wichtigsten Filme zwischen 1945 und
1955 bei der DEFA, der ersten deutschen Filmgesellschaft, die nach dem Krieg gegründet
wurde. Für sie realisierte der engagierte Nazi-Gegner, der 1943/45 vier Unterhaltungsfilme
inszeniert hatte (einer war verboten worden, ein anderer kam erst Anfang der fünfziger
Jahre in die Kinos) den ersten deutschen Nachkriegsfilm überhaupt: “Die Mörder sind
unter uns”.
Wie später “Rotation” (1949) gehörte dieser Staudte-Film zu den besten Produktionen der
DEFA-Gründerzeit: Beide Filme waren konsequente Abrechnungen mit der NSVergangenheit, wie die meisten damals in Babelsberg gedrehten Filme unter Mitwirkung
vieler Künstler entstanden, die wie der Regisseur ihren Wohnsitz in Westberlin oder
Westdeutschland hatten. Daß Staudte dann aber auch auf dem Höhepunkt des Kalten
Krieges nicht mit der einzigen DDR-Filmgesellschaft DEFA brach, führte zur anfänglichen
Ächtung seiner “Untertan”-Adaption.
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Staudte besetzte die Titelrolle mit Werner Peters, der sich bereits als HJ-Bannführer in
“Rotation” bewährt hatte und als “Untertan” Diederich Hessling den Gipfel seiner relativ
kurzen Schauspielkarriere erreichte.
Nachdem die DEFA die Rechte zur Verfilmung des Romans in den USA, wo Autor
Heinrich Mann bis zu seinem Tode am 12. März 1950 lebte, erworben hatte, schrieb der
Regisseur zusammen mit seinem Vater Fritz Staudte das Drehbuch. Er hielt sich dabei
eng, bis zu teilweise wörtlicher Übernahme, an das literarische Original, dessen satirische
Schärfe er mit adäquaten filmischen Mitteln versinnbildlichte.
Für Staudtes optische Umsetzung des Romans “Der Untertan” gilt, was Theodor W.
Adorno über Heinrich Manns “Professor Unrat” schrieb, den 1929 Josef von Sternberg
und seine Drehbuchautoren Carl Zuckmayer, Karl Vollmöller und Robert Liebmann in “Der
blaue Engel” UFA-gerecht verwandelt und entschärft hatten: “Heinrich Mann hat von den
Franzosen das Schneidende des umwölkten Blicks, die polemische Kraft der Kälte gelernt
und sich freigehalten von jenem selbstgerecht versöhnenden Humor, der in Deutschland
so hoch im Kurs steht. Er hat bewirkt, was sonst dem deutschen Roman abgeht, sobald er
sich mit den Bildern der Enge einläßt: fruchtbaren Haß. Dem verdankt er die unbeirrbare
gesellschaftliche Physiognomik. Stilgeschichtlich bezeichnet der Roman den Umschlag
der ins Extrem gesteigerten naturalistischen Mittel in den expressionistischen Ausbruch.
So nah rückt er den bürgerlichen Urbildern auf den Leib, daß die Darstellung die
bürgerliche Ausdruckskonvention durchbricht und den Menschen zitiert in der Gestalt des
zappelnden Unmenschen.”
Gerade den “fruchtbaren Haß” machten große Teile der zeitgenössischen westdeutschen
Kritik Staudte vielfach zum Vorwurf – damit bestätigend, wie gut die Satire den “Untertan”
von heute getroffen hatte.
Merkmale des den Film prägenden Stils sind: die sorgfältige Auswahl requisitorischer
Details in den Interieurs zur Charakterisierung des Milieus und der darin agierenden
Personen; der dem gleichen Zweck dienende Einsatz der Musik (Horst-Hanns Sieber),
einer Mischung aus Militär- und Salonmusik; Zeitraffungen durch expressive Montagen,
besonders Diederich Hesslings Kurzbiographie am Anfang, wo schlaglichtartig
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allgemeingültig erhellt wird, wie man Untertanen durch entsprechende
Erziehungseinflüsse in Kindheit und Jugend heranzüchtet; Kameraperspektiven (Robert
Baberske), die durch Aufnahmen von unten oder oben Hesslings “Radfahrer-Mentalität”
auch optisch verdeutlichen – vor Autoritäten sich duckend, auf Unterlegene herabblickend
und tretend.
Es gibt im “Untertan” viele anthologiewürdige optische Einfälle, die an beste
Stummfilmtraditionen (Eisenstein) anknüpfen: in der Kasernenhofszene die Spiegelung
der Rekrutenschleiferei auf der blanken Trompete und die Großaufnahme des unartikuliert
brüllenden Hauptmannsmundes, die Aufnahmen der wie Monstren wirkenden,
mensurlädierten Korpsstudentenvisagen durch Bierseidel und die Charakterisierung des
Kaisers durch den bloßen Blick der Kamera auf Stiefel und Adlerhelm. Die ganze
Komposition des Films ist auf die systematische Decouvrierung eines deformierten
Charakters ausgerichtet: Doppelmoral, Heuchelei und Unterwürfigkeit des Bourgeois
verdeutlichend.
Nur in der Schlußszene geht Staudte über seine literarische Vorlage hinaus, um ganz klar
zu machen, wohin deutscher Untertanengeist geführt hat: Von der im Gewittersturm
endenden Denkmalseinweihung mit Hesslings Worten “Nur auf dem Schlachtfeld wird die
Größe einer Nation durch Blut und Eisen geschmiedet!” wird, untermalt von den
musikalischen Motiven des Horst-Wessel-Liedes und der NS-Wochenschau-Fanfare,
überblendet auf ein Bild, das den selben Marktplatz inmitten der Ruinen des Zweiten
Weltkriegs zeigt – zu Füßen des stehengebliebenen Kaiser-Denkmals räumen jetzt
Trümmerfrauen den Schutt weg.
Daß die Beseitigung des Schutts in deutschen Köpfen, zu der Staudte mit seinen Filmen
beitragen wollte, weit schwieriger war, bewies das Schicksal des “Untertan” in der
Bundesrepublik. Nachdem der Film 1951 in Karlovy Vary (Karlsbad) ausgezeichnet
worden sowie in Cannes und Venedig mit Erfolg gelaufen war, einen Nationalpreis der
DDR, den schwedischen Kritikerpreis für den besten deutschen Nachkriegsfilm und einen
weiteren finnischen Filmpreis erhalten hatte, bekam ihn das westdeutsche Publikum erst
1957 mit Kürzungen zu Gesicht, und bis der künstlerische Rang dieses Films allgemeine
Anerkennung fand, verging noch eine ganze Weile.
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Wolfgang Staudte hat sich sein zeitkritisches Engagement zwar auch noch später bewahrt
und es in Filmen wie “Rosen für den Staatsanwalt” (1959) oder “Kirmes” (1960), ja selbst
in einigen seiner Fernseharbeiten, auf die er sich zuletzt beschränkte, zum Ausdruck
gebracht. Besseres als “Der Untertan” gelang ihm aber bis zu seinem Tode am 19. Januar
1984 nie mehr.
Reinhard Kleber
11 Mephisto
Mephisto (Ungarn/BRD 1981)
Regie: István Szabó. Buch: István Szabó, Péter Dobai. Kamera: Lajos Koltai. Musik:
Zdenko Tamássy. Darsteller: Klaus Maria Brandauer, KrystynaJanda, Rolf Hoppe, Karin
Boyd, Christine Harbort. Länge: 115 Minuten. Vertrieb: marketing film.
“Was wollen die von mir? Was wollen die? Ich bin doch nur Schauspieler”, keucht der
Intendant und Komödiant Hendrik Höfgen, wenn er, von grellem Scheinwerferlicht im
nächtlichen Berliner Olympiastadion hin- und hergehetzt, erschöpft stehen bleibt. Diese
faszinierende Schlußszene, ein genuin filmischer Einfall des ungarischen Regisseurs
István Szabó, enthüllt die wirkliche Position des Karrieristen Höfgen, der sich als
Schützling des Nazi-Generals einbildete, die Fäden in der Hand zu halten und nun von
diesem selbst endgültig zur Marionette degradiert wird. Die beiden Antipoden der
Geschichte werden brillant von dem Österreicher Klaus Maria Brandauer und Rolf Hoppe
aus der DDR gespielt.
Der Film schildert den wunderbaren Aufstieg des Hamburger Provinzschauspielers
Hendrik Höfgen, der sich zum gefeierten Berliner Theaterstar emporarbeitet, sich nach
1933 um seiner Karriere willen den neuen Machtverhältnissen anpaßt und sich schließlich
zum Intendanten der preußischen Staatstheater machen läßt. Der Preis dafür ist hoch:
Höfgen verrät politische Überzeugungen, menschliche Bindungen und künstlerische
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Ideale. Sein frühes Eintreten für ein revolutionäres Theater entpuppt sich als bloßes
Maulheldentum. Frauen benutzt er nur zu seinem Vorteil und offenbart damit die
Unfähigkeit zu lieben.
Der ambitionierte Versuch schließlich, der hehren Kunst im Chaos der Zeit eine rettende
Insel zu bewahren, muß scheitern, weil Höfgen sich zum Vorzeige-Intendanten der
nationalsozialistischen Kulturpolitik umfunktionieren läßt.
Die differenzierte psychologische Zeichnung dieser komplizierten, gebrochenen Figur im
Film hebt sich wohltuend von der schablonenhaften Schwarz-Weiß-Malerei der
Romanvorlage von Klaus Mann ab. Der älteste Sohn Thomas Manns hatte den Roman
1936 im Exil veröffentlicht und darin eigene Erfahrungen verarbeitet. Protagonist Hendrik
Höfgen ähnelt in vielen biografischen Details dem Theateridol Gustaf Gründgens (man
beachte die anzügliche Schreibweise!), mit dem dieser in den zwanziger Jahren auf der
Bühne gestanden hatte.
Auch etliche andere Romanfiguren sind zeitgenössischen Personen nachgebildet: So sind
der General und Dora Martin leicht als Hermann Göring und Elisabeth Bergner
wiederzuerkennen. Deshalb wurde dieses literarisch keineswegs überzeugende Werk
Klaus Manns auch immer wieder als Schlüsselroman abqualifiziert. Seinem Verfasser
wurden billige Rachegelüste vorgeworfen. Er verteidigte sich mit der Versicherung, keine
bestimmte historische Gestalt, sondern einen symbolischen Typus dargestellt zu haben.
Durch seine wechselvolle Verbotsgeschichte und langjährige gerichtliche
Auseinandersetzungen avancierte der “Mephisto”-Roman zum bekanntesten
bundesrepublikanischen Zensurfall.
Erst nach den nicht sanktionierten, viel beachteten Aufführungen der Bearbeitung des
Stoffes durch die renommierte französische Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine zuerst
1979 in Paris, im folgenden Jahr dann auch in Deutschland, hat es 1981 der RowohltVerlag gewagt, trotz Verbots den Roman als Taschenbuch in einem Überraschungscoup
auf den Markt zu werfen. Das Risiko lohnte sich: Der Roman wurde ein Bestseller.
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Einen nicht minder großen Erfolg errang im gleichen Jahr die Szabó-Verfilmung “nach
Motiven des Romans”. Für den Regisseur, der in Kennerkreisen schon vorher als
führender Kopf des ungarischen Films galt, war es die erste Literaturverfilmung und die
erste große Arbeit fürs westliche Kino. Es wurde sein Meisterwerk. Der Film gewann 1981
in Cannes den Preis für das beste Drehbuch (Szabó zusammen mit Péter Dobai) und den
Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI), 1982 erhielt er als bester fremdsprachiger
Film einen Oscar. Er wurde im In- und Ausland hervorragend rezensiert und gilt als der mit
großem Vorsprung erfolgreichste ungarische Film seit vielen Jahren.
Als Studie über das exemplarische Schicksal eines Opportunisten in einem totalitären
System hat sich das Werk schon heute einen Platz in der Filmgeschichte gesichert. Weil
es sich um eine der schlüssigsten, präzisesten Darstellungen der zeitgeschichtlichen
Verhältnisse unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft handelt, wurde der Film am
50. Jahrestag der Machtergreifung im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Zum anderen
führt er aber auch am Beispiel eines intellektuellen Mitläufers die systemübergreifende
Problematik des Verhältnisses von Kunst und Macht vor und fragt hartnäckig nach der
gesellschaftlichen Verantwortung des Künstlers.
Darüber hinaus ist der Film ästhetisch gelungen. Durch virtuose Vernetzung
verschiedener Bedeutungsebenen sind die vielfältigen literarischen und theatralischen
Bearbeitungen des Faust-Stoffes aufeinander bezogen, meisterhaft inszeniert etwa in
einer Schlüsselszene des Films, dem “Pakt mit dem Teufel”.
Im Kostüm des Mephistopheles scheint Höfgen den General durch die Ausdruckskraft
seines Spiels fast zu überwältigen. In der Loge des Generals verabschieden sich beide
unter dem enormen Aufsehen des Publikums mit einem ostentativen Handschlag, der das
Bündnis zwischen dem Schauspieler und dem Repräsentanten der Macht besiegelt. Doch
Höfgen täuscht sich über seine wahre Stellung: Während er den Mephisto nur spielt, ist
der General tatsächlich Mephisto, die Verkörperung des Bösen. Höfgen übernimmt damit
in der Rolle des Mephisto den Part des Goetheschen Faust, der vom General (als
Mephistopheles) zum Bösen verführt wird. Er wird zum “Affen der Macht”, ein “Clown zur
Zerstreuung der Mörder” (Klaus Mann). Szabó läßt Höfgen somit auf raffinierte Weise
zwischen verschiedenen Rollen und Seinsweisen oszillieren.
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Noch engmaschiger wird das komplexe Beziehungsgeflecht des Films durch die
zeitgeschichtlichen Verweise und Anspielungen auf das Verhältnis Gründgens-Göring, die
historischen Mephisto-Interpretationen der Gründgens-Aufführungen (vor allem die
unnachahmliche Mephisto-Maske des weiß geschminkten kahlen Schädels mit
messerscharf gezogenen Augenbrauen) und auf den berüchtigten Riefenstahl-Film
“Triumph des Willens” mit seiner monumentalen Architektur aus Menschenleibern.
Mit all diesen Mitteln leuchtet Szabó die Zentralfigur aus unterschiedlichen Perspektiven
aus und weckt so Verständnis für deren Handlungsweise, wenngleich er sie nicht
rechtfertigt. Damit gelingt ihm insgesamt das, woran Klaus Mann mit seinem Anspruch
scheiterte, nämlich: nicht Porträts, sondern Typen darzustellen.
Horst Schäfer
12 Sacco und Vanzetti
Sacco e Vanzetti (Italien/Frankreich 1971)
Regie: Giuliano Montaldo. Buch: Giuliano Montaldo und Fabrizio Onofri. Kamera: Silvano
lppoliti. Musik: Ennio Morricone, Joan Baez. Darsteller: Riccardo Cucciolla, Gian Maria
Volonté, Cyril Cusack, Milo O'Shea. Länge: 124 Minuten. Vertrieb: VPS.
Der Polit-Thriller von Giuliano Montaldo über den amerikanischen Justizskandal “Sacco
und Vanzetti” beginnt mit einer Beschreibung des Zeitgeistes der Zwanziger Jahre, der
Umfeld und Verlauf des Prozesses prägte: Es waren jene frühen Jahre, in denen Justiz,
Politik und Kapital mit verbissenem Haß gegen Gewerkschaftler, Kommunisten und
Anarchisten vorgingen, die Jahre, in denen Angst, Hysterie und Terror das Klima
bestimmten. Bei einer der vielen Razzien im italienischen Wohnviertel von
Boston/Massachusetts werden am 5. Mai 1920 die beiden italienischen Einwanderer
Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti festgenommen. Sie tragen Waffen bei sich, was
sie verdächtig macht. Bei den Verhören verwickeln sich die beiden in Widersprüche. Man
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beschuldigt sie des Anarchismus, aber nicht deswegen werden sie angeklagt, sondern
weil ihre Täterschaft bei einem bewaffneten Raubüberfall am 15. April 1920 in South
Braintree – bei dem zwei Menschen kaltblütig erschossen wurden – vermutet wird.
Während der Gerichtsverhandlung ergeben die Zeugenaussagen und Beweismittel kein
genaues Bild über Tathergang und Täter. Aber auch Sacco und Vanzetti können kein
hundertprozentiges Alibi für die Tatzeit erbringen; ihre Entlastungszeugen werden nicht
ausreichend gewürdigt, sondern vorsorglich als gescheiterte Existenzen und asoziale
Elemente dargestellt.
Außerhalb des Gerichts kommt es zu ersten öffentlichen Protestdemonstrationen. Sacco
und Vanzetti bekennen sich zum Anarchismus; sie lehnen es aber ab, Bomben zu werfen
oder Waffengewalt anzuwenden. Aus der Verhandlung wird ein politischer Prozeß, aus
einem Kriminalfall ein Stück Klassenkampf. Politische und rassistische Vorurteile prägen
Anklage und Beweisführung. Das Interesse am Ausgang des Prozesses wird in der
Öffentlichkeit immer stärker; die politischen Instanzen mischen sich ein, und die
Geschworenen befinden unter solchem Druck die Angeklagten “schuldig des
heimtückischen Mordes”.
Es gründet sich ein Verteidigungskomitee, das die Berufungsverhandlung vorbereitet. In
allen großen Städten des Landes kommt es zu Solidaritätskundgebungen und
-bewegungen, denen sich immer mehr Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen
anschließen. Rechtsanwalt Fred H. Moore, der in früheren Fällen schon proletarische
Angeklagte verteidigt hatte und mit vollem Einsatz für seine Mandanten kämpft, stellt
falsche Zeugenaussagen und neue Widersprüchlichkeiten fest, die vom Gericht aber nicht
anerkannt werden.
Einer Spur, die vielleicht zu den wahren Tätern führt, kann nicht nachgegangen werden,
weil erforderliche Akten und Beweisstücke plötzlich verschwunden sind. Ein Antrag auf
Wiederaufnahme des Verfahrens wird abgelehnt, ebenso die Begnadigung. Der Film
endet mit der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti am 23. August 1927 auf dem
elektrischen Stuhl. Eingeblendet werden dazu Dokumentaraufnahmen von den weltweiten
Protesten, die diese Entscheidung auslöste. Sacco und Vanzetti starben “... aufgrund von
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Beweisen”, wie die konservative Zeitung “Der Republikaner” aus Springfield/Missouri
schreib, “auf die man nicht einmal einen Hund hätte verurteilen dürfen ... ”
Montaldos Film rekonstruiert die historischen Vorgänge. Er konzentriert sich dabei auf die
beiden Hauptfiguren und den dramatischen Prozeßverlauf, der die Ohnmacht der
Verteidigung gegenüber einem voreingenommenen Gericht verdeutlicht. Der Film
analysiert die Klassengesellschaft der USA der Zwanziger Jahre und steht parteilich auf
Seiten der Opfer. Er ist kein politischer Propagandafilm, sondern ein engagiertes,
aufrüttelndes Dokument und weist über den damaligen Zeitgeist hinaus auf die politischen
Prozesse der Gegenwart.
Beeindruckend vor allem die schauspielerischen Leistungen von Riccardo Cucciolla
(Sacco) und Gian Maria Volonté (Vanzetti). Für den politisch aktiven und international
gefragten italienischen Schauspieler Volonté steht dieser Film in einer Reihe mit PolitThrillern von Elio Petri und Francesco Rosi, in denen er mitwirkte (unter anderen
“Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger”, “Der Fall Mattei” und
“Lucky Luciano”).
Giuliano Montaldo wurde am 22. Februar 1930 in Genua geboren. Unter anderem war er
Regieassistent bei Gillo Pontecorvo, der zu den profiliertesten politischen Regisseuren
Italiens zählt. Die bekanntesten Filme Montaldos sind “Gott mit uns” (1970), ein
Antikriegsfilm, und “Der tödliche Kreis” (1978), ein Film, der sich auf originelle Weise mit
der Darstellung von Gewalt im Film befaßt. Seine Arbeiten für das Fernsehen (“Giordano
Bruno”, 1973, “Marco Polo”, 1982) wurden auch bei uns ausgestrahlt. Nicht realisieren
konnte Montaldo einen Film über die Ermordung des chilenischen Staatspräsidenten
Salvador Allende, einen Film über Rosa Luxemburg (mit Jane Fonda in der Titelrolle)
sowie einen Film über den Reichstagsbrand, der als Koproduktion mit der DEFA geplant
war.
Günter Lebailly
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13 Orfeu Negro
Orfeu Negro (Frankreich/Italien/Brasilien 1958)
Regie: Marcel Camus. Buch: Jacques Vito, Marcel Camus, nach einem Stück von
Vinicius de Moraes. Kamera: Jean Burgoin. Musik: Luis Bonfa, Antonio Carlos Jobin.
Schnitt: Andrée Feix. Darsteller: Breno Mello, Marpessa Dawn, Adhemar Da Silva,
Lourdes De Oliveira. Länge: 105 Minuten. Vertrieb: VPS.
Bei der Verbindung des “Orpheus”-Themas mit dem Film denken Kenner des Metiers
nicht nur an “Orfeu Negro” von Marcel Camus, sondern sofort auch an Jean Cocteaus
“Orphée”. Cocteaus Film, 1950 entstanden, verlegte den mythischen Stoff in das
Frankreich der Gegenwart. Knapp zehn Jahre später benutzte Marcel Camus abermals
den Orpheus-Stoff. Er verlagerte ihn ins exotische Klima des Karnevals von Rio de
Janeiro. Orfeu ist ein Straßenbahnfahrer in Rio, ein Sänger und Gitarrespieler, von dem
die Freunde glauben, er könne mit seiner Musik die Sonne aufgehen lassen.
Orfeu ist mit der temperamentvollen Mira verlobt. Euridice erscheint als junges Mädchen
vom Lande. Sie ist nach einer unheimlichen Begegnung zu ihrer Cousine Serafina in die
Stadt geflohen; sie glaubt, ein unbekannter Mann trachte ihr nach dem Leben. Orfeu und
Euridice begegnen sich zum ersten Mal in der Straßenbahn und dann wieder bei Serafina,
die eine Nachbarin Orfeus ist. Bei einer Probe für das Karnevalsfest kann Orfeu die
eifersüchtige Mira ablenken und mit Euridice tanzen. Der geheimnisvolle Fremde
erscheint in der Maske des Todes. Erschrocken flieht Euridice. Orfeu folgt ihr und kann
sie vor dem Zugriff des Todes retten. Euridice bleibt über Nacht bei Orfeu.
Am nächsten Tag zieht Orfeu mit seiner Tanzgruppe zum Karnevalsfest. Serafina überläßt
Euridice ihre Maske, damit sie, von Mira unerkannt, in Orfeus Nähe sein kann. Während
des Tanzes erkennt Mira, wer in Serafinas Kostüm steckt und stürzt sich wütend auf
Euridice. Der Mann in der Maske des Todes hat die Szene beobachtet und folgt dem
fliehenden Mädchen. Im leeren Straßenbahndepot will Euridice sich verstecken, aber der
Verfolger ist schon da. Orfeu, der sie sucht, schaltet im dunklen Depot den Strom ein und
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tötet dadurch ungewollt seine Geliebte. Der Tod schlägt ihn zu Boden und fährt
triumphierend mit Euridice in einem Krankenwagen davon.
Orfeu, der nicht glauben will, daß Euridice tot ist, macht sich auf die Suche nach ihr: im
Krankenhaus, in der Vermißtenstelle, bei einer Macumba-Zeremonie. Hier glaubt er hinter
sich die Stimme Euridices zu hören, die ihm sagt, sie sei bei ihm, aber er dürfe sich nicht
umdrehen. Gegen das Gebot wendet er sich um und sieht hinter sich eine alte Negerin.
Entsetzt läuft Orfeu davon. Im Leichenschauhaus findet er schließlich die tote Euridice. Er
nimmt sie auf seine Arme, um sie nach Hause zu tragen und wandert mit ihr durch die
jetzt stille Stadt. Bei seiner Hütte wird er von der wütenden Mira erwartet. Sie verletzt ihn
durch einen Steinwurf. Er stürzt den Abhang hinunter und stirbt mit der toten Geliebten im
Arm. Die Geschichte hat ein Nachspiel. Orfeus junge Freunde haben seine Gitarre
gerettet. Einer der Jungen spielt darauf, und tatsächlich geht wieder die Sonne auf: Ein
neuer Orpheus ist geboren. Zu seiner Melodie beginnt ein kleines Mädchen zu tanzen.
Der bacchantische Taumel des Karnevals gibt dem Film seine Farbe und seinen
Rhythmus. Die Musik, das Schlagen der Trommeln und Tamburins, das Singen, Spielen,
Klatschen, Tanzen beginnt mit der ersten Szene und setzt erst aus, als Euridice den Ort
ihres Todes betritt. Der pulsierende Rhythmus der Musik schlägt den Zuschauer in Bann.
Die leuchtenden Farben der Kostüme und die rauschhaften Bewegungen der Tänze
geben dem Film seine glanzvolle Oberfläche und seine farbige Exotik. Sie verdecken aber
auch einige Fragen.
Wir können diesen Film heute nicht mehr so naiv fasziniert anschauen wie zu seiner
Entstehungszeit. Das Leben der Armen in den Elendsquartieren nehmen wir nicht mehr
unbefragt als Folie für eine unterhaltende Geschichte. Marcel Camus ist gewiß nicht
vorzuwerfen, er beute für seinen Film das Elend der Leute aus. Statt das Problem zu
schildern, beschreibt er seine Figuren als Menschen mit individuellen Schicksalen, ohne
nach ihren Lebensumständen zu fragen.
Einmal im Jahr feiern die Armen ihren Karneval als großes Fest der Freude, für das sie
alles geben. Der Gegensatz zwischen den miserablen Lebensbedingungen und der Flucht
in Schönheit und Tanz wird nicht als Konflikt gezeigt. Der Film verschönt; die Armut wirkt
proper und aufgeräumt. Vielleicht genügte es zur Entstehungszeit des Films, den
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Gegensatz in kleinen humorigen Marginalien anzudeuten, um dem europäischen
Publikum überhaupt einmal andere Lebensweisen und Lebensbedingungen
nahezubringen. Was jedoch vor einer Generation noch unbefragt hingenommen wurde,
wird heute in anderen Zusammenhängen gesehen; ein Lernprozeß hat eingesetzt.
Dennoch vernachlässigt Camus nicht die dunklen Seiten des Lebens. Die Freude des
Tanzes grundiert er mit der Bedrohung durch den Tod. Nach dem ausgelassenen
Festtreiben zeigt er Betrunkene, Verletzte, Tote. Nachdem der Rausch der
Karnevalsnacht vorbei ist, legt sich der helle Tag grau über die Szenerie.
Camus erzählt die Geschichte von Orpheus und Eurydike neu. Vielleicht ist der besondere
Nachdruck, den er auf die Nacherzählung legt, der freien Entfaltung der Geschichte eher
hinderlich, da viele Details über sich hinausweisen und als Anspielungen auf den Mythos
genommen werden sollen. Da ist der Standesbeamte, der die Geschichte von Orpheus
und Eurydike zitiert. Der Leiter des Straßenbahndepots mit Namen Hermes kennt alle
Menschen und Wege; er schickt Euridice zum Ort ihres Todes und zeigt Orfeu den Weg
zu den Toten. Der Hund, der das Haus bewacht, in dem Orfeu die Stimme Euridices
wiederhört, heißt Cerberus. Orfeus Verlobte ist von bacchantischer Tanzwut besessen.
Die Parallelen zum Mythos sind vielleicht um eine Spur zu deutlich. Jean Cocteau hatte in
seinem “Orpée” aus der alten Geschichte nur die Hauptpunkte verwendet und vieles neu
erfunden; Marcel Camus ist in der Hinsicht skrupulöser, aber nicht ganz so überzeugend.
Alle Einwände werden jedoch im Augenblick des Sehens hinweggewischt durch die
Vitalität der Darsteller, durch das pulsierende Leben, das den Film vorantreibt. Die
Hauptrollen werden ausschließlich von Farbigen gespielt und sind, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, mit Laiendarstellern besetzt. Ihre ungekünstelte Naivität und ihre
Lebensfreude werden so bezwingend eingefangen, daß sie den Zuschauer überrumpeln.
Die Exotik des Milieus wird nicht ausgestellt; vielmehr wird der Zuschauer eingeladen, für
eine kurze Zeit in dieser fremden Umgebung eine Geschichte mitzuerleben.
Leider ist dem 1982 verstorbenen Regisseur Marcel Camus kein zweiter Film von
vergleichbarem Rang gelungen. Camus, geboren 1912, war zuerst Maler und Bildhauer,
dann längere Jahre Regieassistent, u.a. bei Feyder, Astruc, Buñuel. Seinen ersten
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Kurzfilm drehte er 1950, seinen ersten Spielfilm 1956 (Mort en fraude/Das Halbblut von
Saigon). “Orfeu Negro” wurde 1959 in Cannes mit dem Großen Preis der Filmfestspiele
ausgezeichnet und erhielt den “Oscar” als bester ausländischer Film des Jahres.
Meinolf Zurhorst
14 Lohn der Angst
Le salair de la peur (Frankreich/Italien 1952)
Regie: Henri-Georges Clouzot. Buch: Henri-Georges Clouzot und Jérome Géronimi, nach
dem Roman von Georges Arnaud. Kamera: Armand Thirard und Louis Née. Musik:
Georges Auric. Darsteller: Yves Montand, Charles Vanel, Peter van Eyck, Folco Lulli,
Vera Clouzot. Länge: 144 Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
Ein klarer Entwurf, eine gerade Linie: Präzision und Knappheit sind die markanten
Merkmale dieses Meisterwerks des Spannungskinos. In der ersten Hälfte skizziert Clouzot
ebenso eindrucksvoll wie genau das abgestumpfte Leben in Las Piedras, einem
gottverlassenen, brütend heißen Nest irgendwo in Lateinamerika. Ein paar gestrandete,
heruntergekommene europäische Abenteurer und Glücksritter warten dort auf die Chance,
ihrer Misere zu entkommen. Ihr Wortführer ist Mario (Yves Montand). In dem alten Jo
(Charles Vanel), wie er selbst aus Paris stammend, sieht Mario sein Vorbild. Der Brand an
einer amerikanischen Ölquelle verschafft den Männern endlich die Chance, auf die sie
schon zu lange gewartet haben: Zwei Lastwagen voller Nitroglyzerin sollen über 300
Meilen hinweg durch unwegsames Gelände an die Brandstelle transportiert werden – ein
todsicheres Himmelfahrtskommando, das jedem Fahrer 2000 Dollar einbringt, wenn er es
überlebt.
In der zweiten Hälfte des Films schildert Clouzot in ungemein spannender Manier diese
gefährliche Reise. Die Spannung entsteht dabei nicht allein durch die physischen
Aktionen, vielmehr durch das, was sich davon auf den Gesichtern der Figuren
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widerspiegelt. Mittels weniger präziser Details versteht es Clouzot, nicht nur die Personen
überzeugend zu charakterisieren, sondern auch die Handlung voranzutreiben und sie vom
Zuschauer intensiv miterleben zu lassen.
Jo, der scheinbar Alleswissende, entpuppt sich als Feigling. Mario, der ihn deshalb
zunächst verachtet, bemitleidet ihn dann aber. Bimba (Peter van Eyck) ist ein blonder
Narziß, der keine Angst kennt und sich noch rasiert, kurz bevor er in die Luft fliegt. Luigi,
der lungenkranke Italiener (Folco Lulli), zieht den schnellen Tod auf dem Transport dem
langsamen Sterben in Las Piedras vor. Nur einer von ihnen überlebt den Auftrag: Mario.
Doch auf dem Rückweg stürzt er, in überschwenglicher Freude fahrend, mit seinem
Lastwagen einen Abhang hinunter. Auch sein Traum von der Rückkehr nach Paris erfüllt
sich nicht.
“Lohn der Angst” wurde trotz seines offensichtlichen Pessimismus ein internationaler
Erfolg, einer der größten für das französische Kino überhaupt. Clouzot, stilistisch dem
“poetischen Realismus” eines Marcel Carne, Jean Renoir und René Clair verhaftet,
verstand es, die düstere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der existenzialistischen Ära
mit den Reizen seines populären, trivialen Unterhaltungskinos zu verbinden. Nachdem
alle äußeren Schwierigkeiten überwunden sind, der Mensch sich in seinem Kampf gegen
Natur, Technik und die eigene Person behauptet hat, fällt er seinem Übermut doch noch
zum Opfer. Auch in seinem 1955 entstandenen Skandalreißer “Die Teuflischen” erlitten
die Protagonisten ein ähnliches Schicksal. Leidenschaft bestimmt das Handeln der
Figuren, an dessen Ende ein Mord steht. Schon in seinem ersten Spielfilm “Le corbeau”
(Der Rabe), den Clouzot 1943 inszenierte, hatte er ein überaus düsteres Bild der
gesellschaftlichen und sozialen Zustände gezeichnet. Der Film spielte in einem
französischen Dorf, war aber von einer deutschen Firma produziert und wurde im Dritten
Reich zu Propagandazwecken mißbraucht. Dem Regisseur brachte dies nach der
Befreiung einige Jahre Berufsverbot ein.
Erst die folgenden Filme zeigten, daß Clouzots pessimistische Weltsicht sich vorschneller
politischer Inbesitznahme entzog und vielmehr grundsätzlicher Natur war. Dies hatte
sicherlich mit der schlechten gesundheitlichen Verfassung des Regisseurs zu tun, die ihn
daran hinderte, mehr Filme zu drehen, aber wohl auch seine Imagination um einige
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pathologische Züge bereicherte. Henri-Georges Clouzot drehte in den Jahren danach nur
noch einen Kinofilm “La Prisionnière” (Seine Gefangene; 1968), der kein Erfolg wurde und
den Regisseur für weitere zehn Jahre arbeitslos machte, bevor er im Januar 1977 seinen
Krankheiten erlag.
Horst Schäfer
15 Die Geliebte des französischen Leutnants
The French Lieutenants's Woman (Großbritannien 1981)
Regie: Karel Reisz. Buch: Harold Pinter, nach einem Roman von John Fowles. Kamera:
Freddie Francis. Musik: Carl Davis. Ausstattung: Ann Mollo. Darsteller: Meryl Streep,
Jeremy Irons, Hilton McRae, Emily Morgan, Leo McKern, Lynsey Baxter. Länge: 120
Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Die Dreharbeiten zu einem Film als Kulisse und Rahmenhandlung für melodramatische
Liebesgeschichten ist ein oft variiertes Thema des Genres “Film im Film”, aber nur selten
geraten einzelne Werke zu solch einem intelligenten Vexierspiel, wie es in “Die Geliebte
des französischen Leutnants” gelang. Hier geht es um die Verfilmung einer
leidenschaftlich-dramatischen Liebesaffäre, die Mitte des 19. Jahrhunderts im
sittenstrengen viktorianischen England spielt: Die Verbindung zwischen dem jungen
Wissenschaftler Charles (Jeremy Irons) und der geheimnisumwitterten Sarah (Meryl
Streep) wird dadurch beeinträchtigt, daß Sarah wegen eines ihr unterstellten Vorlebens
als “Geliebte eines französischen Leutnants” von den Bürgern der kleinen Hafenstadt
Lyme Regis geächtet wird. Trotz etlicher Hürden, die der unstandesgemäßen Liebe
zwischen einem Gentleman und einer von der Gesellschaft ausgestoßenen Frau im Wege
stehen, kommt es zu einem Happy-End, das Charles jedoch mit dem Preis
gesellschaftlichen Abstiegs bezahlen muß. Er verzichtet auf die Heirat mit einer reichen
Kaufmannstochter; die gesellschaftliche Außenseiterin Sarah hat dafür nach langem
Kampf ihre Freiheit und Selbstverwirklichung gefunden.
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Vorlage des Films ist der gleichnamige Bestseller von John Fowles, der sich in seinem
Roman einer eigenwilligen Erzähltechnik bedient, indem er die Handlung für eigene
Anmerkungen oder historische Erläuterungen unterbricht. Karel Reisz und sein
Drehbuchautor, der Dramatiker Harold Pinter, übertragen dieses Verfahren auf die
Handlung des Films und benutzen dazu sinngemäß eine parallel verlaufende
Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptdarstellern, die in dem Historienfilm die
Rolle des Paares spielen. Die Verflechtung der beiden Handlungselemente wird mit
zunehmender Dauer des Films intensiver, womit spiegelbildartig eine Beziehung zwischen
dem historischen England und der Gegenwart hergestellt wird. Die Übergänge zeichnet
Reisz sehr subtil und behutsam. Mitunter kommen sie für den Zuschauer überraschend,
aber niemals unmotiviert. Schwerpunkt des Geschehens bleibt dabei die Romanvorlage.
Das “viktorianische” Liebespaar hat demzufolge auch ein Umfeld von Geschichte und
Personen. Die Hintergründe der beiden Schauspieler sind hingegen unkonturiert; ihre
Liebesgeschichte bleibt eine flüchtige Affäre. Auch die anderen Mitglieder des Filmteams
bleiben weitgehend anonym.
Am Erfolg des Films, an der stimmungsvollen und detailgetreuen Rekonstruktion der
Atmosphäre der viktorianischen Zeit, haben neben Regie und Buch auch Kamera,
Ausstattung und Musik einen wesentlichen Anteil. “Die Geliebte des französischen
Leutnants” steht in der Tradition britischer Filmkunst. Der Regisseur Karel Reisz wurde
am 18. Juli 1926 in Ostrava (ČSSR) geboren und kam 1939 nach England, wo er im
Zweiten Weltkrieg Pilot einer tschechoslowakischen Fliegereinheit der britischen Luftwaffe
war.
Reisz gehört zu den Mitbegründern der Free-Cinema-Bewegung. Diese entstand in den
fünfziger Jahren mit dem Ziel, die englischen Filmemacher von dem Einfluß der
kommerziellen Zwänge zu befreien und der Darstellung des Alltags in den Filmen mehr
Gewicht einzuräumen.
Zu den bekanntesten Filmen, die Reisz in England drehte, gehört “Samstagnacht bis
Sonntagmorgen” (1960); hier arbeitete er schon mit dem Kameramann Freddie Francis
zusammen. Später ging Karel Reisz nach Hollywood, wo er mit “Dreckige Hunde” (1977),
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einem Film über die Auswirkungen des Vietnam-Krieges auf die amerikanische
Gesellschaft, nicht den großen Erfolg hatte, der diesem Antikriegsfilm zu wünschen wäre.
Wolfgang Schwarzer
16 Die große Illusion
La grande illusion (Frankreich 1937)
Regie: Jean Renoir. Buch: Charles Spaak, Jean Renoir. Kamera: Christian Matras.
Musik: Joseph Kosma. Darsteller: Jean Gabin, Pierre Fresnay, Erich von Stroheim,
Marcel Dallo, Dito Parlo. Länge: 110 Minuten. Vertrieb: (AVP).
“Unseren filmischen Hauptfeind” nannte Joseph Goebbels “La grande illusion”, und
Franklin D. Roosevelt sagte: “Alle Demokraten sollten sich diesen Film ansehen.”
Verboten in den faschistischen Staaten, amputiert um jene Szenen, in denen ein Jude
sympathisch dargestellt ist, heftig angegriffen wegen angeblichem Antisemitismus und
tiefgreifendem Pazifismus in der Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen, ist
Renoirs Film eines der wechselvollsten Schicksale in der Filmgeschichte beschieden.
1958 wurde er bei der “Konfrontation der besten Filme aller Zeiten” auf der Brüsseler
Weltausstellung zum fünftbesten gewählt.
Was Politiker, Presse und Publikum vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges so kontrovers
und emotional reagieren ließ, war eine Geschichte, welche Freundschaft, Solidarität und
gegenseitige Achtung unterschiedlicher Menschen über die Grenzen von Klassen,
Rassen und Nationen hinweg zum Inhalt hat.
Während des Krieges 1914 bis 1918 werden der adlige Hauptmann de Boeldieu und der
proletarische Offizier Maréchal bei einem Aufklärungsflug hinter den deutschen Linien von
Rittmeister von Rauffenstein abgeschossen. Sie bleiben unverletzt, und der Deutsche
empfängt sie mit aller Hochachtung, die nach seinem Ehrenkodex des europäischen
Adels dem besiegten, gleichrangigen Gegner gebührt. Jenseits aller kriegerischen
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Auseinandersetzungen schätzt er in de Boeldieu den Angehörigen seiner Klasse, mit
dessen Familie er immer freundschaftlich verkehrte. In Maréchal akzeptiert er den Rang
des Offiziers, darüber hinaus existieren keine Affinitäten.
Die französischen Kriegsgefangenen im Offizierslager Hallbach verfolgen begierig die
Nachrichten von der Front. Sie bemühen sich, Menschenwürde und Lebensmut
aufrechtzuerhalten, teilen Lebensmittelpakete, organisieren eine Theaterveranstaltung.
De Boeldieu und Maréchal bereiten zusammen mit dem bürgerlichen Juden Rosenthal
sowie einem Schauspieler, einem Ingenieur und einem Lehrer ihre Flucht vor, werden
jedoch kurz vor dem großen Augenblick in ein anderes Lager verlegt.
Nach mehreren weiteren Fluchtversuchen aus unterschiedlichen Lagern werden de
Boeldieu, Maréchal und Rosenthal schließlich in Wintersborn eingeliefert, eine
mittelalterliche Festungsanlage, in der von Rauffenstein, nach zahlreichen Verwundungen
als körperliches Wrack in die Etappe versetzt, kommandiert. Er spricht den Franzosen
seine Hochachtung vor ihrem soldatischen Mut und ihrer Haltung aus, gibt jedoch zu
erkennen, daß er seinerseits jeden Ausbruchsversuch verhindern und streng ahnden
werde.
De Boeldieu opfert sich für die Kameraden, indem er sich den Schüssen des Rittmeisters
aussetzt, die dieser voller Bedauern, aber in unerbittlicher Pflichtschuldigkeit abgibt.
Später wacht Rauffenstein am Krankenlager und am Totenbett.
Maréchal und Rosenthal verlassen unter abenteuerlichen Bedingungen die Burg. Nach
einem langen, gefahrvollen Marsch quer durch Deutschland erreichen sie schließlich,
unterstützt von der Bäuerin Elsa, deren Mann bei Verdun, deren Brüder bei Lüttich,
Charleroi und Tannenberg gefallen sind, die Schweiz. Maréchal hat sich in sie verliebt und
will nach dem Krieg zurückkehren, um sie zu heiraten.
Renoirs Theorie, daß die Welt durch horizontale Grenzen unterteilt sei, statt in Zimmer mit
vertikalen Grenzen, gewinnt in seinem Film Appellcharakter. Mögen Nationalismus und
Weltkrieg Ende der dreißiger Jahre seiner Erkenntnis widersprechen, so findet sie sich in
den späteren Bemühungen um ein geeintes Europa bestätigt. Die große Illusion besteht
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wohl in der Aussöhnung der Klassen, wie sie sich in der Notlage andeutet. Aber auch in
der Hoffnung, der Erste Weltkrieg möge der letzte sein, die zwei Jahre nach Beendigung
der Dreharbeiten bitter enttäuscht wurde.
Renoir inszeniert seine Geschichte in kunstvoller Mischung aus Realität und
phantasievoller Überhöhung. Sein virtuoser Einsatz der Tiefenschärfe als
konstituierendes Element der Erzählstruktur ist bei Erich von Stroheim vorgebildet und
findet ihre Vollendung in Welles' Meisterwerk “Citizen Cane” (1941). Die Schauspieler,
allen voran Gabin, von Stroheim und Fresnay, sind geschickt als Archetypen nach ihrem
Image beim Publikum der Epoche ausgewählt. Renoir führt ihre Darstellung jedoch über
jene Ansätze hinaus, die später zum Klischee geworden sind.
Urs Jaeggi
17 La Strada
La Strada (Italien 1954)
Regie: Federico Fellini. Buch: Federico Fellini, Tulio Pinelli, Ennio Flaiano. Kamera:
Otello Martelli. Musik: Nino Rota. Darsteller: Giulietta Masina, Anthony Quinn, Richard
Basehart, Aldo Silvani. Länge: 98 Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
La Strada – 1954 entstanden – ist möglicherweise nicht der genialste Film Federico
Fellinis. “Otto e Mezzo” (“Achteinhalb”), das Schlüsselwerk des Maestros aus Italien, ist in
seiner filmischen Struktur komplexer, “Amarcord” in seiner Lebensfülle praller. Aber “La
Strada” ist zweifellos der reinste Film des heute bald 66jährigen Regisseurs: der reinste in
seiner schlicht überzeugenden formalen Geschlossenheit, der reinste in der kraftvollen
Zeichnung einer einfachen, aber bewegenden Geschichte, der reinste schließlich auch in
seiner überwältigenden Menschlichkeit.
Er habe, sagte Fellini einmal, die Geschichte zu “La Strada” jahrelang mit sich
herumgetragen, weil sie ein Stück seiner selbst und zutiefst mit seinen Gedanken und
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Überzeugungen verbunden sei. Der Film, so Fellini, “ist entstanden aus der Vorstellung
von einem Mann und einer Frau, die äußerlich zusammenleben, aber in ihrem Innern
durch astronomische Welten voneinander getrennt sind”. Das Unvermögen zweier
Menschen, einander zu begreifen, und der schreckliche Abgrund, der sich deshalb
zwischen ihnen auftut, bilden den Ausgangspunkt zu diesem Film.
Die zwei Menschen, die zwar zusammen leben und gemeinsam einen Weg gehen, aber
deren Lebenslinien doch wie zwei Parallelen nebeneinander verlaufen, sind Zampanò
(Anthony Ouinn) und Gelsomina (Giulietta Masina). Er, ein ungehobelter Kraftmensch, hat
sie ihrer in Not lebenden Mutter für 10000 Lire abgekauft. Nun reisen sie mit einem
motorisierten Dreirad, das ihnen zugleich als Wohnwagen dient, von Jahrmarkt zu
Jahrmarkt. Zampanò gibt dort für ein paar Lire seine billigen Entfesselungskünste zum
Besten, assistiert von Gelsomina, welche die Trommel schlägt und die Trompete bläst.
Die Reise durch die Weite des herbstlich-winterlichen Landes – symbolischer Ausdruck
des Lebensflusses durch eine karge seelische Landschaft – legt den Blick auf die
Charaktere der beiden frei: Zampanò ist ein Gefangener seiner Körperlichkeit, ein derber,
gefühlsarmer Mensch, dumpf und schweigsam, wenn ihm nicht gerade der Alkohol die
Zunge lockert. Er hat kein Verhältnis zu Gelsomina oder vermag es zumindest nicht
auszudrücken. Gelsomina wiederum verkörpert die reine Unschuld des naiven,
staunenden Menschenkindes, das in der Welt immer wieder neue Dinge entdeckt, über
den kleinen Schönheiten des Lebens sein schweres Schicksal vergessen kann und nie
die Hoffnung aufgibt, Zampanòs Härte aufzubrechen und die Finsternis seines Innern zu
erleuchten. Aber sie leidet an der Vorstellung, ein unnützes Leben zu führen.
Gerade hier nun setzt ein Dritter, ein Seiltänzer, den alle “il matto”, den Verrückten,
nennen, eine entscheidende Marke in Gelsominas Leben. Er, selber ein Verzweifelter und
am Rande der Gesellschaft Stehender, aber immerhin einer, der seine Not bewußt erlebt
und mit ihr umzugehen weiß, bringt Gelsomina bei, daß alles im Leben einen Sinn hat,
daß es das Unnütze in der Schöpfung nicht gibt. Gelsomina beginnt zu begreifen, daß ihr
Leben neben Zampanò den Zweck hat, diesen aus seiner dumpfen Lethargie
herauszureißen. Daß dieser auf ihre Liebe nicht reagiert, sondern vielmehr in einem Anfall
von blindem Zorn und Eifersucht “il matto” zu Tode prügelt, erträgt Gelsomina indessen
nicht.
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Jahre später hört Zampanò, der sein unstetes Leben weiterführt, jene Melodie, die
Gelsomina immer auf der Trompete gespielt hat. In schmerzvoller Erinnerung folgt er der
Spur der Töne und erfährt vom Tode seiner früheren Partnerin. Noch versucht er, im
Alkohol zu vergessen, doch dann droht ein rasender Schmerz ihn zu zerreißen. Er
erkennt, was er an Gelsomina verloren hat: alles, was seinem Leben eine Wende, einen
Sinn hätte geben können. Diese Erkenntnis löst Verzweiflung und tiefste seelische Not
aus, aber sie sprengt auch die Fesseln jener tiefen Einsamkeit, die Zampanò stärker
umfangen hielt als die Ketten, die er als Attraktion jeweils zu zerreißen pflegte.
“La Strada” ist ein großartiges Gleichnis über die erlösende Kraft der Liebe und die
Befreiung des Menschen durch die Gnade. Fellini läßt es im Milieu des fahrenden Volkes
spielen, unter Menschen also, die am Rande der Gesellschaft stehen. Er tut dies nicht
allein deswegen, weil er diese Menschen aus eigenem Erleben kennt, sondern weil sie
unterwegs sind: unterwegs zu neuen Orten, zu neuen Erkenntnissen, zu neuen
Hoffnungen. Das fahrende Volk der Artisten, der Gaukler und Schausteller wird zum
Sinnbild für die menschliche Gesellschaft schlechthin. Daß gerade diesen
geringgeschätzten, verachteten Menschen Gnade widerfährt, gehört mithin zur zutiefst
christlichen Botschaft dieses Films.
Daß die eindrückliche Geschichte und ihre bewegende Botschaft eine formale
künstlerische Entsprechung in Bildern erfahren, die voll poetischer Kraft sind und damit
eine Umsetzung der Gefühlswelt in sichtbare Zeichen und Gesten ermöglichen, gehört zur
Meisterschaft dieses Films. Aber was wäre “La Strada” ohne Giulietta Masina, die als
Gelsomina über eine Ausstrahlung verfügt, die alle Regungen der Freude, der
Verzweiflung, der Niedergeschlagenheit, aber auch der immer wieder aufkeimenden
Hoffnung mit feinsten Gesten auf den Zuschauer zu übertragen vermag? Durch ihre
Darstellung wird “La Strada” auch eine Hymne an die Sensibilität und die Sinnlichkeit der
Frau, in der die Geheimnisse des Lebens – die Kraft der Erneuerung, die Schöpfung, die
Liebe und der Tod – aufgehoben sind.
Uwe Künzel
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18 Außer Atem
A bout de souffle (Frankreich 1959)
Regie: Jean-Luc Godard. Buch: Jean-Luc Godard, nach einer Idee von François Truffaut.
Kamera: Raoul Coutard. Musik: Martial Solal. Produktion: Georges de Beauregard.
Darsteller: Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg. Länge: 90 Minuten. Vertrieb: neue atlas
medien.
Sieht man heute, ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung, Jean-Luc Godards ersten
Spielfilm “Außer Atem”, wird man zunächst Mühe haben, darin noch jene Innovationen
auszumachen, die für das zeitgenössische Publikum so neu wie auch verwirrend
gewesen sein sollen.
Zunächst schaut man da einer eher einfach konstruierten Gangstergeschichte zu: Michel
Poiccard, der sich bisweilen auch Laszlo Kovacs zu nennen pflegt, ist ein kleiner Gauner
mit einer Vorliebe für große Autos. Gleich zu Beginn sieht man ihn, wie er in einem
gestohlenen Straßenkreuzer über die Landstraße rast. Zum dramatischen Ausgangspunkt
der Handlung wird die Tatsache, daß Michel fast beiläufig einen Polizisten erschießt, der
ihn vorher auf einem Motorrad verfolgt hat.
Aus dem Dieb ist unversehens ein Mörder geworden, doch das scheint ihn kaum zu
bekümmern – seelenruhig fährt er nach Paris, wo er nach alten Freundinnen Ausschau
hält. Dabei begegnet er auch der amerikanischen Studentin Patricia (gespielt von Jean
Seberg), mit der er ein Verhältnis beginnt. Doch die Polizei ist ihm schon auf der Spur,
und am Ende wird es dann ausgerechnet Patricia sein, die Michel an seine Verfolger
verrät – in einer kleinen Seitenstraße wird er das Opfer einer Schießerei.
Der Inhalt des Drehbuchs – das Godard nach einer Idee von François Truffaut
geschrieben hat – war es gewiß nicht, der den Film für so viele Zuschauer zur Provokation
werden ließ. Alle Motive entstammten mehr oder minder direkt jenen klassischen
Kriminalfilmen, die man auch damals schon als Hollywoods “Schwarze Serie” bezeichnet
hat. Das ganz und gar Neue an “Außer Atem” war die Dramaturgie. Sie warf so ziemlich
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alle Regeln über den Haufen, die bis dahin zum ehernen Vokabular der Filmsprache
gezählt wurden.
Das etablierte französische Kino dieser Zeit war von seinen wichtigsten Vertretern zu
einem Institut nobler Langeweile heruntergewirtschaftet worden – was als erste Godard
und seine Freunde Truffaut, Chabrol und Rivette gemerkt hatten, die in den “Cahiers du
cinéma” in reichlich gehässigem Ton (bis zu persönlichen Beleidigungen) Regisseure wie
Claude Autant-Lara oder Julien Duvivier zu denunzieren pflegten. Deren Werke folgten
ganz einer “Tradition der Qualität”, die von den zornigen jungen Männern der “Neuen
Welle” energisch bekämpft wurde. Zunächst mit Worten, schließlich mit eigenen, ganz
andersartigen Filmen.
Da tat sich eben Godard mit “Außer Atem” besonders hervor. “Eigentlich ist es ein Film,
der am Ende der Nouvelle Vague kam, es ist ein Film ohne Regeln oder dessen einzige
Regel hieß: die Regeln sind falsch oder werden falsch angewendet”, hat Godard 19 Jahre
nach der Premiere gesagt und damit etwas beschrieben, was man heute eigentlich nicht
mehr sehen, sondern nur noch nachlesen kann: die Verwirrung des Publikums angesichts
eines Kriminalfilms, der sich von der Konfektionsware des Genres vor allem durch seine
sprunghafte Erzählweise unterschied.
Schnitte, wo “eigentlich” keine hingehören, wacklige Kamerafahrten (Operateur Raoul
Coutard ließ sich auch schon mal im Kinderwagen über das holprige Pflaster der ChampsElysées ziehen), das Drehen an Originalschauplätzen ohne Absperrungen: Inzwischen
machen das alle Jungfilmer schon aus Kostengründen so, und seit “Außer Atem” dürfen
sie das auch, denn kein Zuschauer wird heute mehr Probleme damit haben.
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Es ist aus heutiger Sicht tatsächlich
schwierig, sich vorzustellen, daß es
einem Publikum schwer gefallen ist,
Zusammenhänge zwischen zwei
Einstellungen zu stiften, die nicht durch
einen “ordentlichen” Schnitt so
miteinander verbunden waren, daß die
Kontinuität des zeitlichen Ablaufs
gewahrt worden wäre.
Doch ein direkter Vergleich mit anderen Filmen, die um 1960 entstanden sind, läßt das
gleichsam Revolutionäre in Godards Technik sichtbar werden. Eine Sequenz als Beispiel:
Einmal fahren Michel und Patricia im offenen Sportwagen durch Paris und unterhalten
sich. Die klassische Filmdramaturgie hätte nun verlangt, dieses Gespräch in “Schuß” und
“Gegenschuß” aufzulösen – also in abwechselnde Großaufnahmen vom Gesicht dessen,
der gerade spricht. Godard hat einen anderen Weg gewählt: Er zeigt nur den, der zuhört.
Keine einzige der Neuerungen, die der Regisseur in diesem Film eingesetzt hat, ist dabei
seine eigene Erfindung gewesen. Richtungweisend wurde “Außer Atem” denn auch vor
allem dadurch, daß hier experimentelle Techniken erstmals an einem populären Stoff
ausprobiert wurden. Die eigentlich triviale Handlung, das Zitieren von Versatzstücken des
Gangsterfilm-Genres, gaben den Zuschauern immerhin soviele Verständnishilfen, daß sie
über das auf einen ersten Blick verwirrende Montage-Prinzip hinwegsehen konnten.
“Außer Atem” zählt zu jenen Werken, um die sich Legenden ranken, deren Entstehung
einem beim Wieder-Sehen nicht recht einleuchten will. In die Filmgeschichte eingegangen
ist er denn auch allenfalls als “technischer” Klassiker, der bei einem jugendlichen
Publikum gerade noch auf akademisches Interesse stoßen wird. Obwohl die Legende
1983 auf vergnügliche Weise wiederbelebt wurde: In diesem Jahr entstand unter der
Regie von Jim McBride ein Hollywood-Remake von “Außer Atem”. Der Film reduzierte die
ohnehin schon dürftige Geschichte noch einmal: Übrig blieb ein kurzweiliger Action-Film
unter dem Titel “Brethless”, in dem Richard Gere und Valerie Kaprisky die Rollen von
Belmondo und der Seberg übernahmen und der als Schauplatz Los Angeles vorführte.
Späte Rache der Traumfabrik?
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Horst Schäfer
19 Der Fremde im Zug
Strangers on a train (USA 1951)
Regie: Alfred Hitchcock. Buch: Raymond Chandler und Czenzy Ormonde, nach einem
Roman von Patricia Highsmith. Kamera: Robert Burks. Musik: Dmitri Tiomkin. Darsteller:
Farley Granger, Ruth Roman, Robert Walker, Leo G. Carroll, Patricia Hitchcock. Länge:
92 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
“Der Fremde im Zug” – das ist Bruno Anthony, ein auf den ersten Blick sympathisch
wirkender Mann, der sich während der Bahnfahrt von Washington nach New York an den
jungen Tennis-Profi Guy Haines heranmacht und ihm seine Theorie vom perfekten Mord
aufdrängt. Der angebliche Bewunderer Guys ist über dessen Privatleben bestens
informiert. Er weiß, daß Guy sich von seiner Frau Miriam scheiden lassen will, um die
attraktive Senatorentochter Anne heiraten zu können. Aber Miriam, die von einem
anderen Mann ein Kind erwartet, will an dem gesellschaftlichen Glanz des aufstrebenden
Sportlers teilhaben und ist mit einer Trennung nicht einverstanden. Bruno bietet sich an,
Miriam umzubringen. Dafür soll Guy Brunos gehaßten Vater töten. Da beide kein
erkennbares Motiv für ihre Tat besitzen, würden die Ermittlungen der Polizei ins Leere
laufen.
Guy lehnt entrüstet, für Bruno aber nicht deutlich erkennbar ab. Er muß erleben, daß
Miriam kurze Zeit später bei dem Besuch eines Rummelplatzes umgebracht wird. Guy
gerät in Verdacht, und Bruno nutzt diese Situation aus. Um ihn zu entlasten, besteht er
darauf, daß Guy seinen Teil der scheinbaren Abmachung einhält und Brunos Vater tötet.
Da Guy dies ablehnt, droht Bruno damit, ein belastendes Beweisstück – Guys Feuerzeug
– an den Ort zu bringen, wo Miriam getötet wurde. Auf dem Rummelplatz wartet er die
Dunkelheit ab, um seinen Plan durchzuführen. Unter Aufbietung aller Kräfte kann Guy ein
Tennismatch frühzeitig beenden und trifft mit Bruno auf dem Gelände zusammen. Auf
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einem rasenden, außer Kontrolle geratenen Karussell kommt es zum Showdown, das Guy
zu seinem Vorteil beenden kann. Noch im Sterben belügt Bruno die hinzugeeilten
Polizisten, aber Guys Feuerzeug befindet sich nicht am Tatort, sondern in Brunos Hand.
Von Anfang an ist Bruno die den Film beherrschende Figur: ein charmanter,
selbstsicherer Typ, der seine abgrundtiefe Bosheit hinter vordergründiger Nettigkeit
verbirgt; er ist ebenso sehr ein amüsanter, gebildeter Unterhalter wie ein schmieriger
Intrigant und skrupelloser Mörder. Zu den Höhepunkten des Films zählt, wie er sich auf
dem Jahrmarkt langsam an das Opfer heranmacht: der Bösewicht, der die Ahnungslose
mit Blicken und Lächeln betört, um sie dann auf der “Liebesinsel” brutal zu erwürgen. Den
Mord sieht der Zuschauer reflektiert durch das Glas der heruntergefallenen Brille des
Opfers – verzerrt wie in einem Alptraum. Der exzentrische Psychopath Bruno gehört zu
den markantesten Figuren in Hitchcocks Werk; er ist die formvollendete Umsetzung der
Parole des Meisters: “Je besser der Schurke, desto besser der Film”; auch wenn am Profil
dieses “Helden” mehrere Personen gearbeitet haben.
Was beim ersten Hinsehen wie ein englisch-amerikanisches Gipfeltreffen von
Hochspannungs-Spezialisten aussieht (Roman: Patricia Highsmith; Buch: Raymond
Chandler; Regie: Alfred Hitchcock), erweist sich am Ende als nicht eingelöstes
Versprechen. Highsmiths Roman “Strangers on a Train” wurde 1950 veröffentlicht, zu
einer Zeit, als die Autorin noch unbekannt war. Das Motiv des Romans – der Austausch
von Schuld hatte Hitchcock direkt angesprochen, da er sich in einigen seiner früheren
Filme in ähnlicher Weise schon mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte. Im
Gegensatz zu anderen Arbeiten, wo er von Produzenten ausgesuchte Stoffe verfilmen
mußte, konnte er hier über eine Vorlage verfügen, die er sich selbst wünschte; daß
Roman und Film am Ende nicht mehr viel Gemeinsamkeiten besitzen, lag an dem
komplizierten Prozeß der Drehbuch-Erstellung. Zunächst wurde der Highsmith-Roman
von Whitfield Cook für den Film adaptiert. Für das Buch konnte Raymond Chandler
gewonnen werden, der seit 1943 in Hollywood als Drehbuchautor arbeitete. Der
Bestseller-Autor hatte aber erhebliche Probleme im Umgang mit dem arbeitsteilig
angelegten System des Studiobetriebs und war nicht anpassungsfähig genug, x-beliebige
Ware zu liefern. Chandler war anfangs sehr angetan von der Chance, mit Hitchcock
zusammenzuarbeiten. Er schätzte ihn wegen seiner Gabe, “Filme im Kopf zu inszenieren”
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– und genau diese spezifische Besonderheit des Regisseurs war es, die ihm als Autor die
Arbeit erschwerte. Chandler tat sich schwer mit der treffenden Charakterisierung der
beiden Hauptfiguren Guy und Bruno und warf Hitchcock mangelnden Instinkt für den Kern
der Sache vor. Hitchcock hingegen verließ sich ganz auf die grobe Typisierung der beiden
Gegenspieler und verzichtete darauf, sie glaubhaft oder realistisch darzustellen oder ihr
Verhalten zu begründen. Er setzte die Charaktere ganz einfach voraus und entschied
sich- im Gegensatz zur Romanvorlage für einen anderen Einstieg in die Geschichte. Was
bei Highsmith wie das zufällige Zusammentreffen von Guy und Bruno aussieht, ist im Film
von Bruno bewußt arrangiert. Die Idee vom Austausch der Morde entsteht nicht im
Gespräch, sondern entspricht dem planvollen Vorgehen von Bruno, der sein Gegenüber
in die Falle lockt. Hitchcock kommt es auf den Aufbau von Spannungselementen an, die
zu einem atemberaubenden Finale führen. Chandler hingegen war mehr an der
Glaubwürdigkeit der Personen und ihres Verhaltens interessiert. Beide kamen nicht
zusammen. Von der endgültigen Drehbuchfassung war Chandler dann auch so
enttäuscht, daß er seinen Namen zurückziehen wollte. In der Zwischenzeit hatte
Hitchcock versucht, Ben Hecht als Autor zu gewinnen. Da dieser anderweitig verpflichtet
war, brachte Czenzi Ormonde, eine seiner Mitarbeiterinnen, das Buch in die von
Hitchcock gewünschte Fassung. Chandler war dennoch damit einverstanden, daß sein
Name gemeinsam mit dem der Autorin genannt wurde.
Die Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen im Vorfeld der Dreharbeiten wirkten sich
aber nicht nachteilig auf den Erfolg des Films aus. Nach drei vorausgegangenen
Mißerfolgen (“Rope”, “Under Capricorn” und “Stage Fright”) hatte Hitchcock mit “Strangers
on a Train” einen Film gedreht, der bei Presse und Publikum gut ankam und ihm die
nächsten Projekte sicherte. Im nachhinein bemängelte der Regisseur nur die
unzureichende Profilierung einiger Hauptfiguren, was seiner Ansicht nach an der
Besetzung (Farley Granger, Ruth Roman) und an den Dialogen lag. Wie in vielen seiner
Filme konnte er auch hier auf einen kurzen Auftritt nicht verzichten: Zu Beginn des Films
sieht man ihn mit einem Kontrabaß in den Zug steigen.
“Strangers on a Train” wurde in der Bundesrepublik mit dem Titel “Verschwörung im Nordexpreß” gestartet. Im Vorspann der deutschen Fassung wird darauf hingewiesen, daß sich
dieser Fall tatsächlich ereignet hat: “Die Gerichtspsychiater, die abschließend zu diesem
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grundlosen Mord Stellung zu nehmen hatten, kamen zu dem Ergebnis, daß dieser
teuflische Plan nur in dem kranken Hirn eines Wahnsinnigen entstehen und mit der Irren
eigenen Konsequenz durchgeführt werden konnte.”
Reinhard Kleber
20 Der blaue Engel
(Deutschland 1930)
Regie: Joseph von Sternberg. Buch: Robert Liebmann mit Carl Zuckmayer und Karl
Vollmöller, nach dem Roman von Heinrich Mann. Kamera: Günther Rittau, Hans
Schneeberger. Musik: Friedrich Holländer. Darsteller: Emil Jannings, Marlene Dietrich,
Kurt Gerron, Rosa Valetti, Hans Albers, Eduard von Winterstein. Länge: 93 Minuten.
Vertrieb: VPS.
In einem Film, den Maximilian Schell vor zwei Jahren über sie drehte, behauptete Marlene
Dietrich, “Der blaue Engel” hänge ihr schon zum Hals heraus. Der Zuschauer wird diese
Empfindung kaum teilen, denkt er an den unvergeßlichen Emil Jannings und seinen
letzten Auftritt im Clownskostüm. In der Hafenkaschemme “Der blaue Engel” muß der
Professor vor der Meute ehemaliger Schüler und Kollegen bei einem lächerlichen
Zauberstückchen den dummen August spielen, während sich seine Frau, die TingelTangel-Tänzerin Lola Lola, hinter der Bühne mit einem attraktiven Artisten abgibt. An
dieser grausamen Forderung zerbricht der Professor: Das Gekrächze, das er in seiner
tiefen Verzweiflung hervorwürgt, ähnelt schon nicht mehr menschlichen Lauten.
Buchstäblich ver-rückt geworden, stürzt er sich auf die Verderberin, für die er seine
bürgerliche Existenz aufgegeben hat.
Angefangen hat alles ganz brav in einem verschlafenen norddeutschen Provinznest. Dort
regiert mit harter Hand der trockene, verbiesterte Gymnasialprofessor Immanuel Rath
(Emil Jannings). Nachdem er drei gewagte Postkarten konfisziert hat, verfolgt er,
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neugierig geworden, die Spur einiger aufsässiger Schüler bis ins Hafen-Variété “Der
Blaue Engel”, aus dessen Bann er seine sittlich gefährdeten Schäfchen zu befreien
trachtet, sich dann aber selbst in den Netzen des verruchten Lokalidols Lola verfängt. Der
Herr Rath bestaunt, von der Empore aus, ratlos die verführerische “Künstlerin” auf der
Bühne, vom Direktor des Etablissements wie eine unerhörte Zirkussensation
angepriesen: Marlene Dietrich, die in der weltberühmten Pose mit Zylinder und frivol
bestrumpften Beinen auf einem Bierfaß ihre Hymne auf Eros schmettert: “Ich bin von Kopf
bis Fuß auf Liebe eingestellt.”
Der närrische Gymnasiastenschreck verbringt die Nacht bei ihr und kommt am nächsten
Morgen prompt zu spät zur Schule. Seine Klasse rächt sich an dem Tyrannen für die
erlittenen Schikanen, indem sie mit “Unrath, Unrath”-Schmährufen einen Tumult anzettelt
und so den Direktor auf den Skandal aufmerksam macht. Der gedemütigte Spießbürger
muß den Dienst quittieren und verfällt durch die vernunftwidrige Heirat mit Lola endgültig
dieser femme fatale.
Fünf Jahre lang, bis 1929, also bis zur unmittelbaren Vergangenheit des zeitgenössischen
Publikums, tingelt er mit der Truppe umher, bis er am Schluß körperlich und in seiner
Selbstachtung so zerrüttet ist, daß er sogar die Rolle des Clowns übernimmt. Es kommt
zur Feuerprobe im “Blauen Engel”, wo sich Lolas lasziv-morbide Prophetie erfüllt: “Männer
umschwirr'n mich wie Motten das Licht. Und wenn sie verbrennen, ja dafür kann ich nicht.”
Im wirklichen Leben hat die sinnlich-phlegmatische Dietrich den hier etwas schwerfällig
agierenden Jannings bloß aus dem Rampenlicht gedrängt. Die Ufa hatte nämlich ihn als
die Nr. 1 herausgestellt. Erst der überraschende Erfolg des Films versetzte die vorher
unbekannte Marlene schlagartig auf den Thron der Filmdivas. Ihre Beine und die frivolen
Schlager Friedrich Holländers wurden weltberühmt. Der Sprung nach Hollywood wurde
unvermeidlich, der Marlene-Mythos begründet.
Zu verdanken hat sie diese – bis auf die Garbo – beispiellose Karriere in erster Linie zwei
Umständen: Zum einen ermöglichten die kommerziell wie künstlerisch wichtigen
Neuerungen der Tonfilmtechnik erst die Popularisierung der von ihr gesungenen
Liedchen. Zum anderen nimmt sie der aus Wien stammende Regisseur Josef von
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Sternberg, den die Ufa für die aufwendige Verfilmung des lukrativen Stoffs aus Hollywood
erst einfliegen ließ und der die Dietrich fürs Kino entdeckte, gleich mit nach Hollywood. In
den folgenden Jahren dreht er mit ihr dann so wichtige Filme wie “Marocco” (1930),
“Shanghai Express” (1932), “The Scarlett Empress” (1934) und “The Devil is a Woman”
(1935). Beide profitieren von dieser künstlerischen Symbiose.
Von Heinrich Manns Roman “Professor Unrat” (1905) haben Sternberg und die Bearbeiter
Carl Zuckmayer/Karl Vollmöller nicht viel übriggelassen. Die Story ist in die Jahre 1924/29
übertragen, das Figurenaufgebot radikal reduziert, die Karikatur norddeutscher KleinstadtKleingeisterei entschärft. Im Roman steigt die Künstlerin Rosa Fröhlich zur “eleganten
Kokotte”, zur “Demi-Mondaine hohen Stils” (H. Mann) auf, im Film bleibt Lola Lola im
billigen Hintertreppen-Milieu. Während der Rath des Romans am Ende im Gefängnis
landet, stirbt der Rath des Films an seinem alten Lehrerpult. Aus der bitterbösen Satire
auf die wilhelminische Bourgeoisie ist die private Tragödie eines entwurzelten
Schultyrannen geworden.
Trotzdem ist “Der Blaue Engel” als der erste veritable Tonfilmklassiker in die
Filmgeschichte eingegangen. Künstlerisch besticht der Film vor allem durch die
atmosphärisch dichte Darstellung des schwülen Kabarettmilieus. Deutlich prägt auch die
Kammerspiel-Tradition mit ihren tristen Kleinbürger-Melodramen das Genre. Um jede
schiefe Ecke der caligaresken Altstadtgassen lugt natürlich auch der damals in aller Welt
gerühmte deutsche Filmexpressionismus, dessen raffiniertes Spiel mit Licht und Schatten
Sternberg geschickt variiert.
Immer wieder überrascht von Sternbergs kultivierte, wenn auch etwas langatmige
Bildersprache – ein Erbe der Stummfilmästhetik –, etwa wenn er visuelle Symbole wie das
Fischernetz mit diffizilen Vorausdeutungen zu einer unterschwelligen Verweisungsstruktur
verknüpft. Insgesamt hat er ein stimmiges Abbild deutscher Kleinstadtbürgermentalität
geliefert. Vor allem aber hat er uns etwas Einmaliges, den Marlene-Mythos, beschert, an
dem die Dietrich so nostalgisch festhält, daß sie sich hartnäckig weigert, in dem
erwähnten Schell-Porträt, das die ARD anläßlich ihres 85. Geburtstages am 27.
Dezember ausstrahlte, vor die Kamera zu treten. Der Marlene-Mythos lebt.
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Horst Schäfer
21 Die sieben Samurai
Shichinin no Samurai (Japan 1954)
Regie: Akira Kurosawa. Buch: Akira Kurosawa, Shinobu Hashimoto, Hideo Oguni.
Kamera: Asakazu Nakai. Musik: Fumio Hayasaka. Darsteller: Toshiro Mifune, Takashi
Shimura, Kamatari Fujiwara, Daisuke Kato, Isao Kimura, Minoru Chiaki, Seiji Miyaguchi.
Länge: 153 Minuten; gegenüber der Originalfassung fehlen in der deutschen Fassung 50
Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
Akira Kurosawas “Die sieben Samurai” ist ein Jidaigeki; dieses japanische Filmgenre
nimmt sich klassischer Samurai-Themen an, wobei sehr oft die Darstellung historischer
Ereignisse oder die Auseinandersetzung mit der Tradition eine kritische Reflexion von
Gegenwartserscheinungen enthält.
Die Handlung spielt Ende des 16. Jahrhunderts. Die traditionelle Feudalordnung wurde
durch die zentralistische Herrschaft der Shogune abgelöst. Der Schwertadel der Samurai,
einer Kriegerkaste, verliert an Einfluß und Selbstachtung. Sie verarmen, werden
überflüssig und zu Söldnern und Banditen deklassiert.
In Japan herrscht Bürgerkrieg. Banden toben durch das Land, überfallen Bauerndörfer. In
einem abgelegenen Bergtal leben Bauern in ständiger Furcht vor einer Bande ehemaliger
Soldaten, die jetzt als Räuber in den Bergen leben. Fast jedes Jahr nach der Ernte
plündern sie das Dorf. Die meisten der Bauern haben sich damit abgefunden; nur ein paar
junge Leute wollen das Leid nicht mehr länger ertragen, sondern sich wehren. In dieser
Situation entscheidet der Dorfälteste, nach verarmten Samurai Ausschau zu halten, die
bereit sind, sich für drei magere Mahlzeiten am Tag zur Verteidigung des Dorfes
anwerben zu lassen.
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Bei dem erfahrenen Samurai Kanbei finden die ausgesandten Bauern Verständnis.
Sorgfältig wählt er fünf weitere Krieger aus, deren Stolz durch ihre Not besiegt wurde. Als
sie aufbrechen, schließt sich ihnen noch Kikuchiyo an, ein wilder Bursche bäuerlicher
Herkunft, der gerne Samurai sein möchte.
Im Dorf fürchtet man sich zunächst vor den Samurai, deren Kastengeist den Bauern fremd
und unheimlich ist. Kikuchiyo schafft es mit unkonventionellen Mitteln, gegenseitiges
Verständnis herbeizuführen. Die erfahrenen Krieger bilden die Dörfler an Waffen aus und
bereiten die Verteidigung vor. Gegen vierzig Banditen, die als Angreifer ohnehin im Vorteil
sind, muß eine besondere Taktik geübt werden. Damit das Dorf nicht von allen Seiten
angegriffen werden kann, müssen einige Felder unter Wasser gesetzt und ein paar
Häuser aufgegeben werden. Als dann nach der Ernte die Banditen erwartungsgemäß
auftauchen, beginnt ein tagelanger blutiger Kampf.
Der Sieg muß mit vielen Opfern bezahlt werden; neben zahlreichen Bauern sind auch vier
der sieben Samurai gefallen. Resigniert stellt Kanbei fest: “Wir haben gesiegt und
trotzdem haben wir verloren. Gewonnen haben nur die Bauern und nicht wir Samurai.” Die
Samurai sind nicht mehr die Feinde der Bauern, aber auch nicht ihre Freunde; sie finden
nicht zueinander.
“Die sieben Samurai”, Kurosawas mehrfach preisgekröntes Meisterwerk (unter anderem
1955 mit dem “Oscar” ausgezeichnet) entstand in den ersten Jahren nach Ende der
amerikanischen Besetzung, in denen die japanische Filmindustrie einen lebhaften
Aufschwung erreichte und die aus heutiger Sicht als die Blütezeit des japanischen Kinos
bezeichnet werden. Für die damalige Zeit war diese Produktion eine der teuersten und
aufwendigsten, aber die Investitionen machten sich bezahlt, da der Film ein
filmkünstlerischer und finanzieller Erfolg wurde.
Kurosawa probierte bei “Die sieben Samurai” erstmals ein Multi-Kamera-System aus, das
heißt: Eine Sequenz wie beispielsweise die entscheidende Schlacht am Ende des Films,
die bei Regen und auf schlammigem Boden stattfindet, wurde von mehreren Kameras aus
unterschiedlichen Positionen aufgenommen. Das Material wurde später bei der Montage
endgültig geordnet. Mit diesem Verfahren erreichte Kurosawa eine für seine Arbeiten
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typische choreographische Dynamik, die vor allem seine packenden, durch ZeitlupenEffekte aufgelösten Kampfszenen auszeichnet.
Akira Kurosawa, Jahrgang 1910, war Zeichner und Illustrator, Drehbuchautor und RegieAssistent, bevor er 1943 sein Regiedebüt hatte. Kurosawas Verdienst besteht vor allem
darin, den japanischen Film außerhalb Asiens bekannt gemacht zu haben. Der 1951 in
Venedig sensationell an “Rashomon” verliehene “Goldene Löwe” eröffnete einen wahren
Preisregen für Kurosawa-Filme. In “Die sieben Samurai” hat Kurosawa die Muster des
Western, seine Riten und Helden, aufgenommen, verarbeitet und an Hollywood
zurückgegeben. Ein Remake der “Sieben Samurai” entstand 1960 mit “Die glorreichen
Sieben” (Regie: John Sturges), und nach Kurosawas “Yojimbo” (1961) drehte Sergio
Leone 1964 “Für eine Handvoll Dollar”.
Walter Schobert
22 Vom Winde verweht
Gone with the Wind (USA 1939)
Regie: Victor Fleming. Production Design: William Cameron Menzies. Buch: Sidney
Howard, nach einem Roman von Margaret Mitchell. Kamera: Ernest Haller. Musik: Max
Steiner. Darsteller: Clark Gable, Vivian Leigh, Leslie Howard, Olivia de Havilland,
Thomas Mitchell. Länge der Originalfassung: 230 Minuten/219 Minuten. Vertrieb: IMV.
Eines Tages, wenn es das Kino nicht mehr gibt und man seinen Enkeln beschreiben
möchte, was es war, wo es erfunden wurde, von wo aus es gespeist wurde und womit,
wenn man also von Hollywood erzählen wollte und von den Leuten, die es verkörperten,
von den Filmen, die sie uns schenkten, dann genügte ein Film, um das zu tun, ein Film
und dazu die Geschichte seiner Produktion und die Story seines Erfolgs: “Vom Winde
verweht”. Er ist die Inkarnation von Hollywood, dem Ort, wo man oft die Legenden nicht
von der Wahrheit unterscheiden kann, weil selbst die Wahrheit wie eine Legende klingt.
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Wie es sich für Hollywood gehört, sind nur Superlative geeignet, das Projekt zu
beschreiben, Superlative und Rekorde. Nichts Geringeres als “der größte Film aller
Zeiten” schwebte dem Produzenten David O. Selznick (DOS, wie er sich selbst nannte)
vor, und wenn ihm, unterwegs, auch manchmal der Glaube daran schwand, so hatte er es
am Ende geschafft: nach der längsten Produktionszeit und der aufwendigsten Suche nach
einer Hauptdarstellerin – die erst gefunden wurde, als die Dreharbeiten bereits begonnen
hatten.
Schon jene 50 000 Dollar, die Selznick hingeblättert hatte, waren die höchste Summe, die
bis dahin jemals für die Rechte an einem Buch gezahlt wurde – und er, der schon als
Teenager im Filmgeschäft war und kurz zuvor seine eigene Firma gegründet hatte,
triumphierte, weil er eine bessere Nase gehabt hatte als alle anderen im Geschäft, sogar
als Schwiegervater Louis B. Mayer (der dann doch noch den Reibach machte, weil die
MGM die Vorführrechte hatte) und der geniale Thalberg, der das Buch ablehnte, weil
Stoffe aus dem Bürgerkrieg Kassengift seien. Die Auflagenzahlen schossen in die Höhe;
vom Start weg entwickelte sich der Roman der unbekannten Margaret Mitchell, die ihn
während ihrer Krankheit sozusagen aus therapeutischen Gründen schrieb (und die
danach nie wieder etwas veröffentlichte), zum Bestseller.
Dreieinhalb Jahre lang dauerte die Produktion; sie vor allem hat zum Mythos “Vom Winde
verweht” beigetragen (und war eine unbezahlbare PR-Kampagne). Roland Flaminis
Bericht füllt ein amüsant zu lesendes Buch, das fast so umfangreich ist wie der Roman –
und, das wäre konsequent, eigentlich selbst verfilmt werden müßte (deutsch bei Heyne,
Filmbibliothek Nr. 40). Wie ein Despot habe DOS, oft am Rande der Pleite, über den Film
gewacht, jedes Detail kontrolliert, seine Mitarbeiter mit Tausenden von “Memos” an den
Rand des Nervenzusammenbruchs gehetzt. Als man schon drehte, war das Buch noch
nicht fertig; immer neue Autoren wurden angeheuert – und gefeuert; sechs Regisseure
durften sich versuchen. Für den als Frauenregisseur verschrieenen Cukor (der indes
heimlich weiter mit Vivien Leigh und Olivia de Havilland arbeitete) wurde vor allem auf
Betreiben des Hauptdarstellers Clark Gable der Routinier Fleming engagiert, aber auch
William Menzies leitete Aufnahmen – und über allem wachte der allmächtige Produzent.
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Immer wieder hat man sich gewundert, daß angesichts dieser chaotischen Verhältnisse
der Film wirkt wie aus einem Guß. Das – offene – Geheimnis liegt darin, daß es eben
einen gab, der für ihn sorgte: den Producer. Die europäische Vergötterung des
Regisseurs hat es lange Zeit übersehen lassen, daß es den “Autor”, also den, der einem
Film seine persönliche Handschrift verleiht, auch im amerikanischen Kino gibt – die
Persönlichkeit, die ein Werk künstlerisch formt. Für einen Produzenten wie Selznick war
die Verantwortung nicht teilbar, sie umfaßte für ihn das Geschäftliche und das Kreative, er
beanspruchte alle Rechte, von der Auswahl der Drehbuchschreiber über die Besetzung
aller Posten und Rollen bis hin zur endgültigen Gestaltung des Films am Schneidetisch.
“Vorn Winde verweht” ist das Werk eines einzelnen Mannes, es ist “ein Film von David O.
Selznick”. Seine von den Mitarbeitern gefürchteten Memos, von denen er täglich
Dutzende diktierte, sind erhalten (Rudy Behlmer, Hrsg.: Memo from David O. Selznick,
New York 1972). Sie vermitteln das Bild eines von seiner Bedeutung, seinem Können,
seiner Aufgabe besessenen Filmmannes, der genau wußte, was er tat, um tatsächlich den
großen Kinohit landen zu können.
Schon die Wahl des Stoffes, der seinerseits wiederum viel dem Film verdankt, bewies
eminenten Kinoverstand: eine bittersüße Geschichte mit einer goldrichtigen Verbindung
von individuellen Gefühlen und ihrer historischen Verankerung, die ein saftiges Melodram
auf dem Hintergrund eines geschichtlich bedeutenden Ereignisses ermöglichte, und damit
alle Zutaten, die Hollywood liebte und mit ihm seine Zuschauer: prächtige und aufwendige
Bilder (in den wunderschönen Farben von Technicolor) vom gesellschaftlichen Leben in
den Südstaaten zu Friedenszeiten samt der Beschwörung der “guten alten Zeiten”
(einschließlich der natürlich gottgewollten Rassenschranken), aufpeitschende Bilder von
Feuersbrünsten und Zerstörung, eine Fülle von bewundernswerten Kostümen – und
natürlich eine überzeugende Auswahl von handelnden Personen mit einem großen
Gefühlsangebot. Scarlett O'Hara und Rhett Butler, die eigenwillige Schöne und der
schillernde Abenteurer, sind ein Traumpaar; allein ihr Verhältnis trägt den Film mühelos
über die gewaltige Länge und läßt die Zuschauer mitlieben und -leiden. Die Besetzung tat
ein übriges: In die schöne Engländerin Vivian Leigh verliebten sich die Männer, und der
schwer erklärbare Charme Clark Gables ließ die Frauen schmelzen.
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“Vom Winde verweht”, das ist auch die Geschichte seines Erfolges. Denn Selznicks
Spekulation ging auf: Schon die Premiere in der Vorweihnachtszeit 1939 (als Europa, das
den Film erst danach sah, bereits im Krieg war) war als grandioses gesellschaftliches
Ereignis inszeniert, Publikum und Kritik waren begeistert, aber wir wären nicht in
Hollywood, ließe sich der Erfolg nicht auch in Dollars bemessen – und in Oscars: Für 13
war “Vom Winde verweht” nominiert, zehn bekam er; nur Gable ging erstaunlicherweise
leer aus. Nach Besucherzahlen ist der Film wohl immer noch die Nr. 1 und, würde man
nicht absolut rechnen, sondern z.B. in Kaufkraft, auch nach Einspielergebnissen. Die 4
Millionen Dollar, die Selznick und seine Geldgeber investierten, brachten und bringen
jedenfalls reichlich Rendite.
Selbst für Hollywood war es nicht alltäglich, daß ein Mann erleben durfte, wie seine Vision
sich erfüllte. Denn um nichts Geringeres ging es Selznick. Es mag ein Zufall sein, daß
allein das Sujet den Vergleich mit einem anderen Monument Hollywoods herausfordert,
aber von seiner Intention her kam es Selznick wohl genau darauf an: ein zweites, neues
“Birth of a Nation” zu machen, sich als Nachfolger Griffith' zu beweisen. Da freilich wird
dann klar, daß “Vorn Winde verweht” bei aller Schönheit und Perfektion, bei aller
Raffinesse und allem Kalkül seinem Autor einen Platz ganz oben in der Götterwelt
Hollywoods zuweist, aber nicht im Olymp.
Walter Schobert
23 Metropolis
(Deutschland 1927)
Regie: Fritz Lang. Buch: Thea von Harbou. Kamera: Karl Freund, Günther Rittau, Eugen
Schüfftan. Ausstattung: Otto Hunte, Erich Kettelhut, Karl Vollbrecht. Musik: Gottfried
Huppertz (1927), Giorgio Moroder (1985). Darsteller: Brigitte Helm, Gustav Fröhlich,
Alfred Abel, Rudolf Klein-Rogge, Fritz Rasp, Heinrich George. Länge der
Originalfassung: ca. 200 Minuten. Videofassung: 87 Minuten. Vertrieb: Vestron.
75
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Vor ziemlich genau 60 Jahren, am 10. Januar 1927, wurde Fritz Langs “Metropolis”
uraufgeführt, ein Film, der von Anfang an und bis heute nur eines unumstritten war:
umstritten. Die Kritiker verdammten ihn in Grund und Boden, die Apologeten feierten ihn
als ein Meisterwerk der Filmgeschichte.
Für die UFA sollte “Metropolis” der Generalangriff auf Hollywood sein, das man mit seinen
eigenen Waffen schlagen wollte. Genüßlich trumpfte die Sondernummer des UFAMagazins mit Zahlen auf: zwei Jahre Drehzeit, ein Etat von fünf Millionen, acht Stars, 750
Schauspieler, 36 000 Komparsen, 620 000 Meter Negativfilm. Lang rief ein Schiedsgericht
an, um sich gegen den Vorwurf der Verschwendung zu wehren; möglicherweise war auch
dies ein Propagandacoup. Die Spekulation ging nicht auf; der Film war ein Mißerfolg.
Lang, der nach “Der müde Tod” und nach den grandiosen Zweiteilern “Dr. Mabuse” und
die “Die Nibelungen” auf der Höhe seines Könnens und im Zenith seines Ruhms stand,
gar in einem Atemzug mit Dürer, Wagner und anderen großen deutschen Künstlern
genannt wurde, begriff den “Großfilm” als persönliche Herausforderung; er wollte etwas
ganz und gar Einmaliges schaffen, wie vor ihm Griffith mit “The Birth of a Nation” oder
später Gance mit “Napoleon”.
Lang entwirft die Vision einer Zukunftsstadt, in der die einen im Dunkel sind und die
anderen im Licht. In der Sonne tummeln sich die Reichen in Gärten und im Stadion, unter
der Erde vegetieren die Arbeitermassen, werden an gigantische Maschinen geführt.
Beherrscht werden beide Welten von Fredersen. Seine Gegenspielerin ist das Mädchen
Maria, das mit charismatischer Ausstrahlung den Ausgebeuteten Liebe predigt und sie vor
Gewalt warnt. Freder, der Sohn des Despoten, hat Mitleid mit den Arbeitern und verliebt
sich in Maria. Der enttäuschte Vater beauftragt Rotwang, einen genialen Wissenschaftler,
der auch Magier ist, einen Maschinenmenschen mit dem Aussehen Marias zu schaffen,
der die Massen zum Aufruhr verführen soll.
Doch die Rebellierenden gefährden nur ihre eigenen Kinder; es droht die
Überschwemmung der Unterstadt. Maria und Freder retten die Kinder in letzter Minute.
Der Zorn richtet sich gegen die falsche Maria, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.
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Auf dem Giebel des gotischen Doms kommt es zum Zweikampf zwischen Freder und
Rotwang, der schließlich zu Tode stürzt. Vor dem Dom reichen sich Fredersen und ein
Arbeiter die Hand. Die Liebe Freders und Marias hat die Gegensätze überwunden: “Mittler
zwischen Hirn und Händen muß das Herz sein.”
Das ist sicher ein hübscher Stabreim, aber gewiß kein Rezept für die Lösung sozialer
Probleme oder gar für die Überwindung von Klassengegensätzen “unter Umgehung aller
Tarif-Verhandlungen”, wie der Filmtheoretiker Béla Balász schon damals spottete. Lang
selbst hat später von einem Märchen gesprochen, von mangelndem politischen
Bewußtsein, und sich von dem Ende distanziert, für das wohl vor allem seine
Drehbuchautorin (und Ehefrau) Thea von Harbou verantwortlich war.
Es war dieses Ende, das ihm und seinem Film den Vorwurf einbrachte, faschistische
Thesen zu propagieren und den Nazis den Weg bereitet zu haben; Gregor/Patalas
nennen in ihrer “Geschichte des Films” im Gefolge Kracauers die Verschleierung der
sozialen Gegensätze und die “Erlösung durch den Führerwillen” als Beleg für die Affinität
zum Faschismus.
Aber man braucht gar nicht den linken Hammer zu schwingen, um diese Seite von
“Metropolis” für schwülstig und verlogen zu halten. Auch in “Metropolis” ist sie zu finden,
die seltsame Mischung, die Langs frühe Filme insgesamt durchzieht: auf der einen Seite
der höchste künstlerische Anspruch, auf der anderen, unübersehbar und ihn
unterhöhlend, ein Hang zum Mystischen, zur Kolportage sogar, eine Schwäche für das
Naive, Triviale, Reißerhafte. In “Metropolis” führt der Bogen von der Utopie zurück ins
Mittelalter, von der Beschwörung der Moderne zum Märchen.
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Doch hieße es blind sein, würde man darüber nicht sehen, daß für Lang, und auch darin
ist er ein sehr deutscher Künstler, der Stoff nur Aufhänger, Vorwand ist. Tatsächlich hat
er, zusammen mit seinen Kameramännern und Architekten, hier dem Film völlig neue
Ausdrucksmittel erschlossen. “Das Filmbild muß Grafik werden”, forderten die Schöpfer
des “Dr. Caligari”. Bei Lang, dem ehemaligen Architekten, wird es Architektur. Aus
expressionistischen Motiven und aus Anstößen, die ihm ein Besuch in New York vermittelt
hatte, aus Bewegungen, Räumen, aus Licht, aus Hell und Dunkel hat er eine optische
Symphonie gedichtet, in der alles Raumplastik ist, selbst die rhythmisch ihre Hände
emporstreckenden Massen. “Metropolis” ist eine unerhörte Folge von meisterhaft
komponierten Bildern.
Möglicherweise wird der Zuschauer das heute nicht mehr finden – und dies weist einmal
mehr auf das Grundproblem unserer Serie hin. Hier werden nur Filme präsentiert, die auf
Video verfügbar sind. Es gibt zwar eine Kassette mit dem Titel “Metropolis” – aber das ist
eben nicht das Meisterwerk von Fritz Lang. Es ist ein Film von einem Südtiroler
Schlagerkomponisten namens Moroder, der in den USA Hits fabriziert wie andere Leute
Hamburger und der Langs Film benutzt wie einen Steinbruch.
Von der ursprünglichen Länge des Films sind bei ihm gerade 87 Minuten übriggeblieben;
um Zeit zu sparen, hat er die Zwischentitel durch Untertitel ersetzt und läßt zu schnell
projizieren. Der Rhythmus ist nicht mehr in den Bildern Langs zu finden, sondern in der
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Disco-Musik Moroders, einer ziemlich unerträglichen Soße, die “Metropolis” zu einem
überlangen Videoclip degradiert, zu einem Medienereignis.
Wer Langs Film sehen will, muß nach München pilgern, wo Enno Patalas die von ihm
rekonstruierte Originalfassung im Stadtmuseum zeigt, oder nach Frankfurt, wo im
Filmmuseum zum Film manchmal die Originalmusik von Huppertz live an zwei Klavieren
gespielt wird.
Urs Jaeggi
24 The Getaway
The Getaway (USA 1972)
Regie: Sam Peckinpah. Buch: Walter Hill, nach dem Roman von Jim Thompson.
Kamera: Lucien Ballard. Musik: Quincy Jones. Darsteller: Steve McQueen, Ali McGraw,
Sally Struthers, Ben Johnson, Al Lettieri. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: neue atlas
medien.
Das filmische Werk des 1984 im Alter von 58 Jahren verstorbenen Sam Peckinpah ist
eine einzige Auseinandersetzung mit den Mythologien Amerikas und seiner Geschichte.
Aber Peckinpah hat – im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren – diese Mythologien
nie für sich allein stehen lassen. Er hat sie immer und unablässig mit der Realität, den
Entwicklungen, der Geschichte und der Gegenwart konfrontiert. So wurden seine ersten
Western – “The Deadly Companions” (1961) und “Ride the High Counfry” (1962) – die
ersten “schmutzigen” Western der Filmgeschichte.
“The Wild Bunch” (1969), der Film, der Peckinpah über die USA hinaus bekannt machte,
war nichts anderes als eine pathetische und dennoch präzise Auseinandersetzung der
Frontier-Mythologie mit den technischen Entwicklungen des anbrechenden 20.
Jahrhunderts, die dann ein Jahr später in “The Ballad of Cable Hogue”, dem vielleicht
besten Film Peckinpahs, eine witzige Fortsetzung fand.
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In “The Getaway” (Der Hinterhalt) nun wiederum konfrontiert Sam Peckinpah den Mythos
des amerikanischen schwarzen Films (film noir) mit der Realität einer Gesellschaft,
welche die physische, aber auch die strukturelle Gewalt als Mittel zur Lösung von
Konflikten zumindest nicht kategorisch ablehnt. Gleich zu Beginn des Films schon
begegnet der Zuschauer einem Gangster mit durchaus sympathischen Zügen (Steve
McQueen) und seiner anziehenden Gattin (Ali MacGraw), die sich leidenschaftlich für die
vorzeitige Entlassung ihres Mannes aus dem Gefängnis einsetzt. Ein Anliegen, das sich
das Paar schließlich teuer erkauft: er mit der Verpflichtung, für einen korrupten Politiker
eine Bank auszurauben, sie, indem sie sich diesem Falschspieler hingibt.
Danach ist – vordergründig zumindest – alles brillant inszenierter Thrill: Doc MacCoy und
seine Frau Carol organisieren den Banküberfall und führen ihn durch. Ein Polizist und ein
Komplize bleiben auf der Strecke. Doc und Carol fliehen durch Texas, verfolgt von einem
weiteren Komplizen, verfolgt auch von der Bande des korrupten Politikers, der statt des
vereinbarten Geldes eine Kugel von Carol empfangen hat. Doc schießt sich durch, noch
und noch. Leichen pflastern seinen Weg, als es ihm schließlich gelingt, vor seinen
Häschern, zu denen natürlich auch die Polizei gehört, über die mexikanische Grenze zu
fliehen.
Peckinpah als Regisseur eines zwar perfekt gemachten, aber in seiner Thematik
belanglosen Reißers? Man würde diesem amerikanischen Filmemacher, der im Verlauf
seines Schaffens immer mehr erkannte, daß die Gewalt zu einem wesentlichen Faktor
menschlichen Verhaltens gehört, und sich mit diesem Phänomen entsprechend
auseinanderzusetzen begann, Unrecht tun, würde man “The Getaway” einfach als
zufälligen Thriller abqualifizieren. Zwar schwerer interpretierbar als seine früheren Filme,
ist auch dieses Werk eine Beschäftigung mit der Gewalt, vor allem aber das Spiegelbild
einer Gesellschaft, die Gewalttätigkeit in ihr soziales Verhalten kurzentschlossen integriert
hat und dadurch jegliche Distanz zu ihr zu verlieren droht.
Schwerer lesbar ist der Film, weil der Zuschauer seine Konzentration dem
Gangsterpärchen widmet. Dieses aber gibt substantiell nicht sehr viel her. MacCoy und
Carol sind nichts, kommen aus dem Nichts und haben auch keine Zukunft. Sie und ihre
Taten sind Legende; Helden, von den Göttern der Gewalt getragen, gefeit gegen
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Kugelhagel und andere tödliche Gefahren: durch und durch unwirklich, Schablonen,
Schemen. Sie sind unverwüstliche Helden des amerikanischen Kinos, blütenweiß und
wohlriechend frisch noch selbst nach der langen Fahrt im dunklen Innern eines
vollgestopften Müllwagens.
Die wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut indessen sind in den Nebenrollen zu
finden. Sie offenbaren, so verschiedenartig sie sind, nach der Konfrontation mit dem
Gangsterpaar ihren wahren Charakter, ihr Verhältnis zur Gewalt. Sie sind die Typen einer
Nation, deren Geschichte und Gegenwart mit Gewalt eng verknüpft ist und in der Gewalt
deshalb zum Mythos geworden ist.
Das gilt für die naive, kleine Frau, die zusammen mit ihrem schwächlichen Gatten vom
Gangsterkomplizen Rudy als Geisel genommen wird und diesen um seiner Brutalität
willen bis zur Hörigkeit bewundert, so gut wie für den kaltschnäuzig korrupten Politiker,
der seine persönliche Macht mit jenen Mitteln mehrt, gegen die anzukämpfen er
verpflichtet wäre. Das gilt aber auch für den Waffenhändler, der Doc eine zwölfschüssige
Flinte samt Munition verkauft, als handle es sich dabei um Süßholz, und sich danach
maßlos wundert, wenn gleich vor seiner Geschäftstür eine wüste Schießerei ausbricht.
Und es gilt letztlich auch für den abenteuerlichen Lastwagenfahrer, der das Gangsterpaar
über die mexikanische Grenze karrt. Daß MacCoy und Carol eben ein Hotel samt seinen
dubiosen Bewohnern zusammengeschossen haben, kümmert ihn kaum, wohl aber die
Frage, ob seine beiden gefährlichen Passagiere das Bündnis der Ehe geschlossen
haben: der Moral wegen, auf die er großen Wert legt. Sie alle sind in ihrer Weise
verantwortlich, daß Gewaltverbrechen sich lohnen: durch ihre Naivität, durch die
Verherrlichung nackter Brutalität, durch ihre Macht- und Habgier, durch das über
Generationen vererbte, jeder Kritik entzogene Pioniergefühl und – nicht zuletzt – durch
ihre doppelte Moral.
In “The Getaway” entlarvt Sam Peckinpah eine Gesellschaft, die das Böse geradezu
heraufbeschwört. Hinter der Vordergründigkeit des raffiniert inszenierten und hektisch
montierten Gangsterfilms verbirgt sich die Tragödie des Menschen, der sein Leben und
sein Dasein nicht mehr an sozialen und ethischen Wertmaßstäben der Gemeinschaft,
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sondern als vereinsamtes, asoziales Wesen am Recht des Stärkeren orientiert. In diesem
Sinne ist der Regisseur Sam Peckinpah ein Moralist.
Wolfgang Schwarzer
25 Lucky Luciano
Lucky Luciano (Italien/Frankreich 1973)
Regie: Francesco Rosi. Buch: Francesco Rosi, Lino Jannuzzi, Tonino Guerra. Kamera:
Pasqualino de Santis. Schnitt: Ruggiero Mastroianni. Musik: Piero Piccioni. Darsteller:
Gian Maria Volonté, Rod Steiger, Charies Siragusa, Edmund O'Brien. Länge: 110
Minuten. Vertrieb: ufa.
Francesco Rosi gehört zu denen, die das Medium Film beim Schopf packen: Anspruch
und Durchführung liegen so nahe beieinander wie nur irgend möglich. “Die Kluft, die
zwischen der politischen und der bürgerlichen Gesellschaft besteht, muß mit
Informationen ausgefüllt werden; dies kann aber nicht nur von der Presse und dem
Fernsehen ausgehen, denn sie besitzen weniger Macht als der Film. Ich glaube, daß er
die Probleme behandeln sollte, die bis heute in einem kulturellen Ghetto geblieben sind.
Der einfache Mann ist wißbegierig, er will verstehen, was an der Spitze vor sich geht.”
Rosi stellt in seinen Filmen die Mittel zum Verständnis bereit. Seine Geschichten
behandeln Tatsachen, journalistisch recherchiert und dokumentiert. Das Material ist nach
den Gesetzen des Spielfilms geordnet.
Zentrales Thema im Werk Rosis, geboren 1922 in Neapel, ist die komplizierte
Gesellschaftsstruktur des Mezzogiorno. Der überwiegende Anteil der dreizehn Spielfilme,
bei denen er seit 1958 Regie führte, setzt sich mit der Geschichte und der Aktualität des
benachteiligten italienischen Südens auseinander. Rosi analysiert die überkommenen
wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, indem er Praktiken der Machtausübung
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politischer Instanzen entschleiert und ihre Auswirkung auf die täglichen Erfahrungen in
den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten darstellt.
Der Inszenierungsstil Rosis steht in der Tradition des Neorealismus, der sich Ende der
vierziger Jahre in Italien herausbildete. Er verbindet unverfälschte Detailtreue und
sozialkritisches Engagement mit Einflüssen des amerikanischen Kinos, besonders der
Filme Elia Kazans.
“Lucky Luciano” (1972/1973) ist eine Reflexion der Verflechtungen zwischen legaler und
illegaler Macht in Italien und den USA. Die Biographie des sizilianischen Mafiabosses
Salvatore Luciano (Gian Maria Volonté), der den Drogenhandel zwischen Italien – in
Verbindung mit der chemischen Industrie des Landes – und Amerika erstmals mit der
Präzision der Geschäfte internationaler Konzerne organisierte, beginnt am 11.2.1946, als
er nach einem neunjährigen Gefängnisaufenthalt Amerika verläßt, um sich in Neapel
niederzulassen. Schlaglichtartige Rückblenden zeigen seinen skrupellosen Aufstieg zum
unumschränkten boss of the bosses in den amerikanischen Großstädten. Die Geschichte
endet im Februar 1961, als Luciano nach einem erfolglosen Verhör durch italienische
Zollbehörden im Flughafen von Neapel an einem Herzinfarkt stirbt.
Die Person Lucianos, dezent, möglichst untätig erscheinend, wie es seinem Idealbild des
unauffälligen Geschäftsmannes entspricht, der “für die Ordnung und mit der Macht – also
mit den Regierenden” handelt, tritt in der Geschichte häufig als graue Eminenz in den
Hintergrund. Drei zusätzliche Handlungsstränge erhellen seine Zeit und seine
Persönlichkeit.
- Die Mafiagröße Vito Genovese (Charles Cioffi) wird nach der Befreiung Süditaliens
rechte Hand und Berater des amerikanischen Militärgouverneurs, organisiert den
Schwarzhandel und läßt Mafialeute in die Schlüsselpositionen von Politik und Verwaltung
einsetzen.
- Der Agent des amerikanischen Narcotic Bureau, Charles E. Siragusa (von ihm selbst
gespielt!), will dem Drogenboss das Handwerk legen. Er handelt mit Unterstützung einer
UNO-Kommission, scheitert jedoch an Thomas E. Dewey, der als Staatsanwalt Luciano
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1939 mit verfälschten Beweisen hinter Gitter gebracht hatte, ihn als Gouverneur des
Staates New York 1946 begnadigte und nach Italien abschieben ließ. Offizielle
Begründung: Luciano habe durch seine Mafiaverbindungen den Streitkräften
unschätzbare Dienste bei der Eroberung Siziliens geleistet. Inoffiziell heißt es, der
Mafioso habe Deweys Wahlkampf mit 250 000 Dollar unterstützt.
- Der Gangster und Polizeispitzel Gene Giannini (Rod Steiger) will an Siragusa und
Luciano gleichermaßen verdienen und bleibt dabei auf der Strecke. Zusätzlich werden
nach Originalprotokollen rekonstruierte Kommissionssitzungen der UNO eingeflochten.
“Lucky Luciano” bildet zusammen mit “Wer erschoß Salvatore G.” (1961), “Hände über der
Stadt” (1963), “Der Fall Mattei” (1971), “Die Macht und ihr Preis” (1975), “Christus kam nur
bis Eboli” (1978) sowie “Drei Brüder” (1980) ein faszinierendes Fresco der sozialen
Kriminalgeschichte Italiens.
Horst Schäfer
26 Die durch die Hölle gehen
The Deer Hunter (USA 1978)
Regie: Michael Cimino. Buch: Derek Washburn. Kamera: Vilmos Zsigmond. Musik:
Stenley Myers. Darsteller: Robert de Niro, Christopher Walken, John Cazale, Meryl
Streep, John Savage, George Dzundza, Chuck Aspegren. Länge: 182 Minuten. Vertrieb:
Cannon/VMP.
Ein zentrales Thema der US-Spielfilmproduktion ist seit einigen Jahren die
Auseinandersetzung der amerikanischen Gesellschaft mit dem Vietnam-Krieg und seinen
Spätfolgen. In die von John Wayne (Regisseur und Hauptdarsteller) mit “Die grünen
Teufel” (1967) vorgegebene patriotische Richtung – den meuchelmörderischen Vietcong
werden kinderfreundliche Special-Forces-Helden gegenübergestellt – mischten sich ab
1972 (zum Beispiel mit “Die Besucher” von Elia Kazan) die ersten kritischen Töne.
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1975 zogen sich die Amerikaner aus Vietnam zurück. 58 000 Tote waren der Preis für
diesen Einsatz. Die darauffolgenden Jahre waren die entscheidende Phase zur
Aufarbeitung dieses Schocks, an der sich auch die Filmindustrie beteiligte. “Taxi Driver”
(1976) von Martin Scorsese, “Coming home” (1977) von Hal Ashby, “Dreckige Hunde” von
Karel Reisz, “Apocalypse Now” (1976-1979) von Francis Ford Coppola und “Die durch die
Hölle gehen” (“The Deer Hunter”, 1978) von Michael Cimino sind dabei die
kompromißlosesten, unbequemsten und provozierendsten Filme.
Ab Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre entstanden parallel zu der
abnehmenden Anzahl politisch-engagierter Vietnam-Filme in zunehmendem Maße
Produktionen, die den Vietnam-Krieg als spektakuläre Kulisse für blutrünstige Actionfilme
mißbrauchen, die Veteranen-Figuren dazu nutzen, private Rachegelüste zu legitimieren
oder die verlorenen Schlachten im Nachhinein gewinnen ließen.
Die “Rambo”-Filme mit Silvester Stallone (1982, Regie: Ted Kotcheff; 1985, Regie:
George P. Cosmatos) stellen heute den unrühmlichen Höhepunkt einer Entwicklung dar,
die das Trauma verdrängen und Haßgefühle schüren. Der synthetische Rache-Killer
“Rambo” entstand nicht zufällig; er ist eine Art Frankenstein-Monster mit Versatzstücken
aus all den Filmen und Stimmungen, die seine Geburt (oder Wiedergeburt) vorbereiteten.
Ciminos “The Deer Hunter” ist demgegenüber einer der filmkünstlerisch erfolgreichsten
und am meisten beachteten Vietnam-Filme. Er spürt die Lust an der Jagd, am Töten auf,
die schließlich zur persönlichen Todessehnsucht führt, und erteilt allen eine Lektion, die
mit dem Krieg ein Bild von Freiheit und Abenteuer verbinden.
Der Film beginnt mit Bildern aus einer Industriestadt in Pennsylvania. Drei Freunde,
Michael, Steven und Nick, feiern die Hochzeit von Steven. Alle sind Nachkommen
russischer Einwanderer, und es wird ein ausgelassenes Fest. Gleichzeitig ist es ihr
Abschied, denn sie sind nach Vietnam einberufen. Am nächsten Morgen gehen sie ein
letztes Mal gemeinsam zur Jagd.
Im Dschungel von Vietnam werden aus den Jägern Gejagte. Als Gefangene des Vietcong
müssen sie ein grausames Spiel spielen: Russisches Roulette, mit einer Kugel im
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Revolver. Die Drei können entkommen. Michael bringt den schwerverletzten Steven in
Sicherheit und kehrt nach Hause zurück. Steven hat beide Beine verloren und vegetiert in
einem Veteranen-Hospital. Nick wird in eine psychiatrische Klinik in Saigon eingewiesen,
entfernt sich später von seiner Einheit und taucht unter. Er ist dem Wahnsinns-Spiel wie
ein Süchtiger verfallen und betreibt es gegen Höchsteinsätze.
Hochdekoriert, aber desillusioniert und orientierungslos kehrt Michael nach Hause zurück
und will seine alten Freunde um sich haben. Er macht sich nach einiger Zeit auf die Suche
nach Nick, der sich noch in dem chaotischen, aufgewühlten und aufgegebenen Saigon
aufhält. Nick steht unter Drogen und erkennt den Freund nicht mehr. Ein letztes Spiel
endet für ihn tödlich. Michael bringt Nicks Leichnam zu einem traurigen Begräbnis nach
Hause. In ihrer Ratlosigkeit stimmen die Freunde ein verzweifeltes “God Bless America”
an. Nach ungefähr einer Stunde Laufzeit hat der Film einen harten, unvermuteten
Übergang: von der ausgelassenen, verkaterten Stimmung nach der Feier direkt in das
Kriegs-Inferno im Dschungel. Dieser brutale Schnitt entspricht auch den wenigen
Flugstunden, die zwischen diesen beiden Schauplätzen liegen. Ebenso abrupt schneidet
Cimino den Wechsel von Saigon zurück in die unveränderte Kleinstadt. Hier ist nichts
weiter entfernt als der Krieg in Vietnam. Was mit einem rauschenden Fest,
überschüssiger Lebensfreude, optimistischem Übermut und lockeren Sprüchen gegen die
Vietcong begann, endet mit Enttäuschung, Isolation und Depression. Aus ein paar
wagemutigen Jungs wurden Wracks und Krüppel, deren Charaktere zerstört sind. In der
Heimatstadt machen sich Ratlosigkeit und Skepsis breit, was Lebenszusammenhänge
und politische Gegebenheiten angeht.
“Die durch die Hölle gehen” erhielt fünf Oscars: John Peverall (Produzent), Michael
Cimino (Regie), Christopher Walken (männlicher Nebendarsteller), Peter Zinner (Cutter)
und Richard Portman unter anderem für den besten Ton. Der Film wurde mit weiteren
Preisen und Auszeichnungen bedacht und machte seinen Regisseur in aller Welt
bekannt. Darüber hinaus verhalf er zwei bis dahin vergleichsweise unbekannten
Darstellern zum internationalen Durchbruch: John Savage und Christopher Walken.
Parallel zu Ciminos Film wurde 1979 auch “Coming home” mit drei Oscars bedacht.
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Thomas Brandlmeier
27 Eine Nacht in Casablanca
A Night in Casablanca (USA 1946)
Regie: Archie L. Mayo. Buch: Joseph Fields, Roland Kibbee, Frank Tashlin. Kamera:
James van Trees. Musik: Werner Janssen. Darsteller: Groucho, Chico, Harpo, Sig
Ruman, Lisette Verea. Länge: 85 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
“Die gewaltige, völlige, endgültige, absolute Originalität” (Artaud über die Marx Brothers).
“Die biologische, hysterische, kannibalische Raserei” (Dali über die Marx Brothers).
Es ist eine selten strittige Geschmacksfrage, welcher Film der Marx Brothers ihr bester
sei. Die Fachleute schwanken zwischen “Monkey Business” (1931), “Duck Soup” (1933),
“A Night at the Opera” (1935), “The Big Store” (1941) und “A Night in Casablanca” (1946).
Die Frage ist vor allem deshalb so hoffnungslos, weil es hier kaum objektivierbare
Kriterien für Qualität gibt. Ist dies bei Komikern generell schwierig, so ertränken die Marx
Brothers jedes gesichtete Kriterium sofort in Anarchie. Man könnte postulieren: Die
Marxens sind da am besten, wo sie in möglichst viele Fettnäpfchen zugleich treten.
Das fängt im vorliegenden Fall schon bei der hanebüchenen Story an: Im Hotel
Casablanca tummeln sich nach Kriegsende Altnazis, die hinter einer verschwundenen
französischen Kriegsbeute her sind. Ebenfalls hinter der Beute her ist ein französischer
Offizier und dessen Verlobte, da der Offizier für das Verschwinden der Beute haftbar
gemacht wird. Und zwischen alledem die Marxens. Groucho Marx als hochstapelnder
Hotelmanager, Chico Marx als Mädchen für alles und Harpo Marx als Hoteldiener. Das ist
– nicht ohne Absicht – eine Agentenstory, wie sie damals zuhauf gedreht wurden, wie
“Notorious” (Hitchcock, 1946), oder “To have and have not” (Hawks, 1944) oder
“Casablanca” (Curtiz, 1942). Prompt kam von den Warner Brothers auch eine
Plagiatklage wegen “Casablanca”. Groucho brachte die Warner-Rechtsabteilung mit
einem spitzfindigen Schreiben für immer zum Schweigen: “... Sie behaupten, der Name
Casablanca gehöre Ihnen und niemand dürfe ihn ohne Ihre Erlaubnis benützen. Wie
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verhält es sich dann mit dem Namen ‘Warner Brothers’? ... Wir waren unter dem Namen
Marx Brothers bereits bekannt, als das Vitaphone noch eine Idee im Kopf seines Erfinders
war ... ”
Die Marx Brothers machen aus dieser Klischeegeschichte freilich eine Antigeschichte, die
das ganze Klischee entlarvt. Die Agenten werden von ihnen nicht durch Mut, Opfer,
Überlegenheit oder ähnliche Tugenden zur Strecke gebracht, sondern dadurch, daß sie
ganz offen als noch durchtriebener auftreten. Als Chico zu Beginn des Films Groucho vom
Bahnhof abholt, will er ihm den Koffer tragen. Groucho will ihn lieber selbst tragen. “Mir
kannst du doch trauen”, säuselt Chico, worauf Groucho antwortet: “Ich traue niemand,
nicht einmal mir selbst.” Wie recht er hat zeigt sich wenig später, als Chico empört
konstatiert, daß ohne Schmiergeld kein Informant reden will: “Er wird von dieser Ratte nie
etwas erfahren ohne Geld. Diese Ratte ist ganz genauso wie ich.” Der einzige, der
überhaupt einen offenen Kampf mit den Agenten eingeht, ist Harpo. Er duelliert sich mit
einem als großer Fechtmeister bekannten Nazi-Agenten – und läßt ihn dabei in den
Fechtritualen solange leerlaufen, bis dieser erschöpft zusammenbricht. Auf ähnliche
Weise wird später der Obernazi in den Wahnsinn getrieben: Während er seine Koffer zur
Flucht packt, sind die Marxens in allen Schränken und Schrankkoffern versteckt und
räumen hinter seinem Rücken sofort alles, was er einpackt, wieder aus.
Zu den weiteren Klischees des Genres gehört selbstverständlich eine verführerische
Sängerin, die für die Agenten arbeitet. Ihr Song “Who's sorry now?” gibt exakt den Ton an:
Die Rendezvous mit Groucho scheitern nicht an dessen Charakterstärke, sondern an
dessen Hemmungslosigkeit. Die genreübliche Action-Szene zum Schluß des Films
besteht aus einer herrlich-absurden Akrobatiknummer, mit der die Marxens das FluchtFahrzeug der Naziagenten in ihre Gewalt bringen. Harpo, am Steuer des Flugzeugs,
macht eine Bruchlandung, direkt im Gefängnis. Dem Happy End steht so nichts mehr im
Weg: Der französische Offizier darf seine Verlobte in die Arme schließen. Die inzwischen
gebesserte Sängerin seufzt: “Ach, wenn das mir mal passieren würde!” Sofort stürzen
sich die Marx Brothers auf sie.
Gewisse “routines” gehören mit Variationen in jeden Film mit den Marx Brothers. Es sind
die eigentlichen Charakterstücke, an denen die Besonderheiten der drei Komikertalente
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sichtbar werden. Bei Groucho ist es stets eine zynische Ansprache, wobei der ganze
Ellenbogen-Anarchismus eines rücksichtslosen Geschäftsmannes zum Ausdruck kommt.
Er beginnt seine Tätigkeit als Hotelmanager, indem er seine Wunschgäste entwirft: Sie
sollen gefälligst höflich sein und genug Drinks nehmen. Chico, der bauernschlaue
Immigrantentyp, stiftet bewußt Verwirrung, um von dem allgemeinen Chaos zu profitieren.
Als er in Geldnöten ist, fängt er an, in einem überfüllten Restaurant Tische zu verkaufen,
die Harpo eilends aufstellt. Zum Schluß ist es so eng, daß Groucho, der gerade einen
seiner obszönen Rumbas hinlegt, mit seiner Partnerin bis zur engen Umklammerung
eingepfercht ist.
Harpo ist in seiner Anarchie die Figur des utopischen August. Ohne Umwege geht er stets
auf direkte Bedürfnisbefriedigung aus. Trifft er eine hübsche Blondine, so drückt er ihr zur
Begrüßung gleich das Bein in die Hand, und als Vorkoster verschlingt er Grouchos Essen
samt Teller, Garnierung und Kerzenbeleuchtung. Er verweigert sich sogar der Sprache,
und wenn er sich ausdrücken will, dann artikuliert er sich in einer der berühmten
Homonymienreihen von Chico, also durch den, der selbst Sprachschwierigkeiten hat.
Spätestens hier ist es allerdings schade, daß die vorliegende Fassung deutsch
synchronisiert (statt untertitelt) ist.
Natürlich kommt auch in diesem Film ein wunderschönes Harfensolo von Harpo, eine
exzentrische Klaviereinlage von Chico und jede Menge intelligentester Anzüglichkeiten
von Groucho vor. Und der schönste, weil surrealste, Gag gehört auch in diesem Film
wieder Harpo. Die Polizei soll verdächtige Subjekte verhaften. Harpo lehnt sehr verdächtig
an einer Hauswand. “Glaubst du vielleicht, daß du das Haus stützen mußt?” schnauzt ihn
ein Polizist an. Harpo geht weg und das Haus stürzt ein. Fazit: eine durch und durch
filmische Destruktion von Romanzen-Klischees von innen heraus, mit den ureigensten
Mitteln des Genres selbst, ohne daß dazu außer den Marx Brothers ein Regisseur
notwendig gewesen wäre (er hieß Archie Mayo).
Walter Schobert
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28 Denn sie wissen nicht, was sie tun
Rebel Without A Cause (USA 1955)
Regie: Nicholas Ray. Buch: Stewart Stern. Kamera: Ernest Haller. Musik: Leonard
Roseman. Darsteller: James Dean, Nathalie Wood, Sal Mineo, Jim Backus, Dennis
Hopper. Länge: 109 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Als der Film im Oktober 1955 in die Kinos kam, war sein Star schon tot: James Byron
Dean kam am 30. September 1955 bei einem Verkehrsunfall ums Leben. In seinem
Porsche war er auf dem Weg zu einem Rennen an der Kreuzung des Highway 41 und der
Staatsstraße 466 in eine schwere Limousine gerast. Ob es ein Unfall war oder doch,
vielleicht unbewußt, gesuchter Selbstmord: darüber wird bis heute gerätselt.
Denn bis heute ungebrochen ist die Faszinationskraft Deans, der gerade 24 Jahre alt
wurde. Drei Filme, nur drei, waren es, die seinen Ruhm, seinen Mythos begründeten:
“Rebel ... ” war, nach Elia Kazans “Jenseits von Eden” und vor Stevens' “Giganten”, der
zweite und es war der Film, in dem er am vollkommensten das verkörperte, was hinter der
Existenz des Schauspielers die Essenz des Stars ausmachte.
Als Jim Stark spielt er sich selbst: Die Figur war ein Spiegelbild, zumal Nicholas Ray die
Dreharbeiten offen gehalten, sein ganzes Team zur Mitarbeit ermutigt hat. Dean hat
entscheidende Vorschläge gemacht. Selbst der Name weist auf ihn; seine Freunde, sagt
der junge Plato im Film zu Judy, dürfen zu ihm Jimmy sagen. Genauso wurde Dean von
seinen Freunden (und Fans) zärtlich genannt.
Ray zeigt 24 Stunden aus dem Leben des Jim Stark, der wieder einmal neu in eine Stadt
gekommen ist, weil er in der Schule Schwierigkeiten machte und seine Eltern solche
Probleme schon öfter mit einem Umzug lösten. Betrunken wird er nachts, auf der Straße
liegend, von der Polizei aufgegriffen. Auf der Wache sind auch Judy, die von zu Hause
weggelaufen war, und Plato, der auf junge Hunde geschossen hatte. Als die Eltern Jim
abholen, macht er ihnen heftige Vorwürfe; bei einem verständnisvollen Polizisten bricht er
zusammen, entlädt seine Frustration, hilflos, befreiend, dadurch, daß er auf einen Tisch
einschlägt.
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Am nächsten Morgen muß er zum ersten Mal in die neue Schule. Er trifft Judy, aber die
zieht es vor, mit ihrer Clique zu fahren. Der zweite Handlungsfaden baut sich auf: der
Kampf um die Anerkennung bei den Gleichaltrigen. Es kommt zur Konfrontation mit der
Bande und ihrem Anführer Buzz.
Nachts treffen sie sich an der Steilküste. Jeder soll mit einem Auto auf den Abgrund
zurasen. Sieger ist, wer als letzter den Wagen verläßt. Ein sinnloses Spiel, meint Jim;
aber irgendwas müsse man halt machen, antwortet Buzz, der Jim gesteht, daß er ihn
mag. Jim kommt vor den Klippen zum Stehen. Buzz verklemmt sich in der Tür.
Der Rest ist schnell erzählt: Obwohl seine Eltern abraten, will Jim zur Polizei. Von dort
kommen Buzz' Freunde, die sich an ihm rächen wollen. Mit Judy versteckt er sich in
einem leeren Haus am Observatorium. Plato kommt dazu. Während Judy und Jim sich
ihre Liebe gestehen, verfolgen die anderen Plato, der einen von ihnen anschießt. Ein
großes Polizeiaufgebot rückt an, umstellt das Planetarium, in dem sich Plato verborgen
hat. Jim überredet ihn zum Aufgeben. Mit dem Revolver kommt er vor die Tür, ein
nervöser Polizist, nicht wissend, daß Jim das Magazin entfernt hatte, erschießt ihn; ein
zweiter sinnloser Tod.
Doch, man kann das schnell erzählen. Wie immer verschwindet dabei nahezu alles, was
den Film weit mehr ausmacht als der Inhalt: die Bilder, die Farben, das Licht, die
Bewegung, die Schwenks, die Montagen. Auf den Inhalt reduziert, erscheint “Rebel ... ”
wie einer jener Filme von halbstarken Jugendlichen und ihren Problemen mit den Eltern,
den Vertretern einer saturierten, materiell orientierten Gesellschaft.
Rays Film ist mehr, schon weil Deans Jim mehr ist als ein Halbstarker. Gewiß, er
protestiert, lehnt sich auf gegen den Vater, will nicht werden wie er – und läßt doch immer
wieder spüren, daß er ihn mag und braucht, aber eben stark, ehrlich, glaubwürdig, mutig
und nicht als Pantoffelhelden, der Konflikte meidet und den Weg des geringsten
Widerstandes geht. Väterliches Fehlverhalten wird auch bei Judy und Plato thematisiert:
Judy sucht Zärtlichkeit und wird vom Vater abgewiesen, der dem kleinen Bruder das gibt,
was er der älteren Tochter verweigert. Und Platos Vater ist ganz abwesend: nicht einmal
ein Brief erreicht den sehnsüchtigen Sohn, nur ein vorgedruckter Scheck.
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Bei Judy, der schon sehr damenhaften, bei Plato und vor allem bei Jim: hinter der
Rebellion scheint die Sehnsucht durch, die Suche nach Anerkennung, nach Liebe, nach
Geborgenheit. Rays Jugendliche sind alleingelassen, überfordert. Jim, der sich in Judy
verliebt, muß bei ihr die Rolle des Gatten spielen, und beide sind für Plato Ersatzeltern.
Die Ruhe, die Gelassenheit, die Kraft, mit der Jim Judy tröstet, Plato zum Aufgeben
überredet, sie zeigen, wie nahe Schwäche und Stärke beieinanderliegen. Jim weint und
heult, aus ohnmächtiger Wut wie aus hemmungsloser Enttäuschung: eine archetypische
Figur, der Dean vollkommenen Ausdruck verleiht – ein Gesicht, aus dem unendliche
Zärtlichkeit und unendliche Verletzbarkeit spricht.
Kein Zweifel, “Rebel ... ” ist Deans Film. Aber es ist auch der Film des großen Regisseurs
Nick Ray. Er hat auch die Geschichte erfunden, und ist es ein Zufall, daß der
verständnisvolle Polizist seinen, Rays, Namen trägt? Ray hat viele schöne Filme
gemacht, aber dieser ist sein Meisterwerk, der größte in einem gewaltigen Œuvre, auch
wenn es zahlenmäßig klein ist, wenn die Bosse Hollywoods ihn demütigten und zwanzig
Jahre lang keinen Film machen ließen.
Wir aber wissen, daß er für die fünfziger Jahre das ist, was Hawks für die Dekade vorher
war. Wir wissen es, seit uns Godard, Truffaut, Rivette und Rohmer zuerst als Kritiker und
dann als Regisseure die Augen dafür geöffnet haben. Ohne Ray kein Godard – er hat auf
den Punkt gebracht, was Rays Filme sind: pures Kino, nichts als Kino, aufwühlend,
emotional und doch intellektuell. Wim Wenders hat diesem Mann mit dem radikalen,
einmaligen “Nicks Film” nicht nur beim Sterben, sondern auch dazu geholfen, doch noch
einen Film machen zu können.
Hans Gerhold
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29 Der eiskalte Engel
Le Samouraï (Frankreich 1967)
Regie: Jean-Pierre Melville. Buch: Jean-Pierre Melville, nach einem Roman von Goan
McLoad. Kamera: Henri Decae. Musik: François de Roubaix. Darsteller: Alain Delon,
Nathalie Delon, François Perier, Cathy Rosier. Länge: 98 Minuten. Vertrieb: neue atlas
medien.
Jean-Pierre Melvilles “Le Samouraï” ist die ästhetische Vollendung des französischen
Unterweltfilms, ein Werk, das in seiner rigorosen Stilisierung fast etwas Abstraktes hat:
Kino in Reinkultur, das seine Vorbilder überwand und in der Perfektion seiner
Inszenierung nur noch auf sich selbst verweist.
Dieses elegische Requiem für einen Killer überzeugt nicht nur als Studie über Einsamkeit
und Entfremdung; es ist zugleich, durch rauschhafte Schönheit und Transponierung
musikalischer Bilder und Töne in erlesene Einstellungen, Inkarnation dieser Isolation. In
der Unvermeidbarkeit aller Situationen einer antiken Tragödie verwandt, bildet dieses
Experiment mit Kunstfiguren den gelungenen Versuch, fortschrittlichste ästhetische
Formen am Beispiel einer Gangstergeschichte in populäre Kino- und Erzählmuster
umzusetzen.
Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Samurai, es sei denn die des Tigers im
Dschungel. Der Satz, angeblich aus dem Samurai-Buch “Bushido”, jedoch von Melville
erfunden, leitet als Motto den Film ein und beschließt ihn, gesprochen vom Kommissar,
der damit dem Protagonisten Jeff Costello (Alain Delon) eine letzte Ehre erweist. Jeff ist
beides: Tiger und Samurai. Im Verlauf einer Geschichte, die linear, chronologisch und
präzise wie ein Uhrwerk abläuft, wird Jeff in den letzten Tagen seiner Existenz
beobachtet: als philosophischer Held.
Der professionelle Killer Jeff Costello verläßt seine Wohnung, verschafft sich ein doppelt
abgesichertes Alibi und tötet den Besitzer eines eleganten Pariser Nachtclubs. Bei einer
Polizei-Razzia festgenommen, muß er, da sein konstruiertes Alibi nicht zu erschüttern ist,
freigelassen werden. Von der Polizei weiterhin als Hauptverdächtiger angesehen und
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somit eine Gefahr für seine Auftraggeber, wird er bei der Entgegennahme seines Lohns
angeschossen.
Mit einer Wunde im Arm verbirgt er sich mehrere Tage in seiner Wohnung. Bei ihrem
Verlassen setzt eine großangelegte Verfolgungsjagd der Polizei ein, der Jeff in der Metro
entkommt. Jeff erhält einen neuen Auftrag, sucht jedoch den Chef des Gangstersyndikats
und erschießt ihn. Im Nachtclub provoziert er die Polizei, indem er den Revolver auf das
vorgesehene Opfer, eine schwarze Pianistin, richtet, und wird erschossen. Der Revolver,
den er in der Hand hält, ist leer: Jeff hat Harakiri begangen.
Mit der logischen Konsequenz, mit der er einst tötete, inszeniert Jeff seinen eigenen Tod.
Der ist in einem erzählerischen Paradoxon von Anfang an vorgegeben, wenn er in der
ersten Einstellung wie aufgebahrt in seinem Zimmer auf dem Bett liegt und nur der Rauch
seiner Gitane erkennen läßt, daß er lebt. Jeff, dessen tödliche Handlungen in ihrem
Prozeßcharakter von Melville registriert werden, der keine Entwicklung, kein Ziel hat, es
sei denn der Tod, lebt in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Bewegung und
Starre, Realität und Traum, Leben und Tod.
Sein Arsenal an Gesten und Riten ist die einzige physische Manifestation von Jeffs
Existenz. Melville versucht erst gar nicht, Pseudoerklärungen zu Jeffs potentieller
Herkunft zu geben, denn dessen Dasein ist sein Sosein und seine Existenz ist seine
Existenz. Seine Art etwa, sich einen Mantel anzuziehen oder den Hut aufzusetzen, einen
Citroën zu knacken oder seinen Dompfaff zu füttern, ist der Versuch, in einer nicht mehr
zu steigernden Stilisierung von Person und Physis, das Unmögliche zu erreichen.
Gleichzeitig sind es Rituale, deren Unbedingtheit und Vollendung einer tiefen Traurigkeit
entsprechen.
Jeff, der Narziß mit dem Habitus eines Killers, ist von einer Aura der Melancholie
umgeben, der Vergeblichkeit allen Tuns. Der nicht schlecht gewählte deutsche Titel “Der
eiskalte Engel” verweist dabei auf eine außerfilmische Dimension, insofern der
Schauspieler Delon in dieser Rolle die Apotheose seiner Kunst erreichte. Costello ist,
durch seinen Beruf bedingt, kaltblütig, aber die Bedeutungszuweisung “Engel” verweist
auf die Handlungen eines Erzengels, die von Reinheit und Unschuld bestimmt sind.
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Der Tristesse, Einsamkeit, Entfremdung und Kommunikationslosigkeit von Costellos Welt
– Melville hat ihn in einem Interview als schizophren bezeichnet – entspricht ein
ungewöhnlicher Einsatz der Farben, deren Atonalität in verwaschenen Oberflächen
schimmert. Sie entspricht der Atmosphäre dieses trüben Traums wie das Licht, das, als
Schatten oder Halbschatten präsent, Costellos Gesicht zerschneidet oder nur Partien
betont. Die Musik gibt die strenge Stilisierung der Bilder akustisch wieder und setzt ihre
Atmosphäre als emotional äquivalenten Ausdruck vor allem im Hauptthema in sakrale
Harmonien um.
Regisseur Jean-Pierre Melville (eigentlich: Grumbach, 1917-1973) galt zeit seines Lebens
als Außenseiter und wurde von den Autoren der “Nouvelle Vague” als eine Art
Adoptivvater angesehen, weil er als “auteur complet” alle Phasen der Filmherstellung
überwachte. Seine am klassischen amerikanischen Erzählkino geschulten Filme, die als
Literaturverfilmungen (Vercors, Cocteau) begannen, überwanden jedoch diese Vorbilder
und erreichten in ihrer stilistischen Reinheit eine solch ästhetische Vollendung, daß
einige, so “Le Samouraï”, “Der zweite Atem” (1966) oder “Vier im roten Kreis” (1970)
bereits bei ihrem Erscheinen als Klassiker galten.
Horst Schäfer
30 Tommy
Tommy (Großbritannien 1974)
Regie: Ken Russel. Buch: Ken Russel, nach der gleichnamigen Rock-Oper von Pete
Townshend und “The Who”. Kamera: Dick Bush. Musik: Pete Townshend und “The
Who”. Choreographie: Gillian Gregory. Darsteller: Oliver Reed, Ann-Margret, Roger
Daltrey, Jack Nicholson. Länge: 111 Minuten. Vertrieb: EuroVideo.
Als Pete Townshend und seine “The Who”-Band 1968 “Tommy” auf Schallplatte
präsentierten, gaben sie der neuen Form ihrer Musik (durchgehende Handlung anstelle
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einzelner Songs, keine gesprochenen Texte) die Bezeichnung “Rock-Oper”. Das Stück
wurde ein internationaler Hit und hielt Einzug in Opernhäuser, Konzertsäle, Music-Halls
und Fußballstadien.
“Tommy” ist die Geschichte eines Jungen, der als Kind mit ansehen mußte, wie sein Vater
(ein Kriegsheimkehrer) vom Liebhaber der Mutter erschlagen wird. Der Schock raubt
Tommy die Sinne: Fortan ist er blind, taub und stumm. Obskure Heilungsversuche (unter
anderem wird Tommy der Behandlung von Fetischisten und Sadisten anvertraut), bringen
nicht den gewünschten Erfolg, sondern entwickeln lediglich Tommys Talent am FlipperAutomat, wo er es zu ungeahnter Perfektion und Meisterschaft bringt.
Flippern wird seine wahre Berufung, seine Bestimmung, und er steigt auf zum
charismatischen Idol der Massen. Als seine Mutter ihn eines Tages in einen Spiegel stößt,
ist er plötzlich geheilt, der Größte nun, ein selbsternannter Messias der HippieGeneration, dem seine Anhänger ergeben folgen. Die Kultfigur wird kommerzialisiert und
vermarktet. Als eine aufgeputschte Menge ihre Erwartungen nicht erfüllt sieht, verwandelt
sich die fanatische Vergötterung in blindwütigen Haß, der ihr Idol vernichtet.
“Tommy” ist die brillante Selbstdarstellung der Pop-Generation; die traumatische
Atmosphäre der Musikvorlage hat Regisseur Ken Russel in kongeniale, provozierende
Bilder umgesetzt. Der Rhythmus der Songs überträgt sich auf den Film-Schnitt; es gibt
verblüffende Übergänge und Auflösungen, ergreifende, aufwühlende und bewußt
kitschige Szenen.
Russel greift voll in die Klaviatur der Kino-Maschine; seine Spannbreite reicht von
bombastischen Arrangements bis hin zu sensiblen Beobachtungen; seine Inszenierung ist
schwelgerisch, sentimental, ironisch und schockierend zugleich. So produziert er
absichtsvoll “schöne” Bilder, um sie gleich danach durch harte Schnitte und Kontraste zu
zerstören. Wie kaum ein anderer Regisseur kann Russel mit Bildern und auch
ausschließlich durch sie erzählen. Eine ganze Videoclip-Generation zehrt heute von
seiner Kreativität und seinen Vorgaben, und sie wird Mühe haben, ihn zu übertreffen.
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Zu den Höhepunkten des Films zählt die Szene, in der sich Tommys Mutter – durch das
Schicksal ihres Sohnes zu Wohlstand gelangt – in ihrem Zimmer (eine clean-sterile,
weiße Wohnraumgestaltung) TV-Reklame ansieht. Eine unerträgliche Konsum- und
Werbewelt wird bis zum “Erbrechen” vorgeführt: Das Gerät kotzt sich im wahrsten Sinne
des Wortes aus; ganze Wellen von Bohnen, Champagner, Schokolade und Waschpulver
ergießen sich in den Raum und vermatschen sich zu einem unästhetischen Brei.
Ken Russel fand für seine Filmkonzeption die volle Zustimmung des “The Who”-Teams
Pete Townshend, Roger Daltrey, John Entwistle und Keith Moon, die alle mitspielen,
wobei sich Sänger Roger Daltrey in der Titelrolle als Idealbesetzung erweist. Als GastStars wirken außerdem Eric Clapton, Tina Turner und Elton John mit: Der hat als FlipperWeltmeister (der von Tommy besiegt wird) einen grandiosen Auftritt.
Der bekannte englische Entertainer und Fußballmäzen wird durch geschickte KameraEinstellungen und optische Tricks in Überlebensgröße dargestellt und zum
allesbeherrschenden Mittelpunkt der Rock-Szene: Kultfigur der Flipper-Generation und
Ausdruck eines Lebensgefühls, das er wie kaum ein anderer seines Jahrgangs bis heute
in Musik und Texten verkörpert.
“Tommy” wurde – bei einem vergleichsweise geringen Produktionsetat von 3,4 Millionen
Mark – zu einem Millionenerfolg und Publikumshit. Wie bei anderen Ken Russel-Filmen
auch (“Die Teufel”, “Mahler”, “Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn”), teilte sich die
Filmkritik in zwei Lager. “Tommy” erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, unter
anderem auch das Prädikat “Besonders wertvoll”: Die ironische Skepsis, die die Subkultur
des Rock gegenüber allen traditionellen Mythen, Symbolen und Werten einnimmt (die sie
dann aber doch in ihre dialektisch darauf bezogene Realisation integriert), der
umfassende Beziehungsreichtum und die überspitzte Deutungssucht, die wütende HaßLiebe und bitterböse Aggressivität des Rock seien in diesem Film in überragendem Maße
vergegenwärtigt.
Heinz Kersten
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31 Ich war 19
(DDR 1968)
Regie: Konrad Wolf. Buch: Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf. Kamera: Werner
Bergmann. Bauten: Alfred Hirschmeier. Darsteller: Jaecki Schwarz, Alexej Ejboschenko,
Kalmursa Rachmanow, Jenny Gröllmann. Länge: 119 Minuten. Vertrieb: Verlag Das
Freie Buch.
Ein nebelverhangener Fluß: die Oder. Auf einem Koffergrammophon dreht sich eine
Schlagerplatte. Nach der Musik spricht eine Stimme über das Wasser: “Der Krieg ist
endgültig verloren. Eure Lage ist hoffnungslos.” Ein Floß treibt vorüber mit einem Galgen,
an dem ein Mann in deutscher Uniform aufgeknüpft ist, über der Brust ein Schild
“Deserteur – Ich bin ein Russenknecht”. Und wieder die Stimme über den Lautsprecher
auf einem sowjetischen LKW: “Hört mich an, habt Vertrauen, ich bin Deutscher.” Ein Titel
über dem Bild zeigt das Datum: 16.April 1945.
Damals begann die sowjetische Offensive auf Berlin. Zwei Tage später bricht das
Tagebuch des 19jährigen Leutnants der Roten Armee Konrad Wolf ab. Die letzten
Eintragungen dienen mehr als zwei Jahrzehnte danach, 1968, dem 42jährigen Regisseur
der DEFA Konrad Wolf als Grundlage eines Films über seine Erlebnisse in jenen Tagen:
“Ich war 19.” Das Drehbuch schreibt er mit Wolfang Kohlhaase, einem der besten
Babelsberger Szenaristen, später Autor von drei weiteren Konrad-Wolf-Filmen (“Mama,
ich lebe”, “Der nackte Mann auf dem Sportplatz”, “Solo Sunny”).
Die Kamera führt, wie schon bei acht vorangegangenen Konrad-Wolf-Filmen, Werner
Bergmann. Er hatte, als der Kriegsfreiwillige Konrad Wolf 1943 im Kaukasus seine ExilHeimat zu verteidigen begann, noch als Bildberichter auf Seiten der Invasoren gestanden.
Jaecki Schwarz, der in der Rolle des Gregor Hecker bei der DEFA debütierte, war noch
gar nicht geboren, als der von ihm verkörperte autobiographische Filmheld seine Heimat
wiedersah, die er als achtjähriger Junge verlassen mußte.
1933 war die Familie des jüdischen Arztes Friedrich Wolf, der als kommunistischer
Dramatiker in den zwanziger Jahren bekannt wurde, aus Nazi-Deutschland emigriert.
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Konrad Wolf wuchs in Moskau auf. Mit einem Frontlautsprecherwagen kehrte er als
Agitator 1945 in ein Land zurück, das ihm fremd geworden war und das er als
Feindesland erlebte. Der Film reflektiert seine damalige Suche nach der eigenen Identität.
In vielen Begegnungen macht Gregor Hecker, Wolfs alter ego im Film, erste Erfahrungen
mit seinen ehemaligen Landsleuten, die inzwischen von zwölf Jahren Nazismus geprägt
sind.
Aus mehreren Episoden, die jeweils mit der Einblendung des Tagesdatums beginnen und
durch Erläuterungen der Situation mit Gregors Kommentarstimme verbunden sind, ersteht
ein wahrhaftiges Bild jener letzten Kriegsphase. Der Film brach dabei mit einer
propagandistischen Betrachtungsweise, die bis dahin Darstellungen des Kriegsendes in
DDR-Medien beherrscht und so einer gewissen Legendenbildung Vorschub geleistet
hatte. Er machte zwar deutlich, daß die deutsche Niederlage Befreiung vom Faschismus
bedeutete, aber er ließ auch keinen Zweifel, daß wohl nur wenige Deutsche jene Tage mit
diesem Gefühl, befreit worden zu sein, erlebten. Der Einmarsch der Roten Armee wurde
nicht mehr als Triumphzug vorgeführt.
Im märkischen Städtchen Bernau wird Gregor – wie damals Konrad Wolf – für einen Tag
als Ortskommandant eingesetzt und kommt dort in ein Haus, wo eine alte Frau gerade
Selbstmord begangen hat. Nur ein junges Flüchtlingsmädchen ist noch zurückgeblieben,
verängstigt und ohne Hoffnung. Später bittet es, in der als Kommandantur
beschlagnahmten Wohnung übernachten zu dürfen, und kommentiert diesen Wunsch mit
den bezeichnenden Worten: “Lieber mit einem als mit jedem!”
In manchen Episoden mischt sich Tragisches mit Komischem, stehen auch Kontraste
nebeneinander. Ein deutscher Major, auf seiner Dienststelle von den Russen überrascht,
meldet sich bei seinen Vorgesetzten telefonisch ab in Gefangenschaft. In die fröhliche
Siegesfeier der Rotarmisten am 1. Mai in Sanssouci kommen aus dem Zuchthaus befreite
deutsche Antifaschisten, noch gezeichnet von dem eben überstandenen Grauen. In
einem Dokumentarfilmausschnitt erläutert der Henker des KZ Sachsenhausen ungerührt
und sachlich den Todesmechanismus der Gaskammer; kontrapunktisch trifft Gregor in
unmittelbarer Nachbarschaft des Lagers auf einen Landschaftsgestalter, der inmitten von
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Klassiker-Bänden in die innere Emigration gegangen war und jetzt über die
Unveränderbarkeit des Menschen philosophiert.
“Ich war 19” wirkt durch seine Authentizität, zu der auch der Verzicht auf Farbe und ein
Bildstil beitragen, der bewußt jede Kunstfertigkeit vermeidet und durch eine frei
gehandhabte Kamera der Arbeit eines Kriegsberichterstatters unter Frontbedingungen
gleicht. Unter den vielen Filmen über den Zweiten Weltkrieg wird Konrad Wolfs “Ich war
19” Bestand haben als das sehr persönliche Zeugnis eines Regisseurs, dessen viel zu
früher Tod im März 1982 nicht nur für die Filmkunst der DDR einen unersetzlichen Verlust
bedeutete.
Walter Schobert
32 Tote schlafen fest
The Big Sleep (USA 1946)
Regie: Howard Hawks. Buch: William Faulkner, Leigh Brackett, Jules Furthman, nach
dem Roman von Raymond Chandler. Kamera: Sid Hickox. Musik: Max Steiner.
Darsteller: Humphrey Bogart, Laureen Bacall, John Ridgely, Louis Jean Heydt, Martha
Vickers, Dorothy Malone. Originallänge: 114 Minuten. Vertrieb: Warner Horne Video.
Der Regisseur, gefragt, worauf sich der Titel beziehe, antwortet dem Interviewer Peter
Bogdanovich: “Ich weiß es nicht, wahrscheinlich auf den Tod. Es klingt einfach gut. Die
Story habe ich nie verstanden. Ich habe sie gelesen und war davon entzückt. Wir haben
lediglich versucht, jede Szene so unterhaltsam wie möglich zu machen. Von der
Geschichte verstanden wir nichts. Ich wurde gefragt, wer hat den und den getötet – ich
wußte es nicht. Man schickte dem Autor ein Telegramm ... ” Der gesteht, noch Jahre
später: “Verdammtnochmal, ich wußte's selber nicht ... ”
Ungewöhnlich? Nicht für den, dem schon beim Lesen der illustren Namen im Vorspann
das Wasser im Munde zusammenläuft. Chandler, dem ist es nie um einen “Krimi” zu tun
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gewesen, bei dem die Suche nach dem Täter die Geschichte am Laufen hält; am
“whodunit” war er nie interessiert, genausowenig wie Hawks. Der holte sich für das
Drehbuchschreiben einen weiteren prominenten Autor – und seine langjährige
Mitarbeiterin Leigh Brackett, und machte mit ihnen einen Film, in dem der Plot fast schon
nebensächlich ist. Dafür ist jede einzelne Szene eine aufregende Geschichte für sich.
Hawks, auch einer von denen, die hierzulande spät erst und gleichsam aus zweiter Hand
entdeckt wurden, auch er von den Kritikern und nachmaligen Regisseuren der Neuen
Welle – Hawks hat Chandlers Roman bis zur Unkenntlichkeit verändert, weit mehr, als
daß der Film nur eine weitere Bestätigung der Binsenweisheit von der Unvereinbarkeit der
beiden Medien Literatur und Kino wäre. Ein Vergleich zwischen beiden führt in diesem
Fall zu der beglückenden Erkenntnis, daß uns ein wunderbares Buch und ein
fantastischer Film geschenkt wurden.
Man sollte sich das Vergnügen gönnen, beides zu tun: zu lesen und zu sehen. Und weil
es sich um einen “Krimi” handelt und wegen der schon demonstrativen Gleichgültigkeit
Chandlers und Hawks' gegenüber der Story, darf, muß auf das obligate Inhaltsreferat
verzichtet werden. Nur soviel: Private Eye Philip Marlowe wird von einem alten General
gebeten, eine Erpressung aufzuklären, in die eine seiner Töchter verwickelt ist. Schon die
limitierte Filmlänge zwang Hawks zu Kürzungen, Verdichtungen. Sicher hat er auch die
Zensur einkalkuliert; er verzichtet auf die Motive Homosexualität und Pornographie als
kriminellen Nährboden. Am Ende wird der Gangster Eddie Mars als Schuldiger entlarvt
(und muß sterben) und eben nicht die kranke, triebhaft-laszive Generalstochter; auch das
dürfte dem “production code” zuzuschreiben sein.
Es fehlt bei Hawks auch jeder Hinweis auf die abgrundtiefe Skepsis Chandlers, dessen
Marlowe von einer total verdorbenen und perversen Gesellschaft umgeben ist, die ihre
Geschäfte indes nur so ruhig abwickeln kann, weil sie von einer korrupten Polizei und
Justiz gedeckt und protegiert wird. Im “Langen Abschied” steht der bestürzende Satz: “Es
gibt Orte, wo Polizisten nicht verhaßt sind, Herr Hauptkommissar. Aber da wären Sie auch
kein Hauptkommissar.”
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Das Fehlen dieser Dimension im Film mag man bedauern. Wichtiger aber ist, daß Hawks
an der Figur des “Schnüfflers” kein Jota geändert hat: ein Mann Ende Dreißig, gebildet,
aus dem Justizdienst ausgeschieden, illusionslos, integer, loyal gegenüber den Klienten,
geprägt von dem “Bewußtsein von der Kaputtheit der Welt“, der “der allgegenwärtigen
Korruptheit die eigene Unbestechlichkeit, Würde, Ehrlichkeit und Mut zur Kritik”
entgegensetzt (Bettina Thienhaus). Einer, der öfter Prügel bezieht als austeilt.
Bogart ist die Idealbesetzung für diesen Marlowe. “Big Sleep” ist sein Film, er beherrscht
ihn – fast. Denn eine kann mithalten: Laureen Bacall. Sie waren ein Traumpaar, im Film
und im Leben. Hawks hatte sie entdeckt und sie für die Hemingway-Verfilmung “To Have
and Have Not” vor die Kamera geholt – neben Bogart. Wie es zwischen beiden funkt, das
raubt einem heute noch den Atem. Nach “Big Sleep” heirateten sie. Es war eine der
glücklichsten Ehen Hollywoods, und Hawks machte die erotische Spannung zwischen
beiden ungeheuer produktiv. Von ihrer ersten Begegnung über die herrliche
Telefonsequenz bis zum Schlußdialog: eine Szene schöner als die andere, traumhaftes
Kino.
Die Bacall verkörpert, mit ihrer Ausstrahlung, ihren langsamen, fast schon trägen
Bewegungen, nicht nur das typische “good bad girl”, sondern ist eine “hawksian woman”,
eine jener starken, selbstbewußten, den Männern ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen
Frauen, die bei Hawks so oft zu finden sind und denen seine Filme einen Großteil ihrer
faszinierenden Modernität verdanken.
Neben dieser Frau hat es selbst ein Bogart nicht leicht, so sehr seine Präsenz den Film
dominiert und Hawks auf ihn hininszeniert. “Big Sleep” war der Film, der nach Hammett/
Houstons “Malteser Falken” und nach “Casablanca” seinen Mythos am nachhaltigsten
begründete. Wer ihn gesehen hat, wird nicht vergessen, wie er das Ohrläppchen reibt, die
Daumen in den Gürtel bohrt, die Oberlippe zurückzieht, hinterlistig die Zähne bleckt:
“Bogie in excellsis”, jubelte Bogdanovich.
Der Film spielt übrigens in L. A. Aber in dieser Stadt gibt es keine Sonne. Es regnet (der
Trench darf ja nicht fehlen), es ist Nacht, Nebel wabert. Neben dem forcierten
Erzähltempo Hawks' ist es vor allem die dichte Inszenierung der Atmosphäre, die fesselt.
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Schon in der Treibhausszene am Anfang überträgt sich die Hitze nicht nur auf Bogart,
sondern auch auf den Zuschauer. Meisterhaft der Umgang mit dem Licht (und dem
Schatten), den Räumen.
Hawks wollte immer nur ein einfacher “storyteller” sein und ist darüber zu einem der
größten, wenn nicht zum größten Regisseur des amerikanischen Erzählkinos geworden –
ein Profi, der ihn in seinen Filmen immer wieder feierte, den Profi, ob er Flieger, Sheriff
oder Detektiv war. Hawks war in vielen Genres zu Hause und hat Kriegsfilme und
Western ebenso gemacht wie Melodramen und Komödien. Für seinen Biographen Robin
Wood war “Big Sleep”, das Meisterwerk, nur ein “failure”. Daran kann man sehen, wie
überragend erst seine anderen Filme sein müssen.
Meinolf Zurhorst
33 Die Faust im Nacken
On the Waterfront (USA 1954)
Regie: Ella Kazan. Buch: Budd Schulberg. Kamera: Boris Kaufmann. Musik: Leonard
Bernstein. Darsteller: Marlon Brando, Karl Malden, Lee J. Cobb, Eve Marie Saint, Rod
Steiger. Länge: 107 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Die klare Schwarz-Weiß-Fotografie, die realen Schauplätze im Hafen, an denen man
sogar den Atem der Schauspieler sehen kann, nächtliche Straßen mit richtigem
Kopfsteinpflaster, verqualmte Kneipen mit echten Typen – Hollywood hatte die
Wirklichkeit entdeckt. Gewerkschaft, Arbeiter, das war in dem Studiosystem der
Traumfabrik ein unbequemes Sujet. Nicht zuletzt beeinflußt durch die Wochenschaureihe
“March of Time” hatte sich in den späten vierziger Jahren das Genre des
semidokumentarisehen Thrillers entwickelt. Der Regisseur Elia Kazan galt nach seinen
Filmen “Boomerang” (1947) und “Partie in the Streets” (1950) als einer der bedeutendsten
realistischen Filmemacher.
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Basierend auf Pulitzer-preisgekrönten Artikeln von Malcolm Johnson über die Korruption
an den New Yorker Docks, schrieb Budd Schulberg das Drehbuch. Kazan und Schulberg
suchten nach authentischen Schauplätzen in den Docks von New York und New Jersey,
fragten Gewerkschaftler und Arbeiter und entschlossen sich, den Film vor Ort, “on
location” zu drehen. In einem Interview gab Kazan später zu, von den
Arbeiterorganisationen während der Dreharbeiten peinlich genau beobachtet worden zu
sein und, um Störungen zu vermeiden, auch Schmiergelder gezahlt zu haben. Die
Geschichte amerikanischer Gewerkschaften, besonders die der Hafen- und
Transportarbeiter, war immer auch eine des organisierten Verbrechens. “Die Faust im
Nacken” beschreibt das Funktionieren von dessen Strukturen im kleinen. Terry Malloy
(MarIon Brando), ein ehemaliger Boxer, der nun am Hafen herumlungert und von
Gelegenheitsjobs lebt, wird zum Handlanger der lokalen Gewerkschaftsorganisation, die
von dem brutalen Johnny Friendly (Lee J. Cobb) geführt wird. Terrys Bruder Charlie (Rod
Steiger) hat sich als korrupter Rechtsanwalt in den Dienst der Gewerkschaft gestellt.
Eines Abends lockt Terry ahnungslos einen aufsässigen Hafenarbeiter in eine Falle.
Durch den Tod des Mannes lernt er dessen Schwester Edie (Eve Marie Saint) kennen.
Edie und der kampfbereite Priester Vater Barry (Karl Malden) drängen Terry dazu, mit
Friendly und dessen Handlangern zu brechen. Doch erst nach dem Tod eines weiteren
Hafenarbeiters, der gewagt hatte, bei der Polizei über die Machenschaften der
Gewerkschaft auszusagen, beginnt sich Terry zu verändern. Sein Bruder Charlie
bekommt derweil den Auftrag, ihn zum Schweigen zu bringen, bevor er dem Drängen des
Priesters nachgeben könnte. Doch Charlie kann seinen Bruder nicht umbringen und endet
deshalb selbst an einem Fleischerhaken. Terry aber entscheidet sich, vor einer
Kommission gegen Friendly auszusagen. Damit hat er sich das gesamte Dock zum Feind
gemacht. Jeder meidet ihn als Verräter. Terry geht daraufhin geradewegs in die Höhle des
Löwen und fordert Friendly zum Kampf heraus. Die Schlägerei sichert ihm den Respekt
der Docker und alle folgen ihm zur Arbeit. Die Macht der korrupten Gewerkschaft scheint
gebrochen.
Man hat dem Film, zu Unrecht, vorgeworfen, antigewerkschaftlich zu sein. “Die Faust im
Nacken” prangert nur eine bestimmte, entartete Form gewerkschaftlicher Aktivitäten an,
wie sie nur in den USA existiert: Meist vorgeblich ethnisch orientierte Organisationen
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verübten unter dem Vorwand, die Rechte zu wahren, nichts anderes als Erpressung und
“Rakketeering”.
Eigentlicher Höhepunkt des Films aber sind die darstellerischen Leistungen. Allen voran
Marlon Brando, der für seine Rolle seinen ersten Oscar erhielt (und auch annahm). Er
war, trotz James Dean oder Montgomery Clift, der Rebell Hollywoods. Mit “Die Faust im
Nacken” versuchte Brando erfolgreich, diesem Image zu entkommen. Er zeichnete den
Terry Malloy fern jeglichen romantischen Rebellentums als eine beschränkte, fast
tragische Figur, die mit dem allmählich zunehmenden Bewußtsein über die eigene Schuld
unversehens Größe gewinnt. “Marlons darstellerische Kunst in diesem Film ist das
Größte, was je ein amerikanischer Filmschauspieler geleistet hat”, äußerte sich Elia
Kazan über seinen Star.
Elia Kazan war 1947 neben Robert Lewis und Cheryl Crawford eines der
Gründungsmitglieder des berühmten “Actors Studio” – einer schauspielerischen
Ausbildungsstätte, die den Theorien Stanislawskis folgte. Marlon Brando war schließlich
der erste aus dem Actors Studio, dem es gelang, komplizierte psychische Vorgänge
realistisch auf die Leinwand zu bringen, in einer Weise zudem, bei der sich kaum mehr
unterscheiden ließ zwischen Rollen- und persönlichen Elementen. Nahezu revolutionär
wirkte sein ungeschliffener, nuschelnder, kaum verständlicher Sprachstil (von dem in der
deutschen Version allerdings nichts mehr übrigblieb), der der eher deklamatorischen
Sprechweise beispielsweise britischer Darsteller diametral entgegenstand. Der unter dem
Namen “Method Acting” bekannt gewordene Schauspielstil, die Verbindung von
Psychologie und Realismus, prägt bis heute ganze Darstellergenerationen.
In “Die Faust im Nacken”, stammten nahezu alle Mitwirkenden aus dem Actors Studio –
der Film ist daher das beste Beispiel, die verschiedenen Ausprägungen und persönlichen
Variationen des “Method Acting” auf der Leinwand zu beobachten.
Leo Schönecker
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34 Das 1. Evangelium Matthäus
Il vangelo secondo Matteo (Italien 1964)
Regie: Pier Paolo Pasolini. Buch: Pier Paolo Pasolini, nach dem Matthäus-Evangelium.
Kamera: Tonino Delli Colli. Darsteller: Enrique Irazoqui, Margherita Caruso, Susanna
Pasolini. Länge: 136 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
Der Film über das Leben Jesu. Christi von der Geburt bis zur Auferstehung paßt – nach
23 Jahren – auch in die Situation unserer Tage, ebenso wie Pasolinis Einschätzung der
Vorlage: “Ohne moralisierendes Bemühen ist das Matthäus-Evangelium ein Beispiel
großer Strenge und absoluter Kompromißlosigkeit – das ist sein besonderer Wert für
unsere Zeit.”
Den historischen Bericht des Evangelisten setzte er wortgetreu gerafft in konkrete,
psychisch bewegende Bildwirksamkeit um, indem er weniger das statuarische
Erscheinungsbild als das entschiedene Eingreifen Christi nach Maßgabe der Worte
akzentuierte. Dabei verzichtete er auf bei Historienfilmen übliche Schaubilder und
spektakuläre Schauspieler, mied jeden gefühlerregenden Aufwand und künstliche
Kulissen. Schlichte Volksmusik aus verschiedenen Erdteilen, zentral ein Negro-Spiritual
bei der Taufe, dominieren neben Bach, Webern, Prokofjew. Einfache Menschen, umhüllt
mit Decke und Kopftuch, natürliche, ungeschönte, unvergängliche Gesichter wie aus dem
Mittelalter, führen uns, als seien sie tatsächlich die ersten Zeugen christlicher Begegnung,
gottmenschliche Wirkkraft über alle Zeiten vor, ziehen uns in die Handlung wie kein
anderer Christusfilm seit neun Jahrzehnten. Wunder zeigen sich wie ganz natürliche,
logische Vorgänge.
Aber es geht nicht um einzelne, erstaunliche Geschichten, sondern um eine einzige
unerbittliche, stürmische Folge bedingungsloser Auseinandersetzung. Verfolgung und
Leiden nehmen insgesamt den längeren Raum der Ausschnitte ein, doch das wichtigste
Ereignis hebt sich (künstlerisch fragil) heraus: die Auferstehung. Sie wird, vom Anfang des
Films her betrachtet, in eine zurückhaltende Entsprechung gebracht zu den Momenten
der Geburt: der stillen, noch ängstlichen Sorge des Nichtverstehens der Verheißung
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entspricht eingangs die stumme Szene vor Bewußtwerden der im Grunde unvorstellbaren
Wirklichkeit, der sieghaften Freude der Erfüllung; dazwischen die stufenweise sich
vollziehende Entwicklung des zum Höchstmaß gesteigerten Schmerzes am Beispiel der
trauernden Gottesmutter, die Pasolinis 65jährige Mutter so nachempfindbar verkörpert,
daß auch der ungläubige Betrachter das Geschehen spüren kann, als habe er es damals
ganz miterlebt.
In seinen vorausgegangenen sozialkritischen Filmen “Accatone” (1961) und “Mamma
Roma” (1962), wiederholen sich Hinweise auf das Matthäus-Evangelium mit
leidenschaftlichem Engagement für die Armen und Unterdrückten.
Pasolinis gültiger Entwurf aktueller Heilsgeschichte trifft persönlich herausfordernd. Seine
“subjektive” Betonung wird dem existentiellen Anspruch Christi gerecht: Das Gebot der
Nächstenliebe kommt als entscheidendes Wort auch ins Bild und kontrastiert mit den
“reaktionären” Gegenbildern der hochmütigen Reichen, der skrupellosen Händler und
unbedachten Konsumenten, deren Verhalten schon so stumpf und hoffnungslos, so
einseitig blind ist, daß sie eine religiös formende, Hilfe formierende Menschlichkeit nicht
mehr wahrnehmen können, geschweige denn gegenseitig annehmen wollen.
Wie Pasolini Jesu Worte zu Bildern und die rasante Folge der Bilder zu vorbehaltlosen
Ant-Worten werden läßt, überträgt sich auch sein Gesamtbild der notwendigen Befreiung
von weltlicher und institutioneller Macht, von der Macht schlechthin; es ist der
ausdrückliche – im religiösen, politischen und künstlerischen Sinne: “klassische” – Auftrag
zur seit Christus “ewigen” Opposition seiner Anhänger gegen den Kaiser (“Gib dem
Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist”), weil man es ihm nicht ebenso recht
machen kann wie Gott, so daß eine absolute (ideelle und praktische) Gleichschaltung
zwischen weltlicher Herrschaft und religiösem Anspruch nicht möglich – das heißt hier:
nicht erlaubt sein kann.
Pasolinis Interpretation akzentuiert mit dem kommunikativen und “missionarischen”
Auftrag die Tatsache, daß Christus (im Gegensatz zu zyklisch angesehenen Göttern
früherer Religionen) von einem Ende der Welt – nicht von ihrer ewigen Wiederkehr –
gesprochen hat und sich hierin die größte Hoffnung ausdrückt, immer in der Nachfolge
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des dreieinigen Gottes und niemals allein, ohne ihn zu sein (“... und lehret sie halten alles,
was ich Euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.
”)
Auffallend ist, daß Pasolinis neu betonte Heilsgeschichte nicht in einer “modernen”,
industrialisierten, fortschrittlich entwickelten Welt abläuft, auch nicht nur in bäuerlicher
Umgebung, sondern in einer unterentwickelten Landschaft seines Vaterlandes (Sizilien
und Kalabrien), die, vergleichbar mit der Wort-Bild-Deutung der Geschichte, zugleich
erschreckend und schön erscheint, weil ihre sinnliche Anschaulichkeit und historische
Rückschaubarkeit nicht nur ästhetisch vielfältige Gegensätze, Reize und Widersprüche
offenlegen: ihre soziale Rückständigkeit einerseits, die bestehende Unverfälschtheit und
Unverdorbenheit andererseits entsprechen Pasolinis antithetischer Begriffsbildung aus
historisch-idealistischer Welt-Anschauung. Sein realistischer Avantgardismus, der eine (in
Italien vorgeübte) vorstellbare Verbindung eines auf Christus und Marx basierenden,
unschematischen, aber gerechten Sozialsystems mit Wort und Bild, in Literatur und Film,
gegen Konsumismus, Unfreiheit, bürgerlichen Plunder und Heuchelei zur Diskussion
stellt, fordert angesichts einer “vergessenen” Landschaft, die Volkskultur zu erneuern, die
übergangene Entwicklung menschenwürdiger Gemeinschaft aufzuspüren und
gutzumachen sowie Ansätze für neue Gesellschaftsformen zu finden.
So hat Pasolini diesen Film als Kernstück seines unausweichlichen Auftrags gesehen.
Sein warnender Zorn erfüllt noch sein letztes Gedicht: “Laßt uns umkehren, mit geballter
Faust, und von vorn anfangen. Kein Kompromiß. Es lebe die Armut, der Kampf für die
lebensnotwendigen Dinge ... ”
Der Schriftsteller und Filmregisseur Pasolini (5.3.22 Bologna – 1.11.75 Rom) hat für die
Erkenntnis und Sinngebung des Lebens viel in Bewegung gebracht. Die Erschütterung
über den Mord an ihm beweist, daß sein Tod als Verlust eines in vielfacher Hinsicht
aufrührenden Gewissens empfunden worden ist.
Hans Gerhold
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35 The Purple Rose of Cairo
The Purple Rose of Cairo (USA 1985)
Regie: Woody Allen. Buch: Woody Allen. Kamera: Gordon Willis. Musik: Dick Hyman.
Darsteller: Mia Farrow, Jeff Daniels, Danny Aiello, Dianne Wiest. Länge: 79 Minuten.
Vertrieb: VCL/Virgin.
Mehrfach bereits hatte sich Woody Allen in seinem Werk mit Reflexionen über das Kino,
Film im Film, Realität und Fiktion, (Augen-)Schein und Sein, Illusion und Wahrheit
beschäftigt. In “Mach's noch einmal, Sam” (1971) sprach er als linkischer Filmkritiker mit
seinem Idol Humphrey Bogart, in “Stardust Memories” (1981) sinnt er über sein Metier
nach und beklagt die Anforderungen durch die Fans, in “Zelig” (1983) schließlich schrieb
er sich mit seiner Realitäts-Konstruktion in die leibhaftige Geschichte ein, so daß seine
imaginären Bilder und Töne durchaus als “Allensche Wahrscheinlichkeits-Relation”
(Wolfram Schütte) verstanden werden konnte.
In “The Purple Rose of Cairo” ist ihm das Kunststück geglückt, eine hochintelligente
Reflexion über das Kino und seine Stars, über den Ort legitimer Sehnsüchte und Träume
mit einer elegant-geistvollen Komödie über das Kino als Lebenshilfe zu verbinden. Dabei
beginnt es so trostlos wie in einem Dickens-Roman: Im New Jersey der Depressionszeit
flüchtet sich die kleine Serviererin Cecilia (Mia Farrow) von ihrer eintönigen Arbeit in die
heiligen Hallen des Jewel, des Kinos, in dem die Filme laufen, in denen man aus der
Tristesse des Alltags in die Pharaonengräber Ägyptens auf der Suche nach der
Purpurrose von Kairo flüchten kann, mindestens aber in die Nachtclubs und Hotelsuiten
der Reichen.
Einer dieser unverhohlen eskapistischen Filme ist “The Purple Rose of Cairo”, den Woody
Allen als Mischung aus spätem Ernst Lubitsch und frühem George Cukor anlegt, nicht zu
reden von jenen unzähligen Gesellschaftskomödien, deren Vergnügen für den Zuschauer
nicht zuletzt aus einer Fülle von witzigen Nebendarstellern resultiert wie etwa Edward
Everett Horton, dem hier stellvertretend für die anderen eine Reverenz erwiesen wird.
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Cecilia verliebt sich auf der Stelle, kinomanisch wie sie ist, in Tom Baxter, “Abenteurer,
Forscher, aus der Familie der Baxter aus Chicago”, und muß erleben, daß sich der
Filmheld plötzlich an sie wendet, von der Leinwand mit ihr spricht, herabsteigt und mit ihr
ins wirkliche Leben aus- beziehungsweise einsteigt: Cecilia scheint ihren Anteil an der
Wunderlampe des Films zu bekommen. Doch die Realität erweist sich für Tom Baxter –
mit seinem Spielgeld, seinen Vorstellungen vom Abblenden beim Kuß und seinen
Einschätzungen der Drehbuchautoren als Göttern schwieriger als erwartet. Zumal hinter
den beiden das Chaos ausbricht, da nun die Suche nach der Filmfigur einsetzt, begleitet
vom Stöhnen der Produzenten, Manager, Kinobesitzer und des Darstellers der Rolle, Gil
Shepherd. Ihm wird vorgeworfen, er habe seine Figur zu wirklichkeitsnah angelegt, die
Kontrolle über sie verloren.
Woody Allen ist damit auf eine Situation verfallen, die in der Filmgeschichte zwar nicht
ganz neu ist (die Exposition ähnelt einem verschollenen russischen Film von 1918, “Vom
Film gefesselt”, Regie: N. Türkin), die aber in ihrer Neuformulierung auch ästhetisches
Neuland betritt: Hier verwandelt sich nicht ein Autor in seine Fantasiefigur, sondern eine
doppelt fiktive Filmfigur (Tom) wird in die Realität einer anderen fiktiven Filmfigur (Cecilia)
geschickt.
Somit wird ein kreativer Schöpfungsakt gleichzeitig verdoppelt und rückgängig gemacht –
ein erzählerisches Paradoxon, aus dem sich für den Film fünf Erzählebenen ergeben, die
sich gegenseitig bedingen, verstärken und kommentieren: a) der Film, den wir als
Zuschauer sehen, b) der Film, der in a) gezeigt wird, c) der Film, der sich ergibt, wenn
Personen aus b) (Tom) sich in a) wiederfinden, d) die rein verbalen Interaktionen
zwischen den fiktiven Personen aus a) und b) und e) der Film, der entsteht, wenn
Personen aus a) (Cecilia) sich in b) wiederfinden (komplementär zu c“. Was sich hier als
kompliziertes theoretisches Gebäude formuliert, wird glücklicherweise von Woody Allen so
souverän in eine übermütige Komödie gerettet, daß der jeweilige Übergang von einer
Ebene in die andere wie von selbst abläuft, wie in einer der Endlosschleifen der RaumZeit-Relationen von Hofstaedter. Man kann es auch, in jenem unnachahmlichen
Verquicken von Ernst und Albernheit, Witz und Nachdenken ausdrücken, wie es nur
Woody Allen eigen ist und von Cecilia so gedeutet wird: “Ich habe einen wundervollen
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Mann kennengelernt, er ist nur Fiktion, aber man kann nicht alles haben.” Mit Sicherheit
einer der Sätze, die jeder Cineast auswendig zitieren kann.
Verschiedene Szenen lassen erkennen, wie lustvoll Allen mit seinen Personen jongliert:
die Sequenz, in der Cecilia mit in den Film genommen wird und einer, der
Nachtclubkellner – mitgerissen von der Freiheit, die sich da zeigt – in einen Steptanz
ausbricht; die Reaktion der Gräfin im Film, die eine Zuschauerin angiftet; die Damen des
Bordells, die wegen Toms Idealismus in Tränen ausbrechen; sein Verweis auf die FattyArbuckle-Affäre (1921); eine Bemerkung Toms über die Popcornesser, oder ...
Oder über Cecilia, die sich schließlich doch nicht für Tom, sondern für Gil entscheidet, der
sie dann aber verraten wird, damit Tom in den Film zurückkehrt; jene Cecilia, die dennoch
nicht unglücklich wird, weil sie zum Schluß wieder vor der Leinwand des Jewel sitzt und
bereits einen neuen Helden anhimmelt, Fred Astaire (in einer Szene aus Mark Sandrichs
“Top Hat”, 1935), der unwiderstehlich “Cheek to cheek” singt und vom Himmel aller
Verliebten, ob im Kino oder im Leben.
Thomas Brandlmeier
36 Karl Valentin I und II
Kurzfilme von und mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt. Programmlänge:
jeweils 120 Minuten. Vertrieb: neue atlas medien.
Die zwei Programme mit Kurzfilmen aus der Zeit von 1932-1941 basieren mit Ausnahme
des Films “Beim Nervenarzt” auf Originalsketchen von Karl Valentin und stammen
großenteils aus den 20er Jahren. Liesl Karlstadt ist in allen Sketchen seine Partnerin,
außer in dem Solo “Der Zithervirtuose”. Sie ist Partnerin durchaus auch im kreativen Sinn,
alles andere als eine bloße Stichwortgeberin: “Sie will mir vielmehr vorkommen wie ein
unabtrennbarer, sogar unlösbarer Teil von ihrem Valentin ... Diese beiden gehören
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zusammen, stellen eine Einheit dar – vielleicht wäre er, ohne sie, gar nicht das, was er ist”
(H. H. Kirst).
Soweit die Regisseure der einzelnen Kurzfilme überhaupt bekannt sind, waren sie
verbürgtermaßen stark von Valentins Vorstellungen und Wünschen abhängig. Valentin
war vom Umgang mit den medialen Möglichkeiten fasziniert, ein regelrechter
Medienhandwerker. Er experimentierte mit Fotografie, Tonaufzeichnung, Film, Film auf
der Bühne, baute Maschinenfetische und ein Orchestrion, betrieb ein multimediales
Panoptikum. “Es war – makaber wäre untertrieben – es war konsequent. Bilder haben den
Unglücklichen zeitlebens verfolgt. Optische, akustische, situative Bilder ...” So der
Zeitgenosse Oliver Hassencamp. Diese Kurzfilme sind alles andere als bloße Dokumente
eines genialen Autor-Komikers, sie sind auch filmisches Handwerk ersten Ranges.
Der scharfe Blick für die medialen Möglichkeiten ist besonders deutlich in “Der
Antennendraht” und im “Photoatelier” sichtbar. Im “Antennendraht” gerät Valentin als
vermeintlicher Tonimitator in ein Rundfunkatelier, wo er das gesamte Repertoire
abgenutzter Tonklischees zur Torpedierung eines pathetischen Vortrags der Schillerschen
Glocke einsetzt. Im “Photoatelier” spielen die Fotolehrlinge Valentin und Karlstadt alle
Varianten von ideellem Bild und materiellem Abbild durch. Immer wieder überschneiden
sich Kammerperspektive und Fotoaufnahme. Zu große Personen erscheinen ohne Kopf,
die Gesetze der Optik liefern Anlässe zur Akrobatik, und manche Leute kennt Valentin so
gut, daß ihre körperliche Anwesenheit nicht nötig ist: “Den fotografiere ich auswendig.”
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Lustvoll zerstörerisch sind die Filme gegen
Kulturschrott gerichtet. “Im
Schallplattenladen” verlangt Valentin nach
“billigem Schall”, und als man ihm das Lied
vom “Sanitäterlos” (“Seemannslos”) endlich
bringt, will er es nicht kaufen, sondern
ausrotten. In “So ein Theater” singt ein
Sänger das Lied vom “Verlorenen Glück”.
Die Bühne ist defekt, die Sängerin singt
falsch, die Musiker spielen falsch und als
Höhepunkt der angehäuften Falschheiten
spießt Valentin mit dem Geigenbogen den
falschen Zopf der Sängerin auf. Das
verlogene Lied vom “Verlorenen Glück” wird
schließlich durch den herunterfallenden
Vorhang beendet.
Die Demontage des Bühnenraumes wendet sich dabei auch aggressiv gegen das
Publikum, das solche Unkultur konsumiert. In “So ein Theater” und “Der verhexte
Scheinwerfer” wird das Publikum durch die Ankunft von Handwerkern bedroht. In “Der
verhexte Scheinwerfer” steigt Valentin als Elektriker über die Tische der Gäste, verliert
eine Schraube im Ausschnitt einer Dame und beschwert sich später, als die Schraube aus
ihrem Kleid fällt: “Die ist ja noch ganz warm.” Natürlich reparieren solche Handwerker
nichts, sind aber in der Interpretation ihres fachmännischen Zerstörungswerkes von
bemerkenswerter Talmudistik: “Den haben wir repariert.” Valentin zeigt auf einen anderen
Scheinwerfer: “Und der brennt.” Valentins boshaft verbohrte Antikomik ist voll von solchen
Beispielen. “Man kann doch nicht sehen, daß der Paukenspieler nicht da ist”
(“Orchesterprobe”). Ernst Bloch verdanke ich den Hinweis: “Außerordentliche
Merkwürdigkeiten, die an den kleinen Dingen aufgehen, ›bayrischer Talmud‹.”
Die Handwerker, Orchestermusiker, kleinen Angestellten sind von renitenter
Autoritätsfeindlichkeit. Den Höhepunkt dessen stellt die “Orchesterprobe” dar. Das große
Orchester ist die Entsprechung zur großen Maschinerie im Musikbetrieb. Valentins Kampf
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gegen das Orchesterinventar ist ein Äquivalent zu Chaplins berühmtem Kampf mit der
Maschine. In der Verweigerung von Arbeitsleistung zielt Valentins Disput mit dem
Kapellmeister (Karlstadt) auf die zu verrichtende Arbeitszeit, den Todfeind aller Clowns.
Schon zu Beginn schwebt ihm die Version einer “Pause” vor. Bei Karlstadts Ausruf “Zu
spät!” zückt er die Uhr, und die Ermahnung, nicht mehr und nicht weniger zu spielen als in
den Noten steht, kommentiert er mit: “Mehr auf keinen Fall!”
Bei genauerem Hinsehen, Hinhören sind alle diese Filme gegen den Strich der Zeit, in der
sie entstanden. Elendstendenzen im Kino waren von Goebbels ausdrücklich untersagt.
Sie sind aber unübersehbar zu finden in “Musik zu zweien”, “Das verhängnisvolle
Geigensolo”, “Theaterbesuch” und “Der Firmling”. Im “Theaterbesuch” sollen kulturferne
arme Leute ins Theater gehen. Die Kollision von Elend und Kulturzwang kulminiert in
einem filmisch genialen Kunstgriff: Als sich die Eheleute Valentin/Karlstadt endlich
aufmachen wollen, knipst er das Licht aus, und auf der Leinwand herrscht für eine ganze
Weile totale Finsternis. Schwarz. Im “Firmling” ist der vermeintlich schönste Tag im Leben
des Buben (Karlstadt) eine schreckliche Tragödie aus Armut, Suff des Vaters und
Erniedrigung. “Das nächstemal gehst allein zur Firmung”, mault die Karlstadt. Der
schrecklichste Augenblick kommt kurz vorm Schluß, als Valentin rabiat wird und seinen
Buben mit dem Kellner verwechselt. Er redet ihn mit “Sie” an und der Bub kann nur noch
stottern: “Jetzt kennt der mi nimmer.” Die Blasphemie des Stücks ist volle Absicht. Die
Kirche wollte seinerzeit schon, daß der Bühnensketch “Firmling” unterdrückt wird; der Film
erhielt immerhin ein ›Jugendverbot‹. Diese äußersten Formen der Entfremdung bei
Valentin haben den jungen Brecht fasziniert. “Wer lernen will, wie man ein Drama macht,
muß zu Valentin gehen”, hat Brecht bekannt.
Oft muß man auch ganz genau aufpassen, um die letzte Infamie des Valentinesken
mitzukriegen. H. G. Pflaum schreibt über die “Orchesterprobe”: “(Sie) entstand, auch dies
sollte man nie übersehen, in dem Jahr, als die Nazis an die Macht kamen: Der Film
handelt auch von einem individualistischen Querulanten, der sich seine eigenen
Meinungen nicht austreiben läßt, der am Ende inmitten des Orchesters sein eigenes
Tempo spielt und es auch gegen den Taktstock des Dirigenten behauptet, und der das
Wort ›Marsch‹so hinterlistig wiederholt, bis es klingt wie ›m' Arsch‹.” Valentins radikale
Komik hat sich nie für etwas vereinnahmen lassen. Seine Aggressivität, die auch vor dem
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Publikum nicht haltmacht, ist durchaus auch wachsam gegen den ewigen Stumpfsinn des
volkstümelnden Umfelds, dem seine Kunst oft fälschlich zugerechnet wird. Von seinem
Haß auf bayrische Verhältnisse zeugt auch “Der Zithervirtuose”: Er verfängt sich in einem
Refrain, den er immer wieder spielt, endlos, bis er alt und grau ist.
Valentins Kurzfilme aus der Zeit des 3. Reichs sind ein Phänomen der kulturellen
Ungleichzeitigkeit. Ich will deshalb Ernst Bloch das Schlußwort geben: “Es gibt Karl
Valentin, der genau in diesem dialekthaften Material keine reaktionäre Politik betrieben
hat, und die ihm zugehört haben, haben sie auch nicht betrieben und haben sie nicht von
ihm verlangt ... Obwohl es Blut und Boden ist, auch bei Karl Valentin. Wenn man Platten
von Valentin gehört oder Filme von ihm gesehen hat, dann kann man dort mit der
schärfsten Lupe nachsehen, bis man einen Nazi-Ton findet und bei seinem Publikum
auch nicht, und das in München. Sehr auffallend. Es gibt innerhalb der Ungleichzeitigkeit
verschiedene Stadien von Ungleichzeitigkeit und eines davon ist Valentin.”
H. G. Pflaum
37 Fontane Effi Briest
(Bundesrepublik Deutschland 1974)
Regie: Rainer Werner Fassbinder. Buch: Rainer Werner Fassbinder, nach Theodor
Fontane. Kamera: Dietrich Lohmann, Jürgen Jürges. Darsteller: Hanna Schygulla,
Wolfgang Schenck, Karlheinz Böhm, Ulli Lommel. Origlnallänge: 141 Minuten. Vertrieb:
atlasfilm + av.
Wenn Video Sinn machen soll, über den Besitz von Reproduktionen hinaus, die dem
Vergleich mit dem Original der Filmkopie nicht standhalten, dann vor allem wegen der
Möglichkeit des Zuschauers, durch beliebig wiederholbares Sehen auch einzelner Teile in
verlangsamter Geschwindigkeit oder als anhaltendes Bild sich mit Handschriften,
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Erzähltechniken und Inszenierungen eingehender zu befassen, als dies normalerweise im
Kino der Fall ist.
Deswegen sei einmal ignoriert, was verlorengehen muß, wenn Rainer Werner
Fassbinders “Fontane Effi Briest” – es gab in den letzten zwei Jahrzehnten wenig Filme,
die ähnlich sensibel mit Licht und Schwarzweiß-Material umgegangen sind – auf einem
Bildschirm zu sehen ist, zugunsten der Elemente, die man auf der Leinwand nur selten
wahrnimmt.
Es gibt in dem gesamten Film kaum eine einzelne Einstellung, die in ihrem Aufbau nicht
von der Enge und von der Situation des Eingesperrtseins der Figuren erzählen würde.
Schon das erste Bild, die Totale vom Haus der Familie Briest, ist von dunklen Bäumen
und ihren Schatten eingerahmt – regelmäßig wird der freie Blick in irgendeiner Weise
behindert. Die folgende Einstellung zeigt die junge Effi Briest auf einer Schaukel, im
Hintergrund das Briest'sche Haus. Eine Mauer schirmt das Mädchen optisch ab, und die
Struktur der Mauer wird bestimmt von den Linien des Fachwerks. Wenn Effi die Schaukel
verläßt und mit ihrer Mutter spricht, sehen wir noch einmal, kurz, die Kette der Schaukel
ins Bild schwingen, wie eine Drohung. In der dritten Einstellung erzählt Effi ihren
Freundinnen vom Besuch des Baron Innstetten, der einst ein Verehrer ihrer Mutter war.
Obwohl die Szene immer noch im Freien spielt, ist kaum ein Stück Himmel zu sehen.
Das nächste Bild zeigt Effi und ihre Mutter im Haus. Sehr hell sind beide gekleidet, und
die Lichtführung verstärkt zielstrebig diesen Eindruck. Die beiden Frauen stehen leicht
erhöht auf der Treppe, als Effis Vater und der Baron den Raum betreten, schwarz
gekleidet, im dunkleren Teil des Raums. Wieder ein Bild der Bedrohung; es setzt sich fort
in den ersten Großaufnahmen von Effis künftigem Ehemann. Obwohl Fassbinder
regelmäßig aus dem Off Passagen des Fontane-Textes einliest, gibt es in diesem Film
keine unbeabsichtigte sprachliche Redundanz, weil Sprache wirklich in Bilder verwandelt
wurde.
Frau Briest preist ihrer Tochter die Vorzüge der Heirat mit Baron von Innstetten an: “... so
stehst du mit zwanzig da, wo andere mit vierzig stehen.” Dieser Hinweis zählt heute zu
den irritierendsten Momenten des Films. Eine früh begonnenen Karriere, und am Ende ein
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vorzeitig abgeschlossenes Leben – diese Parallele zu Fassbinders eigener Biographie ist
nicht zu übersehen.
Die quadratische Struktur des Fachwerks in den ersten Einstellungen wiederholt sich bis
zur letzten Sequenz. Immer wieder blickt die Kamera durch Glastüren und Fenster, die
durch Rahmen in kleinere Quadrate und Rechtecke unterteilt sind. Die Personen in Effi
Briest erscheinen, als würden sie sich hinter Gittern bewegen. Dies entspricht ihrer
gesellschaftlichen Situation.
Ein Meisterwerk ist die Inszenierung der (im Film) ersten Begegnung zwischen Effi und
Major Crampas. Effi sitzt mit ihrem Mann beim Frühstück und blickt durch die offene Tür
nach draußen: “Kommt da nicht Crampas?” In der folgenden Einstellung befinden sich Effi
und der Gast bereits im Freien; rechts im Bild steht die Wiege mit Effis Tochter. Effi
verharrt weiter links, und in die Mitte, also zwischen Mutter und Kind, hat sich Crampas
gedrängt.
Es folgt eine Montage von Schuß-Gegenschuß-Einstellungen mit Effi und Crampas,
während sich die Kamera den Personen nähert. In der Großaufnahme, beim
herausfordernden Blick von Crampas auf Effi, beginnt (aus dem Off) das Kind zu weinen.
In der nächsten Einstellung blickt die Kamera durch die Glastür von drinnen nach
draußen, als würde Innstetten seine Frau beobachten. Wir sehen sie wie eingesperrt in
eine der kleinen Scheiben der Türe: Quadrage innerhalb der Ouadrage.
Als Effi sich aus dem Quadrat herausbewegt, begibt sich Crampas hinein; anschließend
kehrt Effi zurück, für einen flüchtigen Moment visuell mit dem späteren Liebhaber vereint.
Dann geht Effi auf das Haus zu, die Kamera blickt immer noch unbeweglich durch die
unterteilte Türe. Am Ende der Einstellung, als Effi unmittelbar vor der Tür angekommen
ist, wird der Körper von den Rähmchen der Tür segmentiert. Oberhalb einer Holzleiste
erscheint ihr Kopf, unterhalb, in Bildmitte, ihr Körper; ihre Beine werden im untersten
Segment sichtbar. Auf rein visuellem Weg hat Fassbinder in dieser Sequenz angedeutet
und vorweggenommen, was später geschehen wird.
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Fassbinder entwickelt seine optischen Signale souverän aus dem realistischen Dekor.
Wenn Crampas am Strand erstmals Effi umarmt, hat sich die Kamera zurückgezogen,
beobachtet das Paar aus einiger Distanz, und wie zufällig stehen die beiden hinter
Fischernetzen. Deutlicher verfährt die Regie mit den Spiegeln, die in Effis Umgebung
nahezu allgegenwärtig sind. Als “natürliches” Requisit passen sie zu Effis Eitelkeit; wieder
wirkt der Rahmen um das Spiegelbild als optische Beengung (ebenfalls eine Quadrage in
der Quadrage) – und nicht zuletzt signalisieren die Spiegel, in denen die junge Frau
immer wieder nur sich selbst gegenübersteht, deren Einsamkeit.
Selbst in der “freien” Natur herrscht keine (visuelle) Freiheit. Wenn Effi von der
Hochzeitsreise erstmals nach Kressin kommt, sieht die schöne alte Allee im Blick des
Regisseurs düster und beklemmend aus. Auf den Spaziergängen im Freien bleibt die
Kamera stets leicht gesenkt, den Blick zu Boden und nie auf den Himmel gerichtet;
Kamerafahrten verlaufen vorzugsweise parallel zu den Figuren, mit gewissem Abstand:
Dunkle Bäume verstellen die Sicht auf die Personen.
In Fassbinders Film “Fontane Effi Briest”, dessen Inhalt wegen der Berühmtheit des
Romans sicher ebensowenig erzählt werden braucht wie eine neuerliche Story über den
berühmten Regisseur, läuft jenseits von Handlung und Dialogen eine Geschichte ab, und
sie bestimmt die eigentliche Qualität der Inszenierung.
Meinolf Zurhorst
38 Der Teufelshauptmann
She Wore A Yellow Ribbon (USA 1949)
Regie: John Ford. Buch: Frank S. Nugent, Laurence Stallings nach der Erzählung “War
Party” von James Warner Bellah. Kamera (Farbe): Winton C. Hoch, Charles P. Boyle.
Musik: Richard Hagemann. Darsteller: John Wayne, Joanne Dru, John Agar, Ben
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Johnson, Harry Carey junior, Victor McLaglen. Länge: Originalfassung 103 Minuten,
deutsche Kino- und Videofassung 87 Minuten. Vertrieb: (Mike Hunter).
Das amerikanischste aller Filmgenres ist der Western – Geschichten von der Eroberung
und Unterwerfung eines Kontinents, vom Sieg der Zivilisation über die Naturvölker,
Geschichten auch vom Heldenmut des Individuums und vom Aufbau einer Staatenunion.
Von seinen etwa 130 Filmen sind gut die Hälfte Western: John Ford erzeugte so
nachhaltig wie kein anderer mit den Mitteln des Films den Mythos des “Wilden Westens”.
Er zeichnete Bilder von der Harmonie der Menschen mit ihrer Umgebung, vom Respekt,
mit dem sie einander begegnen, von der Sehnsucht nach einer heilen Welt.
Die Western des John Ford sind romantische Elogen auf eine vergangene Epoche, die in
ihrer Realität nichts Romantisches kannte. Ihn interessierte nicht historische Authentizität,
er beschrieb vielmehr eine sehr persönliche Vision der Vergangenheit. Ford erzählte in
seinen epischen Werken nichts Geringeres als die Geschichte der Vereinigten Staaten.
Trommeln am Mohawk (1939) etwa handelt vom Unabhängigkeitskrieg, Das eiserne Pferd
(1927) von der Erschließung eines Landes durch die Eisenbahn und Der letzte Befehl
(1959) vom Bürgerkrieg. Doch Ford ahnte, daß sein Bild des Westens eine Illusion war. In
seinen späteren Western gab es häufiger unfähige oder rassistische Offiziere.
Mit seiner “Kavallerie-Trilogie” Bis zum letzten Mann (Fort Apache; 1948), Der
Teufelshauptmann (She Wore A Yellow Ribbon; 1949) und Rio Grande (1950) indes
entwarf Ford den Mythos des amerikanischen Militärs. Die Kavallerie als die letzte
Institution des reinen Heldentums, als sicherer Schutz der weißen Siedler vor
unkontrollierten Indianern.
Kurz nach der verheerenden Niederlage des General Custer am Little Big Horn gibt es im
Westen zahlreiche Indianerunruhen. Captain Brittles (John Wayne) wird wenige Tage vor
seiner Pensionierung beauftragt, Tochter (Joanne Dru) und Frau (Mildred Natwick) seines
Vorgesetzten Major Allshard (George O'Brien) zu einer Postkutschen-Station zu begleiten.
Doch der Posten ist zerstört, die Bewohner von Indianern getötet. Brittles entscheidet, die
Frauen ins Fort zurückzubringen. Doch der Trupp wird von Indianern verfolgt. An einem
Flußübergang läßt Brittles den jungen Lieutenant Cohill (John Agar) mit einigen Männern
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zurück. Er soll den Rückweg decken. Wieder im Fort, muß Brittles dem unerfahrenen
Pennell (Harry Carey junior) das Kommando zur Rettung Cohills überlassen, da er selbst
in wenigen Stunden seinen Abschied zu nehmen hat. Nach einer Zeremonie, bei der die
Soldaten ihrem Hauptmann eine silberne Uhr verehren, folgt Brittles dem ausgerückten
Trupp. In den letzten Stunden vor dem offiziellen Ende seiner Dienstzeit versucht Brittles,
in einem Gespräch mit dem Indianerhäuptling Pony That Walks (Chief Big Tree; in der
deutschen Version unsinnigerweise “Springender Fuchs” genannt) einen Krieg zu
verhindern. Doch er muß erfahren, daß die Alten nichts mehr gelten; wie er selbst mußte
auch der Häuptling sein Kommando an Jüngere abtreten. Brittles entwickelt daraufhin
einen Plan, die drohende Auseinandersetzung ohne Blutvergießen zu vereiteln. Er läßt
seine Leute nachts die Pferde der Indianer auseinandertreiben. Endgültig pensioniert,
macht sich Brittles auf den Weg nach Kalifornien. Er kommt allerdings nicht weit. Ein
Sergeant ist ihm mit seiner Beförderung zum Inspekteur der Truppe nachgeritten. Sein
erster Weg führt Brittles, wie schon die Jahre zuvor, an das Grab seiner Frau und seiner
beiden Töchter.
Der Teufelshauptmann, im Original beziehungsreicher “She Wore a Yellow Ribbon”, bildet
den Mittelteil in Fords Kavallerie-Triptychon. Bis zum letzten Mann, die Geschichte des
Debakels am Little Big Horn, ist gegenüber dem romantischen und sehr kunstvollen
Teufelshauptmann die ansatzweise kritische Auseinandersetzung mit dem Militär, von
dessen glorreicher Vergangenheit die Personen im Teufelshauptmann immerzu reden.
Rio Grande dagegen ist eine plumpe Glorifizierung der Kavallerie und des Militärischen
überhaupt. Ford konnte sich in keinem seiner Filme davon wirklich freimachen. Er war
unter den großem Filmemachern Hollywoods wohl der amerikanischste und der
konservativste. Der ungleich poetischere Originaltitel des Films spielt auf das eigentliche
Thema an: die Einsamkeit des alternden Berufssoldaten, dem die Armee ein Zuhause
bietet, Gemeinschaft und Freundschaften. Für Ford – und nicht nur für ihn – sind dies
Tugenden, die den vielbeschworenen amerikanischen Traum verkörpern. “Es ist der
Lieblingsfilm von General McArthur”, erinnerte er sich in einem Interview: “Sie müssen
wissen, daß er in all seinen Reden Zitate aus dem Dialog des Films und vor allem aus der
Schlußrede von John Wayne (Old soldiers never die) bringt”.
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Wenngleich Der Teufelshauptmann auch nicht zu den großen Western John Fords zählt,
bleibt vor der Filmgeschichte doch die meisterliche Inszenierung bestehen, mit ihren
unwirklichen, wir würden heute sagen, kitschigen Farben und dem eigenwilligen Kontrast
zwischen poetisch melodramatischer Exposition und aktionsreichem, rhythmisch
forciertem Finale.
Günter Lebailly
39 Molière
Molière (Frankreich 1978)
Regie: Ariane Mnouchkine. Buch: Arlane Mnouchkine. Kamera: Bernard Zitzermann.
Bauten: Guy Claude François. Kostüme: Daniel Oger. Darsteller: Philippe Caubert,
Joséphine Derenne, Hélène Cinque, Armand Delcamp, Jean Dasté, Roger Planchon.
Dauer: Teil 1: 115 Minuten – Teil 2: 128 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
Eine Frau mit einem Packen frischer Wäsche auf dem Arm durchquert einen dunklen,
leeren Theaterraum. Im Hintergrund sitzt ein Mann im Zimmer an einem Tisch und
schreibt. Die Frau tritt ein. Er steht auf und läßt sich von ihr entkleiden und ein frisches
Hemd überstreifen. Die Frau geht durch das Theater zurück. Ein Mann geht auf sie zu und
fragt, wie es “ihm” gehe. – Es gehe ihm nicht gut. – Er solle heute besser nicht auftreten.
– Aus dem Hintergrund sagt eine Stimme, offenbar die des Mannes im Zimmer, es gehe
ihm gut, er werde auftreten, und man solle ihn in Ruhe lassen ... Während der Filmtitel “
Molière” über dem Bild erscheint, erklärt eine Sprecherin, es sei der 17. Mai 1673, an dem
Molière nach der vierten Aufführung seines “Eingebildeten Kranken” stirbt. Geboren sei er
1622, und die Geschichte beginne, als er zehn Jahre alt sei. Die Szene blendet wieder
auf, und der Zuschauer sieht eine Gruppe von Kindern, die Karten spielen.
Diese erste Szenenfolge macht gleich die Struktur des Films deutlich. Die Szene vor dem
Titel ist eine Klammer, die Anfang und Ende des Films zusammenhält. Sie erlaubt dem
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Zuschauer einen Einstieg in die Geschichte, indem sie vom zunächst nur angedeuteten
Ende auf den Anfang springt: Wie alles begann.
Von hier an erzählt der Film chronologisch das Leben Molières nach: der frühe Tod der
Mutter; die Auseinandersetzungen mit dem Vater um die Berufslaufbahn des Jungen; der
Entschluß, Schauspieler zu werden; die Wanderjahre in der Provinz; die Rückkehr nach
Paris; Erfolge, die Gunst der Königs, Neid, Intrigen, Enttäuschungen; Krankheit und Tod.
Und hier, in der letzten Szene, verbindet der Film noch einmal das Ende mit dem
Vorhergehenden, indem Bilder aus der Vergangenheit in den Visionen des Sterbenden
erscheinen, endend mit dem Bild der Mutter. Die Stationen des Lebens werden dargestellt
in Szenen mit charakteristischen Situationen, an wenigen Stellen durch eine Sprecherin
verbunden.
Aus dem Leben Molières ist nicht sehr viel an Fakten bekannt, insbesondere nicht aus
seinen Jugend- und Wanderjahren. Ariane Mnouchkine gibt nicht vor, mehr zu wissen als
die Überlieferung. Aber sie macht aus den wenigen Fakten in sich abgerundete Szenen,
in denen sie versucht, den historischen Hintergrund des Geschehens herauszuarbeiten,
insbesondere den äußeren Rahmen (Räume, Kostüme, Requisiten) zu rekonstruieren.
Viele Szenen bekommen so den Charakter von lebendig gewordenen Bildern des 17.
Jahrhunderts.
Dieses Verfahren hat Konsequenzen für den Rhythmus des Films. Im ersten Teil, der von
den Jugendjahren erzählt, über die es die spärlichsten Informationen gibt, werden die
Lebensbilder umfangreich und groß angelegt. Im zweiten Teil des Films, der von den
Wanderjahren in der Provinz und von den Jahren des Erfolges in Paris berichtet, aus
denen viel mehr Zeugnisse vom Leben Molières überliefert sind, läuft die Handlung als
rasche Folge von kurzen Szenen ab, Vignetten eines Lebens.
Als Folge dieser szenischen Struktur, in der ein Menschenleben gleichsam von außen
gesehen wird, bleiben die Figuren seltsam blaß. Der Zuschauer erfährt kaum etwas von
den Beweggründen ihres Handelns und nimmt daher auch kaum emotionellen Anteil an
ihnen. Das gilt auch und insbesondere für die Titelfigur. Es gibt ein paar Gestalten, die
durch die Präsenz der Schauspieler oder durch die Möglichkeit, Emotionen auszuspielen,
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Interesse erregen: der cholerische Vater des Armand Delcamp, der gütige und
lebenskluge Großvater des Jean Dasté oder der staatskluge Minister Colbert des Roger
Planchon.
Einzig Joséphine Derenne hat Gelegenheit, mehr als nur die Oberfläche eines Menschen
darzustellen. Sie verkörpert die Schauspielerin Madeleine Béjart, die den jungen Molière
gefördert und zwanzig Jahre mit ihm zusammengelebt hat und schließlich erleben muß,
daß er ihre Tochter heiratet. Sie hat zwei bewegende Szenen, die bewegendsten des
Films: die stille Liebesszene mit Molière, nachdem er seine Verlobung mit Armande Béjart
öffentlich gemacht hat, und die letzte Theaterszene, die die schon kranke Madeleine mit
Molière probt, bevor die beiden voneinander Abschied nehmen.
Ariane Mnouchkine gehört zu den großen Regisseuren des Welttheaters. Mit ihrem
“Théatre du Soleil” erregte sie zuerst Bewunderung mit dem Revolutionsspektakel “1789”
(das übrigens auch auf Film festgehalten wurde) und in späteren Jahren mit ihren
Shakespeare-Inszenierungen.
“ Molière” ist von ihr als Film konzipiert. Aber es ist ihm anzumerken, daß er das Werk
einer Regisseurin ist, die vom Theater kommt. Die Szenen sind in sich choreographiert
und werden von der Kamera aufgenommen, die sich wenig eigene Bewegungen erlaubt.
Es gibt ein paar surreal wirkende Erfindungen, zum Teil aus der Realität abgeleitet, wie
der Zug der venezianischen Gondeln über das Gebirge (auch dies eine Szene, die aus
der Freude an den schönen Bildern zu lang gerät), oder die Karnevalsszenen in Or1éans,
zum Teil freie Erfindung, wie der Vogelmensch in der Jahrmarktszene oder die Apotheose
des Königs zu Musik von Lully. Die eigentliche Schönheit des Films jedoch liegt bei den
intimen Szenen in den Innenräumen. Die Bildkompositionen bestechen, die bürgerlichen
Interieurs im ersten Teil ebenso wie die höfischen Tableaus des zweiten Teils.
Der Zuschauer fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Er folgt mit Interesse den
Lebensstationen eines Mannes, der im 17. Jahrhundert lebte. Es ist gewiß nicht “das
wildbewegte Portrait eines Mannes und seines Jahrhunderts”, wie es der Deckel der (im
übrigen beklagenswert dürftig ausgestatteten) Cassette vollmundig verspricht, sondern
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die Lebenschronik eines Mannes, der Jean-Baptiste Poquelin hieß, sich Molière nannte
und einer fahrenden Schauspielertruppe anschloß, in Paris als Schauspieler und
Komödienschreiber Erfolg hatte und krank und ausgebrannt starb.
Wissen wir damit mehr über einen der großen Dichter der Weltliteratur? Wohl kaum, denn
eine Rekonstruktion seiner äußeren Lebensumstände reicht dazu allein nicht aus. Aber
wer gesehen hat, wie er gelebt hat, der bekommt vielleicht auch Lust, sich mit dem zu
beschäftigen, was er geschaffen hat.
Hilmar Hoffmann
40 Triumph des Willens
(Deutschland 1934)
Buch, Regie, Schnitt: Leni Riefenstahl (Ein Dokumentarfilm im Auftrag der NSDAP über
den Vl. Reichsparteitag vom 4. bis 10. 9.1934.) Länge: circa 90 Minuten. Vertrieb: Inter
Pathé.
Um ihre Art von “heroischen Tatsachen” zu schaffen, forderte Leni Riefenstahl für die
Produktion von “Triumph des Willens” strikte Alleinverantwortung: Sie wurde ihr mit Hitlers
Brief vom 19.4.1934 zugesichert. Auch alle materiellen Wünsche der damals 32jährigen
Regisseurin wurden vertraglich erfüllt: Paragraph 2 des Vertrages garantiert mit 1,5
Millionen Reichsmark die Kosten des Films, und Paragraph 3 regelt, daß “Fräulein
Riefenstahl für ihre Tätigkeit ... eine persönliche Vergütung von RM 250 000” erhält.
Die Drehbedingungen sind in der Geschichte des Dokumentarfilms ohne Beispiel
geblieben: Die Regisseurin bekam 22 Autos, ein Flugzeug, einen Zeppelin und ein
Herstellungsteam von 120 Leuten zur uneingeschränkten Verfügung. Außer 32
Kameramännern beschäftigte sie 16 erfahrene Wochenschau-Operateure, die in den
sieben Drehtagen (4. bis 10. 9. 1934) insgesamt 128000 Meter Film belichteten. Aus dem
hypertrophen Material, das einer Filmzeit von nahezu 80 Stunden entspricht, hat ihr
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selektives Talent dann die zu ihrem auch ganz persönlichen Triumph des Willens
notwendigen 3109 Meter herauspräpariert: Das Drehverhältnis beträgt also 1 zu 40. In
enger Tuchfühlung mit den Organisatoren des Parteitages konnte Leni Riefenstahl ihre
Kameraschwerpunkte so wählen, daß ihr kein wichtiges Ereignis und kein optischer
Leckerbissen entgehen mußte. Ja, viele Parteitagsabläufe wurden ihren ästhetischen
Wünschen entsprechend dirigiert. Weil sie sich mit den Vorstellungen des
Nationalsozialismus vollkommen identifizierte, hat sie ihre Ästhetik in den Dienst
eindeutiger politischer Ziele gestellt, ja sie hat eine originäre Ästhetik des
nationalsozialistischen Dokumentarfilms erst geschaffen.
Da Leni Riefenstahl nicht über alle sieben Kalendertage berichten wollte, komprimierte sie
deren optisch und akustisch ergiebigste Höhepunkte auf jeweils typische Momente und
auf den prototypischen Gestus von Personen und Formationen. Dazu gehören, pars pro
toto, Ausschnitte des festlichen Gepränges, die Geometrie der schnurgeraden Paraden
einschließlich der auf den Führer ergebungsvoll fixierten Blicke der endlos
marschierenden Kolonnen: Leni Riefenstahl verdichtet das exemplarisch Symbolhafte und
unsäglichen Gesinnungskitsch, also was sie “die Fülle der Wirkungsmotive” nennt, zur
Feier.
Ihre “Fülle von Wirkungsmotiven” kondensiert die Riefenstahl zur formalen Symbiose:
Embleme und Insignien, Zeichen und Runen, Spruchbänder und Fahnen konstituieren
darin die nationalsozialistische Ikonographie. Die den Film in seinem Rhythmus sehr
bewußt bestimmenden vielfachen Wiederholungen dienen der Absicht,
nationalsozialistisches Gedankengut nachhaltig einzubläuen. Ob Propaganda die Realität
verändert oder ob die Realität für die Zwecke der Propaganda verändert wurde, bleibt im
Ergebnis insofern belanglos, als das Ziel erreicht wurde, nämlich in den Trugbildern des
Systems das Bewußtsein der Massen zu manipulieren und so unter Kontrolle zu bringen.
Erst durch Montagekünste erhält die nationalsozialistische “Metaphysik” ihren raffinierten
realistischen Ausdruck. Alle grafischen und choreographischen Kamera-Erträge, alle
linearen und flächigen Bildkomponenten strukturiert die ehemalige Tänzerin zu fließenden
Bewegungseinheiten, so daß die an sich trägen Menschenquader filmisch-dynamische
Qualität erhalten. Dies Meisterstück der Dialektik von Abstraktion und Sinnlichkeit gelingt
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ihr im Wechselspiel von ausufernden Totalen der tableaux vivants und Großaufnahmen,
im Wechsel von dynamischen und statischen Elementen.
Indem sie diagonale, vertikale und horizontale Bewegungsverläufe versetzt und häufige
Perspektiven-Wechsel wählt, gibt die Regisseurin dem Film seine rhythmische Energie,
sein mitreißendes Tempo, dem auch der distanzierte Zuschauer sich kaum zu entziehen
vermag. In diesen mit künstlerischen Mitteln hergestellten Bewegungssog kanalisiert sie
das Interesse an der “Bewegung” selbst. Es handelt sich um Vergötzung der puren
Bewegung, und zwar im doppelten Wortsinn. Indem sie die Schnittkunst als ein
diskursives Verfahren anwendet, gelingt es Leni Riefenstahl glänzend, die innere
Dramatik solcher “Nachgestaltung” mit äußeren Erscheinungsbildern zur Kongruenz zu
bringen.
Die formale Qualität dessen, was die Autorin “Nachgestaltung” nennt, sagt freilich wenig
über die Qualität der darin präparierten Inhalte. Glaubenssätze vermittelt sie expressis
verbis nur in den gekürzten Statements etlicher Nazigrößen und des Führers. Leni
Riefenstahls Glaube ist im Kontext der Montage enthalten. Insofern ist die formale Seite
hinreichendes Indiz für ihre nationalsozialistische Ästhetik, denn die in exerziermäßig
geometrischen Formen offerierte optische Choreographie spiegelt nichts Geringeres als
die Einheit des nationalsozialistischen Staatswesens selber. Die Komplexität der Welt
reduziert die Riefenstahl auf die NS-Norm.
Susan Sontag entdeckt in der faschistischen und nationalsozialistischen Dramaturgie
Merkmale, die sich vorzüglich auf Riefenstahls Filme übertragen lassen, wie etwa der
ständige Wechsel zwischen pausenloser Bewegung und erstarrter “viriler” Pose. Die
faschistische Dramaturgie sieht Susan Sontag ausgerichtet “auf den origiastischen
Austausch zwischen gewaltigen Mächten und ihren Marionetten”. Leni Riefenstahl
glorifiziert die Unterwerfung der Massen unter ein höheres Prinzip, indem sie unter
wechselnden Kameraperspektiven Menschen je nachdem erhöht oder erniedrigt,
Großaufnahmen des Führers (hochstilisiert als Huldigung des Führerprinzips) mit
halbnahen Bildern anonymer einzelner kontrastiert. Die bis zur Todesbereitschaft
gehende Hörigkeit von Millionen wird in den Massen versinnbildlicht, die mit feuchtem
Glanz in den Augen Hitlers Worten ergebungsvoll lauschen.
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Entsprechend den repressiven Ordnungskategorien feiert der nationalsozialistische Film
die Opferbereitschaft als höchstes moralisches Gut. Er verherrlicht den Tod als
Konsequenz höchster Treue; er bejubelt, im optischen Einklang mit den Massen, die
Rücksichtslosigkeit der Macht; er suggeriert eine mystische Einheit von Volk und Führer,
auch eine eingebildete Beziehung des Betrachters zum visuellen Ereignis.
Bei Leni Riefenstahl wird der Film zum “Gestalter der Zeit”, das heißt, sie begleitet die Zeit
nicht als Chronist oder als Beobachter: Sie will vielmehr mit Hilfe ihrer sensualistischen
Optik die NS-Ideologie pompös überhöhen, durch Gestaltung die Zeit beeinflussen, ihr
das Ziel und den richtigen Weg weisen. Der Film hat nach ihrem Verständnis die Aufgabe,
den “heroischen Stil und den inneren Rhythmus in sein Laufband zu zwingen und wieder
auszustrahlen”.
Für den unbefangenen Kinogänger gab die Riefenstahl noch kaum Bedrohliches zu
erkennen. Die Kamera leugnet mit jedem Bild den moralischen Zerfall, der mit der neuen
Ordnung unabdingbar verschwistert war. Leni Riefenstahl hatte im durchaus
propagandistischen Interesse gehandelt, wenn sie die Erlebnis- und
Begeisterungsfähigkeit des Zuschauers erregte. Sie hat erste Kriterien für die ästhetische
Erhöhung der Politik gestiftet, indem sie deren äußeres Erscheinungsbild ästhetisierte.
Sie hat das Alltägliche im Faschismus zur nationalen Inkarnation optisch verklärt. Von der
“Ästhetisierung der Politik” (Walter Benjamin) bis zur Ästhetisierung des Krieges und der
dann alltäglichen Pathetisierung des Todes war es dann nur noch ein kurzer Weg.
Schließlich erhoffte sich Leni Riefenstahl von ihren Filmen, daß diese “nicht nur als
Erinnerung an ein Geschehnis auf uns wirken, sondern als neues aufwühlendes Erleben
in unsere Sinneswelt dringen”. In der Tat können auch heutige Zuschauer sich der
sinnbetäubenden Suggestivkraft einzelner Sequenzen nur schwer entziehen.
Wie sehr die künstlerische Ambition des Nationalsozialismus mit seiner eigenen
politischen Praxis identisch wurde, dokumentiert diese Masseninszenierung des
Nürnberger Parteitages. Die filmische Inszenierung eines gekonnt in Szene gesetzten
Auftritts der Massen antizipiert die unaufhaltsame Entwicklung, die von der dekorativen
Instrumentalisierung des “Menschenmaterials” für die Architektur des Parteitagsfestes
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hinführt zum Verbrauch des “Menschenmaterials” für die heroische Inszenierung des
Krieges, eine nach Benjamin unausweichliche Klimax der Ästhetisierung der Politik. Das
durch den Film bewußt gemachte militante Potential des Hitlerbewegung trug schon
damals den Keim der eigenen Verwesung in sich.
Zusammenfassend bleibt zu würdigen, daß Leni Riefenstahls “Triumph des Willens” eines
der perfektesten Beispiele des Genres Propagandafilm ist. Wie gelungen er ist, läßt sich
an seinem unheilvollen Einfluß auf die Massen ablesen. Seine raffinierte Qualität bestand
ja gerade darin, sich prima vista nicht als Propagandafilm zu gerieren, aber subkutan
gleichwohl werbende Wirkung zu zeigen; denn unter seinem ästhetischen
Oberflächenrealismus wußte die Riefenstahl brillant die moribunde Gefährlichkeit des
Totenkopf-Regimes zu verschleiern.
“Triumph des Willens” sollte den Eindruck eines selbstverständlichen Einklanges von
Führer, Volk und Vaterland hervorrufen und diese totale Auslieferung an das Führerprinzip
als nationale Tugend beschwören, deren sich damals nur wenige schon schämten. Das
einbezogene erzieherische Moment vermittelte sich ohne Zeigefinger, weil die im Sog der
schönen Bilder und im Rausch der Klänge erzeugte emotionale Stimmung überall
spontane Zustimmung bewirkte: Die Wirkung des Films beruht nicht zuletzt auf der
Evokation weitverbreiteter Sehnsüchte nach Geborgenheit in der Gemeinsamkeit mit
anderen.
Wolfgang Schwarzer
41 Die Fantome des Hutmachers
Les fantômes du chapelier (Frankreich 1982)
Regie: Claude Chabrol. Buch: Claude Chabrol, nach einem Roman von Georges
Simenon. Kamera: Jean Rabier. Musik: Mathieu Chabrol. Darsteller: Michel Serrault,
Charles Aznavour, Aurore Clément. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: (Mike Hunter) .
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Im Dezember 1987 kann der Hitchcock-Verehrer Claude Chabrol auf 30 Jahre
Regietätigkeit zurückblicken. “Die Enttäuschten”, der Erstling des ehemaligen Filmkritikers
der “Cahiers du Cinéma”, läutete die “Neue Welle” ein, die dem französischen Film Ende
der fünfziger Jahre eine radikale Wende bescherte. Mit den folgenden 35 abendfüllenden
Spielfilmen (hinzu kommen zahlreiche Fernsehproduktionen und Beiträge zu
Episodenfilmen) durchmaß er, was Erfolg, Profit und Niveau betrifft, von lichten Höhen bis
zu finsteren Tiefen sämtliche Erlebnisbereiche des Filmgeschäfts.
Als Hans Dampf in vielen Genres ließ Chabrol den ambitionierten Frühwerken
anspruchslose Lohnarbeiten folgen. Mit “Zwei Freundinnen” (1967), “Die untreue Frau”
(1968), “Das Biest muß sterben” (1969) und “Der Schlachter” (1969) entwickelte er
persönliche Erzählformen und Themen, die bis heute sein Werk und seinen Ruf prägen.
In diesen wie in zahlreichen späteren Filmen widmete er sich der Analyse des
französischen Bürgertums und detaillierten Milieu- und Charakterstudien in der
Provinzgesellschaft. Eine “Enzyklopädie der Bourgeoisie” habe er geschaffen, hieß es.
Kritiker bezeichneten ihn als den “Balzac der Filmgeschichte”. Andere warfen ihm
Zynismus vor, weil er seine Figuren “mit dem kalten Blick des Insektenforschers” seziere.
Er selbst brachte seinen Anspruch, immer nur eines zu wollen, nicht ganz unbescheiden
auf die Formel: “Die Wahrheit zeigen und die Menschen so, wie sie wirklich sind.” Es
verwundert daher nicht, daß zu seinen besten und erfolgreichsten Filmen derjenige zählt,
welcher die kühle Analyse Chabrols mit den liebevollen, geduldigen und
detailversessenen Charakterstudien des Kriminalschriftstellers Georges Simenon
verbindet.
“Die Fantome des Hutmachers” beleuchtet vor dem Hintergrund einer Kriminalaffäre das
Gesellschaftsspektrum einer kleinen bretonischen Stadt. Zu ihren Honoratioren gehört der
alteingesessene, wohlhabende und hochangesehene Hutmacher Léon Labbé, dessen
exakt eingehaltener Lebensrhythmus sich seit 15 Jahren nach den Bedürfnissen einer
gelähmten Ehefrau richtet. Nicht länger fähig, ihre Ansprüche, Ausbrüche und ihre
Tyrannei zu ertragen, erwürgt er sie eines Tages. Den Mord zu vertuschen, fällt ihm leicht,
da sie ihr Zimmer seit vielen Jahren nicht verlassen hat und auch Besuche in der Regel
ablehnte. Minutiös behält er seine täglichen Gewohnheiten bei. Eine Puppe fingiert den
vertrauten Schatten der Frau hinter den Gardinen. Nur ein Problem ist zu lösen. Es
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verbleiben sieben frühere Klassenkameradinnen, die die Kranke einmal jährlich zum
Geburtstag aufsuchen. Labbé hat nur wenige Wochen, um eine nach der anderen zu
ermorden. So lebt das Städtchen bald in Angst und Schrecken vor dem unheimlichen
Würger, dessen Identität niemand kennt und dessen Tragödie folglich auch niemand ahnt.
Gegenüber von Labbés Geschäft lebt und arbeitet der armenische Jude Kachoudas mit
seiner kinderreichen Familie, der sich – ein typisch jüdisches Schicksal im 20.
Jahrhundert – nach einer qualvollen Odyssee durch Europa als Schneider in der Stadt
niedergelassen hatte. Obwohl er nun seit Jahren dort lebt, ist er ein Fremdkörper in der
Gemeinde geblieben. Und er durchschaut den Hutmacher, folgt ihm auf Schritt und Tritt
wie ein Hund. Schweigend, weil niemand seiner Aussage gegen einen Labbé glauben
würde, wachsam aus Angst, wiederum, wie es Schicksal seines Volkes von jeher ist, als
Sündenbock herhalten zu müssen. Der Bürger Labbé genießt das Bewußtsein dieses
ungleichen Verhältnisses, ist es doch, wenn auch in der Negation befangen, die einzige
menschliche Beziehung jenseits des Scheinlebens, das zu führen er verurteilt ist. Als
keine der Frauen mehr zu morden bleibt und Kachoudas an einer Lungenentzündung
stirbt, bricht Labbés Kartenhaus zusammen. Nichts hält ihn mehr aufrecht, ziellos
durchbricht er seine sinnlos gewordenen Gewohnheiten. Er fühlt, daß Entlarvung und
Geständnis seine Erlösung sind. Noch einmal, ohne es zu wollen, mordet er.
Chabrols ruhige, exakte Inszenierung eines absurden Dramas menschlicher Not und
Verirrung hält sich eng an Simenons Roman und vermittelt bewundernswert Spannung
und Dialektik zwischen den beiden gegensätzlichen Hauptfiguren, die in Michael Serrault
und Charles Aznavour ihre Idealbesetzung gefunden haben.
Hans Gerhold
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42 Von Angesicht zu Angesicht
Ansikte mot ansikte (Schweden 1975)
Regie und Buch: Ingmar Bergman. Kamera: Sven Nykvist. Musik: Wolfgang Amadeus
Mozart. Darsteller: Liv Ullmann, Erland Josephson, Gunnar Björnstrand; Kari Sylvan.
Länge: 117 Minuten. Vertrieb: VPS.
Doktor Jenny Isaksson (Liv Ullmann), eine erfolgreiche Psychiatrieärztin, beginnt während
eines zweimonatigen Aufenthaltes bei ihren Großeltern ihre eigene Unsicherheit und die
Fassade, die sie um ihr bisheriges Leben aufgebaut hatte, zu erkennen und begeht einen
Selbstmordversuch. Auf dem Krankenbett beginnt der so radikale wie schmerzhafte
Prozeß der Bewußtwerdung, die Jenny zu den Wurzeln ihrer Probleme zurückführt, in ihre
Kindheit und in die durch traumatische Lebenssituationen ausgelösten Neurosen. Jennys
qualvolles Erinnern wird jedoch die Voraussetzung einer (wörtlich zu verstehenden)
Wiedergeburt und Heilung. Bei der Rückkehr zu den Großeltern ist sie von ihren
“Dämonen” befreit.
Auf der Basis dieser so linear erzählten wie komplexen Fallgeschichte inszenierte Ingmar
Bergman 1975 einen psychologischen Katastrophenfilm, der als der Höhepunkt seines
Spätwerks gelten kann. Stets hatte sich Bergman mit Lebens- und Sinnkrisen,
existentiellen Ängsten, spiritueller Sinnsuche und metaphysischen Erfahrungen der
menschlichen Psyche beschäftigt, hatte “Wie in einem Spiegel” (Filmtitel von 1960/61) die
im Unterbewußtsein herrschenden diffusen Ängste erfaßt und an die Oberfläche
befördert, wo sie mit der Gewalt eines Vulkans in explosionsartigen Eruptionen
aufbrachen und die Sinnleere, Einsamkeit und Verzweiflung des modernen Menschen
entblößten.
Verzweiflung und Angst sind auch die Schlüsselwörter für die Krise von Jenny. Nach
außen hin ist sie die Gesundheit, Fröhlichkeit und Anpassung in Person, liberales
Bürgerkind, das spielend über das Ambiente beim Geschlechtsakt ironische Kommentare
geben kann und die Methoden der Arbeit als Ärztin nicht weiter in Frage stellt, sondern
sich mit den “mechanischen Lösungen”, die ein Kollege beklagt, zufriedengibt.
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Doch langsam und unaufhörlich stellen sich Risse, Zweifel, Angstzustände ein. In ihrer
alten, leergeräumten Wohnung wird sie nur deshalb nicht von zwei Drogenhändlern
vergewaltigt, weil sie “zu verkrampft” ist. Immer wieder erscheint ihr eine alte
kohlenäugige Frau als Dämon des Todes. Ihre Kruste bricht auf und führt zum penibel
vorbereiteten Selbstmordversuch, aus dem sie von einem befreundeten Arzt gerettet wird,
der ihr in der folgenden Anamnese als geduldiger Zuhörer beisteht.
Diese Anamnese, diese grauenvolle Erinnerungs-Arbeit ist die Schlüsselszene des Films.
In wenigen ungeschnittenen, minutenlangen Plansequenzen steht Jenny von ihrem Bett
auf und beginnt vor der kahlen Wand einen Monolog, der sie in die Tiefen ihres
Unterbewußtseins führt und sie buchstäblich mit mehreren Zungen reden läßt. Jenny
erinnert und gesteht ihre Angst vor dem Tod, traumatische Kindheitserlebnisse (das
Eingesperrt-Werden im Kleiderschrank) und das Leben, das ohne die bei einem
Autounfall getöteten Eltern bei den Großeltern verlief, deren drakonische Erziehung zur
Ordnung einem militärischen Regiment glich.
Jennys Selbstentblößung, durch die Schauspielerin Liv Ullmann in einer bis ins Extrem
dieser Kunst gehenden Einverleibung der Rolle zu unerhörter Anstrengung gesteigert, ist
ein einziger Schrei nach dem, was man wirkliche, ungetrübte, spontane und unmittelbare
Erlebnisfähigkeit nennen kann. Sie wird immer wieder durch Rollenspiele,
Rollenauswürfe, Demütigungen, Lügen, Selbstdisziplin, Verletzbarkeit, Arroganz, Stolz,
Selbstvertrauen, Zurechtweisungen und Resignation gebrochen, so wie Jennys Monolog
von ihren Schreikrämpfen unterbrochen wird.
Bergmans Film lief Mitte der 70er Jahre, als in der Folge der von dem Psychiater Franco
Basaglia initiierten Reform der italienischen Heilanstalten 1978 ein Gesetz die Schließung
dieser Institutionen verfügte. Basaglias “demokratische Psychiatrie”, die unter dem Motto
“Freiheit heilt” den Bankrott der traditionellen Psychiatrie und deren RuhigstellungsMethoden (zum Beispiel durch Psychopharmaka) verkündete, wird in Bergmans Film in
einem aufschlußreichen Gespräch zwischen Jenny und dem Oberarzt, den sie vertritt,
heftig und aufschlußreich diskutiert.
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Formal gelingt es Bergman in “Von Angesicht zu Angesicht”, einen realistischen
Inszenierungsstil mit dem Metaphernreichtum seiner früheren Filme bruchlos zu
verbinden. In insgesamt sieben Visionen wird Jenny von ihren Ängsten heimgesucht, bis
sie sich in der letzten alptraumartigen Vision in einem Sarg sieht, sich lebendig einnagelt
und den Sarg verbrennt, während sie als Rotkäppchen lachend vor den Flammen steht.
Das ist als überladene Symbolik kritisiert worden, geht in seiner Sinnfälligkeit aber mit den
klassischen Mitteln der durch Märchen gegen die eingebildeten Schrecken mobilisierten
Vorstellungskraft durchaus an jene Substanz, die Bergman auch im Zuschauer
therapieren will: die Psyche.
“Von Angesicht zu Angesicht” lief zunächst als Vierteiler im schwedischen Fernsehen, in
den Kinos dann in einer gekürzten Fassung, die der jetzigen Video-Fassung entspricht.
Walter Schobert
43 Fanfan der Husar
Fanfan la tulipe (Frankreich/Italien 1952)
Regie: Christian-Jaque. Buch: Christian-Jaque, Henri Jeanson, René Wheeler. Kamera:
Christian Matras. Musik: Georges van Parys, Maurice Thiriet. Darsteller: Gérard Philipe,
Gina Lollobrigida, Geneviève Page, Oliver Hussenot. Länge: 96 Minuten. Vertrieb:
Taurus Video.
Manchmal genügt ein Film seinem Regisseur, um in die Filmgeschichte einzugehen.
Christian-Jaque gehört nicht zu den Großen des französischen Films. In der Vorkriegszeit
drehte er serienweise kommerzielle Lustspiele mit Fernandel in der Hauptrolle. Nach dem
Krieg zählte er mit seinen ambitionierten Filmen – “Die Kartause von Parma” (1947) oder
“Blaubart” (1951) etwa – zu den typischen Vertretern jener “Tradition der Qualität”, die
Truffaut in seinem berühmten Essay “Eine bestimmte Tendenz im französischen Film”
attackierte als Kino der Szenaristen, die “mit dem Tonband Probleme lösen, die das Bild
betreffen – nutzloses Mühewalten, das auf der Leinwand doch zu nichts weiter führt als
ausgeklügelten Einstellungen, komplizierten Beleuchtungseffekten, ›geleckten‹ Fotos”, ein
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Kino der Handwerker, der Routiniers, der Konfektion, geschmackvoll und qualitativ
hochstehend, aber ohne eigenen Stil, eigene Handschrift, ohne gestalterische
Individualität: kein “Kino der Autoren”.
In seinen schlechteren Filmen war der 1904 als Christian Maudet geborene und als
Architekt und Grafiker zum Film gekommene Regisseur ein unverhohlener Spekulant, der
in semipornografischen Historienfilmen wie “Lukrezia Borgia” (1952) oder “Madame
Dubarry” (1954) seinen Star (und spätere Ehefrau) Martine Carol so exponierte wie es
später Vadim mit der Bardot und Jane Fonda tat. “Fanfan” ist die eine, die große
Ausnahme in seinem Œuvre: Ein Film, der rundum gelungen ist und wirklich die
Versöhnung von Kunst und Kommerz war, die Christian-Jaque zeitlebens vorschwebte.
“La tulipe”, Vondertulpe, heißt dieser Fanfan, weil er Henriette, des Königs Töchterchen,
und Madame Pompadour, die Maitresse Louis XV., unter tollkühnem Einsatz aus der
Hand böser Räuber gerettet und dafür zur Belohnung jene Blume bekommen hat. Die
Begegnung mit der Prinzessin hatte ihm die hübsche Zigeunerin Adeline geweissagt,
sogar, daß er sie zur Frau bekommen werde, wenn er zu den Soldaten ginge. Das war
freilich, um den Anfang der Geschichte zu erzählen, nur ein zusätzlicher Anlaß: sich beim
Militär drillen zu lassen, schien ihm immer noch besser, als sich mit der Bauerntochter zu
verheiraten, deren Vater die beiden statt beim Heu- beim Liebemachen überraschte. Die
hübsche Zigeunerin lief dem Delinquenten gerade rechtzeitig über den Weg.
Die freilich ist gar keine, sondern hat sich nur verkleidet, um Rattenfängern zu helfen,
zögernde Bauernburschen zu rekrutieren. Bald merkt Fanfan, daß das Soldatenleben
auch kein Zuckerschlecken ist, zumal, wenn man von einem Schleifer wie Fier-à-bras
schikaniert wird. Dessen Brass auf den von seiner Königstochter träumenden und darüber
die greifbarere Adeline übersehenden Fanfan wird nicht gerade kleiner, als die sich in ihn
verliebt: Fanfan wandert ins Kittchen.
Sein Ausbruch wird ihm verziehen, weil gerade der Krieg ausbricht und jeder Mann
gebraucht wird. Als er aber erwischt wird, wie er sich nachts mit seinem Freund TrancheMontagne zu Henriette schleicht, scheint es endgültig um ihn geschehen. Doch Adelines
Flehen erweicht den König: Fanfan und Tranche werden zwar gehängt, aber der König
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hat für einen kleinen Zufall gesorgt, der beide überleben läßt. Statt freilich den nun fälligen
Dank zu erstatten, ohrfeigt Adeline Ihre Majestät. Die darob begeisterte Pompadour
versteckt das Mädchen in einem Kloster und benachrichtigt Fanfan.
Doch der kommt zu spät, die von seinem Nebenbuhler informierten Mannen des Königs
sind schon da. Ein wilder Kampf entbrennt und unsere beiden Haudegen schaffen es
tatsächlich, die Übermacht zu besiegen. Doch noch einmal wird ihm Adeline geraubt und
nun geht Fanfan, der längst gemerkt hat, daß er sie liebt, aufs Ganze: Am Ende hat er
nicht nur sein Mädchen, sondern gewinnt allein den ganzen Krieg. Was bleibt dem König
anderes übrig als Adeline zu adoptieren und so dafür zu sorgen, daß sich ihre
Prophezeiung doch erfüllt.
Mit dieser Volte kommt eine Geschichte zum Schluß, die Unwahrscheinliches auf
Unglaubliches gehäuft – und der man das keine Sekunde übel genommen hat; im
Gegenteil: So reißt ihr Schwung mit, ihr Witz, ihr Charme, ihr liebevoller Umgang mit der
Historie und ihre boshafte Verspottung von Feudalismus und Militarismus, die
musikalische Verknüpfung der Sequenzen, das Gefühl für Rhythmus, die Mischung von
Romantik und Aktion, von wilden Jagden und hinreißenden Degenduellen: “Fanfan” ist in
jeder Beziehung ein Husarenstückchen, dessen Regisseur selbstbewußt in die Kisten der
Film- und Literaturgeschichte gegriffen, seine zahlreichen Vorbilder nicht verleugnet und
dennoch einen unvergleichlichen Film geschaffen hat, der zugleich die Synthese und den
Höhepunkt aller früheren Mantel- und Degenfilme (und Piratenfilme dazu) bildet. Fanfan:
das ist der Graf von Monte Christo, Zorro und Robin Hood in einer Figur; “Fanfan”: das ist
ein Film, der sein Genre ernst nimmt und parodiert. Ein Film, der in all seiner
Farbenpracht im Gedächtnis bleibt, obwohl er doch schwarzweiß ist. Kein Zweifel,
“Fanfan” ist ein Meisterwerk, und es mindert das Verdienst seines Schöpfers (der dafür zu
Recht 1952 in Cannes den Regiepreis bekam) und der anderen Beteiligten nicht im
Geringsten, wenn man darauf hinweist, daß das nicht nur an der vorzüglichen Fotografie,
am virtuosen Schnitt, am witzigen Drehbuch mit seinen hübschen Bonmots und
funkelnden Pointen liegt, die 1952, also mitten im kalten Krieg, sich mit den Berufsmilitärs
auf die einzig richtige Weise auseinandersetzten: mit milder Ironie und beißendem Spott
(sie kommen auch in der, ein seltener Fall, sehr gelungenen Synchronisation Conrad von
Molos zur Geltung).
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Zum ungetrübten Vergnügen tragen aber vor allem seine beiden Hauptdarsteller bei: Für
die appetitlich anzusehende Lollobrigida bedeutete der Film den internationalen
Durchbruch. Sie ist so hübsch und proper, daß man ohne weiteres versteht, warum
ihretwegen die Burschen zum Militär gingen – und daß man sich heutzutage bedauernd
fragt, ob die moderne Jugend vor lauter frei zugänglicher Nacktheit überhaupt noch
nachvollziehen kann, welche süße Versuchung, welch geheimnisvolle Verlockung Ginas
reizvoll verhülltes Dekolleté uns bedeutet hat, als wir sechzehn waren.
Den unwiderstehlichen Charme freilich verdankt “Fanfan” nur einem: Gérard Philipe. Er
hat wahrlich große Rollen gespielt, den “Cid” oder den Prinzen von Homburg etwa in
Vilars legendärem “Théatre National Populaire”, in den Filmen “Teufel im Leib”, “Monsieur
Ripois”, “Pakt mit dem Teufel”, “Rouge et Noir”. Der Fanfan war nicht seine wichtigste
Rolle, aber ganz bestimmt seine schönste. So, als den jungenhaften Draufgänger, den
leidenschaftlichen Liebhaber mit den vollen Lippen, den zärtlichen Augen, der
nachdenklichen Stirn, dem wilden Schopf werden wir ihn in Erinnerung behalten, als den
liebenswürdigen und lausbubenhaften Helden wider Willen, der, rauh und zart zugleich,
die Herzen im Sturm eroberte – auf der Leinwand und im Zuschauerraum. Er ist zu jung
gestorben, schon mit 37, aber auf der Höhe des Ruhms, ein grandioser Schauspieler, ein
Volksmythos bis heute, ein reifer Mann und gleichzeitig ein strahlender Jüngling: Fanfan,
der Husar.
Urs Jaeggi
44 2001: Odyssee im Weltraum
2001: A Space Odyssey (Großbritannien 1965-68)
Regie: Stanley Kubrick. Buch: Stanley Kubrick und Arthur C. Clarke, nach seiner
Kurzgeschichte “The Sentinel”. Kamera: Geoffrey Unsworth, John Alcott. Musik: Johann
und Richard Strauß, Aram Katchaturian, György Ligeti. Darsteller: Keir Dullea, Garry
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Lockwood, William Sylvester, Daniel Richter. Dauer: 160 Minuten/140 Minuten. Vertrieb:
IMV.
Heute über einen Film zu schreiben, der gestern produziert worden ist und das Morgen
zum Inhalt hat, ist gar nicht so einfach. Um so schwieriger gar, als sich “2001: A Space
Odyssey” von Stanley Kubrick gängigen Science-Fiction-Mustern entzieht. Der 1968
herausgebrachte Film befaßt sich nämlich tatsächlich mit der Zukunft – im Gegensatz zu
den meisten Filmen dieses Genres, die im Gewand des Futuristischen die Probleme und
Verhaltensweisen der Gegenwart transportieren. Kubricks Zukunft ist indessen, ein Stück
weit zumindest, Realität geworden. Wir können uns ziemlich genaue Vorstellungen davon
machen, wie ein Raumgleiter oder eine Forschungsstation im All auszusehen hat. Und wir
haben inzwischen Fotografien gesehen, die uns präzise Aufschlüsse über die
Beschaffenheit zahlreicher anderer Planeten geben.
Daß Kubricks Weltraumabenteuer inzwischen nicht in der Mottenkiste der von der Zeit
überrannten Science-fiction-Produktionen gelandet ist und allenfalls noch filmhistorisches
Interesse weckt, hat im wesentlichen zwei Gründe. Da bewahrt zum einen diesen Film,
der ein Jahr vor der ersten Landung des Menschen auf dem Mond (1969) entstanden ist,
Kubricks damalige Weitsicht – oder besser gesagt: die Kühnheit seiner Vorstellungskraft
und die Sorgfalt seiner wissenschaftlichen Recherchen auch heute noch vor jeder
Lächerlichkeit. Gewiß gibt es da einige Details, die überholt sind. Interessanterweise sind
es kaum solche technischer Natur, sondern rein modeabhängige Äußerlichkeiten, die wir
heute lediglich als störend in der Optik empfinden: die adretten Uniformen mit den
putzigen Kugelhütchen der Weltraum-Damen zum Beispiel.
Das Technische also ist die eine Säule, die diesen Film trägt. Raumschiffe schweben –
nicht zufälligerweise zu den Klängen des Walzers “An der schönen blauen Donau” von
Johann Strauß – fast tänzerisch durch das All. Menschen bewegen sich im schwerelosen
Raum wie im Ballett und begegnen der künstlichen Intelligenz des phantastischen
Computers HAL 9000. Die Faszination des Technischen ist grenzenlos, und die
Menschen in Stanley Kubricks Film erliegen ihr. Der Mensch als homo technicus ist das
Bild, das der Regisseur entwirft, und er rafft es zusammen in jener inzwischen
Filmgeschichte gewordenen Sequenz, in der sich der eben von einem Urmenschen als
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Werkzeug entdeckte und aus Begeisterung in die Luft geworfene Knochen wie im Flug in
ein modernes Raumschiff verwandelt.
In der Darstellung der Menschheits-Evolution als reiner Technologie erschöpft sich
Kubricks “2001: Odyssee im Weltraum” freilich nicht. Der Regisseur setzt ihr – und das
macht den Film sowohl vertrackt wie auch heute noch für eine intensive
Auseinandersetzung gut – die Dimension des Mythologischen entgegen. (Musikalisch
findet sie ihre Entsprechung in Richard Straussens Tondichtung “Also sprach
Zarathustra”.) Sie zeigt einerseits die Grenzen der Machbarkeit aller Dinge auf – nicht
zufällig sind es die “menschlichen” Reaktionen des Computers HAL, die der Expedition
des Raumschiffs “Discovery” auf der Suche nach einer geheimnisvollen außerirdischen
Intelligenz ein abruptes Ende setzen –, andererseits stellt sie menschliches Dasein in
einen Zusammenhang makrokosmischen Ausmaßes. Darin erscheint der Mensch als Teil
eines ständigen Schöpfungsvorganges von Werden, Sein und Vergehen, der von einer
höheren, unbeeinflußbaren Macht gesteuert wird. Diese wird im Film verkörpert durch
einen Monolithen, der seine Signale in Richtung des Jupiter sendet und der dem
Astronauten nach dessen Sturz durch die Galaxien und die Zeiten am Sterbebett mit der
hoffnungsvollen Verheißung neuen Lebens – dargestellt durch einen Fötus, der den
Planeten Erde in gleicher Größe berührt – erscheint.
Es hat gerade diese Dimension des Mythologischen immer wieder dazu geführt, “2001:
Odyssee im Weltraum” als einen Film mit christlichen Ambitionen und religiösem
Hintergrund zu interpretieren. Das ist, mit Verlaub, so nicht haltbar. Kubricks Werk bewegt
sich gerade im Bereich der philosophischen Dimension viel zu sehr im Vagen, letztlich
Unverbindlichen, als daß es sich als christlich oder religiös reklamieren ließe. Der
mythologische Ansatz reicht gerade aus, die Evolution des Menschen zum reinen homo
technicus in Frage zu stellen und damit die Sinnfrage anzuschneiden. Das ist gewiß nicht
wenig; mehr jedenfalls, als in den meisten Science-fiction-Filmen, die seither gedreht
worden sind, thematisch behandelt wird.
Aber es ist auch kein Zufall, daß die mythologische Dimension in Kubricks Film wie ein
Anhängsel wirkt – aufgepfropft gewissermaßen auf jene kleine Groschengeschichte, die
dem Film als Plot dient: Arthur C. Clarke erzählt in seiner Short story “The Sentinel” von
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einer Pyramide, die ein Mondforscher auf dem Erdtrabanten entdeckt und die er vorerst
als das Überbleibsel einer ausgestorbenen Zivilisation betrachtet. Dann allerdings häufen
sich die Indizien, daß es sich bei der Pyramide um eine Beobachtungsstation handelt, die
seit Jahrmillionen genaue Daten über die Entwicklung der Menschheit an eine intelligente
Zivilisation im Weltall übermittelt. Daß diese ferne Zivilisation nach der Entdeckung ihrer
Station zu sofortigem Handeln gezwungen wird, liegt für den Forscher auf der Hand.
Bei der Ergänzung dieses Nichts von einer Geschichte mit der Frage nach dem Sinn
menschlichen Forschens und Handelns ist Kubrick im Bereich des rein Mythologischen
steckengeblieben. Das hat aber immerhin dazu gereicht, dem Film neben der
faszinierenden technischen Ausstattung eine zweite, tragfähige Säule zu geben. Wer
indessen die philosophisch-religiöse Ebene sucht, wird sich an einen anderen Sciencefiction-Film halten müssen: an Andrej Tarkowskijs “Solaris”, der ungefähr zur selben Zeit
entstanden ist.
Heinz Kersten
45 Große Freiheit Nr. 7
(Deutschland 1944)
Regie: Helmut Käutner. Buch: Helmut Käutner und Richard Nicolas. Kamera: Werner
Krien. Musik: Werner Eisbrenner. Darsteller: Hans Albers, Gustav Knuth, Günther
Lüders, Hans Söhnker, Hilde Hildebrandt, Ilse Werner. Länge: 108 Minuten. Vertrieb:
(UFA).
Bei den Informationstagen mit Kurzfilmen aus der Bundesrepublik 1987, die jeweils dem
internationalen Wettbewerb der Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen vorangehen,
bestand eine kleine, sonst ganz unerhebliche Sieben-Minuten-Produktion aus nicht viel
mehr als dem Lied “La Paloma”, das mit der unverwechselbaren Stimme von Hans Albers
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zu hören ist, während im Bild ein junger Mann vor dem Hintergrund eines blauen Sees
imitiert, er sänge selbst. “Ein Sänger lebt länger”, nannte Klaus Telscher sein Filmchen.
Natürlich ist es nicht jenes Lied allein, unter dessen Klängen Hans Albers Ende Juli 1960
in Hamburg-Ohlsdorf zu Grabe getragen wurde, das den singenden Schauspieler über
seinen Tod hinaus lebendig erhalten hat. Aber “La Paloma – Die Taube”, keine
Filmkomposition, sondern ursprünglich ein mexikanisches Liebeslied aus der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, drückte als Schlager vielleicht am besten aus, womit man den
“blonden Hans” identifizierte: ein uns heute ziemlich fragwürdig gewordenes
Männlichkeitsideal, Seefahrtsromantik und eine Prise Sentimentalität. “La Paloma” wurde
zum berühmtesten sentimentalen Gassenhauer der vierziger Jahre.
Albers sang das Lied in “Große Freiheit Nr. 7”, dem 88. der insgesamt 107 Filmen, in
denen er mitwirkte – mehr als die Hälfte waren Stummfilme –, und sicher einem der
besten. Diese Qualität ist vor allem Helmut Käutner zu verdanken, dem Regisseur und
(zusammen mit Richard Nicolas) Drehbuchautor, von dem auch der von Hans Albers
gesungene Text zu “La Paloma” und dem anderen bis heute frisch gebliebenen Schlager
jenes Films stammt: “Beim ersten Mal da tut's noch weh ... ”. Käutner, der als Kabarettist
bei den “Vier Nachrichtern” begann und für den Film zuerst Drehbücher schrieb, war eine
der stärksten Regie-Begabungen des deutschen Films der vierziger und fünfziger Jahre,
einer, der auch in der Nazizeit seine Integrität bewahrte. Neun Unterhaltungsfilme, die er
zwischen 1939 und 1945 drehte, zeichnen sich durch ein in diesem Genre
ungewöhnliches Niveau aus.
Die Verwandtschaft zum poetischen Realismus der Franzosen, die sich schon in seiner
“Romanze in Moll” (1943) und dann wieder bei “Unter den Brücken” (1944/45) zeigt, findet
sich auch in der zwischen diesen beiden Arbeiten entstandenen “Großen Freiheit Nr. 7”,
dem achten Farbfilm deutscher Produktion. Die an sich konventionelle
Seemannsgeschichte mit Dreieckskonflikt wirkt, abgesehen vom etwas geschönten
Reeperbahn-Milieu, durchaus lebensecht, rutscht auch in ihren tragischen Momenten nie
in bloße Sentimentalität ab. Im Ensemble erstklassiger Schauspieler durchbricht auch
Hans Albers sein Klischee des automatisch siegreichen Hoppla-jetzt-komm-ich-
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Durchreißertyps und gewinnt in der Verzweiflung über das Zerrinnen seines Traums vom
Eheglück anrührende Züge.
Er ist hier der Stimmungssänger Hannes Kröger in einem Hippodrom auf St. Pauli. Mit der
Chefin des Etablissements (Hilde Hildebrandt) verbinden den ehemaligen Matrosen mehr
als nur geschäftliche Beziehungen, aber richtig verliebt er sich erst in Gisa (Ilse Werner).
Sie hat er zu sich nach Hamburg geholt, weil dies der letzte Wunsch seines verstorbenen
Bruders war, der das Mädchen einst sitzenließ. Die neue Wohngefährtin jedoch bevorzugt
einen Werftarbeiter (Hans Söhnker). Mit ihm verbringt Gisa die erste Nacht ausgerechnet,
als Hannes sie daheim mit einer Verlobungsfeier überraschen will. Der an Land
verschlagene Seemann verzichtet also auf die schon angesteuerte bürgerliche Existenz
als Barkassenkapitän einer eigenen Hafenrundfahrt und geht mit seinen Kumpels Jens
(Günther Lüders) und Fiete (Gustav Knuth) zurück an Bord des Segelschoners “Padua”.
Mit der Realität des vierten Kriegsjahres hatte das natürlich nichts zu tun. Die holte das
Filmteam trotzdem ein. Während der Dreharbeiten wird Hamburg mehrfach von den Briten
bombardiert, und auch die in den Tempelhofer UFA-Ateliers als Dekoration aufgebaute
Große Freiheit fällt einer Bombe zum Opfer. In Prag, wohin in der letzten Kriegsphase
viele Filmproduktionen ausweichen, wird die “Große Freiheit” vollendet.
Das “Nr. 7” ist dem ursprünglichen Titel angehängt: weil die NS-Propaganda
unerwünschte Assoziationen vermeiden möchte, wird später vermutet – weil der bloße
Straßenname außerhalb Hamburgs nicht verstanden würde, hieß es damals. Trotzdem
nimmt der Gauleiter der Hansestadt, Kaufmann, Anstoß an einigen Filmpassagen, und
Goebbels ordnet daraufhin Schnitte an. Manchen Versionen zufolge soll der
Reichspropagandaminister sogar persönlich im Bunde mit dem Marine-Oberbefehlshaber
Dönitz für ein Verbot des Films gesorgt haben.
Tatsache ist, daß er von der Zensur nur für das Ausland freigegeben und nach der
Uraufführung am 15. Dezember 1944 in Prag außerdem lediglich zur Truppenbetreuung
eingesetzt wurde. Die deutsche Erstaufführung fand erst nach dem Kriege, am 9.
September 1945, in Berlin statt. Seitdem gehört “Große Freiheit Nr. 7” zum Bestand jener
deutschen Filme, die ihre Entstehungszeit überdauert haben.
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Walter Schobert
46
Belle de Jour – Schöne des Tages
Belle de Jour (Frankreich/Italien 1966/67)
Regie: Luis Buñuel: Buch: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière, nach dem Roman von
Joseph Kessel. Kamera: Sacha Vierny. Schnitt: Louisette Hautecoeur. Darsteller:
Cathérine Deneuve, Jean Sorel, Michel Piccoli, Geneviève Page, Francisco Rabal, Pierre
Clémenti. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: Euro-Video.
“Belle de jour” heißen im französischen Volksmund Blumen, die nur tagsüber aufblühen;
“Belle de jour” wird die kühle Blonde von Madame Anais genannt, bei der sie nur
tagsüber, genauer von 14 bis 17 Uhr, arbeitet. In einem als Modesalon getarnten Bordell
steht sie zusammen mit anderen Mädchen den Freiern zur Verfügung, befriedigt deren
sexuelle Bedürfnisse, die auch perverse Varianten wie Masochismus und Fetischismus
einschließen. Es geht nicht nur um Geld, manche Frauen suchen das Abenteuer, die
aufregende Abwechslung – Belle verlangt es nach Befriedigung. Denn im anderen Teil
ihrer Existenz, die sie den Rest des Tages lebt, ist sie Sévérine und mit einem jungen Arzt
verheiratet, findet aber in ihrer Ehe zwar wohlhabende, großbürgerliche Verhältnisse,
jedoch kein sexuelles Glück, bleibt frigide, kühl bis zur Unnahbarkeit gegenüber ihrem
Mann. Durch seinen Freund Husson erfährt sie von dem Puff. Der Umgang mit den
Kunden scheint die Erfüllung ihrer Träume zu bringen – bis sie eines Tages auf den
jungen, abgerissenen kleinen Gangster Marcel trifft, der sich in sie verknallt, sie auch
nachts besitzen will und aus Wut ihren Mann niederschießt. Der bleibt forthin gelähmt und
muß zudem auch noch durch Husson von Belles/Sévérines Doppelleben erfahren, die ihn,
nun ganz Hingabe, aufopfernd pflegt.
Wer sich bis dahin noch in einer billigen, trivialen Mixtur aus Krimi und Softporno wähnte
und nicht in einem Film des großen, bösen, alten Buñuel, der bekommt sie jetzt in den
Schlußeinstellungen zu spüren, die Pranke des Meisters, der den Zuschauern, wie schon
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oft, listig entgegengekommen war, um ihnen dann um so heftiger den Boden unter den
Füßen wegzuziehen. Denn kaum hat Sévérine dem Gemahl mitgeteilt, daß sie seit
seinem “Unfall” nicht mehr träume, steht der vom Rollstuhl auf und wandelt, als sei nichts
gewesen, tiefe Zweifel hinterlassend, was jetzt nun eigentlich geträumt sei, das Unglück
des Mannes oder die Heilung seiner Frau.
Während dann ein Leitmotiv erklingt, rollt eine leere Kutsche durchs Bild, die man schon
ganz zu Anfang gesehen hat, da aber mit dem Ehepaar durch eine Herbstlandschaft
fahrend. Doch die Idylle trog: Vor Zorn über die frigide Partnerin läßt der Gatte sie von den
Kutschern an einen Baum binden, auspeitschen, vergewaltigen. Die realistisch gefilmte
Szene findet ein abruptes Ende: Man sieht Sévérine im Ehebett, erwachend, und die
Vergewaltigung erscheint als Traum, als Wunsch eher denn als Alptraum.
Anders als in früheren Filmen schneidet Buñuel hart, dadurch die Grenzen zwischen
Traum und Wirklichkeit paradoxerweise fließend machend, verwischend. Nie darf man
sich sicher sein, auf welcher Seite des Bewußtseins die Protagonistin sich gerade aufhält.
Dadurch gehört gerade derjenige seiner Filme, dessen Story am einfachsten und am
linearsten angelegt zu sein scheint, zu seinen komplexesten und verwirrendsten Werken.
Wer, im Hinblick auf den etwas verstaubten Roman Kessels, ein vielleicht etwas
lüsternes, aber eher doch mildes Alterswerk erwartet hat, sah sich enttäuscht – und
entsprechend waren die Reaktionen der Kritik: Sie schwankte zwischen zorniger
Ablehnung eines angeblich nur an Perversionen interessierten Films und Ratlosigkeit ob
der vermuteten Studie eines psychopathologischen Falles, häufig darauf verweisend, daß
nun auch Buñuel keinen Biß mehr hätte.
Inzwischen sieht man klarer: Er hatte ihn noch. “Belle de jour” ist zwar im gewissen Sinn
ein Bruch mit den vorhergegangenen Werken, und unübersehbar ist, allein durch die
Verwendung der Farbe, die größere ästhetische Opulenz, die natürlich den
Schaubedürfnissen des Publikums entgegenkommt. Die besseren äußeren Bedingungen,
unter denen Buñuel arbeiten konnte, erlaubten ihm prominente Stars in ausgewählten
Dekors, schönen Kostümen und gehobenem Milieu. Dennoch ist “Belle de jour” kein Film
der Anpassung.
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Mit ihm ließ sich der Regisseur nach langen Jahren der Arbeit in Mexiko, in den USA (als
Mitarbeiter im Museum of Modern Art) und Spanien (wo er mit dem sogleich verboteten
“Viridiana” seinen vermutlich bedeutendsten Film gemacht hat) endgültig wieder in
Frankreich nieder, wo er 1928/30 mit “Un Chien Andalou” und “L'Âge d'Or” zwei Klassiker
geschaffen hatte, die seinen Ruhm als surrealistischer Bürgerschreck und Antiklerikalist
dauerhaft begründeten. Im Rückblick wird heute klar, daß “Belle de jour” nicht der letzte
Film eines kränkelnden Regisseurs ist, als der er damals avisiert war, sondern der erste
einer ganzen Reihe von Filmen, die Buñuel, der zum ersten Mal sorglos arbeiten konnte,
in schöner Regelmäßigkeit realisierte. In ihnen schilderte er Frauen als Opfer der
herrschenden Ordnung, setzt sich auseinander mit dem Großbürgertum, mit dessen
Konventionen und Vorurteilen und attackiert dessen Moral und Irrationalität. Vielleicht
etwas verbindlicher im Ton, witziger und ironischer als früher, aber immer noch mit dem
Scharfblick und der Unnachgiebigkeit, die ihm Ulrich Gregor in der “Geschichte des
modernen Films” attestierte, nimmt Buñuel die Institutionen der herrschenden Klasse aufs
Korn und entlarvt die Ehe als einen Ort der Unfreiheit. Einzig Angriffe auf die katholische
Kirche fehlen, die er sonst als eine der Stützen des Systems verspottete.
“Belle de jour”, kein Zweifel, ist ein echter Buñuel, wenn auch nicht einer der ganz
bedeutenden. Niemand sah das schärfer als der Regisseur, dessen Gesamtwerk ihm
einen sehr einsamen Rang in der Filmgeschichte gibt und ihn als einen der wirklichen
Individualisten ausweist. In seinen wunderschönen Memoiren “Mein letzter Seufzer” nennt
er den Film den “wahrscheinlich größten kommerziellen Erfolg meines Lebens”, was er
indes, hellsichtig und unbestechlich auch gegen sich selbst, “mehr den Nutten” zuschreibt
als seiner Arbeit.
Horst Schäfer
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47 Einer flog über das Kuckucksnest
One flew over the Cuckoo's Nest (USA 1975)
Regie: Milos Forman. Buch: Lawrence Hauben, Bo Goldman, nach dem Roman von Ken
Kesey. Kamera: Haskell Wexler. Musik: Jack Nitzsche. Darsteller: Jack Nicholson,
Louise Fletcher, William Redfield. Länge: 124 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP.
Randy P. McMurphy, 35, wird für befristete Zeit zur Beobachtung in eine psychiatrische
Klinik eingewiesen. Er gilt als unangepaßt und ist wegen Schlägerei, Trunkenheit und
Notzucht verurteilt worden. In der geschlossenen Abteilung reibt er sich bald an dem
perfekten Behandlungsplan, der individuelle Zuwendung nicht erlaubt. Der clevere
McMurphy, der seinen Zustand nur simuliert, provoziert die mit Drogen und
Elektroschocks behandelten Patienten zur Auflehnung gegen das stumpfsinnige und
erniedrigende Anstaltsritual.
Das Personal – eine despotische Oberschwester und ein paar brutale Wärter – greift zu
harten Gegenmaßnahmen, um den aufkommenden Widerstand zu brechen. McMurphy
bereitet seine Flucht vor und freundet sich dabei mit dem Indianer “Chief” Bromden an,
der sich – um seiner Selbstachtung willen – taubstumm stellte. Unmittelbar vor dem
Ausbruch eskaliert die angespannte Situation zu einem anarchistischen Chaos, das mit
dem Selbstmord eines von der Oberschwester gedemütigten Patienten endet.
McMurphy, der das System überlisten
wollte, wird nun zu einem Opfer des
Systems; er wird einer Gehirnoperation
unterzogen und willens- und gefühlsunfähig
gemacht. Wer sich nicht normal verhält und
dabei nicht psychisch gestört ist, ist
gefährlich und wird ausgeschaltet. Der
Indianer hat Mitleid mit dem apathischen
McMurphy. Er erstickt ihn mit einem Kissen
und flieht allein “über das Kuckucksnest”.
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“Einer flog über das Kuckucksnest” ist kein kritischer Bericht über psychiatrische Kliniken
und Heilanstalten, sondern eine Gesellschaftssatire mit deutlichen Parallelen zu einem
System, das mit menschenverachtenden Reglementierungen, vorgezeichneten Wegen
und verschlossenen Türen individuelle Lebensformen nicht erlaubt und nur angepaßte
Verhaltensmuster zuläßt. Der Film plädiert für engagierte Auflehnung gegen inhumane
Unterdrückungsmechanismen einerseits und für die Notwendigkeit des Aufeinanderzuund Aufeinandereingehens andererseits. Er wurde unter Mitwirkung echter Patienten im
Oregon State Hospital in Salem gedreht.
Jack Nicholson hatte sich auf seine Rolle intensiv vorbereitet und während der
Dreharbeiten viel Freiraum für Improvisationen, was dem Film seine authentische Note
verleiht. Nicholsons schauspielerische Leistung wurde mit einem der insgesamt vier
großen Oscars, die der Film 1975 gewann, ausgezeichnet. Es ist aber nicht nur der Film
von Jack Nicholson, sondern auch der des im Mai 1987 im Alter von 53 Jahren
verstorbenen Schauspielers Will Sampson. Er war Begründer und Führer der Indian
Talent Registry, einer zentralen Organisation für indianische Mitarbeiter in den Medien.
Seiner Rolle wegen gehört Formans Film zu den wenigen von über zweitausend
“Indianer”-Filmen, die wegen ihres Bruchs mit diffamierenden Klischeefiguren von den
indianischen Filmemachern und Schauspielern geschätzt und positiv beurteilt werden.
Koproduzent Michael Douglas bewies eine glückliche Hand, als er die Stoffrechte an
“Einer flog über das Kuckucksnest” seinem Vater Kirk abkaufte, der diese zuvor für eine
(nicht sonderlich erfolgreiche) Bühnenfassung des Romans erworben hatte. Mit Milos
Forman nahm er einen Regisseur unter Vertrag, der 1970 in seinem ersten in den Staaten
gedrehten Film “Taking Off” – das Porträt einiger Jugendlicher, die dem Establishment
den Rücken kehren – bereits bewiesen hatte, daß seine Beobachtungsgabe und sein
Geschick für spöttische Gesellschaftskritik auch außerhalb des vertrauten sozialistischen
Alltags nicht an Schärfe und Treffsicherheit eingebüßt hatten.
Milos Forman, geboren 1922 in Čáslav/ČSSR, besuchte die Filmhochschule in Prag und
debütierte 1963 mit einer witzigen Dokumentar-Montage über Amateur-Wettbewerbe. In
den in der ČSSR entstandenen Filmen “Der schwarze Peter” (1963), “Die Liebe einer
Blondine” (1965) und “Anuschka – es brennt, mein Schatz” (1967) erwies er sich als
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treffsicherer Karikaturist spießbürgerlicher Verhaltensnormen, die er – meist liebevoll und
ironisch, manchmal aber auch überspitzt und sarkastisch ins Bild setzte. Seine Filme, von
den Offiziellen wenig geschätzt, waren beim Publikum überaus erfolgreich und setzten die
Maßstäbe für das tschechoslowakische Filmschaffen des Prager Frühlings.
1968 ging Forman nach Hollywood, wo ihm mit “Einer flog übers Kukkucksnest” der große
Durchbruch gelang. Nach diesem Erfolg wurden ihm lange Zeit keine passenden Stoffe
mehr angeboten, so daß er sich 1979 mit mutigem Elan an die Verfilmung des
angestaubten Bühnenmusicals “Hair” wagte. Mit einem politisch aktualisierten
Handlungsrahmen und schnellen, rhythmischen Bild- und Musik-Montagen gelang ihm
das Kunststück, an untergegangene Werte der Hippie-Kultur zu erinnern: an Protest und
Widerstand gegen Repression und Waffengewalt.
1981 setzte Forman mit “Ragtime” nicht nur der Musik der Schwarzen ein Denkmal,
sondern auch dem Hollywood-Star James Cagney (gestorben 30. 3. 1986); hier in seiner
letzten großen Rolle: diesmal kein draufgängerischer Kleingangster, sondern ein
abgeklärter, mit allen Wassern gewaschener Polizeichef. Mit “Amadeus” (1984) konnte
Forman seinen Erfolg von 1975 wiederholen und sogar noch übertreffen: Der Film erhielt
insgesamt acht Oscars. Forman wurde zum zweiten Mal als “bester Regisseur”
ausgezeichnet.
Helmut Regel
48 Das Kabinett des Dr. Caligari
(Deutschland 1919/20)
Regie: Robert Wiene. Buch: Carl Mayer, Hans Janowitz. Kamera: Willy Hameister.
Bauten: Walter Röhrig, Hermann Warm, Walter Reimann. Darsteller: Werner Krauss,
Conrad Veidt, Lil Dagover, Friedrich Fehör. Länge: 70 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
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Der auch im Ausland wohl bekannteste deutsche Stummfilm ist eine GruselKriminalgeschichte. In einem norddeutschen Provinzstädtchen namens Holstenwall
präsentiert der Schausteller Dr. Caligari (Werner Krauss) auf dem Rummelplatz ein
Medium, den Somnambulen Cesare (Conrad Veidt). Cesare wird tags aus seinem
“Cabinet”, einer Holzkiste, geholt, um den Schaulustigen ihr Schicksal vorherzusagen, und
nachts unter hypnotischem Befehl ausgeschickt, um schlafwandelnd zu morden. Der
unfreundliche Stadtsekretär wird ebenso erstochen wie der junge Alan, dem Cesare den
Tod vorausgesagt hat. Als Cesare auch das Mädchen Jane (Lil Dagover) umbringen soll,
erwacht erstmals sein innerer Widerstand. Er verschleppt Jane und stürzt auf der Flucht
ab. Franzis, Janes Freund, entlarvt Caligari als Direktor einer nahen Irrenanstalt, der –
fasziniert von einer Chronik des 18. Jahrhunderts – in die Figur Caligaris geschlüpft ist,
um mit einem Patienten als Cesare wissenschaftlich zu experimentieren. Cesares Tod
läßt Caligari in geistige Umnachtung fallen: Er wird Insasse seiner eigenen Anstalt.
Der Stoff könnte aus der deutschen Romantik, etwa von E. T. A. Hoffmann, stammen. Die
romantische, geheimnisvoll abgründige Nacht- und Spukwelt der Kunst- und
Automatenmenschen, der Widergänger und Vampire hat den frühen deutschen Stummfilm
nachhaltig beeinflußt, beginnend 1913 mit dem “Student von Prag”, verstärkt dann nach
dem Ersten Weltkrieg.
Die Kernhandlung des “Caligari”, ein vom Grauen durchtränkter Alptraum, wurde
allerdings in ihrer Rigorosität durch eine Rahmenhandlung abgeschwächt. Franzis erzählt
im Garten einer Irrenanstalt die Handlung als eine Art Rückblende und verwandelt in
Wahnvorstellungen seine Mitpatienten in die Figuren einer Fieberphantasie-Geschichte.
Der dämonische Direktor alias Caligari erweist sich in der Rahmengeschichte als gütiger
Arzt und Psychotherapeut, der am Schluß den Ursachen für Franzis' Verwirrung auf die
Spur kommt.
Wer für die Rahmenkonstruktion letztlich verantwortlich zeichnete, ob der Regisseur Dr.
Robert Wiene, der Produktionsleiter Rudolf Meinert oder der Vorstand der produzierenden
Decla-Film-Gesellschaft Holz & Co., bleibt im Dunkel. Die Autoren Hans Janowitz und Carl
Mayer jedenfalls stellten sie später als eine Verfälschung ihres Drehbuchs dar. In der
Gestalt des Dr. Caligari sei der Vertreter staatlicher Autorität und Allmacht attackiert
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worden, die ihre willenlosen Untertanen, die Cesare-Menschen für ihre Militär- und
Kriegsmaschinerie mißbraucht. Diese a posteriori-Deutung der Autoren, der auch
Siegfried Kracauer in “Von Caligari zu Hitler” folgt, läßt sich nur schwer beweisen. Auf
jeden Fall decouvriert die Kernhandlung eine etablierte wissenschaftliche Autorität als
Verbrecher, später als Geisteskranken; die Rahmenkonstruktion stellt das Ansehen des
“Herrgotts in Weiß” wieder her.
Bei Betrachtung der deutschen Filme nach 1918 bot es sich an, ganz besonders “Caligari”
als Ausdruck des Zeitgeistes zu verstehen. Man konnte ihn als das psychische
Seismogramm einer zerrissenen Gegenwart lesen, einer durch die Kriegsschrecken und
den Zusammenbruch vom November 1918 verwundeten Volksseele. In einer Zeit, die aus
den Fugen war, durfte der Bürger seine Ohnmacht und seine Ängste im Grauen von
Holstenwall gespiegelt sehen. Nicht nur Kracauer deutete “Caligari” und verwandte Filme
auf diese Weise. Der Dr. Caligari schien ihm eine Reihe tyrannisch-despotischer
Schreckgestalten anzuführen, die bei Hitler endete. Dem läßt sich widersprechen. Der
bedrückte und zerrissene Bürger sucht im Film die Idylle, die heile Welt. Das Publikum
dagegen, das im Kino einen Gruselthriller wie “Caligari” honorierte, war im Sommer 1919,
als er entstand, längst wieder zum Gleichmaß konservativen Lebens – fast wie vor 1914
zurückgekehrt, vor allem in der deutschen Provinz. Das Jahr 1918 war keine Zäsur, die
Revolution nicht durchgedrungen, Spartakus vergessen. Umbruch, Aufbruch, das fand in
wenigen geistigen Zentren Deutschlands in den Köpfen von Intellektuellen und Künstlern
statt.
“Caligari” entstammt dem Brodeltopf des Nachkriegs-Berlin, randvoll von Ideen,
Innovationen, Kreativität. “Caligari” verdankt seinen Weltruf drei expressionistischen
Bühnenarchitekten und Malern, Mitgliedern der Berliner Künstlergruppe “Der Sturm”:
Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig. Die bescheidene Produktionsfirma
Decla konnte sich für die Ausstattung den berühmten Alfred Kubin, den sein Prager
Landsmann Janowitz vorgeschlagen hatte, nicht leisten.
Auch für Außenaufnahmen, für aufwendige Freigelände-Bauten war kein Geld da. Zur
Verfügung stand nur das enge Lixi-Atelier in Berlin-Weißensee, in dem der Film in nur
viereinhalb Wochen – drei Bautage inbegriffen – abgedreht wurde.
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So ergab sich für Warm, Reimann und Röhrig, die drei Expressionisten, die einmalige
Chance, aus der Not eine Tugend, das heißt, aus Pappe und Sperrholz eine völlig
unnaturalistische, visionäre Alptraumwelt zu machen. “Das Filmbild muß Graphik werden”,
so Hermann Warm. Alle Interieurs und Exterieurs des Films wurden daher in
aperspektivische Kulissen zerbrechender Formen gefaßt. Groteske ZerrspiegelVerkürzungen und Überdehnungen, zuckende Linien, schlingernde Ornamente trafen
genau den Kern der Filmhandlung. Die Lichtgebung überließ man nicht den JupiterLampen, sondern malte die Dissonanzen von greller Helligkeit und tiefer Schwärze
unmittelbar auf die Kulissen auf.
In analoger Weise wurden übrigens auch die Darsteller geschminkt. Das Gerücht hält
sich, dies alles habe auch mit unbezahlten Stromrechnungen des Lixi-Ateliers zu tun
gehabt. Der Graphik der Kulissen, die wie riesige, farbig ausgetuschte Kohlezeichnungen
wirkten, korrespondierten Gestik und Mimik der Akteure. Vor allem Veidt und Krauss, mit
dem expressionistischen Theater verbunden, verwandelten in pantomimischer
Verbiegung ihre Körper in Arabesken.
Weitere Schauspieler dieser Qualität standen dem talentierten Robert Wiene leider nicht
zur Verfügung, dessen große Regieleistung wohl vor allem in der Rhythmisierung des
Films – zwischen Idylle und Abgrund, zwischen Ritardando und Beschleunigung – zu
sehen ist. Unauffällig-konventionell bleibt im Film lediglich die Kamera Willy Hameisters.
Leider steht auf Video bisher nur die Schwarzweißfassung des “Caligari” zur Verfügung.
Zugänglich sollte auch die originale Farbversion werden, die das Bundesarchiv-Filmarchiv
in Koblenz 1982 rekonstruierte – mit den expressionistischen Original-Zwischentiteln. Wie
die meisten Stummfilme bis zur Mitte der 20er Jahre war “Caligari” ursprünglich “viragiert”,
das heißt, nachträglich künstlich in monochromen Tönen eingefärbt. Die Tagesszenen
erschienen in Braungelb, die Nachtszenen in Blaugrün und Janes Salon in Blaßrosa. Die
Rahmenhandlung wies sogar eine Zweifarben-Kombination auf; das blaugetonte Bild
stand auf einem braungelb gefärbten Grund.
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Thomas Brandlmeier
49 Die Spur des Falken
The Maltese Falcon (USA 1941)
Regie: John Huston. Buch: John Huston, nach einem Roman von Dashiell Hammett.
Kamera: Arthur Richards. Schnitt: Thomas Richards. Musik: Adolph Deutsch. Darsteller:
Humphrey Bogart, Mary Astor, Gladys George, Peter Lorre, Sydney Greenstreet, Walter
Huston. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Als John Huston 1941 mit “The Maltese Falcon” seinen ersten Film drehte, gelang ihm auf
Anhieb ein Klassiker der Filmgeschichte. Dies ist nicht die einzige und auch nicht die
erste Verfilmung von Dashiell Hammetts gleichnamigem Roman, aber mit dieser schuf
Huston eines der ersten gültigen Beispiele des amerikanischen film noir. Der film noir läßt
sich in seiner Blütezeit auf die Jahre 1941 bis 1953 datieren und steht unverkennbar im
Kontext von Weltkrieg, Nachkriegstrauma und der ersten hysterischen Phase des kalten
Krieges. Hollywood fand im film noir Bilder von einer pessimistischen Düsternis, wie man
sie im Land des American dream bis dahin nicht kannte. Die Ängste und Konflikte, die
unter der Tünche der offiziellen Euphorie hochkamen, fanden in dieser verwandelten
Form einen Ausdruck. Es waren Filme, die so heiße Eisen wie die Beziehung der
Geschlechter in Kriegs- und Nachkriegszeiten, die psychischen und moralischen
Erschütterungen in Krisenzeiten oder die Zerrüttung und Zerstörung von Familien in die
Form ›schwarzer Melodramen‹ kleideten. Oft, aber nicht notwendigerweise, ging es dabei
auch um einen Kriminalfall. Autoren wie Hammett, Chandler, Cain mit ihren bitterbösen
und zynischen Kriminalromanen fanden in dieser Epoche ihre kongenialen Verfilmungen.
Hauptfigur ist in “The Maltese Falcon” Privatdetektiv Samuel Spade/Humphrey Bogart.
Nach einem establishing shot von San Francisco beginnt der Film im Büro von Spade. Im
Fenster sehen wir den Schriftzug “Spade and Archer”, aber von hinten gefilmt, so daß die
Schrift verkehrt erscheint. Eine aufgetakelte Miss Wonderly/Mary Astor tischt eine
Geschichte von ihrer Schwester auf, die mit einem verheirateten Mann verschwunden sei.
Bogarts Partner Archer kommt hinzu, ist von der Dame angetan und will die Recherchen
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übernehmen. Die Szene schließt mit dem Schriftzug “Spade and Archer”, diesmal nicht
mehr verkehrt, aber als bedrohlicher Schattenwurf am Boden. Das ist programmatisch für
den Film: der äußere Schein der Wirklichkeit ist ein trügerisches Vexierspiel; erst die
düstere Schattenseite ergibt ein richtiges Bild. Archer, der auf den Schein hereinfällt, ist
mit Beginn der nächsten Szene schon tot.
Alle Figuren in diesem Film sind nicht das, was sie vorzugeben scheinen. Mary Astor ist
kein schutzbedürftiges Dämchen, sondern die typische noir-Frau, die Männer für ihre
Zwecke gegeneinander ausspielt: der männliche Alptraum von Emanzipation in der
Konkurrenz-Gesellschaft. Elisha Cook Jr. ist ein Möchtegern-tough guy, Sidney
Greenstreet ein Möchtegern-big boss, Peter Lorre ein Möchtegern-Hochstapler, und die
trauernde Witwe von Archer hatte jede Menge Liebhaber. Das bad girl (Mary Astor) wird
im film noir oft durch das good girl ausbalanciert: die Sekretärin von H. Bogart, die aber
weit mehr als nur seine Sekretärin ist. Der einzige, der sich scheinbar selbst gleich bleibt,
ist die Hauptfigur des Privatdetektivs. Doch der Verlauf der Handlung und die
Erzähltechnik Hustons verlagern sich vom äußeren Geschehen zusehends in die Person
von H. Bogart.
Schon die Rolltitel zu Beginn des Films warnen vor dem ominösen Malteserfalken, hinter
dem alle her sind: “Its fate remains a mystery to this day.” Und zum Ende des Films
bekennt Bogart über die Statue: “Das ist der Stoff, aus dem man Träume macht.” Die
Recherche des Privatdetektivs gilt einem Phantom (der Falke entpuppt sich als
Fälschung), seine Recherche wird immer mehr eine Recherche in eigener Sache.
Zunächst mit einem handfesten Motiv: sein Partner ist ermordet und er selbst steht unter
Mordverdacht. Aber er drängt sich selbst in die Ecke, indem er alle Seiten, Polizei und
Gangster, provoziert. Auch das Motiv ›Geld‹ löst sich zum Schluß in Luft auf, weil er auf
das Geld verzichtet. Auf die Frage, wen er eigentlich vertritt, antwortet er “mich selbst”.
Die Kamera filmt ihn immer wieder über die Schulter, also aus einem pseudosubjektiven
Blickwinkel. Seine persönliche, psychische Involvierung in dem Fall wird unübersehbar; in
einer Szene markiert er den starken Mann, danach wischt er sich den kalten Schweiß von
den zitternden Händen. Der Fall entwickelt sich zu einem bad trip: narkotisiert, derangiert,
übernächtigt und bis über beide Ohren in der Klemme.
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Im Zentrum der eigentlichen Geschichte, dieser modernen Odyssee Bogarts, die durch
Autos und Telefone rasend beschleunigt ist, steht seine Beziehung zu Mary Astor. Diese
Beziehung stellt sich als ein einziges riesiges Lügenrätsel dar, durch das der
Privatdetektiv den Weg der Selbstfindung beschreiten muß. Miss Wonderly taucht auf,
gibt einen Beschattungsauftrag, zwei Leichen bleiben zurück, Miss Wonderly ist
verschwunden. Dann taucht sie wieder aus der Versenkung auf, gibt sich mit richtigem
Namen als Brigid O'Shaugnessy zu erkennen. Indem sie sich zerknirscht gibt und sich
selbst der Lüge bezichtigt, nimmt sie Bogart den Wind aus den Segeln: Er wird den Fall
weiter bearbeiten.
Diese zweite Unterredung ist wiederum mit bedrohlichen Schatten charakterisiert, diesmal
von Jalousetten. Bei einer dritten Unterredung mit Mary Astor tituliert Bogart sie bereits
“Lady Wonderful”, weil sie ihm jedesmal neue Lügen auftischt. Sie verspricht, ihn nicht
mehr anzulügen und markiert die schwache Frau, die Hilfe braucht. Auf seine Feststellung
“Ich kann nur für Sie arbeiten, wenn Sie mir die Wahrheit sagen”, entgegnet sie
ausweichend: “Dafür kenne ich Sie zuwenig.” Bogart revanchiert sich mit einem langen
Kuß. Und dies, nachdem durch ihre Schuld sein Partner ermordet wurde, er in
Mordverdacht geriet und wiederholt bedroht wurde.
Mary Astor haspelt ihren Text nur so runter und verdeckt ihre Lügen durch eine rasante
Produktion neuer Fallstricke. Bogart markiert den Coolen, reagiert mit sarkastischen
Euphemismen wie “You're good, you're very good”, aber reitet sich sehenden Auges und
dennoch blind gegenüber sich selbst immer weiter rein. Nach einigen weiteren
Umdrehungen der Schraube kommt es zu der berühmten Schlußaussprache zwischen
Mary Astor und Bogart. “Du lügst! Du lügst wieder” ... “Ich habe dich geliebt” ... “Wenn du
Glück hast, dann kommst du nach 20 Jahren wieder raus, wenn sie dich nicht vorher
aufknüpfen” ... “Du liebst mich nicht” ... “Ich will nicht den Trottel für dich spielen, auch
wenn alles in mir danach verlangt ... Mag sein, du liebst mich, mag sein, ich liebe dich.”
Danach ein Kuß. Und dann liefert er sie der Polizei aus: “Da ist noch einer für euch ... Sie
hat Archer getötet.” Mary Astor wird zum Fahrstuhl geführt, zwei Gittertüren schließen sich
vor ihr. Bogart geht zur Treppe: nach unten. Der Privatdetektiv war schon zu weit in das
Labyrinth des Lügenrätsels verstrickt. Auf der Ebene des äußeren Scheins hat er den Fall
gelöst. Auf der Ebene seines eigenen Falls hat er sich unrettbar an ein Phantom verloren.
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Ein Phantom, für das das Fetischobjekt des Falken, aus dem man die Träume macht, nur
Metapher ist; die Frau, die echt und falsch, good girl und bad girl, Vamp und treue
Gefährtin zugleich ist.
Bleibt noch nachzutragen, daß Bogart in der Schlußaussprache eine scheinbare Erklärung
für sein Verhalten liefert. “Hör zu: Wenn der Partner eines Mannes getötet wird, erwartet
man, daß er was unternimmt.” Die Ähnlichkeit des Wortlautes mit F. D. Roosevelts
berühmter Erklärung vom 17.12.1940, die den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg
früher oder später unvermeidlich machte, ist eine bemerkenswerte Koinzidenz. Und beide
Erklärungen sind moralisierende Lügen, die den Eigennutz verdecken. Bogart/Spade hat
zum Schluß seine Haut gerettet, aber – trotz zahlloser anderslautender Interpretationen –
seine Integrität verloren.
Anm.: Die hier wiedergegebenen deutschen Textvarianten und Teile des Originaltextes
sollen etwas von der Prägnanz des Originals vermitteln. Aber wenn Peter Lorre “black
burrd” sagt, muß man das wirklich im Original gehört haben!
Horst Schäfer
50 Nosferatu
(Deutschland 1921-22)
Regie: Friedrich Wilhelm Murnau. Buch: Henrik Galeen, frei verfaßt nach dem Roman
“Dracula” von Bram Stoker. Kamera: Fritz Arno Wagner und Günther Krampf. Kostüme
und Bauten: Albin Grau. Begleitmusik: Dr. Hans Erdmann. (Neue Musikverfassung:
Peter Schirmann). Darsteller: Max Schreck, Alexander Granach, Gustav von
Wangenheim, Greta Schröder. Länge: 64 Minuten (bei 24 Bildern pro Sekunde). Vertrieb:
atlas film + av.
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Bremen 1838. Aus dem Tagebuch des Johann Cavallus, des begabten Historikers seiner
Heimatstadt Bremen: “Nosferatu! Dieser Name allein kann das Blut erstarren lassen!
Nosferatu! War er es, der im Jahre 1838 die Pest nach Bremen brachte?”
Ja! Und das kam so: Jonathan Harker erhält von seinem Arbeitgeber, dem Makler
Renfield, den Auftrag, nach Transsylvanien zu fahren. Graf Dracula möchte in Bremen ein
Haus kaufen, das genau dem von Harker gegenüberliegt. Kurz vor dem Ziel seiner Reise
wird Harker von Bauern gewarnt, die Burg des Grafen zu betreten. Nachts im Gasthof liest
er noch im “Buch der Vampire” eine weitere Warnung vor “Nosferatu”: “... dieser Name ist
wie der Schrei eines Raubvogels. Sprich ihn niemals laut aus ... ”
Am nächsten Tag gelangt Harker auf gespenstisch anmutende Weise in die Burg des
Grafen, eines sonderbaren Mannes mit kantigen Gesten, finsterem Aussehen, einer
skelettartigen Figur, düsteren Augen und langen, krallenähnlichen Fingern. Nach und
nach entdeckt Harker, daß er sich in der Gewalt eines Vampirs befindet, der nicht nur für
ihn, sondern auch für seine ferne Frau Nina zur Bedrohung wird. Nach der
Vertragsunterzeichnung bereitet der Graf seine Abreise vor. Er nimmt sechs Särge mit
ungeweihter Heimaterde mit, in denen er ruht, wenn es Tag ist. Harker bleibt allein zurück,
kann aber wenig später fliehen, wird verletzt und von Bauern gepflegt.
Graf Dracula reist nach Bremen; wo er sich aufhält, bricht eine Pestepidemie aus. Mit
einem Schiff, dessen Mannschaft unterwegs stirbt, gelangt er ans Ziel; unbemerkt geht er
an Land und zieht in sein neues Domizil ein. Fast gleichzeitig mit ihm trifft auch Harker zu
Hause ein. Mit dem Schiff kam auch die “Pest” nach Bremen, die täglich neue Opfer
fordert. Nina ahnt, wie sie das Unheil beenden kann. Sie “hält den Vampir an ihrer Seite,
bis daß der Hahn kräht”. Die Sonne geht auf, Nosferatu löst sich in ein Rauchwölkchen
auf, und die Stadt ist gerettet.
Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) gehört zu den Regisseuren, die zu Beginn der
zwanziger Jahre den deutschen Filmexpressionismus begründeten (der indes nicht mit
dem Vorbild des Expressionismus in der Literatur und in der Malerei verwechselt werden
sollte). Durch die Ausformung expressionistischer Stilmittel (unter anderem die Verzerrung
der äußeren Welt, um die Psyche des Menschen auszudrücken) entstand ein
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filmkünstlerisches Genre, das den Ruhm der deutschen Filmklassik begründete. Zu
Murnaus bekanntesten Filmen zählen die Dr. Jekyll and Mr. Hyde-Version “Januskopf”,
“Der letzte Mann”, “Tartüff” und “Faust”. 1926 ging er nach Hollywood, wo er sein
Meisterwerk “Sunrise” drehte. Murnau starb 1931 an den Folgen eines Autounfalls.
“Nosferatu” hält sich nicht an die Handlungsabfolge und Struktur des 1897 erschienenen
Romans “Dracula” von Bram Stoker. Personen, Charaktere und Schauplätze wurden
wesentlich geändert. Seine besondere künstlerische Bedeutung gewinnt der Film
dadurch, daß Murnau den Vampir-Grafen Dracula nicht als billige Spukgestalt oder
Horrorfigur zeichnet, sondern zur Personifizierung der Pest erhebt – einer konkreten und
vorstellbaren Gefahr.
Im Gegensatz zu anderen expressionistischen Filmen, die in Studios gedreht wurden,
bevorzugte Murnau hier Außenaufnahmen; unter anderem dreht er in den Karpaten, in
Wismar und in der Lübecker Altstadt, wo heute noch die Salzspeicher zu sehen sind, in
denen Nosferatu seine Särge unterstellte. Natur, Landschaft, Gebäude und Menschen
sind nicht Kulisse, sondern Teil einer durchkomponierten, sich verdichtenden Handlung,
die von einer gespenstischen Stimmung getragen wird.
Der Drehbuchautor war Henrik Galeen, dessen Vorliebe für phantastische Stoffe
(“Golem”) bekannt war. Kostüme und Bauten stammen von Albin Grau, dem auch die Idee
zugeschrieben wird: Im Kriegswinter 1916 hörte er in Serbien einen alten Bauern von
einem “Untoten”, einem “Nosferatu”, berichten.
Der Film “Nosferatu” jedenfalls ist das erste bedeutende Werk des Genres der
Vampirfilme und löste eine Reihe von faden Imitationen aus, die beispielsweise heute
noch in den Zombie-Filmen variiert werden. Nur wenige dieser Filme, unter anderem
“Dracula” von Tod Browning, USA 1931, sind von filmgeschichtlicher Bedeutung; meistens
wird der Stoff respektlos ausgebeutet. Exemplarisch geschah dies 1978 mit Werner
Herzogs Remake des Murnau-Films “Nosferatu – Phantom der Nacht”: Murnaus
filmschöpferische Leistung wurde als Vorlage für das Starkino amerikanischer Konfektion
mißbraucht.
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“Nosferatu” wurde seinerzeit ohne Sicherung der Stoffrechte produziert. Bram Stokers
Witwe führte gegen die Produktionsfirma einen Prozeß, den sie 1925 gewann. Der Film
sollte vernichtet werden, aber dafür war es schon zu spät, denn zuvor waren schon
Kopien ins Ausland verkauft worden. 1930 kam in Deutschland unter dem Titel “Die
zwölfte Stunde” eine Fassung auf den Markt, die durch Hinzufügungen, Umstellungen und
eine vertonte Überarbeitung dem Original wenig ähnlich war; Murnaus Name wurde nicht
mehr erwähnt.
Enno Patalas, der Leiter des Münchner Filmmuseums, hat sich jahrelang um die
Rekonstruktion von “Nosferatu” bemüht und durch Auswertung der verschiedenen
Auslandsfassungen und -bearbeitungen sich dem Original “angenähert”. Diese
(vorläufige) Endfassung ist leider noch nicht auf Video erhältlich. Wer mehr über Murnaus
“Nosferatu” erfahren möchte, ist auf das Buch von Lotte H. Eisner (“Murnau”,
Kommunales Kino Frankfurt 1979, 664 Seiten) angewiesen. Es enthält unter anderem das
Faksimile des von Murnau beim Drehen verwendeten Originalskripts des Films.
Hans Gerhold
51 Apocalypse Now
Apocalypse Now (USA 1976-79)
Regie: Francis Coppola. Buch: John Millus, Francis Coppola, nach Motiven des Romans
“Herz der Finsternis” von Joseph Conrad. Kamera: Vittorio Storaro. Musik: Carmine
Coppola, Rock-Songs. Darsteller: Marlon Brando, Robert Duvall, Martin Sheen, Frederic
Forrest. Länge: 153 Minuten. Vertrieb: marketing film.
Es sollte ein kleiner “persönlicher” Film werden, doch die dreijährigen Dreh- und
Montagearbeiten trieben die Produktionskosten von Francis Coppolas (den zweiten
Vornamen “Ford” hat er 1977 streichen lassen) Vietnam-Kriegs-Vision auf den damaligen
Rekord von 30,5 Millionen Dollar. Die Dreharbeiten auf den Philippinen verursachen eine
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Inflation im Land, Taifune und Umbesetzungen der Hauptrolle gefährden das Projekt,
Coppola selbst findet keinen adäquaten Schluß; noch am 18. Mai 1979 wird “Apocalypse
Now” als “work in progress” gezeigt und führt zu einem Präzedenzfall: Der noch unfertige
Film erhält (ex aequo mit Volker Schlöndorffs “Blechtrommel” nach dem Roman von
Günter Grass) die “Goldene Palme” der Filmfestspiele von Cannes, später, in der
integralen Fassung, zwei der begehrten “Oscars” für Kamera und Ton.
So berühmt wie umstritten, ist Coppolas opusmagnum ein Anti-KriegsFilm und einer über
die Faszination des Krieges, ist er eine politische Stellungnahme zum Vietnam-Krieg und
die Evozierung eines Bewußtseinszustandes, ist er eine Reise in den Wahnsinn und ein
mystischer Monolith, ist er ein ästhetischer Rausch und die Beschwörung eines
Rock'n'Roll- und Drogen-Paradieses im Inferno eines zeitgenössischen Krieges, ist er
eine delirierende Weltuntergangs-Vision und eine die Maße sprengende Literaturadaption.
Vorlage war der im Ersten Weltkrieg in Afrika spielende Kurzroman des
englischsprachigen Polen Joseph Conrad: “Herz der Finsternis”, den Orson Welles 1939
verfilmen wollte, bevor er “Citizen Kane” drehte. Coppola behält das Motiv einer Flußfahrt
in Wahnsinn und Horror bei und überträgt es nach Vietnam im Jahre 1969: Captain
Willard (Martin Sheen) erhält im Hauptquartier der US-Truppen in Nha Trang den Auftrag,
mit einem Patrouillenboot den Nam-Fluß nach Kambodscha hinaufzufahren und dort im
Dschungel die Schreckensherrschaft des desertierten Elitesoldaten Colonel Walter E.
Kurtz (Marlon Brando verbreitet in dieser Rolle mit träger Konsequenz lähmendes
Entsetzen) zu beenden, der aus seinem delirierenden Zustand die Maßstäbe für wüste
Eingriffe in die Welt um sich her bezieht.
Auf dieser Reise, die eine Initiation in Verwüstung, Grauen, Tod und Mythos wird, erlebt
Willard wie in einem Stationen-Drama nicht so sehr den historisch fixierbaren und
situierbaren Vietnam-Krieg, sondern das, was man als die geistige und mythische
Erfahrung dieses Krieges im Bewußtsein und Unterbewußtsein bezeichnen kann.
Erschießungen, Panik, Feuersbrünste, Überfälle, Ausschreitungen und Bestialitäten über
jegliches Maß hinaus lösen sich im Verlauf des Films von ihrem zunächst realistischen
Hintergrund und verdichten sich zu einem Kontext, der die Philosophie des Schreckens,
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wie sie Kurtz dämonisierend predigt, mit einem Blick auf die im Umbruch befindliche
amerikanische Kultur verbindet.
Dieser ethischen und ästhetischen Prämisse konsequent folgend, eröffnet Coppola den
Film mit dem psychedelischen Rock-Song der Gruppe The Doors: Zu den Klängen von
“This is the end, beautiful friend, the end”, das Jim Morrison als ödipale
Endzeitabrechnung angelegt hat, liegt Willard im Alkoholrausch in einem Hotelzimmer,
während in faszinierenden Überblendungen und Doppelbelichtungen die Rotoren der
Klimaanlage in die Rotoren von Helikoptern übergehen. Eine derartige Strategie der
akustisch-visuellen Emotionalisierung durchzieht “Apocalypse Now” von der WasserskiSequenz zu Rolling-Stones-Musik bis zu einer Open-Air-Show mit eingeflogenen PlayboyBunnies, die vor den aufgeheizten Soldaten fliehen müssen, und zu jener gespenstischen
Sequenz im nächtlich illuminierten Schützengraben im Stützpunkt vor Kambodscha, mit
dem Feind in Ruf-, aber nicht Sichtweite.
Seinen Höhepunkt erreicht der Film in jener Sechs-Minuten-Sequenz, in der Lt. Colonel
Kilgore (Robert Duvall) mit seinen Helikoptern ein Dorf an der Flußmündung überfällt, um
einen Champion surfen zu sehen. Zur Musik von Wagners “Walkürenritt”, die aus den
Lautsprechern an den Helikoptern dröhnt, geht die Attacke wie ein Drogen-Trip
vonstatten. In der Kritik wurde diese Szene so heftig diskutiert wie die im Halbdunkel
gefilmten letzten Sequenzen in Kurtz' Lager und Dschungeltempel. Kurtz, der über den
Horror philosophiert, wird von Willard in einem rituellen Akt erschlagen, während in der
blutig allegorischen Parallelmontage die Dorfbewohner einen Büffel schlachten.
Im Kontext gleichzeitig entstandener Filme über Vietnam (“Coming Home”, “Die durch die
Hölle gehen”) und späterer Versuche der Abrechnung mit diesem Trauma der
amerikanischen Nation (“Platoon”) kommt “Apocalypse Now” heute der Rang einer
Prophezeiung zu. Denn fern des Realismus-Anspruchs schematischer Kriegs-Filme
vermittelt er im Fieberrausch seiner ästhetischen Visionen eines Rock- und DrogenKrieges mehr über den Horror, die Bewußtseinslage einer Nation und ihrer Politik, als es
ein Abbildungs-Maximen folgender Film leisten könnte. Darüber hinaus ist er durchaus als
filmische “Widerstandshandlung gegen den offiziellen politischen Wahnsinn” (Peter W.
Jansen) zu verstehen.
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Rolf-Rüdiger Hamacher
52 Singin' in the rain
Singin' in the rain (USA 1952)
Regie: Stanley Donen/Gene Kelly. Buch: Betty Comden, Adolph Green. Kamera: Wally
Heglin, Skip Martin. Musik: Nacio Herb Brown, Arthur Freed. Darsteller: Gene Kelly,
Debbie Reynolds, Donald O'Connor, Jean Hagen, Millard Mitchel, Cyd Charisse. Länge:
89 Minuten. Vertrieb: IMV.
Wenn es ein Werk in der Geschichte des Filmmusicals gibt, das den Zuschauer in
höchste psychische Erregung versetzt, ihm das Gefühl vermittelt, aufspringen und
mittanzen zu müssen, dann ist es: “Singin' in the rain”, die Bild- und Tonwerdung der
guten Laune.
1952 von Stanley Donen inszeniert, von Gene Kelly choreographiert, hat der Film die
Patina vieler Musicals der dreißiger und vierziger Jahre angelegt. Diese werden liebevoll
zitiert und karikiert. Ob man “Singin' in the rain” zum ersten oder zum hundersten Mal
sieht, der ästhetische Genuß dieses vor Lebensfreude übersprudelnden Musicals bleibt
der gleiche. Es ist wie die Erfüllung eines Traums, der uns zurückversetzt in die
Sehnsuchtsära der Goldenen Zwanziger. Und obwohl die Handlung auf den ersten Blick
banal klingt, die traditionellen Pfade des Musicals nicht zu verlassen scheint, gelingt es
der Regie durch ihre Originalität und Poesie, dem Genre ständig neue Reize
abzugewinnen.
Hollywood 1927: Don Lockwood (Gene Kelly) und Lina Lamont (Jean Hagen), das
Liebespaar des Stummfilms, stellen ihren neuesten Film “Prinz Übermut” vor. Schon in
der Eröffnungssequenz zeigen sich Absicht und Qualitäten der Inszenierung, die gekonnt
Realität und Illusion vermischt: Fast dokumentarisch wirkt die auf die Stars wartende
Menge vor Graumanns Chinesischem Theater, bis sich für Sekunden das herrlich
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komische Gesicht eines ausgeflippten Fans ins Bild schiebt. Und als Don der
kreischenden Menge von seinem “würdevollen” Aufstieg über klassische Rollen und
Musikakademie zum Musicalstar erzählt, zeigen die Bilder ihn als steppenden Knirps in
billigen Pubs und Stuntman in Seifenopern.
Nach der Premiere flieht Don vor seinen zahlreichen Verehrerinnen und landet im Wagen
des Chorus-Girls Kathy Seldom (Debbie Reynolds), das sich eigentlich zu Shakespeare
hingezogen fühlt. Für Dons Filmerei hat sie allenfalls ein mitleidiges Lächeln übrig:
Schließlich ist der Film nur eine Unterhaltung für die breite Masse. Und auch diese These
machen Donen/Kelly zu einem Thema ihres Films, beweisen, wie sehr man diese Spezies
unterschätzen kann.
Ohne jede Länge, ohne ein überflüssiges Detail schlagen die beiden Regisseure uns vom
ersten bis zum letzten Bild in Bann. Don gelingt das bei Kathy erst im zweiten Anlauf.
Nachdem er sie bei einer Party aus einem überdimensionalen Geburtstagskuchen
springen sah, war sie verschämt geflohen, nicht ohne die eifersüchtige Lina, wenn auch
versehentlich, mit einer Sahnetorte beehrt zu haben. Die Diva verfügt daraufhin Kathys
Rausschmiß. Aber Don sucht sie fortan allerorten in allen Torten. Da kommt ihm die
(Film-)Geschichte zu Hilfe: Der Tonfilm erobert Hollywood.
Für die einen bedeutet das neuen Starruhm, für andere das Ende ihrer Karriere. Auch das
dumme Blondchen Lina muß um seine Zukunft bangen, denn die piepsige Stimme ist
völlig ungeeignet für das neue Medium. Don überzeugt den Produzenten, Kathy als
Stimm-Double für Lina verpflichten zu müssen und gemeinsam mit seinem Freund Cosmo
(Donald O'Connor) schreiben sie das geplante Melodram zu einem Musical um.
Der Film wird ein triumphaler Erfolg. Lina, die Don auch privat besitzen will, versucht
Kathys Karriere zu verhindern, aber Don und Cosmo verhelfen Kathy durch einen Trick
zum verdienten Applaus. Das Happyend zeichnet sich ab: Don und Kathy werden im Film
und im Leben ein Paar sein. Auch hierfür findet der Film eine schöne Bildmetapher: Auf
einem überdimensionalen Filmplakat zu “Singin' in the rain” lächeln sich Don und Kathy
an. Und als die Kamera zurückfährt sieht man beide vor der Plakatwand stehen und sich
küssen.
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Von diesen ironischen Brechungen und einer gleichzeitig allgegenwärtigen Poesie lebt
der ganze Film, der sich wie eine Anthologie der Geschichte des Musicals ansieht und
anhört, ohne zum Plagiat zu verkommen. Nicht zufällig sind die Songs – bis auf einen –
bei der Entstehung des Films schon 13 bis 23 Jahre alt, wurden von Nacio Herb Brown
(Musik) und Arthur Freed (Text) für ihre Broadway-Shows und Filmmusicals der späten
zwanziger und dreißiger Jahre komponiert. Es beginnt mit dem in der traditionellen
Vaudeville-Szenerie spielenden Kelly/O'ConnorDuett “Fit as a fiddle”, setzt sich in der
auch musikalisch an den Kelly/Garland-Song “Be a clown” aus “The Pirat” (1948)
erinnernden Burlesque “Make 'ein laugh” fort und gipfelt in einer Hommage an Busby
Berkely, dem Kelly/Donen in einer grandiosen Bild- und Ton-Montage huldigen, als sie die
Geburt des Tonfilms feiern.
In “Beautiful Girl” bekommen die extravaganten, statischen Ausstattungsrevuen der
dreißiger Jahre ihr Fett ab, während das große Schlußballett “Broadway Melody”
einerseits die Einfallslosigkeit der MusicalAutoren persifliert, anderseits eine das Original
übertreffende Reminiszenz an die erfolgreiche “Broadway-Melodies”-Serie der Metro ist.
Gene Kellys eigener dynamischer Tanzstil feiert wahre Triumphe in dem schon zum
Klassiker gewordenen Wasserballett “Singin' in the rain”, in dem das Regisseurgespann
sein Gespür für die Einheit von Musik und Bild auf eine schon geniale Ebene bringt. Wie
ein Partner begleitet die Kamera Gene Kelly bei seinem Tanz durch die Pfützen. Dieser
optische Rhythmus, auch ein Markenzeichen der später entstandenen Kriminalkomödien
Stanley Donens (“Charade”, 1963, “Arabesque”, 1965), wird noch augenfälliger in dem
Song “Moses supposes”, indem er sich mit dem Rhythmus der Sprache und der
Choreographie zu einem einzigen Bewegungsablauf verbindet, der in einer furiosen
Stepnummer und der Demontage des Dekors endet. Und wie “Make 'em laugh” zeigt auch
diese “Nummer” das große komödiantische und tänzerische Talent des Co-Stars Donald
O'Connor, der im Film und im Leben zu Unrecht im Schatten der Stars stand.
So gesehen ist “Singin' in the rain” auch die Wiederentdeckung eines von der
Filmgeschichte stiefmütterlich behandelten Künstlers, der zur Genialität von “Singin' in the
rain” das i-Tüpfelchen beisteuerte.
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Walter Schobert
53 King Kong und die weiße Frau
King Kong und die weiße Frau (USA 1932)
Regie: Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack. Buch: James Ashmore Creelman,
Ruth Rose, nach einer Story von Edgar Wallace. Kamera: Edwin G. Linden. Technische
Leitung: Wallis O'Brien. Musik: Fay Wray, Robert Armstrong, Bruce Cabot, Frank
Reicher. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: VPS.
“King Kong” zählt im Horrorgenre zum Typus der Monsterfilme und da wiederum zur
Spezies “Die Schöne und das Ungeheuer”. Der Film war besser als alle seine Vorbilder
und die meisten seiner Epigonen; er ist immer noch einer der erfolgreichsten Filme aller
Zeiten in seiner Gattung. Die Quellen, zumindest in Einzelmotiven, sind beim deutschen
Kino der zwanziger Jahre und in der englischen “Gothic novel” zu suchen, die wiederum
aus der Volksmythologie schöpfen konnte.
Verantwortlich für den Film war, abgesehen von Wallace, der den kleinsten Anteil daran
haben dürfte, ein Dreiergespann, das alle Voraussetzungen mitbrachte, einen Film zu
schaffen, der sogleich zum Klassiker wurde. Es handelte sich um den für die kleine und
rührige RKO Selznicks arbeitenden Produzenten Cooper, der die Idee für die Hauptfigur
des riesigen Menschenaffen hatte; um Regisseur Schoedsack, der schon einige
Erfahrungen mit exotischen Abenteuerfilmen gesammelt und gemeinsam mit Cooper “The
Most Dangerous Game” gemacht hatte; außerdem um jenen Mann, der es überhaupt erst
ermöglichte, die Ideen der beiden anderen filmtechnisch umzusetzen: Wallis O'Brien,
einen der brillantesten Trick-Leute Hollywoods.
O'Brien schuf die nur 45 Zentimeter große Figur der King-Kong-Puppe und erfand für den
Film ein neues Verfahren, bei dem, so Rolf Giesen in “Special Effects”, “die Darsteller
während der Animationsarbeiten einbildweise auf kleine Rückpro-Wände projiziert
wurden, die auf den Animationstischen zwischen Trickdekor und Trickpuppen aufgebaut
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waren. Auf diese Weise war eine vollkommene Integration der Hauptdarsteller in das
Trickgeschehen möglich geworden.”
O'Briens Gorilla ist ein von den Eingeborenen als König verehrter Menschenaffe, der auf
einer abgeschiedenen Südseeinsel lebt, als Urzeitungeheuer, das über die Menschen
ebenso uneingeschränkt herrscht wie über die anderen Fabelwesen, an denen sich
O'Briens Phantasie entzündete und von denen Fachleute versichern, es handle sich um
Stego-, Bronto-, Tyranno-, Elasmo- und Flugsaurier.
Kong soll Hauptdarsteller eines Films werden, den der Regisseur Carl Denham auf der
Insel drehen will. Zum Team gehört auch das Starlet Ann Darrow, eine arbeitslose
Statistin; Denham weiß, daß das Publikum nicht nur Nervenkitzel sucht, sondern sich
auch am Anblick einer schönen Frau delektieren will. Doch die kühle Blonde wird von den
Eingeborenen geraubt, denen sie als Opfer für den großen Kong gerade recht kommt.
Folgt der zweite Teil, der im Dschungel spielt und nicht nur zeigt, wie die
Rettungsexpedition Ann zu befreien versucht, sondern vor allem, daß der furchterregende
Affe sich ganz menschlich in die weiße Frau verliebt und sie gegen alle Angriffe der
anderen Ungeheuer und der Schiffsmannschaft verteidigt. Kongs Liebe ist so groß, daß er
den schützenden Urwald verläßt. Am Strand wird er von Denham mit einer Gasbombe
betäubt und schließlich überwältigt.
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Im dritten Teil wird der Streifen zum Katastrophenfilm. Denham bringt Kong nach Amerika,
um das urgeschichtliche Ungetüm in New York, dem Inbegriff der städtischen Zivilisation,
als achtes Weltwunder auszustellen. Doch Kong sprengt die Ketten, flieht und versetzt die
Stadt in Panik, um sein geliebtes Wesen wieder zärtlich in die mächtige, haarige Pranke
schließen zu dürfen. Mit Ann flüchtet er sich vor den Verfolgern auf das Empire State
Building. Flugzeuge greifen ihn an, er hascht nach ihnen, als wolle er Fliegen fangen.
Aber schließlich erwischt es ihn doch, er stürzt hinunter in die Straßenschluchten. Getötet
haben ihn aber eigentlich nicht die Flugzeuge mit ihren MGs. Die Regisseure lassen es
durch ihren Kollegen im Film so sagen: “It was Beauty killed the Beast.” Zeitgenössische
Kritiker bewunderten vor allem den technischen Aufwand und verglichen das filmische
Können mit der frappierenden Naivität des Stoffes und der Story. Seitdem hat sich die
Einschätzung freilich geändert: Geblieben ist der Respekt vor der Meisterschaft beim Bau
der Monster und bei ihrer Animation, aber immer mehr hat man gelernt, den Inhalt ernst
zu nehmen und seine tiefere Bedeutung neu zu sehen.
Was sich als triviale Unterhaltung gibt, spiegelt, Kracauer hat das am Beispiel des
deutschen Films der Weimarer Republik wegweisend dargestellt, gesellschaftlichpolitische Probleme der Zeit ebenso wie individuell-psychologische Traumata. “King Kong”
ist da keine Ausnahme: Seltsam ambivalent das Verhältnis zwischen dem Biest und der
schönen weißen Frau, die zwar Angst hat, sich aber auch zu dem Tier hingezogen fühlt.
Wie die Figur des Vampirs ist das Monster die Verkörperung sexueller Bedrohung und
Faszination, das unbewußte und verdrängte Wünsche evoziert: eine Beschwörung
pueriler Ängste.
Freilich: die Tierphobie hat durchaus eine politisch-historische Dimension – wie alle
Fantasyfilme. Sie waren (und sind) manchmal Vorboten kommenden und oft Metaphern
erlebten Schreckens – Godzilla etwa, der japanische Nachfolger Kongs, erscheint
geradezu als Atombombe in mythologischer Verkleidung. “King Kong” läßt sich ebenso
auf dem Hintergrund der Depression sehen wie auf dem des Rooseveltschen “New Deal”,
der aus ihr herausführen sollte: als eine eskapistische Einladung zum Verdrängen der
Angst ebenso wie die – optimistische – Beschwörung, daß beim anachronistischen Kampf
des alten Riesen mit dem modernen Giganten das zivilisierte Amerika siegt.
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Horrorfilme sind Spiegel ihrer Zeit. Und wie man heute manchmal bange und ängstlich
fragt, ob die wachsende Zahl von Endzeitfilmen uns auf neue, nie dagewesene Schrecken
vorbereiten soll, so muß man darauf hinweisen, daß “King Kong” nur einer, wenn auch
einer der schönsten, von vielen Filmen aus einer anderen Vorkriegszeit war – gerade weil
er uns, die von immer grelleren, lauteren, scheußlicheren und blutrünstigeren Filmen
überflutet werden, vergleichsweise brav, zahm und harmlos erscheint, wie ein geradezu
beruhigendes Märchen aus grauer Vorzeit, dessen Ungeheuer weniger Angst als
Mitgefühl vermittelt und richtig liebenswerte Züge hat. Aber harmlos ist höchstens King
Kong, der Film ist es nicht.
Meinolf Zurhorst
54 Gilda
Gilda (USA 1945)
Regie: Charles Vidor. Buch: Marion Parsonnet. Adaption: Jo Eisinger. Kamera: Rudolph
Maté. Musik: Morris Stoloff. Darsteller: Rita Hayworth, Glenn Ford, George Macready,
Joseph Calleia, Steven Gray. Länge: 110 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Sie verkörperte die weibliche Verführung schlechthin: Rita Hayworth, mit richtigem Namen
Margarita Carmen Cansino, war die Sexgöttin des Hollywood-Kinos der vierziger Jahre.
Vor allem ein Film brachte ihr diesen Ruf ein – “Gilda”, 1945 von Charles Vidor inszeniert,
die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Der eher mittelmäßige Film wurde
zum Klassiker des sensuellen Kinos allein durch ihre Auftritte. Berühmt wurde ihr Song
“Put the Blame on Mame, Boy”, in dem sie ironisch-verzweifelt ihre Stellung als Frau
umschreibt. Anschließend beginnt sie einen Striptease und fordert die Männer auf, ihr
beim Öffnen des Reißverschlusses behilflich zu sein.
Es war ein neues Frauenbild, das sich da in “Gilda” formulierte. Kurz nach dem Zweiten
Weltkrieg entstanden, zählt der Film zu der zweiten Phase des Films “Film noir”, der
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Schwarzen Serie. Der Begriff, erstmals 1946 von dem französischen Kritiker Nino Frank
verwandt, um die Kriminalfilme der frühen vierziger Jahre (“Der Malteser Falke”) zu
beschreiben, meint weniger eine thematische Homogenität als vielmehr einen Zeitraum
und dessen gesellschaftliche Ereignisse. Als Gegenstück zum heldenverehrenden
Kriegsfilm erzählen die “Film noirs” düstere Geschichten aus dem urbanen Dschungel
oder aus dem Dickicht extremer Leidenschaften.
Da im Krieg vor allem die zu Hause gebliebenen Frauen den stärksten Zuschaueranteil
stellten, gewannen Frauenfiguren im Kino an Profil. Nicht selten waren sie, im Guten wie
im Bösen, die treibende Kraft einer filmischen Handlung, bestimmten sie das Schicksal
(der Männer). Stars jener Jahre waren Joan Crawford, Bette Davis, Barbara Stanwyck,
Lauren Bacall und eben, seit “Gilda”, auch Rita Hayworth. Die Figur des “good bad girl”
erfuhr in diesem Film seine eindeutigste Formulierung: Im Grunde hat sie einen guten
Charakter, doch nach außen hin scheint Gilda verdorben und berechnend. Erst am Ende
bemerkt der männliche Held, daß ihr gesamtes Verhalten nur dazu diente, ihn
zurückzugewinnen.
Der Spieler Johnny Farrell (Glenn Ford) wird im nächtlichen Buenos Aires von dem
eleganten Ballin Mundson (George Macready) aufgelesen. Farrell übernimmt als Manager
dessen Spielcasino, wird sein Freund und Vertrauter. Als der Zweite Weltkrieg beendet
ist, verschwindet Mundson, kehrt aber wenig später verheiratet zurück – mit Gilda, einem
Luxusgeschöpf. Farrell erkennt in ihr seine frühere Geliebte wieder. Er sieht mit an, wie
Gilda ihren Mann, dem er in Freundschaft verbunden ist, offen betrügt. Mundson, der mit
den Nazis kooperiert hatte und Vorsitzender eines Wolfram-Kartells ist, täuscht seinen
Tod vor, weil er wegen eines Mordes vom allgegenwärtigen Kommissar Obregon (Joseph
Calleia) gesucht wird. Farrell heiratet daraufhin Gilda, nicht aus Liebe, wie diese glaubt,
sondern aus Rache. Er zwingt sie, nun jene Treue zu bewahren, die sie Mundson
gegenüber nie hatte.
Für Gilda wird das Leben zur Hölle. Sie versucht zu entkommen, vergeblich. Sie flüchtet in
den Alkohol, beginnt eine Karriere als Nachtclubsängerin und landet doch wieder bei
Johnny. Ihr Haß sei so stark, schleudert Gilda ihm entgegen, daß sie sich selbst zerstören
würde, nur um auch ihn zu zerstören. Die von gegenseitiger Quälerei geprägte Haßliebe
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erfährt ihren Höhepunkt in jenem berühmt gewordenen Auftritt, bei dem Gilda in
unverschämt provokanter Weise zurückschlägt – auf die ihr einzig mögliche Weise: mit
Sex. Johnny läßt sie von der Bühne zerren und schlägt sie. Nun ist Gilda bereit, ihn zu
verlassen, doch Johnny merkt, daß er sie in Wirklichkeit liebt. Als er sie bittet, sie
begleiten zu dürfen, taucht der totgeglaubte Mundson wieder auf. Er will Farrell und Gilda
töten, wird aber vom Toilettenwärter des Casinos erschossen. Für Johnny und Gilda ist
nun endgültig der Weg in eine gemeinsame Zukunft frei.
Die betont weiche Lichtsetzung des ungarisch-stämmigen Kameramannes Rudolph Maté
verklärt die Figur der Gilda (und mit ihr Rita Hayworth) zum übernatürlichen Traumbild. Als
Johnny Gilda von der Bühne holt und ohrfeigt, ist dies zugleich ein puritanischer Traum.
Das kollektive Pin-Up-Girl Rita Hayworth wird zurechtgerückt für den privaten Bereich,
Gildas Eingeständnis der Monogamie decouvriert ihr exhibitionistisches Verhalten als
vorgetäuscht – aus dem “bad” wird endlich das “good girl”. In ihrem nächsten
bedeutenden Film, “Die Lady von Shanghai” (1947), von ihrem damaligen Mann Orson
Welles inszeniert, erfüllt sich dagegen das Schicksal des wirklichen “bad girl”. Welles ließ
Rita Hayworth in ihrer Rolle als Sexidol zur Gefahr für den Mann werden, denn die
begehrte Frau setzte ihren Appeal nur dazu ein, den Mann in ein Mordkomplott zu
verwickeln. Es sollte zugleich auch der letzte, historisch bedeutsame Film der Hayworth
werden. Die verführerische Diskretion ihrer erotischen Erscheinung mußte neuen Idealen
weichen. Die Zeit der Marylin Monroe kam. Rita Hayworth machte in den folgenden
Jahrzehnten weniger durch ihre Filme auf sich aufmerksam, als durch ihre Ehen, unter
anderem mit Ali Khan. 1971 drehte sie ihren letzten Kinofilm. Am 14. Mai 1987 ist sie an
der tückischen Alzheimer'schen Krankheit gestorben.
Die überaus stilisierte visuelle Präsentation des Stars Rita Hayworth in “Gilda” bildet einen
gelungenen Kontrast zur zynischen Weltsicht des Regisseurs Charles Vidor. Das
Spielcasino, nahezu ausschließlicher Schauplatz, ist ein Mikrokosmos der
gesellschaftlichen Auflösung. Betrug, die Gier nach leichter Beute, das Verlangen nach
billigem Vergnügen, die Frauen als minderwertiges Objekt (“Laut Statistik”, sagt Farrell
einmal, “gibt es mehr Frauen auf der Welt als alles andere ... ausgenommen vielleicht
Insekten”) – das korrespondiert mit dem Kulturpessimismus der Schwarzen Serie und
macht “Gilda” zu einem exemplarischen Vertreter dieser Strömung.
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Wolfang Schwarzer
55 Es war einmal...
La belle et la bête (Frankreich 1946)
Buch und Regie: Jean Cocteau, nach der Erzählung von Leprince de Beaumont.
Kamera: Henri Alekan. Musik: Georges Auric. Darsteller: Jean Marais, Josette Day, Mila
Parély, Nane Germon. Länge: 95 Minuten. Vertrieb: (All Video).
Madame Leprince de Beaumont (1711-1780) schrieb ein für ihre Epoche typisches
moralisches Kunstmärchen, in dem sie das Aschenbrödelmotiv aufnahm. Die gute Fee
belohnt darin das Mädchen, welches Tugend der Schönheit und dem Esprit vorzieht.
Das Tier dient als Katalysator für den Fortgang der Erzählhandlung und als Symbolfigur
für Bedrohung, negative Versuchung und Belohnung, wie sie dem moralischen Gehalt der
Geschichte zugrunde liegen. Cocteau übernimmt die Fabel, verdichtet sie und belebt ihre
Konturen mit seiner ureigenen Poesie. Kunstmärchen und Moral des 18. Jahrhunderts
weichen dem Mythos von Liebe und Tod. Mythos, im besten Sinne der Kulturgeschichte
als Urerfahrung menschlichen Daseins. Das Tier, einst Chiffre, wird zur leidenden Kreatur
par excellence.
Ein reicher Kaufmann, ruiniert durch den Untergang seiner Schiffe, lebt zusammen mit
drei Töchtern und einem Sohn, Ludovic. Félicie und Adélaïde sind hartherzige Mädchen,
die Belle, ihre jüngste Schwester, als Aschenbrödel behandeln. Avenant, Ludovics lustiger
Freund, liebt Belle und bittet um ihre Hand. Das Mädchen aber will lieber beim Vater
bleiben.
Plötzlich erreichen den Vater gute Neuigkeiten. Eines seiner Schiffe hat doch noch den
Hafen erreicht. Hoffnung lebt auf. Als er den Ritt zur Küste antritt, wünschen sich Félicie
und Adélaïde Schmuck und Kleider. Belle erbittet nur eine Rose. Die Schwestern lachen
sie aus.
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Im Hafen erfährt der Mann, daß die Gläubiger bereits von der Schiffsladung Besitz
ergriffen haben. Bettelarm tritt er den Rückweg an. Des Nachts kommt er im Wald vom
Weg ab und entdeckt ein prächtiges, geheimnisvolles Schloß. Kein Mensch ist dort zu
sehen, doch Leuchter entzünden sich von selbst. Ein Tisch mit Obst und Wein erwartet
ihn, vor dem er erschöpft einschläft. Der Todesschrei eines Tieres weckt ihn des
Morgens. Ängstlich verläßt er das Schloß und entdeckt im Park einen Rosenstrauch.
Froh, wenigstens Belles Wunsch zu erfüllen, bricht er einen Zweig. Da erscheint hinter
ihm das Tier, gekleidet wie ein Adliger. “Ihr habt meine Rosen gestohlen, also müßt Ihr
sterben”, sagt es. “Es sei denn, eine Eurer Töchter willigt ein, für Euch zu sterben.”
Gegen den Willen des Vaters und die Auflehnung Avenants begibt sich Belle in das
Schloß des Tieres. Es leidet unter seiner Mißgestalt und umhegt die Schöne mit all seiner
Güte. Belle achtet das Tier und ist empfänglich für die Wohltaten. Doch erkrankt sie
selbst, als sie von der Krankheit des Vaters erfährt. Das Tier beurlaubt sie für acht Tage.
Im Vertrauen auf ihre gute Seele überantwortet es ihr die letzen Geheimnisse seiner
Macht, darunter den Schlüssel zum Tempel der Diana, in dem seine wahren Schätze
ruhen, die bis zu seinem Tod niemand berühren darf.
In der Familie verspätet sich Belle über die Frist hinaus. Die Schwestern umschmeicheln
sie ob ihrer Reichtümer und stehlen den Schlüssel. Sie geben ihn Ludovic und Avenant
und stiften die beiden an, das Tier zu töten, um in den Besitz seiner Schätze zu gelangen.
Belle ist einsam und sieht in einem Spiegel das Tier weinen. Sie kehrt zurück und findet
es sterbend an einer Quelle. Im selben Augenblick steigen Ludovic und Avenant in den
Dianatempel ein. Avenant wird von einem Pfeil der Dianastatue tödlich getroffen und
verwandelt sich in das Tier. In dieser Sekunde wird das Tier unter dem liebenden Blick
Belles zu einem zauberhaften Prinzen mit den Zügen Avenants. Gemeinsam
entschweben sie in ein geheimnisvolles Reich, wo Belle Königin sein wird, ihren Vater
wiederfindet, und wo die Schwestern ihr den Schleier tragen.
Das Märchenhafte und Phantastische in “La Belle et la Bête” steht in der Tradition von
Murnaus “Nosferatu”. Das Tier ist Charles Laughtons anrührendem Quasimodo, dem
Glöckner von Notre Dame, mehr verbunden als irgendeinem anderen Monster der
Filmgeschichte. Cocteau nähert sich dem Irrealen durch disziplinierte Reduktion auf
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realistische Bilder. Das Märchenhafte verträgt sich für ihn schlecht mit dem Nebelhaften,
und das Geheimnis existiert nur im Präzisen. So versagt er auch der Kamera, im
Pittoresken zu schwelgen. Die barocke Ausstattung gerade im wunderbaren Schloß
verkommt nie zum Selbstzweck. Das Personal, sogar das Tier, entzieht sich dem
Symbolhaften, erst recht der Moralität. Zwei Wesen aus Fleisch und Blut leben wortarm, in
ausdrucksstarker Körpersprache, die Urerfahrung von Liebe und Tod. Nach den gleichen
Prinzipien entsteht fünf Jahre später die Verfilmung des Mythos von Orpheus.
Jean Cocteau (1889-1963) verstand sich nicht als Regisseur. Ihm ging es um ein
Gesamtwerk, das er als Poesie bezeichnete. Sein poetisches Universum, eines der
individuellsten in der Kulturgeschichte, macht sich eine Vielzahl von Ausdrucksformen
untertan: Graphik und Malerei, Essay, Roman, Lyrik, Kleinkunst, Ballett. Auch den Film.
So manches dieser Werke ist schlecht gealtert, einiges mit den Jahren schlicht
ungenießbar geworden. “La Belle et la Bête” und “Orphée” jedoch gehören zu den
Höhepunkten der französischen Kunst in den 40er Jahren. Ihnen kann zeitlose Kraft und
Schönheit zugesprochen werden.
Rolf-Rüdiger Hamacher
56 Züchte Raben
Cría Cuervos (Spanien 1975)
Buch und Regie: Carlos Saura. Kamera: Theo Escamilla. Schnitt: Pablo G. del Amo.
Musik: Federico Mompou. Darsteller: Ana Torrent, Geraldine Chaplin, Chonchit Pérez,
Mónica Randall, Hector Alterio. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: (Taurus Video).
Es sind die großen, dunklen Augen im ausdrucksstarken Gesicht der kleinen Ana, die
einen über den Film hinaus gefangen nehmen. Augen, die voller Angst und Traurigkeit in
die Gegenwart und in freudiger Erwartung in die Vergangenheit blicken, um diese in Tagund Nachtträumen wieder heraufzubeschwören.
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Die Augen gehören Ana Torrent, die Carlos Saura in Victor Erices “Der Geist des
Bienenkorbs” entdeckte. Und das Bild des Mädchens verschwamm gleichsam mit der
letzten Einstellung seines eigenen Films “Cousine Angélica”, in der eine Mutter ihre
Tochter vor dem Spiegel kämmt, der die Kamera ist. Dieses Bild erweckte in Saura den
Wunsch, einen Film über die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer kleinen Tochter
zu entwickeln. Saura sah nur eine Möglichkeit, diese Idee zu realisieren: Ana Torrent
mußte die Hauptrolle spielen. Und so beschloß er, auf die Einwilligung von Anas Eltern,
die ihre Erlaubnis zuerst verweigerten, zu warten – oder aber sein Drehbuch nicht zu
verfilmen.
Tatsächlich ist “Züchte Raben” wie kein anderer Film Sauras auf eine Person
zugeschnitten, zeigt an ihr und durch sie sein immer wiederkehrendes Thema von der
Dekadenz der großbürgerlichen spanischen Familie der “Franco-Ära”, ihre politischen,
sozialen, religiösen und psychischen Zwänge, die sich durch Generationen ziehen.
“Züchte Raben” – der Titel verweist auf das spanische Sprichwort “Züchte Raben und sie
werden dir die Augen aushacken” – demontiert aber auch das von Pädagogen so gerne
angemahnte und vom Volksmund besungene Bild von der “glücklichen Kindheit”. Carlos
Saura, Sohn einer zwar konservativen, aber beruflich den Republikanern verpflichteten
Familie, wuchs ab dem vierten Lebensjahr in den spanischen Bürgerkrieg hinein. 1939,
nach Beendigung des Krieges, wurde er von seinen streng katholischen und
franquistischen Tanten und der Großmutter “umerzogen”. Schon in “Cousine Angé1ica”
unternahm Saura die jetzt fortgesetzte subjektive Erinnerungsreise in die Kindheit, die
zugleich zu einer Abrechnung mit dem Bürgerkrieg wurde, die ihm das “Paradies der
Kindheit” zerstört hatte.
In “Züchte Raben” sind es nun die Kinder des Bürgerkrieges, die ihre inneren Wunden
immer noch nicht ausgeheilt, geschweige denn bedacht haben. Und so können sie ihren
eigenen Kindern auch nicht die selbst so vermißte Lebensfreude vermitteln. Ana ist ein
Kind jener Generation, deren Eltern die alten Zöpfe weiter flechten, die Neuerungen gar
nicht an sich herankommen lassen. Der alltägliche Faschismus hat schon so sehr von der
Familie Besitz ergriffen, daß sie ihre kleinkarierten Machtkämpfe bereits verinnerlicht hat.
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Ana versucht, sich dieser “Zeit der Traurigkeit” einerseits durch ihre Träume zu entziehen,
andererseits sieht sie nur “Gewalt” als Möglichkeit der Veränderung:
Nach dem frühen Tod der Mutter, für den sie ihren Vater verantwortlich macht, und nach
dessen Ableben in den Armen seiner Geliebten, das sie selbst durch eine Prise Gift
verursacht zu haben glaubt, wachsen Ana und ihre beiden Schwestern unter der Obhut
der Tante auf. Diese, eher herrschsüchtig als verständnisvoll, kann den Kindern weder
emotionale Wärme noch Geborgenheit vermitteln. Ana flüchtet sich immer weiter in ihre
Träume, wo sie die Mutter trifft. Nur mit der stummen, an den Rollstuhl gefesselten
Großmutter verbindet sie eine innige Zuneigung. Als Ana die Situation nicht mehr zu
ertragen glaubt, verabreicht sie auch der Tante das vermeintliche Gift ...
Der Kunstgriff, sowohl die kommentierende Rolle Anas als Erwachsene, wie auch die
Rolle der verstorbenen Mutter von Geraldine Chaplin – von Sauras langjähriger
Lebensgefährtin und Lieblingsschauspielerin darstellen zu lassen, macht den
Parabelcharakter der Inszenierung deutlich.
Ana lebt nur im Traum, in den Begegnungen mit der Mutter, “wirklich”. Als sie sich
schließlich der Realität stellt, sieht sie nur den Mord als Ausweg aus Konvention und
Heuchelei. Die vermeintlichen “Vergiftungen” – des ungeliebten Vaters und der verhaßten
Tante – befreien von ihren Zwängen. Und am Ende des Films setzt Saura noch ein
Zeichen auch der “äußeren” Befreiung. Nach den langen Sommerferien verläßt Ana zum
erstenmal das wie eine abgeschiedene Festung wirkende Haus und trifft auf ihrem Weg
zur Schule andere Kinder. Nur Kinder, scheint diese Bild-Metapher auszudrücken, sind
Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft.
Daß die Kinder dennoch schwer am Erbe ihrer Väter zu tragen haben nicht von ungefähr
ähnelt die Physiognomie von Anas Vater der des verstorbenen Diktators Franco –, ist ja
auch eine Erfahrung, die Carlos Saura während seiner Regietätigkeit in der Franco-Ära
ständig machte. Kaum einer seiner Filme hatte nicht mit der Zensur zu kämpfen, bei der
Aufführung von “Cousine Angélica” kam es sogar zu Ausschreitungen rechtsradikaler
Gruppen und einem Bombenattentat in einem Kino von Barcelona.
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Die oft unwürdigen Arbeitsbedingungen, die nur durch das unermüdliche Engagement
seines Produzenten Elias Querejeta – mit dem er seit seinem dritten Spielfilm (“Die Jagd”,
1965) zusammenarbeitet, etwas gemildert wurden, zwangen Saura zur Entwicklung eines
unverkennbaren Stils, der ihn, neben Buñuel, zum bedeutendsten spanischen Regisseur
heranwachsen ließ. Sein formales Spiel mit verschiedenen Zeitebenen, die oft ohne
Schnitt ineinandergreifen, ließen ein künstlerisches Universum entstehen, in dem er alles,
wenn auch verschlüsselt, ausdrücken kann. Dabei blieb seine Aussage klar und scharf
und entbehrte, wie bei seinem großen Lehrmeister Buñuel, nicht eines gewissen
Sarkasmus. In “Züchte Raben” bedankt sich Saura in einer kleinen, wunderschönen
Szene auf dessen ureigenste Art bei ihm: Als Ana den Kühlschrank öffnet, liegen darin ein
paar Hühnerfüße.
Obwohl Carlos Sauras Film auf vielen Festivals preisgekrönt wurde, fand er in der
Bundesrepublik keinen Verleih, der seine Werke in die Kinos brachte. Lediglich von “Die
Jagd” existiert eine kaum gespielte Kinokopie, und “Züchte Raben” gelangte nach der
Fernsehaufführung in einigen Programmkinos zu Ehren.
Walter Schobert
57 Mein Kampf
Dem blodiga tiden (Schweden 1959/60)
Buch und Regie: Erwin Leiser. Produktion: T. O. Sjöberg. Länge: 122 Minuten.
Vertrieb: atlas film + av.
Nur zwei Dokumentarfilme vertreten das Genre in dieser Reihe der “Meisterwerke des
Kinos auf Video” – nur zwei, die zudem so grundverschieden sind, daß sich größere
Gegensätze nicht denken lassen, inhaltlich, politisch, historisch, ideologisch, formal,
ästhetisch. Es ist gut, daß Riefenstahls “Triumph des Willens” (Folge 40) nicht allein
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stehen bleibt, daß ihm und ihr von Erwin Leiser mit “Mein Kampf” die notwendige und die
gebührende Antwort zuteil wird.
Selten ist die Begrenztheit der Auswahl dieser Reihe so schmerzhaft deutlich geworden,
die sich ja nicht nur von dem großen, zeitlosen Maßstab des “Meisterwerks” abhängig
macht, sondern auch von den Zufälligkeiten des deutschen Videomarktes. Abgesehen
davon, daß doch die Frage gestellt werden muß, ob sich ein zweifellos formal brillanter
Film wie “Triumph des Willens”, der so sehr den Ungeist propagiert, mit dem Etikett
“Meisterwerk” schmücken darf – wie verheerend wäre es, wenn nicht auch der Film auf
Video verfügbar wäre, der als einer der ersten und immer noch besten aufzuarbeiten
begonnen hat, was die angerichtet haben, die ihren “Triumph des Willens” auch filmisch
feiern wollten.
Erwin Leiser, der Autor und Regisseur von “Mein Kampf”, gehört zu ihren Opfern: Seinen
Film mußte er in Schweden machen. Sein Heimatland, seine Heimatstadt mußte der 1923
in Berlin geborene als halbes Kind noch verlassen – unmittelbar nach der
“Reichskristallnacht”, die ihm endgültig klar gemacht hatte, daß die Nazis auch sein Leben
vernichten wollten. In Schweden studierte er, wurde ein bekannter Publizist. Für “Nacht
und Nebel”, Alain Resnais' bewegenden Film über die KZs, schrieb er die schwedische
Textfassung. Seitdem ist er Dokumentarfilmregisseur. Filme über zeitgenössische
Künstler sind ein Teil seiner Arbeit, der andere, größere, Teil galt und gilt der
Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Nachdenken
darüber, wie er entstehen konnte, dem oft verzweifelten Bemühen, es niemals zu einem
Wiederaufleben kommen zu lassen. “Mein Kampf” war sein erster Film, der erste
überdies, der die Dinge beim Namen nannte, der keine Ausreden gebrauchte, der sagte,
wer die Täter waren und wer die Opfer. Vielleicht konnte dieser Film, damals, nur im
Ausland gemacht werden.
Leiser schildert Aufstieg und Fall des Hitler-Systems; im Unterschied zu anderen Filmen
zum Thema klammert er die Vorgeschichte nicht aus, beginnt er mit dem Ersten
Weltkrieg, zeigt auch, welchen Anteil die Großindustrie an Hitlers Emporkommen hatte,
gibt den Jahren vor dem Krieg breiten Raum, in denen die Nazis auf der Grundlage des
Rassismus Europa neu “ordnen” wollten. Bei den Kriegsjahren setzt Leiser die richtigen
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Akzente: Wie es sich gehört, nehmen bei ihm die Aufnahmen aus dem Warschauer
Ghetto mit seinem unendlichen Leid und seinem Übermaß an Grausamkeit, nehmen die
Bilder aus den Folter- und Todeskammern des KZs mehr Raum ein als die Darstellung
des Kriegsverlaufes anders als bei anderen, vor allem deutschen Filmen, die manchmal
den Eindruck hinterlassen, Hitlers größtes Verbrechen sei es gewesen, den Krieg zu
verlieren.
Das Material zu seinem Film hat Leiser aus den Archiven der ganzen Welt
zusammengetragen, das meiste aus dem Staatlichen Filmarchiv der DDR, Szenen
darunter, die die Nazis gedreht, aber nie verwendet hatten, weil sie sich der – für sie –
negativen Wirkung bewußt waren. Diese Bilder sind seither oft wiederzusehen gewesen –
und sie gehen immer noch so unter die Haut wie damals, als sie Leiser als erster
verwendet und zu einer bedrängenden und bestürzenden Folge zusammengefügt hat, die
eigentlich nur die Unverbesserlichen unbekehrt lassen dürfte. Einige Szenen stammen
übrigens aus dem Film der Riefenstahl, die sich nicht schämte, in einem Prozeß dafür
Geld einzuklagen, weil sie mit ihrer Nazi-Eloge auch noch an einem Antinazifilm
verdienen wollte. Sie verlor den Prozeß.
Manche haben dem Film seine Gestaltung vorgeworfen. So schrieb 1960 die “Filmkritik”,
seine Verdienste seien “extra-kinematografischer Natur”. Das ist falsch. Denn wer so
argumentiert, übersieht, daß gerade “Mein Kampf” für den Inhalt die adäquate Form
gefunden hat, mehr, daß dieser Inhalt gar keine andere Form verträgt als die des
nüchternen und schmucklosen Essays. Es war eine politische und eine filmästhetische
Entscheidung, auf jede “brillante” Montage zu verzichten und das heißt auf jede
Andeutung der suggestiven filmischen Manipulation. Nur ein-, zweimal, ganz sparsam
spielt Leiser Text und Bild gegeneinander aus, gerade dadurch ihre Wirkung steigernd.
Leiser wußte, daß ein Gegenpol zur Unmenschlichkeit des Riefenstahl-Films nur durch
den Verzicht auf die Ästhetik der Überrumpelung eben durch Montage zu erreichen war.
Die Grenzen seiner Methode sind offenkundig – aber sie waren niemand bewußter als
ihm. Die Mängel des Films liegen denn auch nicht in seiner Methode, sie liegen im Genre:
Es ist klar, daß die Verwendung dokumentarischen, authentischen Materials eben nicht,
noch nicht, die Authentizität sichert und schon gar nicht die volle Wahrheit – schon
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deshalb nicht, weil es nicht zu allem authentische Bilder gibt. Leiser selbst war es, der
später in “Die Mitläufer” die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen hat: Erst die
“gestellten”, die Spielfilmszenen fördern in diesem Film über das Dritte Reich, die
Machthaber und den “kleinen” Mann die ungestellte Wahrheit zutage.
Heute erscheint Erwin Leisers “Mein Kampf” nicht nur als die erste und immer noch
gültige umfassende Bestandsaufnahme zum Nationalsozialismus; der Film ist das
Dokument des Kampfes um die politische Bewältigung der Vergangenheit – und er ist ein
Lehrstück filmischer Moral und Ästhetik. Weil er methodisch und formal glaubwürdig
bleibt, kann er auch inhaltlich sein Ziel erreichen. Leisers Trauerarbeit, stellvertretend für
uns Deutsche geleistet, löst immer noch den Anspruch ein, den der in Theresienstadt nur
knapp dem Tode entronnene Rabbiner Leo Baeck so formuliert hat: “Zu erkennen, was
war, um zu verstehen, was ist, und zu erfassen, was sein wird.”
Urs Jaeggi
58 Der Tod in Venedig
Morte a Venezia (Italien 1970)
Regie: Luchino Visconti. Buch: Luchino Visconti, Nicola Badalucco, nach der Erzählung
von Thomas Mann. Kamera: Pasquale de Santis. Musik: Gustav Mahler (3. und 5.
Sinfonie). Darsteller: Dirk Bogarde, Björn Andresen, Silvana Mangano, Mark Burns,
Marisa Bereson. Länge: 130 Minuten. Vertrieb: Warner Horne Video.
Schon immer haftete an diesem Film die Patina des Vergänglichen. Das hat sich in den
17 Jahren, in denen “Der Tod in Venedig” als Meisterwerk der Kinematographie, aber
auch als Musterbeispiel für eine geglückte Literaturverfilmung unablässig gefeiert wird,
nicht geändert. Das Werk, ein Meisterstück des unvergeßlichen Luchino Visconti, ist ein
Film des Abschieds. Da nimmt der Komponist und Kapellmeister Gustav von Aschenbach
Abschied nicht nur von seinem eigenen Ich, sondern auch von jenen Wertmaßstäben und
178
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-vorstellungen, die seine Kunst und damit auch sein Dasein prägten. Und gleichzeitig
nimmt Visconti – nicht ohne Wehmut – Abschied von einer Epoche, die mit dem “fin de
siècle” in ihre dekadente Phase geriet und deren Untergang damit vorgezeichnet war.
Es hätte dieser Film uns heute wohl nicht mehr viel zu sagen, wäre die Patina des
Vergänglichen einfach nur eine undurchdringliche Firnis der Erinnerung an eine Zeit, die
einer sittlichen wie ethischen Ordnung sowohl im Alltag als auch in seinem Spiegel, der
Kunst, verpflichtet schien. Aber gerade hier setzt Visconti seine Zäsuren. Gustav von
Aschenbach – von Dirk Bogarde mit bewußter Zurückhaltung gespielt – ist einer, der an
dieser Zeit und ihrer Zwiespältigkeit gescheitert ist. Die Erkenntnis der Fragwürdigkeit
festgefügter, kaum mehr zur Diskussion gestellter Wertvorstellungen, wie sie auch sein
künstlerisches Schaffen geprägt haben, läßt ihn zum Zweifler in erster Linie an sich selber
werden. “Gustav”, fragt ihn sein Schüler Alfred einmal unvermittelt, “weißt du auch, was
allem menschlichen Streben zugrundeliegt? – Die Mittelmäßigkeit.” Aschenbach hätte
dieser kernigen Belehrung nicht mehr bedurft. Längst ist sein Streben nach dem Hehren,
Edlen und ethisch Hochstehenden rissig geworden; so sehr, daß seinen Zweifeln und
seinen allerdings vergeblichen Versuchen einer Neuorientierung folgerichtig der
körperliche Zusammenbruch folgte.
Auf dem Dampfer, der den Erholungssuchenden nach Venedig bringt – in jene Stadt also,
die für die Ewigkeit als eine Ode an die Schönheit gebaut wurde und die doch wie keine
andere zu versinken droht –, begegnen wir Aschenbach im Film zu ersten Mal. Scheinbar
aus dem Nichts taucht dieses Schiff auf und nimmt Kurs auf den Lido. Längsschiffs nimmt
die Stadt Konturen an. Bringt die Fahrt aus der leeren Weite des Meeres auch für
Aschenbach neue Perspektiven? Sichtbar wird zunächst nur seine tiefe Verunsicherung,
gesteigert noch durch die ganz und gar künstliche Welt im Grand Hotel les Bains. Der
Versuch, an der Stätte seiner Jugenderinnerungen endlich wieder zu sich selber zu
finden, nimmt in der Begegnung mit einem polnischen Jüngling von geradezu antiker
Schönheit dramatische Züge an. Zutiefst erschrocken über die “absolute Herrschaft”, die
der Knabe über ihn ausübt, aber auch bedrängt von dem Wunsche, seine Gebrechlichkeit
zu überwinden und selber wieder jung zu werden, gerät von Aschenbach in einen
Zustand, der die Grenzen zwischen realer Wahrnehmung und den Ausschweifungen
seines Geistes Verwischt.
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Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, sein eigenes Ich in die Gestalt des
Jünglings zu projizieren, und dem Bedürfnis, Herr seiner Sinne zu werden, gerät der
Künstler in den Strudel des Zerfalls und wird schließlich das Opfer jener Seuche, die in
der Stadt umgeht; Visconti versteht die Cholera – die vom Hoteldirektor ängstlich
heruntergespielt und verdrängt wird, deren Präsenz aber durch die vom schwülen
Scirocco überallhin verbreiteten penetranten Gerüche der Desinfektionsmittel
allgegenwärtig ist – als ein Symbol des Todes und des Untergangs, des Absterbens auch,
das immer zentrales Thema seines kompositorischen Schaffens war.
Nun sind es nicht die Risse in der Patina des Vergänglichen allein, die “Morte a Venezia”
zur Gültigkeit über die Zeiten hinwegverhelfen. Es ist vielmehr noch die Art und Weise,
wie Visconti diese Geschichte nach Motiven einer Novelle von Thomas Mann inszeniert
hat. Die Erzählung eines Sterbens, das nicht nur das Sterben eines Individuums, sondern
auch das Sterben einer Gesellschaft mit ihren Wertvorstellungen und Maßstäben ist,
findet in Bildern höchster ästhetischer Vollendung und in einem getragenen Rhythmus der
Montage ihre Entsprechung. Diese Bilder sind geprägt von einer Liebe und einem zutiefst
menschlichen Verständnis zu dieser verzweifelten Figur, die auch dann nicht der
Lächerlichkeit preisgegeben wird, wenn sie sich selber zum Clown macht, indem sie sich
angesichts des Todes im Friseursalon ein jugendliches Antlitz aufschminken läßt. Bilder
sind es, die über alles Vordergründige hinwegweisen und sich tief in die Seele einprägen.
In der Musik aus Gustav Mahlers 3. und 5. Sinfonie – einem Zeitgenossen und bestimmt
auch alter ego dieses Aschenbachs – finden sie mehr als bloß stilgerechte Untermalung:
Bild und Musik verschmelzen in “Der Tod von Venedig” zu einem großartigen
Zusammenklang, der den Film über alle Zeitbedingtheit hinweg zu einem einmaligen
Erlebnis werden läßt.
Wolfgang Schwarzer
180
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59 Kinder des Olymp
Les enfants du paradis (Frankreich 1943/45)
Regie: Marcel Carné. Buch: Jacques Prévert. Kamera: Roger Hubert, Marc Fossard.
Musik: Maurice Thiret, Joseph Kosma. Ausstattung: Léon Barsacq, Raymond Gabutti,
nach Entwürfen von Alexandre Trauner. Darsteller: Arletty, Jean-Louis Barrault, Pierre
Brasseur, Marcel Herrand, Maria Casarés. Länge: 184 Minuten. Vertrieb: neue atlas
medien.
Olymp – das waren die billigen Theaterplätze, auf denen sich für ein paar Sous das Volk
flegelte; Kinder des Olymp, das waren die Schauspieler. Straße des Verbrechens –
wegen der zahllosen Bühnenleichen – nannte sich der Boulevard du Temple vor
Haussmanns Kahlschlag und der urbanen Erneuerung der Stadt Paris. Dort drängelte sich
vor Gauklerbuden, Schmieren und Theaterpalästen eine bunte Menschenmenge, gierig
nach Klatsch, Skandalen und Sensationen. Carnés Hommage an das Theater läßt
detailversessen und unverblümt die Epoche um 1840 aufleben.
Aus dem Gedränge der Neugierigen treten, behutsam der Sympathie des Zuschauers
anvertraut, vier Personen in den Vordergrund. Fréderick Lemaitre ist ein abgerissener
Komödiant in der Menge, den Kopf voller Flausen und schöner Frauen, ehrgeizig, aber
noch ohne Erfolg. Pierre-Francois Lacenaire, öffentlicher Schreiber, Poet und Autor von
Komödien, sieht die Welt als skrupelloser Zyniker. Diebstahl und Hehlerei bringen ihm
mehr ein als seine Lohnarbeit. Baptiste Debureau, ein verträumter Romantiker,
beobachtet mit erstaunten Augen die Welt und spiegelt sie in charmant-naiven
Pantomimen. Seinem Vater, dem ruppigen Theaterdirektor, gilt er als Nichtsnutz. Später
gesellt sich Graf de Montray zu ihnen, ein reicher Lebemann.
Vier grundverschiedene Typen, die das Schicksal für einen Augenblick zusammenführt,
um sie sogleich wieder unerbittlich zu trennen. Das Schicksal trägt den Namen Garance.
Oscar Wilde hätte sie als Sphinx ohne Geheimnis bezeichnet. Eine schöne Frau, der
Vorstadtmisere entwachsen, weckt Leidenschaft in den vier Männern und läßt die
Wahrheit ihres Seins an die Oberfläche treten. Ihr Leben erfährt eine radikale Wende.
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Fréderick, eher oberflächlich und flatterhaft, erkennt die Verheerungen der Eifersucht. Er
wird zum Schauspielstar und kann endlich die Rolle seines Lebens kreieren,
Shakespeares Othello. Lacenaire begreift Garance als freies Geschöpf seinesgleichen,
das einzige, dem er “ohne Haß und Verachtung” entgegentreten kann. Für sie begeht er
den Mord, welcher seiner Gaunerkarriere ein Ende setzt. Graf de Montray sieht in ihr die
Schönheit der unnahbaren Statue, welche sie auf der Bühne verkörperte. Seine Liebe
stellt sich als Besitzstatus dar und gerät zur gesellschaftlichen Affäre, die ihn ins
Verderben führt. Für Baptiste ist Garance Sehnsucht und Liebe schlechthin. Die Rose, die
sie dem scheuen Pantomimen zuwirft, läßt seine Seele erblühen und schenkt dem Körper
jene unvergleichliche Ausdruckskraft, die Debureau zu seiner Zeit zum Liebling des
Pariser Publikums machte. Für eine Nacht mit der Ersehnten verläßt er schließlich Bühne,
Frau und Kind, um sie des morgens, verzweifelt gegen das Menschengewühl des
beginnenden Karnevals ankämpfend, unwiederbringlich entschwinden zu sehen.
Debureau, Lemaitre, Lacenaire – das sind historisch verbürgte Persönlichkeiten, die
bereits zu ihrer Zeit Legende waren. Die Handlung entspringt allein dem poetischen
Universum Jacques Préverts, in dem die Nähe Baudelaires zur Stimmung der Epoche und
die Zeitgenossenschaft Genets spürbar sind.
Marcel Carné (geboren 1909) als Regisseur und Jacques Prévert (1900-1977) als
Drehbuchautor hatten seit 1936 zusammengearbeitet und mit den Filmen “Hafen im
Nebel” (1938) sowie “Der Tag bricht an” (1939) Meisterwerke des poetischen Realismus
geschaffen. Nach der Besetzung Frankreichs durch Hitlers Truppen siedelten sie ihre
Geschichten wie viele Regisseure der Zeit, in vergangenen Epochen an, um den
Schikanen der Vichy-Regierung zu entgehen. “Die Nacht mit dem Teufel” (1942), eine
mittelalterliche Legende, war zum überragenden Erfolg geworden, zumal das Publikum
die deutschen Produktionen boykottierte. Nur so wurde eine für die damalige Zeit
einzigartige Mammutproduktion wie der dreistündige Film “Kinder des Olymp” möglich.
Kriegsbedingte technische und personelle Schwierigkeiten unterbrachen die 1943 in
Nizza begonnenen Dreharbeiten häufig, so daß Carné und Préverts in jeder Hinsicht
größte Schöpfung erst im März 1945 als erster französischer Film im befreiten Paris zur
Aufführung gelangte. Seither zählt er zu den schönsten und bedeutendsten Kunstwerken
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der Filmgeschichte, unerschöpflich in der Vielfalt seiner Gestaltungsmittel und der
Aussagekraft der kunstvoll ineinander verschränkten Handlungsstränge. Die Produktion
einer solchen zum Teil mit illegal arbeitenden jüdischen Künstlern (Trauner, Kosma)
geschaffenen Teamarbeit in der Epoche, die geprägt war von Gestapo, Gaskammern und
Massenmord, spricht für einen ungeheuren Überlebenswillen und die Kraft humaner
Freiheitsbedürfnisse. Auch dies macht “Kinder des Olymp” zu einem unsterblichen
Dokument.
Walter Schobert
60 Easy Rider
Easy Rider (USA 1968/69)
Regie: Dennis Hopper. Buch: Peter Fonda, Dennis Hopper, Terry Southern. Kamera:
Laszlo Kovaes. Musik: Steppenwolf, The Jimi Hendrix Experience u.a. Darsteller: Peter
Fonda, Dennis Hopper, Jack Nicholson. Länge: 91 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Gespannte Erwartung zuerst: Wie wird dieser Film, den man vor fast zwanzig Jahren
gesehen hat und den man, damals, in einer fast hymnischen Kritik ohne jede
Einschränkung lobte, heute wirken? An das Lob erinnerte man sich manchmal mit
Unbehagen, wenn die Rede kam auf Drogen und die fürchterlichen Katastrophen derer,
die sich auf Marihuana und Stärkeres eingelassen hatten, um ihr “Bewußtsein zu
erweitern”, und in Sucht endeten.
Wie hat ein Film diese fast zwanzig Jahre überlebt, der damals der Kultfilm schlechthin
war, Kultfilm einer neuen Jugendbewegung? Ist von ihm mehr geblieben als von den
zusammengebrochenen romantischen Träumen, von dieser Hippieseligkeit, die dennoch
für viele mehr war als eine jener sich immer schneller ablösenden Moden der kommerziell
gesteuerten Jugendkultur? Ist es dem Film ergangen wie seinem Regisseur und
Hauptdarsteller Hopper, der danach nur noch “The last Movie” machen konnte und sich
183
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heute mühsam hochrappeln muß aus der Hölle der Alkohol- und Drogenexzesse, in die er
geraten war?
Gespannte Erwartung also und sogar ein wenig Angst vor dem Wiedersehen. Die
Exposition scheint die Befürchtungen zu bestätigen: Zwei junge Leute, Wyatt und Billy, in
Ledermontur der eine und mit heller Sonnenbrille, in Cowboykluft mit Hut und
Fransenjacke der andere, beim großen Deal. Sie beschaffen sich von Mexikanern
Rauschgift, das sie am Rande des Flughafens von Los Angeles an einen Jüngling
verdrehen, der im Rolls Royce heranchauffiert wird und eine seltsame Ähnlichkeit mit
Polanski hat. Der Handel bringt ihnen das große Geld für die Reise.
Aber dann: Detailaufnahmen von chromblitzenden Motorrädern, Harley-Davidsons, die so
zärtlich abgefahren werden, als würde ein Cowboy sein Pferd streicheln. In
Großaufnahme fliegt Wyatts Uhr in den Dreck, die Reise kann beginnen, Landschaft wird
gezeigt, Räder rollen, endlos ziehen sich die einsamen Straßen, Rockmusik. Und plötzlich
ist man wieder gepackt, fasziniert – und stellt fest, daß dieser Film immer noch
funktioniert, daß ihn die Zeit relativ unbeschädigt gelassen hat – und es wird auch klarer
als damals, warum dieser Film zum Mythos wurde.
Seine Wirkung bezog er gerade aus der Einfachheit, mit der zwei Außenseiter der
Filmproduktion zu Werke gingen. Sie erzählen die Geschichte von zwei anderen
Außenseitern, von zwei drop-outs, die ausziehen, die Freiheit zu suchen und den Tod
finden. Sie brechen in L.A. auf und wollen nach New Orleans, zum Mardi gras. Unterwegs
auf der langen Reise treffen sie einen Farmer, der mit seiner katholischen Frau und vielen
Kindern auf dem Land lebt – von dem was er gesät hat. Sie nehmen einen Anhalter mit,
der sie zu einer Landkommune führt, deren Mitglieder die Städte fluchtartig verlassen
haben und ein entbehrungsreiches Leben fristen, eine Art urbiblischer Gruppe. Zum
Abschied schenkt ihr Anführer Wyatt ein Päckchen LSD.
Nach diesen zwei Stationen, die so etwas wie alternative Lebensmöglichkeiten schildern,
werden die beiden Reisenden von der amerikanischen Realität eingeholt. In der nächsten
Stadt werden sie eingesperrt, wegen unerlaubter Teilnahme an einer Parade. Die
verhaßten Langhaarigen werden von einem Säufer freigekauft, der mit ihnen eingelocht
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war: von dem jungen Rechtsanwalt Georg Hanson (die Rolle brachte Jack Nicholson den
Durchbruch), der auch süchtig ist, aber nach einer gesellschaftlich sanktionierten Droge:
dem Alkohol.
Auch Georg hat vom Mardi gras geträumt; der Gouverneur von Louisiana hat ihm sogar
die Visitenkarte des besten Bordells gegeben. Zu dritt fahren sie weiter. In einer Kleinstadt
kriegen sie nichts zu essen. Die Teenager finden sie toll, aber der Sheriff und sein
dicknackiger Freund sehen in ihnen Tiere. Nachts, am Lagerfeuer, werden sie überfallen
und verprügelt. Georg überlebt die Lynchjustiz nicht. Zu seinen Ehren besuchen sie das
Bordell. Auf einem Friedhof schlucken sie das LSD. Später fahren sie weiter. Wieder:
Musik, Landschaft. Ein Jeep kommt ihnen entgegen. Der Beifahrer greift zum Gewehr.
Zuerst holt er Billy von der Maschine. Dann stirbt Wyatt.
Erst heute, in der Retrospektive, wird klar, wie verhaftet der Film dem alten HollywoodKino ist, seinen Mustern, dem Western vor allem: Die Motorräder sind die Pferde, die
Landschaft ist die gleiche, die Gespräche am Lagerfeuer sind maulfaul, weil die beiden
stoned sind, aber eben auch Cowboys. Schon die Namen sind ja Western-Legende:
Hopper ist Billy (the Kid) und Fonda ist Wyatt (Earp), den sein Vater Henry so oft gespielt
hat. In der Retrospektive erscheint der Film auch gar nicht mehr naiv. Man muß ihn nur
von seinem Ende her sehen. Er ist darauf angelegt, daß der Traum heftig und letal endet.
Was vor zwanzig Jahren als plötzlich hereinbrechender Schock wirkte, der nur Wut und
Trauer auslöste, wirkt heute als konsequenter Schluß einer Entwicklung, die sich schon in
den ersten Bildern und Gesprächen andeutet: Dieser Traum von der individuellen Freiheit
muß tödlich enden, und das liegt an der Intoleranz der “schweigenden Mehrheit” ebenso
wie an den Träumern, die nur fliehen und sich nirgends stellen.
Fonda und Hopper, so scheint es jedenfalls heute, haben das gewußt, haben gewußt, daß
auch sie kein Rezept hatten – und gerade darin liegt die Stärke des Films: daß er ehrlich
seine Ratlosigkeit eingesteht. Wer ihn, damals, als eine Aufforderung gesehen hat,
auszusteigen, hat ihn mißverstanden. “Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund” das
funktionierte auch damals nicht. Als Billy, nach dem Mardi gras, kurz vor seinem Tod,
jubelt: “Wir habens geschafft”, entgegnet Fonda: “Wir sind Blindgänger.”
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Die Kernszene ist, in der Retrospektive, der LSD-Trip auf dem Friedhof, eine Szene, die
überhaupt nicht in den Film zu passen scheint, die ihn stilistisch sprengt, die in den
ruhigen Fluß der Bilder platzt wie eben ein Trip im Kopf und in kurzer, harter Montage die
Bilder explodieren läßt. Immer wieder sieht man Fonda seinen Kopf an das Gesicht einer
Frauenstatue schmiegen, hört ihn von seiner Mutter reden, deren Liebe er gesucht habe,
die er hasse: Das sind bis in den Tonfall die Worte, die lange vorher der andere große
Rebell stammelte, James Dean: in Nicholas Rays “Denn sie wissen nicht, was sie tun”.
Die Verbindung zwischen den beiden Filmen liegt nicht nur darin, daß Hopper mit Dean
befreundet war (und in jenem Film mitspielte). Wie Rays Film die bis heute gültige
Formulierung des Aufbegehrens der jungen Generation gegen das Establishment der
fünfziger Jahre ist, so erscheint mehr denn je “Easy Rider” als das schlüssige Dokument
des Denkens und Fühlens der Jugend am Ende der sechziger Jahre.
Rolf-Ruediger Hamacher
61 Jeder für sich und Gott gegen alle
(Bundesrepublik Deutschland 1974)
Regie: Werner Herzog. Buch: Werner Herzog. Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein, Klaus
Wyborny. Schnitt: Beate Mainka-Jellinghaus. Musik: Pachelbel, di Lasso, Albioni, Mozart.
Darsteller: Bruno S., Walter Ladengast, Brigitte Mira, Hans Musäus, Willy Semmelrogge,
Elis Pilgrim, Herbert Achternbusch, Reinhard Hauff. Länge: 109 Minuten. Vertrieb: atlas
film + av.
Am Pfingstmontag 1828 trat eines der berühmtesten Findelkinder in die Geschichte ein:
Kaspar Hauser. Nur einen einzigen Satz – “Ich möcht ein solcherner Reiter wern, wie
mein Vater einer gwen ist” –, von dem er nicht einmal wußte, was er bedeutete, konnte er
sprechen. Da stand er nun, Hut und einen Brief in den Händen, auf dem Nürnberger
Unschlittplatz, begafft von den Bürgern. Der vermutlich 16jährige, verwahrloste Findling
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wird zunächst ins Gefängnis gesteckt, dann – zur Entlastung des Steuerzahlers – muß er
als Jahrmarktsattraktion herhalten. Er flieht und wird von dem Gymnasialprofessor
Daumer aufgenommen, der ihm die Werte der Zivilisation nahezubringen versucht.
1829 scheitert ein Anschlag auf Kaspar Hauser, den 1831 der exzentrische englische
Lord Stanhope adoptiert. Dieser wird seiner Laune aber schon bald überdrüssig und gibt
Kaspar bei dem Ansbacher Volksschullehrer Meyer in Pflege. Bei dortigen
Appellationsgericht wurde der Findling mit einfachen Schreibarbeiten betraut, verkehrte
jedoch trotz seiner zurückgebliebenen geistigen Entwicklung in höchsten
Gesellschaftskreisen. 1833 wurde er im Ansbacher Hofgarten von einem Unbekannten
niedergestochen und tödlich verletzt. Über tausend Bücher befaßten sich seitdem mit dem
rätselhaften Leben des Kaspar Hauser, versuchten die Wahrheit zu ergründen: War er ein
badischer Erbprinz oder ein ganz gerissener Betrüger? Die Diskussion der Geschichtsund Geschichtenschreiber hält auch heute noch an.
Erstaunlich, daß Werner Herzog der erste war, der Kaspar Hauser zur Titelfigur eines
geradezu nach der Leinwand schreienden Filmstoffes machte. “Jeder für sich und Gott
gegen alle”, 1975 bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem großen Sonderpreis der
Jury, dem Preis der internationalen Filmkritik und dem der ökumenischen Jury
ausgezeichnet, nimmt die historischen Fakten nur als Gerüst, um sich dann ganz auf die
geschundene Kreatur Mensch zu konzentrieren – einen Menschen, dem trotz seiner
Benachteiligung die Hilfe Gottes versagt bleibt.
Herzog macht daraus kein religiöses Thema wie zum Beispiel Bresson in “Mouchette”,
obwohl sein Film ein wenig die Askese Bressonscher Werke atmet. Und Herzog
interessiert sich auch nur am Rande für die Sozialisation seiner Hauptfigur, wie es etwa
Truffaut in seinem optimistischen Plädoyer auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen in
“Der Wolfsjunge” getan hat. Herzogs Film entwickelt sich aus dem Satz, der über eines
der ersten Bilder – ein wogendes Kornfeld in der Totalen – eingeblendet wird: “Hören sie
denn nicht das entsetzliche Schreien ringsum, das man gewöhnlich die Stille heißt?”
Diese inneren, lautlosen Schreie meint man dauernd zu hören, wenn Kaspar Hauser
seine schmerzlichen Erfahrungen mit der Welt macht, in die er erst als Erwachsener
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geworfen wurde. Er, der jahrelang in einem Kellerloch angekettet im eigenen Kot dumpf
dahinvegetierte, kann nicht laufen, kennt keine Sprache, ist bar jeder Erfahrung und jeden
Wissens. Als ein Fechter vor ihm Angriffe simuliert, zeigt er keinerlei ängstliche Reaktion.
Und als er eine brennende Kerze berührt, stößt er keinen Laut aus, verzieht sich sein
Gesicht zu einer undefinierbaren Regung zwischen Lachen und Weinen, während ihm die
Tränen die Wangen herunterlaufen.
Schmerzen scheint ihm regelrecht das Erlernen der Sprache zu bereiten, so gequält preßt
er die Wörter aus sich heraus. Aber der gesellschaftlich nicht vorgeformte Kaspar
entdeckt auch sehr schnell die Absonderlichkeiten seiner Umwelt: “Wozu sind die
Frauenzimmer eigentlich gut? Warum erlaubt man ihnen nur Häkeln und Kochen?” fragt er
die Haushälterin seines Pflegevaters, ohne eine Antwort zu bekommen. Und als ob er der
Gesellschaft ihre Abnormität vorführen wollte, setzt er sich bei einem Empfang der feinen
Gesellschaft in eine Ecke und häkelt selbst.
Einen Professor, der ihm eine logische Denkaufgabe stellt, die er per doppelter Negation
lösen soll, entwaffnet er durch seinen Mutterwitz, der alle logischen Gesetze über den
Haufen wirft und dennoch die Aufgabe löst. Da haben selbst die Äpfel, die nicht so auf
dem Weg liegen bleiben, wie es Kaspars Erzieher gerne wollen, für ihn mehr Eigenleben
als seine in Konventionen erstickte Umwelt: “Kluges Äpfelchen”, bewundert Kaspar das
über den Fuß des Pfarrers springende Obst. Aber Kaspars Welt vereinigt sich nicht mit
der ihn umgebenden Realität. Nur in seinen Träumen erfüllt sich die Vision von einer
besseren Welt.
Daß dieser Film über einen Außenseiter, der als einziger menschlich erscheint und seine
normale Umwelt als unmenschlich erscheinen läßt, einen so bewegt, liegt vor allem an der
Besetzung der Hauptrolle mit dem Laiendarsteller Bruno S., der ein Kaspar Hauser nicht
unähnliches Schicksal hinter sich hatte: Ab seinem dritten Lebensjahr war er eingesperrt,
wurde von seiner Mutter in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder gesteckt. Zwanzig
Jahre lang war er von der Gesellschaft ausgeschlossen. Als man ihn geheilt entließ, war
er im Grunde kaputt.
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Bruno S., ein Berliner Original, geht am Wochenende mit seinem Akkordeon als
Moritatensänger auf die Hinterhöfe. In seinem Gesicht, das er hier Kaspar Hauser mehr
als leiht, steht jene radikale Menschlichkeit geschrieben, die auch die vor “Jeder für sich
und Gott gegen alle” entstandenen Filme Werner Herzogs (unter anderem
“Lebenszeichen”, “Auch Zwerge haben klein angefangen”, “Land des Schweigens und der
Dunkelheit”) ausstrahlten. Daß sich diese Radikalität in Form und Inhalt nicht steigern
läßt, zeigen die späteren Arbeiten des Regisseurs (u.a. “Nosferatu”, “Fitzcarraldo”). “Jeder
für sich und Gott gegen alle” allerdings ist ein Film, der den Ausspruch Truffauts
rechtfertigt, Werner Herzog sei der (damals) bedeutendste lebende Regisseur.
Meinolf Zurhorst
62 Taxi Driver
Taxi Driver (USA 1976)
Regie: Martin Scorsese. Buch: Paul Schrader. Kamera: Michael Chapman. Musik:
Bernard Herrmann. Darsteller: Robert De Niro, Cybill Shepard, Jodie Foster, Harvey
Keitel, Peter Boyle. Länge: 116 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Eine der kreativsten und wohl bedeutsamsten Partnerschaften des jüngeren
amerikanischen Films ist die des Regisseurs Martin Scorsese und des Schauspielers
Robert De Niro. Bereits mit ihrer ersten Produktion Mean Streets (Hexenkessel, 1973)
setzten sie Maßstäbe und prägten das Erscheinungsbild des künstlerisch anspruchsvollen
US-Kinos der siebziger und frühen achtziger Jahre. Wohl keiner hat den “loner”, den
einsamen (Anti-)Helden der Großstadt, dessen Kampf gegen seine Umwelt und die
Dämonen der eigenen Persönlichkeit sich meist in eruptiver Gewalt entlädt, so
überzeugend dargestellt wie De Niro. Und kein anderer Regisseur hat dafür wie Scorsese
so präzise wie stimmige visuelle Metaphern gefunden.
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“Taxi Driver” ist der zweite gemeinsame Film dieses kreativen Duos. De Niros Rolle des
Travis Bickle, des Taxifahrers, wurde zum Synonym für ein entwurzeltes,
orientierungsloses Amerika zur Zeit des Vietnamkrieges. Mit dem durch die nächtlichen
New Yorker Straßen gleitenden gelben Taxi gelang eines der sinnfälligsten Bildsymbole
für Einsamkeit und Suche nach eigener Identität.
Es ist Nacht in New York, Dampf steigt aus den Kanalschächten auf, ein Taxi schiebt sich
langsam ins Bild hinein. Sein Fahrer Travis Bickle, ein Ex-Marine, kann nach seinen
Vietnam-Erlebnissen nicht mehr schlafen und hat deshalb begonnen, in der Nachtschicht
eines Taxi-Unternehmens zu arbeiten. Travis ist der Stadt und ihren Menschen
gegenüber voll dumpfer Wut, er findet keinen Platz mehr in dieser Gesellschaft.
Als Travis dann der blonden Betsy (Cybill
Shepard) begegnet, die als Wahlhelferin für
einen Präsidentschaftskandidaten arbeitet, ist
diese für ihn, inmitten des Schmutzes der
Großstadt, eine Erscheinung aus einer
anderen Welt. Betsy verkörpert für ihn die
Unschuld (was Scorsese durch ihre weiße
Garderobe explizit verdeutlicht). Und doch
weiß er nichts Besseres, als sie bei ihrem
ersten Rendezvous in ein Pornokino zu
führen. Entsetzt läßt der blonde Engel ihn
stehen und weist auch in Zukunft seine
Annäherungsversuche ab. In Travis läßt die
Abfuhr eine dumpfe Wut entstehen.
Als ein Fahrgast (Scorsese) ihm eines Nachts erzählt, seine untreue Frau mit einer 44er
Magnum erschießen zu wollen, brechen bei Travis die Hemmungen zur
Gewaltanwendung. Er kauft sich ein ganzes Arsenal von Waffen und beginnt vor dem
Spiegel in seinem schäbigen Apartment mit rituellen Exerzitien wie vor den Kämpfen im
Krieg. In einem Drugstore wird er Zeuge eines Überfalls und erschießt den Täter. Später
rasiert er sich den Schädel zur Irokesenfrisur und beschließt, den
Präsidentschaftskandidaten umzubringen. Doch Sicherheitsbeamte verhindern das
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Attentat. Travis kann entkommen und fährt zu dem Zuhälter (Harvey Keitel) der
zwölfjährigen Prostituierten Iris (Jodie Foster), die er zuvor kennengelernt hatte und die er
nun aus ihrem Elend befreien will. Es kommt zu einem Massaker, in dessen Verlauf
Travis selbst verletzt wird. Die Zeitungen machen ihn zu einem Helden, da er ein Kind aus
der Unterwelt holte.
Scorsese charakterisiert während Bickles langsamer Nachtfahrten New York als einen
urbanen Alptraum, unterstrichen von der elektrisierenden Musik des HitchcockKomponisten Herrmann. Er inszeniert eine irreale Atmosphäre durch den häufigen Einsatz
von Slow Motion, roten Neonlichtern, die sich auf den nassen Straßen spiegeln,
aufsteigendem Dampf, regennassen Scheiben, die die wahrzunehmenden Konturen und
Gestalten verwischen. Es ist die Sicht eines Wahnsinnigen, und es ist zugleich das reale
New York. Schnell wird klar, daß es sich bei den derart stilisierten Fahrten nicht um die
Schilderung von Travis' Tagesablauf handelt, sondern um die langsame Einführung in
seine psychische Konditionierung.
So ist der Film vor allem auch das Werk seines Hauptdarstellers Robert De Niro, der wie
sein Regisseur aus New York stammt. De Niro spielt diesen modernen Helden, der in
seiner Ambivalenz an die Charaktere des “film noir” erinnert, mit konzentrierter
Zurückhaltung. Die Augen häufig halb geschlossen, trotzdem intensiv beobachtend, läßt
er das Blutbad als unausweichliche Eruption unterdrückter Gefühle erscheinen.
Gewalt bei der Lösung alltäglicher oder psychischer Konflikte war eines der
beherrschenden Themen des US-Films der siebziger Jahre. Auf den Schlachtfeldern in
Vietnam verloren sich die gesellschaftlichen Wertvorstellungen und hatten eine
zunehmende Isolierung des Individuums innerhalb des großstädtischen Gefüges zur
Folge. Einzig die Gewalt schien einen Ausweg zu bieten. Travis gewinnt seine
unheimliche, moralische Autorität – und darin unterscheidet er sich vom Helden des “film
noir”, der sich am Ende immer zum Guten wandelt – aus der konsequenten Fortführung
seiner psychischen Defekte. Das trennt ihn auch von spekulativen Rächern nach Art des
Charles Bronson-Films “Ein Mann sieht rot”.
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Günter Lebailly
63 Die Drei von der Tankstelle
(Deutschland 1930)
Regie: Wilhelm Thiele. Buch: Franz Schulz, Paul Frank. Kamera: Franz Planer. Musik:
Werner Richard Heymann. Darsteller: Lilian Harvey, Willy Fritsch, Oskar Karlweis, Heinz
Rühmann, Olga Tschechowa, Kurt Gerron, Felix Bressart. Dauer: 98 Minuten. Vertrieb:
UFA.
“Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt”, erklang es im
Kopf des Autors, als er gefragt wurde, ob er über “Die Drei von der Tankstelle” schreiben
wolle. Vielleicht ist diese Reaktion bezeichnend für den Film, einen Musikfilm, eine
“Tonfilm-Operette”. Vielleicht ist ja auch die Musik von Werner Richard Heymann
dasjenige, was von diesem Film die Zeit am besten überdauert hat – und das Zweitbeste,
wie Musik und Handlung sich im Film miteinander verbinden.
Die Handlung folgt im Aufbau den Regeln der Operette. 1. Akt: Drei Freunde, Willy (Willy
Fritsch), Kurt (Oskar Karlweis) und Hans (Heinz Rühmann), kommen von einer längeren
Reise zurück, finden Haus und Mobiliar verpfändet. Ihr Bankier hat Bankrott gemacht. Der
große Wirtschaftskrach von 1929 war gerade vorbei, als der Film entstand. Aber weder
herrschen graue Misere noch Verzweiflung. Mit Humor tragen die Drei ihr Geschick,
tanzen durch die Wohnung, tändeln mit dem “lieben Herrn Gerichtsvollzieher” (Felix
Bressart) und sehen ihre Räume wie durch Zauberspuk sich leeren.
2. Akt: Es muß etwas geschehen. Als den Dreien während einer Autofahrt das Benzin
ausgeht und weit und breit keine Tankstelle zu sehen ist, kommt die zündende Idee: Hier
bauen wir eine Tankstelle. Gesagt, getan. Die Tankstelle steht und wird umschichtig
bedient. Und wie es der Zufall oder das (Operetten-)Schicksal will: Lilian (Lilian Harvey)
fährt vor und braucht für ihren schicken Wagen ein bißchen Öl. Sie wird von Hans
bedient, der sie seine Sympathie spüren läßt. Die nächste Schicht hat Kurt; bei ihm ordert
Lilian Benzin. Auch er ist von ihr hingerissen und vergißt, den Tank zuzudrehen, so daß
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Lilian noch einmal kommen muß, um ihrem Auto von Willy einen neuen Tankverschluß
einsetzen zu lassen. Willy ist zunächst nicht so hingerissen. Doch kommen sich die
beiden bei einem Gewitter – darunter tut's das “Schicksal” halt nicht – bald sehr nah.
Vor dem Happy-End kommt jedoch erst einmal das Finale des zweiten Aktes mit dem
obligaten Krach. Lilian hat jetzt drei Verehrer, liebt aber nur einen. Um das den anderen
beiden “schonend” beizubringen, bestellt sie alle drei in den “Kitcat-Club”, damit die Szene
auch den rechten Rahmen bekommt. Willy mißdeutet ihre Absicht und trennt sich von der
herzlosen jungen Dame. Tränen und Verzweiflung, jetzt ist alles aus. “Liebling, mein Herz
läßt dich grüßen”, singen die Comedian Harmonists noch einmal feinstimmig.
Im 3. Akt muß das Happy End kommen, Darum heckt Lilian mit der Freundin ihres Vaters
(Olga Tschechowa) wieder etwas Neues aus. Eine Tankstellen-Gesellschaft wird
gegründet; Willy, Kurt und Hans sollen Direktoren werden. Die Drei sonnen sich in ihrem
Glück, bis Willy herausbekommt, wer dahinter steckt. Aber Frauenlist ist stärker als
Männerstolz. Lilian kriegt ihren Willy herum, und zum Schluß wird geheiratet.
Eine Operette für die Zeit der Wirtschaftskrise, die Optimismus verbreitet, um die Massen
ihre Misere vergessen zu lassen. Mit diesem Verdikt könnten wir zur Tagesordnung
übergehen und das Ganze schnell vergessen, wenn nicht – wie bereits erwähnt – die
hübschen Melodien wären, von denen einige ein halbes Jahrhundert frisch überdauert
haben, und wenn nicht die Verbindung von Musik und Handlung wäre. Natürlich, es gibt,
wie in anderen Filmen auch, die bebilderten Schlager, bei denen nichts weitergeht. An
anderen Stellen wird die Musik leitmotivisch eingesetzt und schafft so die Verbindung
späterer Szenen mit vorhergegangenen, ohne daß lange Erklärungen nötig sind. An
wieder anderen Stellen werden durch die Musik verschiedene Handlungen miteinander
verknüpft. Das waren am Anfang der Tonfilmzeit kühne Erfindungen.
Was den Spaß ein wenig schmälert, sind die Herren Schauspieler, deren Charme durch
die Zeit leicht verblichen ist. Ihre Spiellaune kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie
nur ungenügend singen und noch weniger tanzen können. Man braucht gar nicht daran zu
denken, was wenige Jahre später Fred Astaire auf dem Gebiet des Filmmusicals
vollbrachte, es genügt schon, Lilian Harvey zuzuschauen. Sofort merkt man, daß sie das
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musikalische Metier beherrscht. Vergessen wir die bescheidenen Revue-Szenen im
“Kitcat-Club”. Überhören wir außerdem die klägliche Tonqualität der vorliegenden
Filmkopie. Halten wir uns statt dessen an die gute Laune, die über Unzulänglichkeiten
hinwegträgt, dann ist der Film heute immer noch sehr vergnüglich anzusehen.
Regisseur Wilhelm Thiele (1890-1975) hat den Erfolg nicht wiederholen können. Er kam
aus Wien, wo er erste Filmerfahrungen gesammelt hatte, 1926 zur UFA nach Berlin. Vor
“Die Drei von der Tankstelle” drehte er mit Lilian Harvey: “Adieu Mascotte” (Stummfilm,
1929) und “Liebeswalzer” (die erste Tonfilmoperette, mit Willy Fritsch, 1930), danach
“Zwei Herzen und ein Schlag” (1932), außerdem unter anderem “Die Privatsekretärin” mit
Renate Müller (1931).
Als Jude mußte er 1933 emigrieren. Er ging nach Hollywood, wo er aber nur eine Reihe
unbedeutender Filme drehte, unter anderem “Tarzan Triumphs” (Tarzan und die Nazis).
Wilhelm Thiele war nicht der einzige Mitarbeiter des Films “Die Drei von der Tankstelle”,
der aus Nazideutschland fort mußte oder fortging. Produzent Erich Pommer, Kameramann
Franz Planer, Komponist Werner Richard Heymann, die Schauspieler Felix Bressart und
Oskar Karlweis gingen nach Hollywood. Lilian Harvey verließ Deutschland bei
Kriegsausbruch. Kurt Gerron wurde im KZ ermordet. Ruft man sich diese Tatsache ins
Gedächtnis, dann bekommt der Frohsinn des Films bitteren Beigeschmack.
Hans Gerhold
64 Ein Mann zu jeder Jahreszeit
A Man for All Seasons (Großbritannien 1966)
Regie: Fred Zinnemann. Buch: Robert Bolt, nach seinem Theaterstück. Kamera: Ted
Moore. Musik: Georges Delerue. Darsteller: Paul Scofield, Robert Shaw, Orson Welles,
John Hurt, Susannah York. Länge: 116 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
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Der Fall ist wohlbekannt: Im Jahre 1529 wird der englische Humanist und Philosoph Sir
Thomas More von König Heinrich VIII. zum Lordkanzler ernannt. Als der König sich von
seiner ersten Frau, der Witwe seines Bruders, die er nur durch einen Dispens des
Papstes heiraten konnte, scheiden lassen will, um seine Geliebte, Anne Boleyn, zu
heiraten, widersetzt sich More. Heinrich macht sich mit der sogenannten Suprematsakte
zum Oberhaupt der englischen Kirche; Thomas More verweigert den Eid auf die Akte, die
zugleich ein neues Thronfolgegesetz festlegt; er wird in den Tower geworfen und im Jahre
1535 hingerichtet.
Im Gegensatz zu anderen Versionen dieses historischen Stoffes, die sich vor allem für die
vorgeblich ausschweifende Tudorzeit und das Liebesleben eines extravaganten
Herrschers interessieren, stellt Regisseur Fred Zinnemann den Gewissenskonflikt eines
Mannes in den Mittelpunkt, der zwischen Wirklichkeit und Moral, Treue gegenüber Gott
und der Kirche, Staatsraison und öffentlichem Wohl, vor allem aber zwischen den
Forderungen seines privaten Gewissens und den sozialpolitischen Druckmitteln eine
schwierige Wahl treffen muß.
More lebt nach einem Prinzip, dem zuliebe er alles opfert, auch sein Leben. Er kann
keinem irgend gearteten außengelenkten Druck nachgeben, weil das einen Verrat an
seiner Person und seiner Seele, seinem Ich darstellen würde. Dem König gegenüber
äußert er einmal: “Respekt vergeht wie Wasser in der Wüste”, aber Standhaftigkeit, Ehre,
Würde, Redlichkeit und Überzeugung seien Eigenschaften, die auch ein treuer
Staatsdiener nicht über Bord werfen sollte, wenn es politischer Opportunismus verlange.
Das ist die eine Seite von Mores Argumentation, die in dem sehr klugen und mit
intelligenten Dialogen ausgestatteten Drehbuch von Robert Bolt (der es nach seinem
gleichnamigen Theaterstück schrieb) angelegt ist. Die andere Seite besteht in Mores
unbedingter Treue zu Gott, der er wie einer seiner historischen Vorgänger, Thomas
Beckett, anhängt. Wie in Jean Anouilhs Beckett-Drama geht es More um die “Ehre
Gottes”, dem er in eigenen Worten “mit aller Spitzfindigkeit des Geistes” dienen will. Das
ist für die Zeit des Feudalismus eine geradezu subversive Herausforderung. Denn More
beurteilt durchaus richtig Heinrichs willkürliche Maßnahme der Suprematsakte, der sich
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die offiziellen kirchlichen Würdenträger beugten, als Krieg gegen die Kirche. Zunächst und
vor allem handelt es sich um eine Frage der Macht und ihrer Manipulation.
Zinnemann findet dafür prägnante Beispiele. Mores Vorgänger Kardinal Wolsey (Orson
Welles in einem seiner berühmt souveränen und wirkungsvollen Kurzauftritte) ist nicht nur
ein Beispiel und ein Mann von Autorität und Macht, sondern durch seine Massigkeit, die
alle ihn umgebende karge Dekoration überwältigt, die fleischgewordene
Machtdemonstration; des Kardinals Dialog mit dem Lordkanzler über die richtige
Staatsführung ist der eines Pragmatikers mit einem Idealisten.
Machtsymbole, von den steinernen Tieren des Königs über Wolseys Siegel und Mores
Amtskette, durchziehen den Film und bewirken eine permanente Atmosphäre von
Bedrohung und Paranoia, was durch die kontinuierlichen Intrigen, Verhöre, Schwüre und
Verfolgungen in Mores Umwelt noch unterstrichen wird. Nicht umsonst hat Neil Sinyard
bemerkt, daß die Figuren ständig über ihre Schulter blicken oder mit ihren Reaktionen
warten, bis der König (etwa in der signifikanten Szene, in der er im Uferschlamm watet)
ein Zeichen gibt.
Im Gesamtwerk Zinnemanns gehört Mores Passionsgeschichte zu jenen Filmen wie
“Verdammt in alle Ewigkeit” (1953), “Geschichte einer Nonne” (1959) und vor allem dem
Meta-Western “12 Uhr mittags” (1952), die von moralischen Konflikten handeln und sie an
dem Postulat belegen, daß eines Menschen Charakter sein Schicksal bestimme. Deshalb
zieht sich More in ein gefährliches Schweigen zurück, deshalb gibt er sich bewußt einer
selbstgewählten Isolation hin und verstößt scheinbar Freunde und Familie, deshalb
schließlich – als ihm mit dem Meineid eines Postenjägers jeder Ausweg versperrt wird –
setzt er vor Gericht zu jener Abrechnung an, die definitiv die Parlamentsakte zugunsten
der Gebote Gottes verwirft.
Zinnemanns Film lebt von großartigen darstellerischen Leistungen, voran jener von Paul
Scofield als More, der auch die pedantischen Züge des Gelehrten herausarbeitet, und
jener von Robert Shaw als gefährlich heiterem König. Trotz des Charakters einer
Theateradaption gelingt es Zinnemann, sein Werk visuell als Film zu präsentieren, durch
eine die Farbnuancen und die Dekoration sowie die Positionen der Personen geschickt
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einfangende Kamera. Das mag einer der Gründe für den Oscar-Segen (sechs Oscars: für
den Film, Regie, Buch, Hauptrolle, Kamera, Kostüme) gewesen sein.
Horst Schäfer
65 Klassen Feind
(Bundesrepublik Deutschland 1983)
Buch und Regie: Peter Stein, nach dem Stück“Class Enemy” von Nigel Williams.
Kamera: Robby Müller. Bühnenbild: Karl-Ernst Hermann. Darsteller: Greger Hansen,
Stefan Reck, Jean-Paul Raths, Udo Samel, Ernst Stötzner und Tayfun Bademsoy. Länge:
125 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
“Klassen Feind” von Peter Stein, einem der führenden deutschen Theater-Regisseure, ist
ein in vieler Hinsicht bemerkenswerter Film. Er verdichtet auseinanderstrebende und sich
widersprechende jugendkulturelle Äußerungsformen und Protesthandlungen zu einer
überzeugenden dramaturgischen Einheit, und er dokumentiert und konserviert eines der
atemberaubendsten Stücke der an außergewöhnlichen Inszenierungen gewiß nicht armen
“Schaubühne” in Berlin.
Der Film ist aber mehr als nur eine für die Leinwand arrangierte Rekonstruktion der
Bühnenaufführung, da die “meisterliche” Kameraarbeit von Robby Müller aus diesen
Vorgaben und unter den Bedingungen eines Schauplatzes, dem Klassenzimmer, einen
wirklichen Film mit seinen eigenen spezifischen Mitteln und Möglichkeiten gemacht hat.
Dafür wurde Robby Müller 1983 zu Recht mit dem Deutschen Filmpreis (ex aequo) für die
beste Kameraführung ausgezeichnet.
Unter dem Eindruck der Jugendunruhen Ende der 70er Jahre in den Slums von Brixton
schrieb der englische Autor und Ex-Lehrer Nigel Williams das Bühnenstück “Class
Enemy”, das einen unverkrampften und realistischen Eindruck von der Situation und dem
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Lebensgefühl jugendlicher Outsider vermittelt und in England auf Anhieb zu einem großen
Bühnenhit wurde.
Sechs Schüler zwischen 16 und 18 Jahren warten in einem Klassenzimmer auf ihren
neuen Lehrer. Alle Lehrer, die bisher in dieser Klasse unterrichten sollten, haben das
Handtuch geworfen. Einer der Schüler hält Wache. Sobald irgendwelche Schritte zu hören
sind, verbarrikadiert die Gruppe mit Tischen und Stühlen die Tür. Aber es kommt
niemand. Die Schüler entschließen sich, während des Wartens selbst Lehrer zu spielen.
Jeder hält eine Stunde, die anderen funken in gewohnter Manier dazwischen. Im Verlauf
dieses Unterrichts an Lebenspraxis und -erfahrung erzählen die Jungens von sich, ihren
Nöten, ihrem Hass, ihrer Angst und ihren Sehnsüchten. Es kommt zu einem blutigen
Konflikt unter ihnen, als sie erfahren, daß man sie aufgegeben hat – daß in Zukunft kein
Lehrer mehr kommen wird.
Nach dem Ausbruch von Aggressivität, in dessen Verlauf das Klassenzimmer verwüstet
wird, folgt der Zusammenbruch; bei offener Tür warten sie weiter auf einen Lehrer, auf
einen Vertreter der Außenwelt – aber die Schule ist aus, und sie haben und finden keinen
anderen Ort als die trostlose Betonburg Schule.
Peter Stein hat die Ausgangslage des Stücks verändert und es nach Berlin-Kreuzberg –
mitten in die Szene der Hausbesetzer, Punker und Null-Bock-Typen – übertragen.
Sprache und Gehabe wurden dem Jargon und dem aggressiven Klima angepaßt. Das
Ergebnis ist eine provozierende Zurschaustellung der Innenwelt dieser No-FutureGeneration. Stein's Regie steht auf Seiten der Jugendlichen; er führt seine Schauspieler
zu artistischen Höchstleistungen, zu einer Sprach- und Sprechorgie mit hohen
Anforderungen an junge Darsteller, die präzise und hochtourig den “fleischgewordenen
Traum jedes Scheiß-Sozialarbeiters” bis an die Grenzen des Erträglichen verkörpern. Aus
der Enge eines unwirtlichen Klassenraums entwickelt Robby Müller virtuose Bilder, ein
komplexes Geflecht von Einstellungen, Fahrten und Schwenks, die exakt auf die Aktionen
der Schauspieler abgestimmt sind, alle Höhepunkte unterstreichen und dabei auch
scheinbare Nebensächlichkeiten genauestens beobachten.
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Bei den Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren, die den Hauptanteil unserer
Kinobesucher bilden, kam “Klassen Feind” nicht sonderlich gut an. Stück und Film sind zu
sehr auf eine gesellschaftliche Modell-Situation hin konstruiert; die Darsteller sind im
Schnitt acht bis zehn Jahre älter als die Schüler, die sie zu spielen haben. Das wirkt sich
vielleicht nachteilig auf den Kinoerfolg des Films aus, schmälert aber in keiner Weise den
künstlerischen Rang einer beispielgebenden bildnerischen Symbiose von Theater und
Film.
“Klassen Feind” ist kein authentischer Report über den Zustand der Schule und der
Jugend in Berlin, in der Bundesrepublik oder anderswo. “Klassen Feind” ist ein
schockierender Science-Fiction-Film mit Horror-Elementen, der zeigt, was aus den jungen
Menschen wird, wenn sie heute von den Teilen der Gesellschaft, die für sie auch unter
schwierigen Umständen Verantwortung tragen sollten, aufgegeben werden.
Walter Schobert
66 Der Student von Prag
(Deutschland 1913)
Regie: Stellan Rye. Buch: Hanns Heinz Ewers. Kamera: Guido Seeber. Bauten: Robert
A. Dietrich, nach Entwürfen von Klaus Richter. Musik: Josef Weiß. Darsteller: Paul
Wegener, Grete Berger, Lothar Körner, Fritz Weidemann, John Gottowt, Lydia
Salmonova. Länge: 60 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé.
“So entsteht im ›Kino‹ eine neue, homogene und harmonische, einheitliche und
abwechslungsreiche Welt, der in den Welten der Dichtkunst und des Lebens ungefähr das
Märchen und der Traum entsprechen: größte Lebendigkeit ohne eine innere dritte
Dimension; suggestive Verknüpfung durch bloße Folge; strenge, naturgebundene
Wirklichkeit und äußerste Phantastik; das Dekorativwerden des unpathetischen, des
gewöhnlichen Lebens. Im ›Kino‹ kann sich alles realisieren, was die Romantik vom
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Theater – vergebens – erhoffte: äußerste, ungehemmteste Beweglichkeit der Gestalten,
das völlige Lebendigwerden des Hintergrundes, der Natur... ; eine Lebendigkeit aber, die
keineswegs an Inhalt und Grenzen des gewöhnlichen Lebens gebunden ist. ”
Dies äußerte, im September 1913 in der “Frankfurter Zeitung”, Georg Lukács, der sich
damals noch “von” schrieb. Wenige Wochen vorher, am 22. August, hatte im Berliner
Mozartsaal ein Film Premiere, der sich ansieht wie die filmische Umsetzung der Thesen
des damals noch bürgerlichen Ästheten, der diesen Streifen, “Der Student von Prag”,
dennoch nicht unbedingt gesehen haben muß; er hätte wahrscheinlich, spätestens bei
seinem Hinweis auf den Dichter E. Th. A. Hoffmann, sonst gewiß auch den Film
ausdrücklich zitiert.
Dieser Film gilt der deutschen und der internationalen Filmgeschichtsschreibung, von
Einzelstimmen abgesehen, als das erste, wahrhaft künstlerische Werk der deutschen
Kinematographie; mit ihm sei die deutsche Filmkunst geboren worden. Doch so sehr das
erste richtig ist, so wenig stimmt das zweite. Vielmehr markiert das Jahr seiner
Entstehung, 1913, überhaupt einen Einschnitt in der Geschichte des deutschen Kinos,
das bis dato sowohl künstlerisch wie auch und vor allem kommerziell von französischen,
italienischen und besonders dänischen Filmen dominiert war. Auch die wenigen vorher in
Deutschland entstandenen anspruchsvolleren Filme verbanden sich ja mit
skandinavischen Namen: mit Asta Nielsen, dem Star, und ihrem Gatten und Regisseur
Urban Gad; nur ihr Kameramann, der Filmpionier Guido Seeber, der für die “Bioscop” in
Babelsberg das erste Glasatelier gebaut hatte, war Deutscher. Das alles geschah 1913:
Die Filmwirtschaft, schwer unter Beschuß sogenannter Kinoreformer, die in den
“Schundfilmen” eine nationale Bedrohung sahen, griff zu einem Rezept, das einige Jahre
vorher schon in Frankreich funktioniert hatte; das Image wurde aufpoliert durch den
Versuch, bekannte Schriftsteller als Autoren und berühmte Theaterdarsteller als Stars zu
gewinnen. “Film d'art” hieß das Zauberwort in Frankreich, “Autorenfilm” die deutsche
Devise.
Viele ließen sich einkaufen: Max Reinhardt drehte zwei Filme, Hofmannsthal und Lindau
schrieben Stoffe, Pinthus lud Kollegen ein, Szenarios zu entwerfen, und veröffentlichte sie
in seinem berühmten “Kinobuch”. Der erste große Schauspieler, der zum Film ging, war
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ausgerechnet der bildscheue Bassermann, der für Max Mack “Der Andere” drehte, einen
relativ konventionellen Kriminalfilm, der aber immerhin das Motiv der
Persönlichkeitsspaltung in den Film einführte. “Der Student von Prag” nahm es auf – und
das ist nicht die einzige Parallelität zu jenen Aktivitäten des Jahres 1913. Er ist auch ein
Autorenfilm – und gleichzeitig auch das Ergebnis einer Teamarbeit, des
Zusammenwirkens einer Reihe von Könnern, die sich für das Kino begeisterten und
meinten, es müsse mehr sein als nur triviale Unterhaltung, die es zur Kunst erheben
wollten. Publikumswirksames Zugpferd war der Reinhardt-Mime Paul Wegener, der die
Grundidee beisteuerte. Er wollte sich einen Traum erfüllen: in einer Szene mit sich selbst
als Partner aufzutreten.
In ein Szenario brachte sie der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers, Autor vor allem von
phantastischen Büchern wie “Alraune”, der sich als einer der ersten seiner Zunft für den
“Kintopp” erwärmt hatte. Der “Student von Prag”, für den er unter Verwendung zahlreicher
literarischer Quellen die in Prag spielende Geschichte von dem Studenten Balduin erfand,
der sein Spiegelbild an den zwielichtigen Signor Schapinelli verkauft, ist sein Meisterwerk,
das er, der später den Nazis die Vorlage zum “Westmar”Film lieferte, nie mehr übertraf:
ein vielgelesener und durchaus mittelmäßiger Tagesschriftsteller, nicht der erste, der
bewies, daß aus schlechten Büchern gute Filme werden können. Altmeister Seeber
photographierte und fand die technischen Lösungen für das Problem, im gleichen Bild
ohne sichtbaren Bruch Balduin und sein Alter ego zu zeigen. Für die Regie freilich
bediente man sich sicherheitshalber doch noch eines dänischen Imports: Stellan Ryes
Anteil am Film dürfte weit höher sein, als nach dem Vorspann zu vermuten; dort wird als
Regisseur schlicht “der Autor” genannt und auch Wegener gefiel sich in der Rolle.
Nicht vergessen werden dürfen die auf den Expressionismus verweisenden Entwürfe
Richters und der Komponist Josef Weiß. Freilich war seine Musik nicht die erste
durchkomponierte Partitur zu einem Film; diesen Ruhm darf, einstweilen noch, “Richard
Wagner” beanspruchen – wie es denn fast schon komisch ist, daß nichts von dem, was
Ewers 1930 im Geleitwort zur Buchausgabe als Premiere reklamierte, wirklich das erste
Mal geschah, daß er aber das nicht erkannte, was an seinem Film wirklich neu war.
Helmut H. Diederichs zählt es in seinem langen einleitenden Essay zum Filmprotokoll
(Focus-Verlag) auf: “die Filmtricks der Doppelgängeraufnahme und des Stoptricks, die
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Beweglichkeit der schwenkenden Kamera, die Inszenierung der Massenszenen in die
Tiefe, die präexpressionistische Dekoration von Balduins Studentenbude, die klug
genutzten Originalschauplätze, die Beleuchtungseffekte und die eingeschnittenen
Dialogtitel.”
Für Wegener, den Mann mit den mongolischen Gesichtszügen, die ihn prädestinierten zu
seinen geheimnisvollen, oft dämonischen Charakteren, war “Der Student von Prag” der
Beginn einer glänzenden Karriere, ein Durchbruch. Für die deutsche Filmgeschichte hat
der Film nicht diesen Stellenwert, aber das liegt nicht an ihm, sondern am Weltkrieg, der
den hoffnungsvollen Anfang von 1913 stoppte. Es sind vom “Student” keine
Entwicklungen ausgegangen: Er ist eher ein ahnungsvoller Vorbote als der Beginn
dessen, was später erst reifte. Ein Meisterwerk ist er dennoch. Über die Inszenierung und
die ja sogar oft arg konventionelle Dramaturgie hinaus ist es vor allem das Grundmotiv
dieses Films, das ihm
seinen Rang verschafft: jene Gestalt des Doppelgängers, die im klassischen deutschen
Kino immer wiederkehren sollte, das ja weit weniger vom Expressionismus beeinflußt
wurde als von der deutschen Romantik, jener der schwarzen Ausprägung vor allem.
Ewers hat den Film nicht zufällig um 1820 angesiedelt. Unschwer lassen sich, mehr oder
weniger direkt, Geschichten von E. Th. A. Hoffmann ausmachen, auch Chamissos
“Schlemihl”, und neben Poe wäre auch Oscar Wilde zu nennen.
Das verkaufte Spiegelbild, das ein Eigenleben entfaltet, seinen Besitzer ins Elend stürzt
und zu Tode bringt, der verkaufte Schatten, der Doppelgänger, der Staatsanwalt, der zum
Verbrecher wird (“Der Andere”), die Doppelexistenz von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sie
tauchen wieder auf im “Caligari”, im “Mabuse”. Sie alle sind, wie Balduin, Emanationen
der Angst, daß das Ich von einem unkontrollierbaren Es beherrscht wird, verkörpern die
furchtbare Erkenntnis, daß der Mensch von unbekannten Mächten zu Taten getrieben
wird, für die er sich nicht verantwortlich fühlt. Balduin geht es nur um Reichtum und eine
schöne Gräfin, wenn er sein Spiegelbild, seine Seele verkauft, aber wie Faust muß er
erkennen, daß der Gegenspieler, in dessen Klauen er ist, niemand anders ist als er
selbst.
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Hans Gerhold
67 1900
Novecento (Italien 1974/75)
Regie: Bernardo Bertolucci. Buch: Bernardo Bertolucci, Franco Arcalli, Giuseppe
Bertolucci. Kamera: Vittorio Storaro. Musik: Ennio Morricone. Darsteller: Gérard
Depardieu, Robert De Niro, Donald Sutherland, Dominique Sanda, Stefania Sandrelli.
Länge: 304 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Eines der ambitioniertesten Projekte der Filmgeschichte: ein Jahr Drehzeit, den
Jahreszeiten folgend, ein Jahr Schnittarbeit, eine Laufzeit von fast fünfeinhalb Stunden
(fünf in der Video-Fassung), der Versuch, mit den Produktionsmitteln des HollywoodKinos sozialrevolutionäre Inhalte zu transportieren und aus klassenkämpferischer Sicht
ein Panorama der großen historischen Umwälzungen der ersten Hälfte unseres
Jahrhunderts in Norditalien auf dem Lande zu entwerfen. Ein Gesamtkunstwerk, dessen
Totalitätsanspruch Karl Marx wie Sigmund Freud, Giuseppe Verdi wie Georg Lukács
vereinnahmt.
Als “Novecento” – der italienische Titel meint nicht nur das Jahr, sondern das Jahrhundert
und verweist somit auf die Bewegung der Zeit, die der deutsche Titel “1900” unterschlägt
– vor elf Jahren in die Kinos kam und von der Kritik und vom Publikum eher ablehnend
behandelt wurde, war der Film in mehrfacher Hinsicht ein Politikum. Vom kurzsichtigen
Verleih in zwei Teilen mit mehreren Monaten Wartezeit dazwischen gestartet, wurde
“1900” um seine Gesamtwirkung gebracht. In Italien war er zeitweise verboten, in den
englischsprachigen Ländern kursierte eine gekürzte Fassung: Systematisch wurde einem
epochalen Meisterwerk der Garaus gemacht.
Wer dem Film heute wiederbegegnet, der erkennt, daß die Bertolucci vorgeworfene
Maßlosigkeit ihren Sinn hat, daß die Analyse der Klassengegensätze in den dargestellten
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individuellen Biographien wie auch ihre Festschreibung in den Klassenverläufen historisch
korrekt und sogar prophetisch geriet, daß das epische Kolossalgemälde zugleich ein
dialektischer Diskurs über Geschichte und ein filmsprachlich schwelgerisches Kunstwerk
ist, in dem reflektierende und analytische Inhalte und Impulse ihre korrespondierenden
Formen und ästhetischen Argumentationsweisen finden.
“Novecento” beginnt mit dem in Italien berühmten Gemälde “Il quarto Stato/Der vierte
Stand” (1901) von Giuseppe Pellizza da Volpedo, das eine Demonstration von
Landarbeitern zeigt und nicht als Standphoto fungiert, sondern wie eine Szene
aufgenommen ist, indem die Kamera aus der Nahaufnahme langsam in eine Totale
zurückfährt, damit den Eindruck erweckend, die Bauern träten in den Film und die
Geschichte ein. Damit ist Bertoluccis Prämisse klar umrissen: den Anbruch einer neuen
Zeit, von der sich das Landproletariat und die Arbeiterklasse Hoffnungen versprachen,
nachzuzeichnen.
In der gewiß modellhaften, aber darum nicht weniger zwingenden erzählerischen
Konstruktion laufen zwei parallele Lebensgeschichten ab: Im Todesjahr Verdis werden
Olmo (Gérard Depardieu) als Sohn des Bauern Leo Dalco (Sterling Hayden) und Alfredo
(Robert de Niro) als Enkel des Großgrundbesitzers Berlinghieri (Burt Lancaster) geboren.
Als Kinder spielen sie zusammen, sind als junge Männer in einer Art Haßliebe
miteinander verbunden, die gewisse Gemeinsamkeiten über alle politischen Unterschiede
hinweg aufdeckt. Während der Herrschaft des Faschismus getrennt, finden sie sich am
25. April 1945, dem Tag der Befreiung, wieder, als der Sozialist Olmo den Padrone vor
einem Volksgericht der Bauern und Partisanen für tot erklärt. Soweit die vertikale Abfolge
des Films, der durch eine große Rückblende – den Rahmen bildet der Befreiungstag –
verklammert wird und mit einem kurzen Epilog (die beiden als streitende Tattergreise)
endet.
Die meisterhafte feste Kontur gewinnt “Novecento” auch durch seine strenge horizontale
Struktur, indem er den Jahreszeiten folgt, denen bestimmte politische Entwicklungen
zugeordnet sind. Der Sommer ist die Zeit der Kindheit, in der der Padrone beinahe noch in
Einklang mit den Bauern lebt, die er wie die Natur und das Vieh liebt. Der Herbst ist die
Zeit der Fragen und Vorentscheidungen, in der die Grundbesitzer (das Kapital) ihr
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verhängnisvolles Bündnis mit den Faschisten eingehen. Der Winter markiert die Zeit der
Terrorherrschaft, der Frühling den Augenblick der Befreiung.
Doch Bertolucci, dem hier Idealismus vorgeworfen wurde, ist keineswegs so naiv, zu
zeigen, daß das Moment der sozialistischen Utopie mehr wäre als nur eine Illusion. Das
nationale Befreiungskomitee, das in seiner Allianz aus allen Parteien den “historischen
Kompromiß” zwischen Kommunisten und Christdemokraten Ende der siebziger Jahre
vorwegnimmt, gibt ihm Gelegenheit zu einer ironischen Schlußwendung, indem die
Bauern und Arbeiter die Waffen abliefern und das letzte Wort Alfredo bleibt: “Der Padrone
lebt.”
Bertolucci gelingt eine einmalige Verzahnung von psychologisch glaubhaften
Charakteren, von hymnischen lyrischen Landschaftsaufnahmen und naturalistischen
Elendsbildern, von Details und symbolischen Objekten. Das dramaturgische
Beziehungsgefüge seines mit dem langen Atem des Epikers (den er in “Der letzte Kaiser”
erneut unter Beweis gestellt hat) erzählten Films ist überreich an Parallelismen,
Korrespondenzen und Kontrasten. Sie bilden ein geschlossenes System, das
filmsprachlich durch eine in den verschiedenen Farbtönen rauschhaft agierende Kamera
und ihrer stets funktionalen Kranfahrten und Schwenks gestützt wird, die Personen,
Umwelt und Objekte integrieren.
Beispiel: Der Abzug der Tagelöhner, der Aufmarsch des berittenen Militärs und die
Treibjagd der Grundbesitzer finden alle durch die Blockade der Frauen ein Ende. Oder die
Ereignisse, die Alfredos Hochzeit überschatten. Oder der Tag, den Alfredo und Olmo im
Nachbardorf verbringen. Oder die dynamischen Massenszenen, die Griffith, Stroheim und
Eisenstein ebenbürtig sind. Oder die bruchlose Verbindung der Schauspielerleistungen
eines internationalen Starensembles und der echten Bauern der Emilia Romana, jener
Landschaft, in der Bertolucci geboren wurde und der er mit seinem Film ein einmaliges
Denkmal setzt.
Bedauerlich ist, daß der Breitwandfilm, der im Format 1: 1,85 gedreht wurde, in der VideoFassung bildschirmgerecht “entzerrt”, das heißt verzerrt wurde. Durch diese Veränderung
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des Bildausschnitts, die auch Kamerabewegungen nicht wie intendiert erfaßt, geht viel
vom visuellen Reichtum des verkannten Meisterwerks verloren.
Reinhard Kleber
68 Yol – Der Weg
Yol – Der Weg (Türkei, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich
1982)
Regie: Serif Gören für Yilmaz Güney. Buch: Yilmaz Güney. Kamera: Erdogan Engin.
Schnitt: Yilmaz Güney/Elisabeth Waelchli. Darsteller: Tarik Akan, Serif Sezer, Italil
Ergün, Meral Orhonsoy. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
Der Titel des Films “Yol – Der Weg” ist programmatisch. Zu Beginn treten fünf Häftlinge
des Inselgefängnisses Imrali einen sehnsüchtig erwarteten einwöchigen Urlaub auf
Ehrenwort an. Sie nehmen weite Wege quer durch die Türkei bis ins hinterste Kurdistan
zu ihren Angehörigen auf sich. Am Ziel angekommen – wenn überhaupt –, müssen sie
sich wieder auf den Rückweg machen.
Die fünf Männer fahren zu fünf Frauen. Doch alle diese Beziehungen scheitern letztlich,
enden in Erniedrigung, Schmerz, Verzweiflung, Tod.
Yusuf, der jüngste, verliert seinen Urlaubsschein, wird kurz vor dem Ziel bei einer
Militärkontrolle arretiert und kann seiner Liebsten nur einen gelben Kanarienvogel im Käfig
als Lebenszeichen schicken. Mevlüt, der zweite, empört sich über den Brauch, mit seiner
Braut nicht vor der Hochzeit unbeobachtet zusammensein zu dürfen, degradiert sie aber
zugleich zur künftig gefügigen Dienerin und verschafft sich Triebentlastung im Bordell.
Mehmet muß seiner Frau die Mitschuld am Tod seines Schwagers gestehen, entführt sie
und die beiden Kinder aus dem Haus der feindlich eingestellten Schwiegereltern, wird
aber mit ihr vom jüngsten Schwager erschossen. Der Kurde Seyit will seine Frau, die zur
Hure geworden ist, für den Verlust seiner Ehre bestrafen und läßt sie im Schnee erfrieren.
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Ömer, der fünfte, verliebt sich in die junge Dorfschönheit, muß aber nach dem Tod seines
Bruders dessen Witwe heiraten.
Diese deprimierenden Schicksale beruhen auf authentischen Erlebnissen von Häftlingen,
die sie dem Autor des Films, Yilmaz Güney, erzählt haben. Er hat nur wenig
hinzuerfunden. Die Figuren sind keine Sprachrohre für persönliche Botschaften oder
abstrakte Ideen, sondern dem wirklichen Leben abgeschaut.
In einem höchst zweifelhaften Indizienprozeß wurde der sozial engagierte Filmemacher
1975 wegen angeblichen Totschlags zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Doch Güney, der
bereits 1961 und 1972 inhaftiert worden war und insgesamt elf Jahre in Gefängnissen
verbrachte, gab nicht auf. In seiner Zelle schrieb der politisch unliebsame Regisseur die
Drehbücher zu den international beachteten Filmen “Sürü – Die Herde” (1978) und
“Düsman – Der Feind” (1979), die sein Freund Zeki Ökten an der Zensur vorbei für ihn
realisierte. Dabei legte Güney jede Einstellung äußerst präzise fest und “überwachte” die
Herstellung vom Gefängnis aus. Nach der gleichen kollektiven Produktionsmethode
drehte auch sein Assistent Serif Gören unter den scharfen Augen des Militärregimes “Yol
– Der Weg”, den dritten Teil dieser Trilogie von Güney-Filmen. 1981 gelang Güney die
Flucht. Im schweizerischen und Pariser Exil konnte er den Film selbst schneiden und
fertigstellen.
In den sechziger Jahren war der 1937 geborene Kurde der beliebteste türkische
Schauspieler. In fast einhundert Rollen verkörperte er bis 1966 den Typus des
wagemutigen Volkshelden. Als nationale Kultfigur bekam er gar den Beinamen “Häßlicher
König des türkischen Films”. Schon seit 1954 schrieb Güney auch Bücher, die zum Teil
verboten wurden. Seit 1968 führte er selbst Regie in Filmen mit sozialkritischer Tendenz;
gleichzeitig spielte er die Hauptrolle.
Den künstlerischen Durchbruch brachte der vom italienischen Neorealismus inspirierte
Film “Umut – Die Hoffnung” (1970). Die allmähliche internationale Anerkennung milderte
seine Haftbedingungen. Mit “Yol” holte sich Güney 1982 in Cannes, zusammen mit
“Missing”von Costa-Gavras, die Goldene Palme. Im Exil drehte er nur noch den Film “Die
Mauer” (1983). Im Alter von nur 47 Jahren starb der bedeutendste Vertreter der türkischen
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Kinematographie 1984 an Magenkrebs in einer Pariser Klinik. Zu Hause in der Türkei
wurden seine Filme verboten, er selbst 1982 ausgebürgert.
Das Meisterwerk “Yol” zeichnet ein erschütterndes Panorama der gesellschaftlichen
Wirklichkeit unter dem repressiven türkischen Regime. Gerade weil politische Instanzen
nur am Rande vorkommen, ist “Yol” ein eminent politischer Film. Güney polemisiert nicht
vordergründig, sondern führt lakonisch vor, wie die Hoffnungen von fünf Menschen in
einer rückständigen, halbfeudalen Patriarchengesellschaft zerbrechen. Die Häftlinge sind
nicht nur Objekte staatlicher Gewalt, sondern auch Opfer verinnerlichter
Moralvorstellungen.
Die Häftlinge nehmen das Gefängnis im Kopf mit auf den Weg ins “Gefängnis Türkei” – so
sinngemäß Güney zum Film “Die Mauer”. Zwangsläufig werden aus den Opfern Täter. Am
deutlichsten zeigt sich dieser Mechanismus bei den Schwächsten, den Kurden und den
Frauen. Der Kurde Seyit etwa vollzieht dumpf seine Rache. Indem er seine schon von der
Sippenhaft geschwächte Frau dem Kältetod ausliefert, bleibt er Gefangener der Tradition.
Daß sein Sohn dies billigt, wirkt in dieser normativen Rigorosität für uns um so
bedrückender. Das Patriarchat ist allgegenwärtig in der Türkei, die Frau immer noch eine
“Halbsklavin” (Güney).
Ausweglosigkeit und Schuldverstrickung werden mit schmerzhafter Konsequenz
dargestellt. Damit prangert Güney zugleich die fatalistische Ergebenheit in die doppelte
Männerherrschaft des Patriarchats und der Militärdiktatur an. Widerstand ist nur in
Ansätzen sichtbar, etwa wenn der Kurde Ömer nicht ins Gefängnis zurückkehrt. Der Film
weckt keine falschen Hoffnungen. Aber er rüttelt zum Nachdenken über Konsequenzen in
der Realität auf. In der eindringlichsten Szenenfolge prügelt Seyit (hervorragend: Tarik
Akan) auf seine erfrierende Frau ein, um sie bei Bewußtsein zu halten, obwohl er
eigentlich das Schicksal entscheiden lassen wollte. Mühsam schleppt er sie auf dem
Rücken ins Dorf. Doch die Besinnung kommt zu spät – sie ist bereits tot.
Die lebensfeindliche Schneewüste dieser übermächtigen, fast mythischen Bergwelt
korrespondiert mit der Gefühlskälte ihrer Bewohner. Immer wieder bietet Güneys vitaler
Film solche pathetisch-stillen Bilder von großer Gefühlsstärke, die sich im Gedächtnis
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einprägen: Zum Beispiel wenn den kurdischen Dorfbewohnern die blutüberströmten
Leichen ihrer Angehörigen wie Hundekadaver präsentiert werden und sie die
Verwandtschaft um ihrer eigenen Sicherheit willen verleugnen müssen. Zu den kargen
Dialogen kommen häufig einfache visuelle Symbole wie der gefangene Vogel – eine Leitund Leid-Metapher.
Yilmaz Güney – der Vorname bedeutet “der Furchtlose” – war sich bewußt, daß sein Film
“keine Chance hatte, in der Türkei gezeigt zu werden”. Dennoch hielt er bis zu seinem
Tod unbeugsam am politischen Hauptziel, der “Befreiung des Volkes”, fest, das ihm nach
eigener Aussage wichtiger als die Kunst war. In seiner Widmung am Ende von “Yol”
danken die Filmemacher allen Freunden, die “mit viel persönlichem Risiko” geholfen
haben: “Mit ihnen lebt dieser Film. ” Mit diesem Film lebt auch der Regisseur Yilmaz
Güney.
Günter Lebailly
69 Die Nacht von San Lorenzo
La notte di San Lorenzo (Italien 1981)
Regie: Paolo und Vittorio Taviani. Buch: Paolo und Vittorio Taviani, Giuliano, unter
Mitarbeit von Tonino Guerra. Kamera: Franco di Giacorno. Musik: Nicola Plovani.
Darsteller: Ornero Antonutti, Margarita Lozano, Claudio Bigagli, Massimo Bonetti, Norma
Martelli, Enrica Maria Modugno. Länge: 107 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
Der Film beginnt mit einem Blick durch ein Zimmerfenster auf einen Sternenhimmel von
so unwahrscheinlich schönem Blau, wie es nur in Märchenillustrationen vorkommt. Eine
Frauenstimme beginnt zu erzählen: Es ist die Nacht von San Lorenzo (10. August), und
wenn in dieser Nacht Sternschnuppen vom Himmel fallen, dann darf man sich etwas
wünschen. Sie will ihrem Kind von einer anderen Nacht von San Lorenzo erzählen, einer
Nacht vor vielen Jahren, als sie selbst noch ein kleines Mädchen war.
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Die bis dahin ruhig dahinfließende Musik ändert ihren Ausdruck, ein bedrohliches Motiv
erklingt. Eine Landschaft im Sonnenschein taucht auf, erntereife Felder, ein Baum. Im
Hintergrund ertönt ein Donnern wie von Geschützen oder Detonationen. Ein plötzlicher
Windstoß schüttelt den Baum, reife Birnen fallen herab, eine rollt groß ins Bild.
Ein abgeerntetes Feld mit Garbenbündeln. Eines der Bündel hebt sich. Darunter erscheint
ein junger Mann. Er schaut sich um, steigt aus der Grube, beginnt sich auszuziehen.
Frauen kommen mit Kleidungsstücken.
Er zieht sich festlich an, sieht eine hochschwangere junge Frau. Im Eilschritt geht es zur
Kirche, wo beide getraut werden. Vor dem hastigen Auseinanderstreben der
Hochzeitsgesellschaft bleibt ein kurzer Augenblick der Ruhe. Ein alter Mann zitiert Verse
aus der Ilias, über Hektor und Andromache. Zwei junge Männer auf der Flucht haben sich
bei der Hochzeitsgesellschaft eingefunden. Der eine von ihnen will ins nahegelegene San
Martino. Aber der Ort ist von deutschen Truppen vermint worden und soll nun gesprengt
werden. Der junge Mann geht dennoch.
Er findet seine Familie mit vielen anderen Einwohnern von San Martino Schutz suchend
im Keller des Hauses. Die Deutschen ordnen an, daß die verminten Häuser in der Nacht
gesprengt werden und daß die Bewohner sich an einem Platz versammeln sollen. Der
Bischof bietet seine Kirche als Zuflucht an und übermittelt die Befehle der Deutschen.
Aber nicht alle wollen der Aufforderung, in den Dom zu kommen, Folge leisten. Der Bauer
Galvano will San Martino in der Nacht verlassen und den heranrückenden Amerikanern
entgegengehen. Eine Gruppe schließt sich ihm an.
In der Folge erzählt der Film von der Wanderung dieser Gruppe durch die sommerliche
toskanische Landschaft und von den Menschen, denen sie begegnet: Deutschen
Soldaten, die eine junge Frau der Gruppe erschießen, italienischen Faschisten, die die
Gruppe nach San Martino zurückholen wollen, italienischen Widerstandskämpfern, die
einer Bauernfamilie bei der Ernte helfen, damit nicht die Faschisten das Korn holen – und
dann den ersten Amerikanern.
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Die Landschaft ist voller Sommer und Sonne. Aber die Schönheit trügt eben; im
Verborgenen lauert der Tod. Im Gebüsch liegen deutsche Soldaten versteckt, aus dem
Wald kommen die Faschisten, über der Idylle im Wald und am Fluß zieht ein
Aufklärungsflugzeug seine Kreise. Auch die Menschen trügen. Nicht zu ihrem Schutz
haben deutsche und italienische Faschisten die Bewohner von San Martino in der Kirche
zusammengeholt, sondern um sie mit einem Schlag zu verderben: Während des
Gottesdienstes werden sie den Dom sprengen. Grausamer Höhepunkt ist die Schlacht im
Kornfeld zwischen Widerstandskämpfern und Faschisten, ein erbarmungsloser und
sinnloser Brudermord. Mitten darin die kleine Cecilia, angstvoll und fasziniert.
Die Nacht der Befreiung erlebt die Gruppe aus San Martino in einem kleinen Dorf, wo sie
für eine Nacht Unterkommen und Ruhe findet. Am nächsten Morgen läuten die Glocken
das Ende des Krieges ein. Wieder sind die Gefühle gemischt: Die Sonne scheint, und es
regnet.
Die Mehrschichtigkeit von scheinbar harmonischer, einfacher Oberfläche und Irritation im
Untergrund bestimmt auch die Struktur des Films. Er ist angelegt als Erzählung: Eine Frau
berichtet ihrem Kind von den letzten Tagen des Krieges in Italien im Sommer 1944.
Da die kleine Cecilia in vielen Szenen des Films anwesend ist, nimmt der Zuschauer die
Geschichte zunächst als Erzählung Cecilias wahr, bis er bemerkt, daß sie etliche Szenen
nur mittelbar und andere gar nicht kennen kann. Auch hier trügt die Oberfläche. Die
Geschichte – in beiderlei Sinn des Wortes – besteht aus vielen Ereignissen. Hier erfahren
wir sie aus der Sicht derer, die sie miterlebten, miterlitten. Später wird daraus vielleicht
einmal ein Heldenlied, wie die Ilias, die in der Eingangsszene zitiert wird und später noch
einmal in der Schlacht im Kornfeld, wo sich vor den Augen Cecilias die Kämpfenden in
antike Krieger (Hektor und Achilles) verwandeln.
Die zuweilen sprunghafte Folge der Szenen unterstreicht die epische Struktur des Films;
der Einsatz der Musik, mit leitmotivisch wiederkehrenden Zitaten aus dem Requiem von
Guiseppe Verdi, gibt ihm zudem einen Zug ins Opernhafte. Dabei ist die Verwendung der
Musik Verdis zugleich Ausdruck nationaler Identität; – deutsche Soldaten singen Wagners
“Lied an den Abendstern”.
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Die Brüder Taviani gehören zu den großen Geschichtenerzählern im italienischen Film der
Gegenwart, wie zum Beispiel auch Ermanno Olmi (Der Holzschuhbaum). Paolo (geboren
1913) und Vittorio (geboren 1929) Taviani waren von Jugend an für den Film begeistert.
Nach Jugendjahren in Pisa gingen sie nach Rom, arbeiteten dort mit Cesare Zavattini,
dem großen Autor des Neorealismus, und dem Dokumentaristen Joris Ivens zusammen,
waren Assistenten von Roberto Rossellini, Luciano Emmer und anderen. Ihre ersten Filme
drehten sie in Zusammenarbeit mit Valentino Orsini. Die ersten eigenen Arbeiten
entstanden 1967: “I sovversivi” und 1969: “Sotto il segno dello scorpione”.
Deutsche Filmfreunde wurden erstmals auf die Tavianis aufmerksam, als das
“Internationale Forum des Jungen Films” während der Berliner Filmfestspiele ihren Film
“San Michele aveva un gallo” (1971) vorstellte. Einem breiteren Publikum wurden durch
das Fernsehen ihre nächsten Filme “Allons enfants” (1974) und “Padre Padrone” (1977)
bekannt. Seitdem schufen die Tavianis in Abständen von zwei bis drei Jahren: “II prato”
(Die Wiese, 1979), “La notte di San Lorenzo” (1981), “Kaos” (1984).
Mit ihrem neuesten Film “Good morning Babilonia” (1987) haben die Tavianis, die bisher
ausschließlich Geschichten aus Italien erzählten, die Grenzen ihres Heimatlandes
verlassen und erzählen eine Geschichte aus der Jugendzeit des Films, eine Hommage an
das alte Hollywood.
Hans Gerhold
70 Das Geld
L'Argent (Frankreich/Schweiz 1982/83)
Buch und Regie: Robert Bresson nach Motiven der Novelle “Der falsche Geldschein” von
Leo Tolstoi. Kamera: Pasqualino de Santis, Emmanuel Machuel. Darsteller: Christian
Patey, Sylvie van den Eisen, Caroline Lang. Länge: 84 Min. Vertrieb: VCL Virgin.
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Wie ein Geburtstagsgeschenk muß es für den am 25.9.1987 achtzig Jahre alt
gewordenen Robert Bresson gewirkt haben, daß die Cinémathèque in Brüssel seinen
verloren geglaubten Erstling “Les affaires publiques” (1934) wiederentdeckte. Damit ist
das Werk eines der formalästhetisch und geistig radikalsten Regisseure der Gegenwart,
der in fünfzig Jahren nur vierzehn Filme realisierte, komplett – ein Werk, das sich in seiner
rigiden Stilisierung und konsequenten Auseinandersetzung mit Fragen des Religiösen und
der spirituellen Sinnsuche nach außen hin verweigert und gleichzeitig herausfordert.
“Das Geld” ist Bressons philosophische Bilanz. Als Parabel über den Götzen Geld, das
Schuldigwerden und den Verfall einer Welt ohne Werte, in der Gott schweigt, ist das Werk
Filmen wie Ingmar Bergmans “Das Schweigen” (1963) und Orson Welles' “Der Prozeß”
(1962) bei aller Verschiedenheit verbunden. Alle drei Filme, die zu den hermetisch
abgeschlossensten der Filmgeschichte gehören, zeigen eine Welt der Hoffnungslosigkeit,
der geistigen Sinnleere und der Verweigerung göttlicher Gnade bei gleichzeitiger
Akzeptanz der menschlichen Sühne.
Wie meisterhaft “Das Geld” konzipiert ist, belegt die eindrucksvoll logische Kausalkette
des Inhalts: Zwei verwöhnte Gymnasiasten bringen in einem Pariser Fotoladen einen
falschen Fünfhundertfrancschein in Umlauf, dort gibt man ihn an den jungen
Heizöllieferanten Yvon weiter, der in den Verdacht des Betruges gerät. Weil Besitzer und
Angestellte des Ladens vorsätzlich lügen, verliert er seine Stellung. Wegen passiver
Mitwirkung an einem Bankraub (als Fahrer des Fluchtautos) wird er zu drei Jahren
Zuchthaus verurteilt. Weil während dieser Zeit sein Kind an Diphterie stirbt und ihn seine
Frau verläßt, begeht er im Gefängnis einen Selbstmordversuch. Nach seiner Entlassung
aus der Haft, die ihn innerlich verhärtet hat, tötet er ein Hotelbesitzerehepaar, um an Geld
zu kommen. Auf dem Lande tötet er wieder wegen einer lächerlich geringen Summe
Geldes die Familie, die ihn aus Barmherzigkeit aufgenommen hat. Nach dem Massaker
stellt er sich der Polizei.
Bressons Bilanz und seine radikale Weltsicht sind so verstörend wie unbarmherzig
konsequent. Er illustriert eine Welt, die den Unschuldigen schuldig werden läßt und sich
dem “Goldenen Kalb”, dem Götzen Geld, hingegeben hat. An diesem Punkt trifft sich
Bressons Jansenismus, der sich als Opposition zum offiziellen Denken innerhalb des
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französischen Katholizismus begreift, mit den Konsumismus-Thesen des Marxisten Pier
Paolo Pasolini. Bressons verzweifelter und gedanklich unerbittlicher Puritanismus
entdeckt in aller Schärfe in der Fülle der Welt und ihrer Produkte die Leere des geistigseelischen Daseins.
Das daraus resultierende zwanghafte Verhalten der jungen Menschen, die der Vergottung
des Geldes anheimfallen, setzt Bresson in jene Sequenz um, da sie, somnambul
minutiös, einen Geldautomaten leeren. Wenn Freuds These, wahres Glück sei nur in der
Kindheit möglich, weil die Menschen noch nichts vom Geld wüßten, stimmt, so muß der
Kampf des Individuums zwischen äußeren Zwängen und dem freien Willen aussichtslos
sein. Doch Bresson wäre nicht der Philosoph, als der er gilt, würde er nicht einer richtig
verstandenen und einer gelebten Religiosität die Chance geben. Auf Yvons Frage
“Warten Sie auf ein Wunder?”, die er der Bäuerin stellt, die er später töten wird, antwortet
sie: “Ich warte auf gar nichts”, woraufhin er für sie Nüsse pflückt. Das ist wörtlich zu
nehmen als Allegorie biblischer Bilder von Barmherzigkeit und Caritas.
Selbst der Schluß läßt, so pessimistisch er stimmen mag, Hoffnung zu. Yvons Bekenntnis
zu seiner Tat ist eine notwendige Stufe auf jenem Weg, den fast alle Helden Bressons
durchlaufen: Auf die Sünde folgt die Sühne; diese impliziert einen Teil der göttlichen
Gnade und führt vielleicht zur Erlösung.
Bressons Bildsprache steht durch ihre Vollkommenheit in ironischem Kontrast zu der
Unvollkommenheit der Welt. Atonale Farbwerte, eine sinngebende Lichtführung und die
bei Bresson stets fragmentierte Welt angeschnittene Körper, Objekte, Detailansichten –
sind Zeichen für die Disharmonie des Universums: der Mensch als Torso, die Welt als
Gefängnis. Das Spiel der Hände jedoch, ihre Gestik und ihre Rituale, die den Film
choreographieren, offenbaren nicht nur eine kinematographische Bewegung, sondern
auch eine der Hoffnung.
Ein Verbraucherhinweis: Die reißerische Aufmachung der Verleihkassette widerspricht
Inhalt, Aussage und Bildsprache des Films. Das ist auch ein Sieg des Bösen –
möglicherweise.
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Horst Schäfer
71 Der Strohmann
The Front (USA 1975)
Regie: Martin Ritt. Buch: Walter Bernstein. Kamera: Michael Chapman. Musik: Dave
Grusin. Darsteller: Woody Allen, Zero Mostel, Herschel Bernardi, Michael Murphy,
Andrea Marcovicci, Danny Aiello, Lloyd Gough und andere. Länge: 91 Minuten. Vertrieb:
RCA/Columbia.
Das ist ein Film über die Hexenjagd auf Unamerikanische Umtriebe, über die Zeit, die sich
mit dem Namen des republikanischen Senators Joseph McCarthy verbindet. Das seit
1938 bestehende House Committee on Un-American Activities, ein Kongreßausschuß,
erstreckte ab 1947 seine Ermittlungen auch auf das amerikanische Showbusiness.
Autoren, Regisseure, Produzenten und Schauspieler kamen auf eine Schwarze Liste,
wenn sie als Kommunisten oder Linksliberale verdächtigt wurden.
Das bedeutete für die Betroffenen faktisch ein Berufsverbot – in einigen Fällen sogar bis
zu zwanzig Jahren. In diesen Jahren der hysterischen Jagd auf vermeintliche Gegner des
amerikanischen Staatswesens, die zu den dunkelsten Vorfällen in der amerikanischen
Geschichte zählt, herrschte unter den Filmschaffenden ein Klima der Verunsicherung und
Denunziation. Es war die Zeit des Kalten Krieges, die sich auch in antikommunistischen
Hollywood-Produktionen – wie etwa in den Filmen über die Volksrepublik China und über
den Korea-Krieg – widerspiegelte. Zehn Filmschaffende, die Hollywood-Ten, weigerten
sich, die Rechtmäßigkeit des Untersuchungsausschusses anzuerkennen. Sie wurden vor
Gericht gestellt, verurteilt und noch viele Jahre danach innerhalb der Branche nicht mehr
beschäftigt. Andere ordneten sich unter und gaben willfährige Erklärungen ab, um ihre
Jobs zu sichern. Bertolt Brecht und Charlie Chaplin gehörten mit zu denjenigen, die die
Staaten verlassen mußten. McCarthy, von 1947 bis 1953 der Vorsitzende des
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Ausschusses, wurde das Opfer seiner eigenen Machenschaften. Der Geist seiner Politik
aber überdauerte sogar noch seinen Tod im Jahre 1957.
Über die McCarthy-Ära und ihre Auswirkungen auf die amerikanische Filmindustrie gibt es
einige Dokumentationen; der große Hollywood-Film über dieses Thema steht bis heute
noch aus. Für die Bühne hat der Autor und Regisseur Eric Bentley mit seinem
Dokumentarspiel “Are you now or have you ever been” (“Sind Sie jetzt oder waren Sie
jemals ... ?”) die Ermittlungen gegen das Show-Business in den Jahren 1947 bis 1956
rekonstruiert. Ansätze kritischer Aufarbeitung jener Zeit lassen sich jedoch im Spielfilm
finden: beispielsweise in “The way we were” von Sidney Pollack, USA 1973. Zu einer
Generalabrechnung allerdings kam es noch nicht, obwohl die Bespitzelung
Andersdenkender und die Verhängung von Berufsverboten keineswegs Themen sind, die
ausschließlich der Vergangenheit zugeordnet werden können.
“Der Strohmann” versucht mit den Mitteln einer schwarzen Komödie, die sich mit
fortschreitender Handlung zur Tragödie entwickelt, das Klima der McCarthy-Ära
darzustellen. Der Film besitzt einen hohen Grad an Authentizität, da an ihm sechs
Betroffene von der Schwarzen Liste, die es offiziell ja nie gab, beteiligt sind: Martin Ritt,
Walter Bernstein, Zero Mostel, Herschel Bernardi, Lloyd Gough und Joshua Shelly.
Die Handlung spielt in New York zu Beginn der fünfziger Jahre. Der Coffeeshop-Kassierer
Howard Prince (Woody Allen) braucht wegen seiner Wettleidenschaft ständig Geld. Aus
diesem Grund gibt er seinen Namen für seinen Freund Alfred her, der vom Fernsehen
nicht mehr als Autor beschäftigt wird. Für einen Anteil von zehn Prozent am Honorar lebt
sich Howard so gut in seine Rolle ein, daß er noch für zwei weitere Autoren “arbeiten”
kann, die ebenso wie Alfred auf der Schwarzen Liste stehen.
Howard wird schnell ein erfolgreicher und populärer Autor; der unverdiente Ruhm steigt
ihm zu Kopf. Er wird übermütig und es dauert nicht mehr lange, bis er ebenfalls
ausspioniert wird. Den Schnüfflern arbeitet der von FBI-Agenten unter Druck gesetzte
Vollblut-Komödiant Hecky Brown (Zero Mostel) zu. Dieser hatte sich ein paar Mal
leichtfertig für die falsche Sache engagiert. Zu den Spitzeldiensten gegen Kollegen läßt er
sich nur herab, weil er seine Arbeit nicht verlieren will. Aus Verzweiflung über die
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Ausweglosigkeit seiner Situation und aus Scham über sein Handeln bringt Hecky sich um,
nachdem er sich zuvor noch bei Howard entschuldigt hatte.
In dem naiven Howard erwacht politisches Bewußtsein, als er Probleme mit dem Studio
bekommt und sich falscher Anschuldigungen erwehren muß. Bei der Verhörung durch den
Ausschuß bricht er die zuvor getroffene Vereinbarung, eine antikommunistische Erklärung
abzugeben. Howard vergißt seine Kooperations-Bereitschaft und weigert sich, den
Ausschuß anzuerkennen. Der kleine Hochstapler zeigt Charakter, bekennt sich zur
Wahrheit und zu seinen Freunden. Auf dem Weg ins Gefängnis wird er von den Autoren
der Schwarzen Liste als einer der ihren gefeiert.
Die Story des Films verweist in kleinen Details auf die großen Zusammenhänge und
erlaubt es den Zuschauern, das Gesamtbild zu erschließen. Gezeigt wird, mit welch
sanften Mitteln und Mechanismen Menschen dazu gebracht werden können, sich
anzupassen und ihre Ideale zu verleugnen. Die eigene Karriere ist wichtiger als
Aufrichtigkeit und Loyalität; der Verrat, die Kooperation, wird zur patriotischen Pflicht. Das
alles bereitet den Boden, auf dem fanatische Politiker wie Joseph McCarthy jahrelang
ungestört ihre inquisitorische Politik betreiben konnten.
“Der Strohmann” weist auf die unrühmlichste Epoche der nordamerikanischen
Filmgeschichte hin, wobei das Geschehen in die Fernsehstudios verlegt wurde, um die
Realisierung des Projekts nicht zu gefährden. Zum Erfolg des Films hat besonders
beigetragen, die Hauptrolle mit Woody Allen zu besetzen. Er, sonst sein eigener Autor
und Regisseur, spielt hier seinen Part in einer sehr verhaltenen und für ihn bis dahin
untypischen Art. Daß der Film auch in den melancholischen und grotesken Sequenzen
glaubwürdig bleibt, ist das Verdienst des Drehbuchs von Walter Bernstein, der in jenen
Jahren selber gezwungen war, sich eines Strohmannes zu bedienen.
Der Regisseur Martin Ritt, geboren am 2.3.1920 in New York, kam vom Theater zum Film
und hat als Darsteller und Regisseur auch beim Fernsehen gearbeitet. Ritt wurde durch
anspruchsvolle Literaturverfilmungen (Faulkner-Adaptionen) und sozialkritische
Gegenwartsfilme bekannt. Zu seinen bekanntesten Werken zählen der Thriller “The Spy
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Who Came In From The Cold” (1965) mit Richard Burton, und der Western “Hombre”
(1967) mit Paul Newman.
Walter Schobert
72 Törichte Frauen
Foollsh Wifes (USA 1921)
Regie: Erich von Stroheim. Kamera: Ben Reynolds, William Daniels. Kostüme: Erich von
Stroheim. Darsteller: Erich von Stroheim, Maude George, Mae Bush, Howard Hughes,
Cesare Gravina. Länge: 107 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé.
Lotte H. Eisner, die ihm mit ihren “Anmerkungen zu Stroheims Stil” einen der
einfühlsamsten und schönsten Texte gewidmet hat, nannte den Regisseur und
Schauspieler einen der drei Großen des amerikanischen Films neben Griffith und Chaplin,
“einen jener Giganten, die einsam alles zu überragen scheinen”.
Griffith war beides, sein Lehrer und sein Antipode. Bei ihm spielte er in “Intolerance” als
Negerdarsteller. Er war aber schon vorher zum Film gekommen, nachdem er 1909 im
Alter von 24 Jahren aus Österreich in die USA emigriert war, sich dort, um eine
Markenzeichen zu haben, “von” genannt und sich als Statist zuerst durchgeschlagen
hatte, dann, im Weltkrieg als Darsteller preußischer Offiziere, ein Image als “Hunne”, als
“The Man Who Loves To Hate” aufgebaut hatte.
Griffith machte ihn zum Regieassistenten und Militärberater. Immer wieder hat Stroheim
dankbar vermerkt, daß er von ihm die liebevolle, gewissenhafte Sorgfalt des Inszenierens
gelernt habe. Beider Filme verraten große Nähe zur sentimentalen Literatur des 19.
Jahrhunderts – und zu Dickens, Zola und Frank Norris, dem amerikanischen Naturalisten,
dessen “McTeague” Stroheim in “Greed” mehr als kongenial verfilmt hat. Bei Stroheim,
der seine Liebe zum Melodram, zur Kolportage nie verleugnet hat, kam noch eine
Verwandtschaft zur Wiener Schule der Jahrhundertwende dazu.
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Vor allem die genaue Kontrolle aller Details war Stroheim wichtig, ein fast
monomanisches Beharren auf den richtigen Kulissen, den genauen Kostümen; sie seien,
hat er immer wieder betont, eminent wichtig für das psychologische Einfühlungsvermögen
der Schauspieler. Die Anekdoten darüber sind Legion, von der Klingelanlage in “Foolish
Wifes”, die – in einem Stummfilm – funktionieren mußte, über die genauen Farbspiegel
bei den Uniformen bis zu den Monogrammen auf der Unterwäsche. Die Industrie, seine
Produzenten haben das immer wieder verständnislos als Verschwendungssucht gegeißelt
und als Vorwand für ihre Eingriffe mißbraucht. Sie hatten aber nichts dagegen, damit zu
kokettieren.
In gewisser Weise sind Stroheims Filme fast Polemiken gegen Griffith. Lotte H. Eisner:
“Ihre Lebensanschauungen unterscheiden sich grundsätzlich voneinander.” Bei Stroheim
ist nichts von der Zärtlichkeit, von dem grundsätzlichen Optimismus, vom Glauben an das
Gute im Menschen. Stroheim, ein unbarmherziger und gewissenhafter Analytiker, entwirft
ein Bild von der Gesellschaft und vom Menschen, das sich härter und grausamer kaum
zeichnen läßt.
Man darf sich nicht täuschen lassen von den teilweise abstrusen und monströsen Stories.
In seinen drei ersten Filmen, die keine Trilogie sind, aber alle die gleiche
Grundkonstellation haben, fallen immer amerikanische Frauen auf das Werben
europäischer Verführer herein. In “Foolish Wifes” ist es die Frau des amerikanischen
Botschafters (in den vorhandenen Kopien wird nicht immer klar, daß der Mann nicht nur
ein Geschäftsmann ist), die allzu bereitwillig den Verführungen des russischen Grafen
Karamzin folgt. Der lebt im Exil in Monte Carlo, zusammen mit zwei Kusinen, ein
schneidiger Bursche, ein großer Verführer, der von der Frau beides will: Sex und Geld.
Der Ehemann bekommt nichts mit. Karamzins Dienstmädchen steckt den Turm, in den
sich das Paar zurückgezogen hat, in Brand, nicht ohne vorher den Kanarienvogel
freigelassen zu haben. Das Paar entkommt; Karamzin schämt sich nicht, als erster zu
fliehen. Dieser Entlarvung folgt die zweite: Er ist genauso wenig adelig, wie seine Kusinen
mit ihm verwandt sind. Aber er findet seine Strafe: Ein Geldfälscher, dessen
schwachsinnige minderjährige Tochter er verführt hatte, verfolgt, tötet ihn – und wirft ihn
in die Gosse; eine starke Metapher.
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“Foolish Wifes” zeigt Stroheim zum ersten Mal auf der Höhe seiner Meisterschaft – nur
noch in “Greed” hat er sich übertroffen. Es ist wahrhaft ein danteskes Inferno, das er
entwirft. Die Menschen sind, im Wortsinn, beschädigt, deformiert, wie das Mädchen und
die Zofe. Immer wieder taucht die Figur eines Offiziers auf, der sich grob unhöflich verhält
– bis am Ende klar wird, daß er beide Arme verloren hat. Die Botschafterfrau begegnet
ihm erstmals, als sie in einem Roman liest – verfaßt von einem Erich von Stroheim, in
dem wir den Satz sehen: “The written and unwritten codes of honour and etiquette.”
Aber genau derjenige, der sich peinlichst genau an diese Codes hält, ist am weitesten von
ihnen entfernt: Die Insignien stimmen, die Fassaden sind perfekt, aber hinter ihnen lauern
abgrundtiefe Verderbtheit und Perversion – und es ist mindestens zweierlei, das Stroheim
unerbittlich attackiert: das Bild des Mannes und die Gesellschaft, die dieser Karamzin
repräsentiert.
Opfer dieses Mannes, Opfer dieser Gesellschaft sind die Frauen – der Plural im Titel
signalisiert, daß es nicht nur um die Botschaftergattin geht. Tatsächlich fallen ja in
“Foolish Wifes” drei Frauen auf den falschen Grafen herein. Aber auch schon Stroheims
erster Film, in dem die Frau eines amerikanischen Arztes (fast) von einem schneidigen
Offizier verführt wird, heißt “Blind Husbands”: Kein Zweifel, Stroheim hat alle Personen
dieses Dreiecks im Visier und dabei weniger den Don Juan (den er immer selbst spielt)
als das amerikanische Paar.
Stroheim hat für den Film die Sexualität entdeckt, er hat Stellung bezogen gegen
Puritanismus und Prüderie. Und das sind nicht die einzigen amerikanischen Tabus, an die
er zu rühren gewagt hat. Die amerikanische Frau – ein Opfer? Das Geld als Ursache für
alle Schlechtigkeit und Verbrechen? Die Jagd nach dem Geld als Wurzel des
gesellschaftlichen Verhaltens? Das war starker Tobak, das läßt sich niemand gern
vorhalten, ein Filmproduzent am wenigsten.
Kein Wunder, daß man Stroheim das Leben schwer gemacht hat. Man unterstellte ihm,
seine Sehnsucht nach wahren und echten Gefühlen geflissentlich übersehend, Lust am
Bösen, an der Perversion, an der Erniedrigung. Die Strafe folgte auf dem Fuß: Kaum einer
seiner zehn Filme ist je so auf die Leinwand gekommen, wie ihn sein Schöpfer gewollt
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hatte. Ihm, dem besessenen Arbeiter, der monatelang und ohne Bezahlung im
Schneideraum montierte, wurden die Filme aus der Hand genommen, gekürzt – um ein
Drittel “Foolish Wifes”, um zwei Drittel “Greed”.
Es sind zerstückelte Filme, Bruchstücke bestenfalls – und dennoch haben ihnen die
Attentate fast nichts schaden können: Die Schnitte konnten den Geschichten, aber nicht
seinen wunderbaren langen Einstellungen etwas anhaben, mit denen er Jean Renoir (für
ihn hat er in “Die große Illusion” gespielt), Visconti, Welles beeinflußt hat und die heute
seine Filme von einer herrlichen Perfektion erscheinen lassen, von einer großen
Schönheit, einer luziden Klarheit, ironisch, witzig, brillant, scharfsinnig. Als Gesellschaftsund Sittenbilder sind sie von großer analytischer Kraft.
Meinolf Zurhorst
73 Spiel mir das Lied vom Tod
C'era una volta il West (Italien 1968)
Regie: Sergio Leone. Buch: Sergio Donati, Sergio Leone, nach einer Story von Dario
Argento, Bernardo Bertolucci, Sergio Leone. Kamera: Tonino Delli Colli. Musik: Ennio
Morricorie. Darsteller: Henry Fonda, Charles Bronson, Claudia Cardinale, Jason
Robards, Gabriele Ferzetti. Länge: 158 Minuten. Vertrieb: CIC Video.
Eine karge Wüstenlandschaft, abweisend, kalt. Der Wind wirbelt vereinzelte Büsche über
den Sand, eine Eisenbahntrasse zerteilt die Fläche in ihrer Mitte. Ein Bahnhof inmitten
des Nichts. Drei Männer tauchen auf, um dort auf die Einfahrt des nächsten Zuges zu
warten. Bodendielen knarren, Türen quietschen, Wasser tropft – Sergio Leone inszeniert
die Exposition eines seiner Helden gegen die Zeit. Als der Zug endlich ankommt, steigt
niemand aus. So scheint es. Doch die traurigen Weisen einer Harmonika deuten die
Veränderung an. “Harmonika”, der gute Held, mit dem damaligen Film-Bösewicht Charles
Bronson entgegen den Erwartungen besetzt, tritt aus dem Staub auf die Bühne: drei
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Männer, drei Pferde. “Zwei zuviel”, sagt Bronson und schießt aus der Hüfte. Die
Geschichte beginnt.
Wie in allen guten Western geht es auch in “Spiel mir das Lied vom Tod” (im Original: Es
war einmal der Westen) um eine Rache. Doch das wird erst am Ende erkennbar. Ziel
dieser Rache ist der professionelle Killer Frank, dem Henry Fonda mit blauen Augen und
vollständig in schwarz gekleidet dämonische Größe verleiht. Frank arbeitet im Auftrag des
Eisenbahnmagnaten Morton (Gabriele Ferzetti). Er kauft das Land, durch das die
Eisenbahn führen wird und erschießt die, die sich weigern, es zu verkaufen. Wie den
Farmern McBain mit seinen Kindern, die auf die Ankunft der neuen Mrs. McBain (Claudia
Cardinale) wartet.
Jill McBain kommt aus New Orleans und war eine Prostituierte. Nun ist sie unversehens
Witwe und hat doch drei Männer. Neben “Harmonika” und Frank noch den Banditen
Cheyenne (Jason Robards). Der Kampf um den Besitz der McBain-Ranch entbrennt.
“Harmonika” und Cheyenne schlagen sich auf die Seite der Witwe, die dennoch das Land
verkaufen will. Als Käufer kommt nur einer in Frage: Frank. Unterdessen wird die
Eisenbahn immer weiter vorangetrieben. Cheyenne läßt sich von dem Mann mit der
Harmonika zum Sheriff bringen. Mit der kassierten Belohnung ersteigern sie die Ranch
und geben sie der attraktiven Witwe zurück. Es kommt zum unausweichlichen Duell
zwischen Frank und “Harmonika”.
Sergio Leone zerdehnt die Sekunden vor dem Schußwechsel zu einem bravourös
montierten psychischen Kampf auf Leben und Tod; das Warten auf die endgültige
Entscheidung wird zur Qual. Die finalen Schüsse vollziehen dabei nur, was die Blicke
zuvor ausgedrückt haben. Durch die Musik von Ennio Morricone gewinnt die Sequenz
einen rauschhaften Charakter – griechische Chorlieder standen ebenso Pate wie die
klassischen Hollywood-Western.
Vor allem John Ford, der Chronist des Westens, oder genauer, seiner Mythen, hat Leone
beeinflußt. Doch kommt bei Ford der Blick auf Amerika aus dem Inneren, reproduziert
Leone den Traum von Amerika aus der Sicht des Europäers. “Wenn bei John Ford einer
zum Fenster 'rausschaut, hat er den Blick in eine strahlende Zukunft. Wenn bei mir einer
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das Fenster aufmacht, weiß jeder: der wird jetzt erschossen”, äußerte sich Leone einmal
in einem Interview.
“Spiel mir das Lied vom Tod” entstand 1968. In den Jahren zuvor hatte der Italo- oder
Spaghetti-Western die Leinwände beherrscht. Leone selber war mit “Für eine Handvoll
Dollar”, “Für ein paar Dollar mehr” und “Zwei glorreiche Halunken” einer der führenden
Vertreter des Genres, das sich durch seine Verschärfung in der Figurenzeichnung
auszeichnete und den Helden des amerikanischen Westerns zu einer gebrochenen,
existenzialistischen Figur stilisierte.
Mit “Spiel mir das Lied vom Tod” setzte Leone dem Italo-Western ein Ende und seinem
eigenen Amerika-Traum ein Denkmal. Der Film wurde zum Höhepunkt der Gattung, und
er verweist auf die damals herrschende Situation des Kinos in Italien, das eine Mischung
aus linker Philosophie und trivialen Mythen darstellte. Bernardo Bertolucci, einer der
Drehbuchautoren des Films, schuf 1968 mit “Partner” ein Werk, das Intellektualität mit
Cinephile verband. Sein Einfluß auf “Spiel mir das Lied vom Tod” ist unverkennbar. Die
Hauptfiguren wirken wie Philosophen, die den Sozialdarwinismus zitieren oder
praktizieren und sich dabei in einem Rahmen bewegen, den die Pariser Cinémathèque
ihrem filmbegeisterten Zögling Bertolucci vorzeichnete.
Der fast dreistündige Film mit seinen klaren Konflikten und archaischen Lösungen wurde
ein internationaler Erfolg. Sergio Leone drehte anschließend den zweiten Teil seiner
Amerika-Trilogie, “Todesmelodie” (1971). War im ersten, in “Spiel mir das Lied vom Tod”,
die Erschließung des Westens das Thema, wurde es im folgenden die mexikanische
Revolution. “Todesmelodie” ist allerdings mehr ein Kolossalfilm mit Maozitaten und
Bombenanschlägen als Auseinandersetzung mit dem Mythos Amerika. Erst 1984 konnte
Leone den abschließenden Teil seiner Trilogie drehen: “Es war einmal in Amerika”, der
sich mit dem Gangstertum als Kehrseite des Traums auseinandersetzt. Im Augenblick
(Januar 1988) arbeitet Sergio Leone an dem wohl teuersten Film aller Zeiten: Er
behandelt die deutsche Belagerung von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg.
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Urs Jaeggi
74 Network
Network (USA 1976)
Regie: Sidney Lumet. Buch: Paddy Chayefsky. Kamera: Owen Roizman. Musik: Elliott
Lawrence. Darsteller: Faye Dunaway, William Holden, Peter Finch, Robert Duval.
Originallänge: 122 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Howard Beale – vom inzwischen verstorbenen Peter Finch hervorragend gespielt – ist der
erste Mensch in der Geschichte der Television, der erschossen wird, weil die
Einschaltquoten seiner Fernsehsendung sinken. Veranlaßt wird der Mord durch die Bosse
einer großen amerikanischen Fernsehanstalt, eines sogenannten Networks also, und die
Ausführung besorgt – selbstverständlich live mitten in der Show – die “Ökumenische
Befreiungsarmee”. Eigentlich war Beales unheimlich starker Abgang schon für früher und
in eigener Inszenierung vorgesehen: Als sein Stern zu sinken und er deswegen zu saufen
begann, erhielt er die Kündigung. Der Nachrichten-Moderator – solchermaßen seines
Lebensinhaltes beraubt – kündigte damals in seiner vorletzten Sendung an, er werde sich
bei seiner Abschiedsmoderation vor laufenden Kameras eine Kugel durch den Kopf jagen.
Nichts hätte den Beachtungsgrad des abgetakelten Moderators sprunghafter in die Höhe
treiben können als diese makabre Voranzeige. Eine junge, ebenso ehrgeizige wie
gefühlskalte Programmchefin (Faye Dunaway) gibt ihm daraufhin eine neue Show. Beale
wird so etwas wie die Stimme der unzufriedenen Amerikaner: Er schreit hinaus, was sich
im Verlauf der Jahre an Unbehagen in unzufriedenen Bürgerseelen angestaut hat.
Er wettert im Stil des zornigen Propheten gegen den Zerfall von Ethik und Kultur in der
amerikanischen Gesellschaft, stellt sich gegen die Mächtigen und deren pausenlose Jagd
nach dem schnöden Mammon, der zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden ist und dem
sie mit allen Mitteln, die den Zweck heiligen, huldigen. “Wir sind fuchsteufelswild”, schreit
Beale aus der Röhre, “wir lassen uns das nicht mehr bieten!” Er fordert seine Zuschauer
auf, ans Fenster zu treten und ihr Unbehagen in die Straßenschluchten
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hinunterzuschreien. Und weil die Amerikaner so fernsehgläubig sind, brüllt es bald von
Küste zu Küste und von Norden bis Süden aus allen Fenstern.
Das geht so lange gut, bis Beale die “wahren” Ursachen des amerikanischen Zerfalls
aufdeckt. Schuld an der Misere, der dauernden Gewalttätigkeit, der verlogenen Politik und
der Korruption ist allein das Fernsehen. “Alles, was der Television in die Hände kommt
geht kaputt”, sinniert Max Schuhmacher (William Holden), ein desillusionierter
Nachrichtenchef des UBS-Networks. Was dieser in sich hineinfrißt, schreit Beale seinem
Publikum zu: “Wir erzählen euch jeden Mist, den ihr hören wollt.” Hier spätestens
beginnen sich die Bosse der TV-Gesellschaft Gedanken für Beales Abgang zu machen.
Auf der Schlußfolgerung, daß das Fernsehen die Schuld an der Zerstörung aller Werte
und Wertvorstellungen trägt – eine Theorie, die inzwischen etwa wie Neil Postmans “Wir
amüsieren uns zu Tode” erneut große Publizität erlangt hat –, baut der Film von Sidney
Lumet auf. Aus ihr bezieht er seine Kraft, indem er schonungslos bloßlegt, wie ein
Fernsehen, das total kommerzialisiert ist und demzufolge nur noch auf die
Einschaltquoten schaut, weil diese den Gang der Geschäfte bestimmen, sich nach und
nach jeglicher Programmverantwortung entzieht.
Hier weist der Film aber auch seine große Schwäche auf, indem er nicht einmal die Frage
stellt, ob allenfalls eine Gesellschaft, in der alle Werte auch die kulturellen, die ethischen
und die emotionalen – vermarktet werden, die Voraussetzungen für ein solches
Fernsehen eben erst schafft.
Dennoch: Lumets Arbeit entlarvt – im wesentlichen heute noch gültig – die unheimlichen
Dimensionen eines Mediums, das, glaubt man dem Medienphilosophen Marshall
McLuhan, auch gleich die Botschaft ist. Kaum jemals ist die Theorie des umstrittenen
Denkers drastischer versinnbildlicht worden als in diesem 1976 entstandenen Film. Die
Television wird als totale, den Spielregeln der Privatwirtschaft und dem Renditendenken
unterworfene Show dargestellt, die dem Zuschauer längst Ersatz für die Wirklichkeit
geworden ist.
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Wahr ist nicht mehr, was wirklich geschieht, sondern was sich auf dem Bildschirm
ereignet. Daß es lästigerweise noch so etwas wie ein reales Geschehen gibt, das die
Networks dazu zwingt, defizitäre Informationsabteilungen zu halten, will man bei UBS
schon gar nicht mehr einsehen. Es entspricht so durchaus der Logik, daß die TVProgrammchefin Diana Christenson halt die News zu inszenieren beginnt, welche die
Zuschauer sehen wollen.
Der Film, dessen Skript der Schriftsteller, Theaterautor und Verfasser diverser
Fernsehspiele, Paddy Chayefsky – ein herber und mitunter auch zynischer Kritiker
amerikanischer Zustände – geschrieben hat, transportiert seine Botschaft mehr über die
Wort- als die Bildebene. Sidney Lumet, ein tüchtiger Handwerker des Films, aber kaum
ein Genie – Filme wie “The Pawnbroker”, “The Hill”, “Dog Day Afternoon” sind zusammen
mit “Twelve Angry Men” gewiß die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen – ist es nicht
gelungen, Chayefskys überbordende Phantasie in die Schranken zu weisen, geschweige
denn zur Wortgewalt des Autors entsprechende Bilder zu finden. Der pausenlose
Wortschwall, der auf den Zuschauer niederprasselt, wirkt auf die Dauer ziemlich
ermüdend.
Nicht das Formale, Filmkünstlerische macht Lumet/Chayefskys “Network” zum filmischen
Meilenstein, sondern die fast prophetische Vorwegnahme einer Entwicklung des
Fernsehens, die in den Vereinigten Staaten längst Realität geworden ist – es vermutlich in
gemilderter Form schon war, als der Film entstand – und die nun, ein Dutzend Jahre
später, auch bei uns Wirklichkeit zu werden droht.
Walter Schobert
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75 Kameradschaft
(Deutschland, 1931)
Regie: Georg Wilhelm Pabst. Buch: Ladislaus Vaida, Peter Martin Lampel, Karl Otten.
Kamera: Fritz Arno Wagner, Robert Baberske. Darsteller: Ernst Busch, Alexander
Granach, Fritz Kempers, Elisabeth Wendt. Länge: 89 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé.
Fünfundzwanzig Jahre Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und Deutschland,
jahrzehntelang Friede zwischen den beiden Nationen, die sich jahrhundertelang als
Erbfeinde bekämpft hatten: Denen, die 1931 diesen Film machten, zur Verständigung
mahnten, auf Versöhnung hofften, wäre das wohl als Erfüllung ihrer kühnsten Träume
erschienen. Unrealistische, wenn nicht gefährliche Träumer waren sie denn auch denen,
für die sie ihren Film gedacht hatten; die waren an ihm nicht interessiert und wählten den
Mann, dessen Nationalismus noch einmal Millionen Menschenleben zu beiden Seiten der
Grenze forderte.
Gut zu wissen, daß es in jenen Jahren nicht nur die UFA gab, die Kongresse tanzen ließ.
Es gab auch Filmgesellschaften und Regisseure, die sich nicht an den
Zerstreuungskampagnen beteiligten, wenige zwar, aber es gab sie. Sie zogen es vor, zu
Problemen der Gegenwart Stellung zu nehmen, das Publikum zu konfrontieren mit
Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, Rüstung, Chauvinismus. Die “Nero” gehörte zu ihnen,
ein Slatan Dudow, ein Piel Jutzi. Und Georg Wilhelm Pabst, er vor allem. Seine Anfänge
reichen – mit dem romantischen Märchen “Der Schatz”, 1923 – in den Expressionismus
zurück. Aber schon in “Die freudlose Gasse” bewies Pabst, daß er den gängigen
Eskapismus nicht mitmachte; er wollte gesellschaftliche Situationen analysieren, wenn
auch melodramatisch vorgetragen. Kaum ein Film hat den Zerfall des bürgerlichen
Mittelstandes, seiner Moral- und Wertvorstellungen so beklemmend dargestellt. Seine
glänzende Besetzung hat die Wirkung noch gesteigert: Pabst war ein großer
Schauspieler-Regisseur mit einem untrüglichen Blick für “filmische” Gesichter. “Die
freudlose Gasse” war Greta Garbos erster Film außerhalb Schwedens. Werner Krauss
spielte mit, auch Asta Nielsen.
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Das war der Beginn einer, von wenigen Ausnahmen abgesehen, schier unglaublichen
Serie von bedeutenden Filmen. Der Psycho-Thriller “Geheimnisse der Seele” gehört
ebenso dazu wie die Wedekind-Verfilmung “Die Büchse der Pandora”. Mit ihm machte
Pabst die noch ganz unbekannte Louise Brooks zum Star. Ihre Sinnlichkeit verdreht noch
heute die Köpfe. Sie spielte auch die Hauptrolle im “Tagebuch einer Verlorenen”. Doch
erst im beginnenden Tonfilm der frühen dreißiger Jahre fand Pabst das Medium, durch
das er sich vollkommen auszudrücken vermochte. Mit “Westfront 1918”, “Kameradschaft”
und mit der skandalumwitterten Brecht-Verfilmung “Die Dreigroschenoper” wurde er der
bedeutendste Regisseur Deutschlands in jener Zeit, ein Rang, den Carl Mayer für die
erste, Fritz Lang für die zweite Hälfte der zwanziger Jahre innehatte.
Pabst hat immer damit zu kämpfen gehabt, daß er den Rechten zu weit ging und den
Linken nicht weit genug. Seine weitere Biographie machte es beiden Seiten leicht: Es ist
ihm kein Film von Bedeutung mehr gelungen, und daß er zuerst im Exil in Frankreich
mittelmäßige, dann (aus persönlichen Gründen zurückgekehrt) im Deutschland der Nazis
schlimme und nach dem Krieg verkrampft für Sühne eintretende Filme machte, dies nahm
seine Gegner auch nicht gerade für “Westfront 1918” und “Kameradschaft” ein.
Müßig darüber zu streiten, welcher der beiden Filme “besser” sei. Es bleibt festzuhalten,
daß der eine sich ebenso überzeugend wie glaubwürdig für den Frieden einsetzt wie der
andere gegen den Nationalismus kämpft. “Westfront” ist einer der wenigen Kriegsfilme
(und der einzige deutsche), der realistisch genannt werden kann, der den Krieg in seinem
ganzen Wahnsinn zeigt und ihn nicht als Chance zur Bewährung verharmlost.
“Kameradschaft” gehört, von seinem Hauptthema abgesehen, zu der Handvoll Filme, die
Arbeiter und ihre Welt authentisch und ehrlich darstellen.
Vor allem aber ist “Kameradschaft” das gültige Plädoyer gegen die Errichtung künstlicher
Grenzen zwischen den Völkern, ein bewegender Appell zur Solidarität, Verständigung,
Freundschaft. Pabst fand den Anlaß für den Film in einem Grubenunglück an der deutschfranzösischen Grenze, das sich schon vor dem Ersten Weltkrieg ereignet hatte, das er
aber, die Bedeutung seiner Geschichte verstärkend, in die Zeit “nach Versailles” verlegt.
Damals hatten deutsche Bergarbeiter, um ihren verschütteten französischen Kollegen zu
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Hilfe zu kommen, kurzerhand das Gitter niedergerissen, das tief unter der Erde den
Verlauf der Grenze markierte.
Pabst läßt seinen Film wie eine Reportage beginnen: Geschildert wird der Tagesablauf
diesseits und jenseits der Grenze, die Arbeit im Stollen, das Familienleben. Wegen der
Arbeitslosigkeit versuchen einige Deutsche, in Frankreich Arbeit zu bekommen, doch die
Vorurteile sind unüberwindlich. Dann geschieht das Unglück. Die Deutschen erfahren
davon, als sie unter der Dusche stehen. Unter Tage gehen die drei, die kurz zuvor von
einer Französin beleidigt wurden, auf eigene Faust los. Die Rettungsaktion wird breit
geschildert, sie ist gefilmt wie eine Wochenschau, spart dramatische Effekte nicht aus.
Am Ende werden die deutschen Arbeiter nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus an
die Grenze begleitet; die Abschiedsworte beschwören Freundschaft.
Ein großartiger Film, nicht nur seiner “Botschaft” wegen, eine hervorragende
Regieleistung, die den Gestus des Dokumentarischen vollkommen hält und schon die
Zeitgenossen bewundernd an Pudowkin denken ließ. Pabst hatte den Mut, auf
Schauspieler weitgehend zu verzichten, die Kumpels sich selbst darstellen zu lassen und
Granach, Busch und Keinpers so zu führen, daß sie sich integrieren.
Der Film endet übrigens nicht mit jener Szene der Verbrüderung, die die Zuschauer zur
Erkenntnis zwingt, daß “ein so wunderbares Ereignis nicht nur die seltene Folge einer
Katastrophe sein dürfe, seinen wahren Ort vielmehr im friedlichen Leben der Völker habe”
(Kracauer). Pabst, der Realist, fügt ein bitteres Ende hinzu: Grenzbeamte ziehen unten im
Stollen auf, das Gitter wird wieder eingesetzt, Protokolle verlesen, die Völker sind wieder
ordentlich getrennt.
Heute, endlich, sind die Gitter gefallen. Ist “Kameradschaft” überflüssig, im 25. Jahr der
französisch-deutschen Freundschaft? Der Film sollte immer wieder gezeigt werden. Es
gibt noch genug Gitter und Grenzen.
Horst Schäfer
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76 Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger
Indagine su un cittadino al disopra di ogni sospetto (Italien 1969)
Regie: Ello Petri. Buch: Elio Petri und Ugo Pirro. Kamera. Luigi Kuveiller. Musik: Ennio
Morricone. Darsteller: Gian Maria Volonté, Florinda Bolkan, Salvo Randone, Gianni
Santuccio, Orazio Orlando, Sergio Tramonti und Arturo Dominici. Länge: 115 Minuten.
Vertrieb: RCA/Columbia.
Die mit internationalen Preisen und Auszeichnungen bedachte Arbeit des italienischen
Regisseurs Elio Petri ist ein Film über den Mißbrauch und die Korrumpierung von Macht,
über die Doppelbödigkeit gesellschaftlicher und moralischer Werte und über die
Repräsentanten einer staatlichen Ordnung, die – in diesem Zusammenhang – “über jeden
Verdacht erhaben” sind.
Der Chef des Morddezernats in Rom, allgemein Dottore genannt, hat ein Verhältnis mit
einer Luxusprostituierten. Beide geben sich perversen Spielchen hin: Er plustert sich zum
Herrn und Gebieter auf; sie sucht den Nervenkitzel in der Rolle der Gepeinigten und treibt
ihn dabei zu immer größeren Risiken und Grenzüberschreitungen an. Dottore spürt, daß
er sich in totale Abhängigkeit begibt und bringt sie kaltblütig um. Am Tatort arrangiert er
die Spuren so, daß einige davon auf ihn als Täter verweisen.
Im Präsidium feiert man an diesem Tag die Beförderung des Dottore zum Leiter der
Politischen Abteilung. Nur für kurze Zeit übernimmt er noch die Ermittlungen in dem Fall
des von ihm begangenen Mordes. Er lenkt den Verdacht auf den Ehemann und gibt der
Presse gezielte Informationen. In seinem neuen Amt kann er sich nicht länger mit dieser
Sache befassen. Blindwütig geht er gegen Oppositionelle – für ihn Revolutionäre,
Umstürzler, Terroristen – vor, wobei er sie mit Kriminellen und Gewaltverbrechern in eine
Reihe stellt. Dottore konstruiert ein Geflecht von Bespitzelungen und Überwachungen, um
ein totales Kontrollsystem zu schaffen, von dem auch Untergebene, Kollegen und
Vorgesetzte erfaßt werden. Die neueingeführte Computertechnik ist dafür das ideale
Instrumentarium.
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Um herauszufinden, ob seinem Machtanspruch Grenzen gesetzt sind, verdichtet er in
dem Mordfall die Indizien und Beweise, die ihn selbst in die verflossene Sache verwickeln.
Aber niemand ist bereit, gegen ihn etwas zu unternehmen. Seine Manipulationen und sein
selbstbewußtes Gehabe verstärken das Durcheinander der Amtshandlungen, die –
ausgelöst durch ein Bombenattentat im Präsidium – zu einem unüberschaubaren Chaos
führen. Dottore ordnet die Massenverhaftung von Studenten und Demonstranten an, die
er als Anarchisten und Terroristen beschuldigt. Er selbst übernimmt einzelne Verhöre,
scheitert schließlich aber bei dem infamen Versuch, einem der Festgenommenen den
Prostituiertenmord anzulasten.
Nicht mehr ganz Herr der Lage, spielt Dottore seinen letzten Trumpf aus, um an der
Macht zu bleiben; durch ein Schuldeingeständnis stellt er die Unfähigkeit der Mitarbeiter
und leitenden Beamten unter Beweis. Auch in diesem Moment ist er den anderen
überlegen. Das Ende des Films zeigt, wie er sich die weitere Entwicklung vorstellt: Die
von ihm in die Enge getriebenen und düpierten Männer wollen sich und ihren Berufsstand
nicht diffamiert und blamiert sehen. Sie nehmen sein Geständnis nicht an, vernichten die
Beweise und erzwingen einen Widerruf; es gilt, den “wahren Täter zu finden”. Der Film
läßt keinen Zweifel daran, daß es auch so kommen wird. Der Täter hat seine Fahnder zu
Mitwissern und Mitschuldigen gemacht. Er hat sie stärker als zuvor in der Hand. So ein
Mann wie der Dottore ist nicht nur, sondern muß in den Augen der subalternen
Beamtenschaft über jeden Zweifel hoch erhaben sein.
Elio Petri (geb. 21.1.1929; gest. 10.11.1982) gehört zu den Regisseuren, die zu
gesellschaftlichen und politischen Themen kritisch und aggressiv Stellung beziehen, auf
der Seite der Unterdrückten, Ohnmächtigen und Benachteiligten stehen und unbequem
sind für die, deren Macht auf solchen Mechanismen beruht. Zu den bekanntesten Filmen
Petris zählen “Zwei Särge auf Bestellung” (1966; über die Mafia in Sizilien) und “Todo
Modo” (1976; über die Verfilzung von Politik und Religion). Für seinen Film “Der Weg der
Arbeiterklassen ins Paradies” (1971) erhielt er bei den Filmfestspielen von Cannes die
Goldene Palme – begehrteste Trophäe des Wettbewerbs.
“Ermittlungen gegen ... ” ist vor allem der Film des Schauspielers Gian Maria Volonté,
geb. am 9.4.1933 in Mailand, der mit dem Charakterporträt des psychopathischen Dottore
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die ganze Bandbreite seines Könnens ausspielen kann: Zunächst nutzt er seine Rolle, um
ganz den Typ des kleinbürgerlichen, karrieresüchtigen Staatsbeamten zu entwickeln, der
seine Minderwertigkeitsgefühle und sexuellen Frustrationen dadurch kompensiert, daß er
sich in den Amtsfunktionen suhlt und es genießt, von devoten Menschen umgeben zu
sein.
Die zunehmende Achtung und Anerkennung bestätigen diese Figur. In immer stärkerem
Maße fühlt sich Dottore als Repräsentant einer Macht, die auf dem Führungsanspruch
einer elitären und eng verschworenen Clique beruht und auf die bedingungslose
Unterordnung gefügiger Mitläufer angewiesen ist, um Andersartige und Andersdenkende
auszurotten und zu vernichten. Volonté gelingt es, den inneren Zustand und das äußere
Gehabe eines alltäglichen Faschisten zu gestalten, ohne in Klischees zu verfallen.
Er gehört heute zu den großen Schauspielern – nicht “Stars” – des europäischen Kinos.
Seit gut zwanzig Jahren engagiert er sich in politisch ambitionierten Filmen von Petri,
Rosi, Montaldo, Bellocchio und anderen Regisseuren und hat zuletzt in der Rolle des
ermordeten Chefs der Democrazia Cristiana in dem Film “Der Fall Aldo Moro” (Italien
1986, Regie: Giuseppe Ferrara) den Beweis seiner Gradlinigkeit erbracht. Die Reihe
“Privatmuseum Film” enthält bereits zwei Filme, die nicht zuletzt durch ihren Protagonisten
Gian Maria Volonté diese Empfehlung rechtfertigen: “Sacco und Vanzetti” (No. 12) und
“Lucky Luciano” (No. 25).
Hilmar Hoffmann
77 Die Brücke
(BRD 1959)
Regie: Bernhard Wicki. Buch: Michael Mansfeld, Karl-Wilhelm Vivier, Bernhard Wicki,
nach dem gleichnamigen Roman von Manfred Gregor. Kamera: Gerd von Bonin.
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Darsteller: Fritz Wepper, Michael Hinz, Volker Lechtenbrink, Cordula Trantow, Günther
Pfitzmann. Länge: 98 Minuten. Vertrieb: Polyband.
Deutschland im Jahre 45. Der kleine Ort wird nur noch von Kindern, Frauen, Greisen und
Kriegsuntauglichen bevölkert. Der Kriegsalltag geht seinen erschreckenden normalen
Gang, auch für die Halbwüchsigen in der Schule, die sich an der Übersetzung von
Shakespeare versuchen, den Ausflug zum frischen Bombentrichter an der kleinen Brücke
als gelungenes Nachmittagsvergnügen betrachten und darüber spekulieren, ob sie nicht
auch bald zu den Waffen gerufen werden.
Von den sieben Schülern lebt am Ende des Films nur noch einer. Die anderen sind bei
der Verteidigung der Brücke buchstäblich verreckt, bei einer Verteidigung, die militärisch
völlig sinnlos, ja unerwünscht war. Sie sind nicht gestorben, weil sie den Befehlen einer
skrupellosen Nazi-Charge folgten, sondern weil sie Opfer einer Ideologie wurden, die seit
Jahren ihr Denken vergiftete – so wirksam, daß kein Appell zu ihrer Rettung sie erreichen
konnte.
Als Ende 1959 Bernhard Wickis Film in die Kinos kam, war es um den deutschen Film
schlecht bestellt. Dem unaufhaltsamen Siegeszug seichter Ware bis 1956 folgte der jähe
Absturz. Dafür war keineswegs allein das gerade populär gewordene Fernsehen
verantwortlich. Der wirtschaftliche Niedergang war notgedrungen die Folge des
künstlerischen gewesen. Die Kassenschlager im Jahr 1960 hießen “Freddy unter fremden
Sternen”, “Der brave Soldat Schwejk”, “Und ewig singen die Wälder”. Doch den vierten
Platz behauptete ein Film, der vielen als Hoffnungsschimmer am düsteren Horizont
leuchtete: “Die Brücke”.
Auch heute noch erweist sich dieser erste Film des damals vierzigjährigen Regisseurs
Bernhard Wicki als eindrucksvolles Dokument antimilitaristischer Humanität. Keinem
anderen Regisseur im Nachkriegsdeutschland gelang ein so triumphales Debüt.
Internationale Auszeichnungen bestätigten, was sich schon in der Gunst des Publikums
ausdrückte. Hier war endlich ein Film, dessen man sich nicht zu schämen brauchte.
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Bis dahin hatte Bernhard Wicki, 1919 als Sohn österreichisch-schweizerischer Eltern in St.
Pölten geboren, eine beachtliche Karriere als Filmschauspieler gemacht. Gleich seine
erste Regiearbeit, ein kurzer dokumentarischer Spielfilm über Jugendliche, die sich nicht
mit den Vorurteilen der Erwachsenen identifizieren wollen (“Warum sind sie gegen uns?”),
findet weithin Beachtung und wird mit drei Preisen ausgezeichnet. Schon hier offenbarte
Wicki sensibles Gespür für die Nöte seiner jugendlichen Helden.
“Die Brücke” folgt dem Roman gleichen Titels, den Manfred Gregor, ein damals
dreißigjähriger Autor, nach eigenen Erlebnissen geschrieben hat. Mit einem für jene Zeit
beträchtlichen Aufwand an Geld und Drehtagen inszenierte Wicki nach dieser Vorlage
einen Film ohne Stars – von einigen bekannten Schauspielern wie Günther Pfitzmann und
Edith Schulze-Westrum abgesehen. Die unbekannten jungen Darsteller, die “Helden”
seines Films, werden mit einem Schlag bekannt – und viele sind es bis auf den heutigen
Tag geblieben: Cordula Trantow, Fritz Wepper, Volker Lechtenbrink, Michael Hinz.
Behutsam, fast gemütlich entwickelt sich die Handlung; von den einzelnen erfahren wir,
woher sie kommen, wie sie leben. Da ist der Sohn des Ortsgruppenleiters, über den ein
Kamerad sagt: “Das ist ein armes Schwein, der glaubt an gar nichts mehr.” Der Vater
weicht erschrocken der Konfrontation mit dem Sohn aus, als der ihm unbequeme
Wahrheiten sagt. Er ist auf vielfache Weise in die Schuld am Tod seines Sohnes
verstrickt. Nicht nur läßt ihn seine politische Verantwortung mitschuldig am ganzen
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entsetzlichen Geschehen werden, sondern auch seine Feigheit, die den Sohn später zum
Mut, zur Tollkühnheit zwingt.
Mit Wäschewaschen und Näharbeiten bringt die Mutter seines Schulfreundes Siggi sich
und den Sohn mehr schlecht als recht über die Runden. Siggi ist wohl der Kindlichste
unter den Freunden. Als die Mutter ihn aus der Gefahrenzone zu einer Tante schicken
will, wehrt er ab, als wolle sie ihn an einem langersehnten Vergnügen hindern: “Mich
kriegst du hier nicht weg!” Daß der Zeitgeist nicht spurlos an ihm vorüberging, zeigt sich
auf fast rührende Weise in der Namensgebung seiner Kaninchen: Wotan und Alberich.
Karl, der Friseurssohn, durchlebt ausgerechnet in diesen Tagen eine schwere
Pubertätskrise. Er entdeckt, daß die hübsche Barbara, die dem verwitweten Vater im
Laden hilft, dessen heimliche Geliebte ist. Ohne Abschied rennt er in die Kaserne und in
den Tod.
Der Sohn der Majorswitwe, den sie aus Traditionssinn in dem Wunsch bestärkt, Offizier
zu werden, und mit der Pistole seines im Krieg gefallenen Vaters beschenkt; die beiden
Freunde, von denen der eine aus den Bombennächten der großen Städte in die ländliche
Ruhe geschickt wurde, während der andere zusammen mit seiner Mutter verzweifelt auf
Nachricht vom Vater wartet – sie alle sind beseelt vom Glauben an den Endsieg, von
unbedingter Vaterlandsliebe.
Erst im Rückblick erkennt man die Saat der Falschmünzer, denen die einst achtbaren
Ideale in die Hände fielen, wie es später ein Lehrer ausdrücken wird. Darin besteht dann
auch die Meisterleistung Wickis: Mit psychologisch entwickelter Spannung führt er den
Zuschauer allmählich, durch die Darstellung vieler kleiner Begebenheiten, die in der
Summe eine große Wahrheit ausmachen, zur Erkenntnis. Sie wirkt wie ein Schock. Aus
den braven Schuljungen, an deren Nöten man teils belustigt, teils mitleidig teilnahm, wird
eine Horde wild entschlossener Krieger, die nichts davon abhält, den vermeintlichen
Auftrag – die Verteidigung der Brücke – bis zum letzten Blutstropfen durchzuführen.
Erbarmungslos erspart Wicki auch nicht die äußerste, die letzte Enttäuschung. Der
einzige Überlebende weiß, daß die Verteidigung der Brücke absolut unnütz war. Der Tod
seiner sechs Kameraden, das Sterben amerikanischer und deutscher Soldaten und der
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Anwohner, die in die Kämpfe verwickelt wurden, ist in der entsetzlichen Bedeutung des
Wortes sinnlos.
Als Dokument des kompromißlosen Pazifismus interpretieren die einen den Film, während
andere darin die Warnung vor falschem Heldentum sehen – als Abkehr von einem
Militarismus, dessen Ziele verbrecherisch waren. Auch heute noch erschüttert Wickis Film
mit seiner kargen Bildästhetik und klaren Formsprache als aufrüttelnder Appell, der
Vernunft und der Menschlichkeit zu folgen, anstatt dem blinden Wahn einer
rücksichtslosen Ideologie.
Wolfgang Schwarzer
78 Liebe und Anarchie
Film d'amore et d'anarchia Ovvero: Stamatina alle diece in via dei fiori nella
nota casa di tolleranza (Italien/ Frankreich 1973)
Buch und Regie: Lina Wertmüller. Kamera: Giuseppe Rotunno. Musik: Nino Rota, Carlo
Savina. Darsteller: Giancarlo Giannani, Marieangela Milato, Lina Polito, Eros Pagni.
Länge: 122 Minuten. Vetrieb: VCL/Virgin.
In den Vereinigten Staaten feierte man sie längst als Kultregisseurin, da wurde sie in
Italien noch von Produzenten, Kritik und Publikum verschmollt. Deutschland durfte ihre
Filme gar erst mit zehnjähriger Verspätung entdecken. Lina Wertmüller, am 14. August
1928 in Rom geboren, entzieht sich den etablierten Genres und sprengt die
wohlgeordneten Schubladen der Kritiker. Kaum einem Regisseur gelang es wie ihr,
absolute Gegensätze in stimmiger Einheit zu verschmelzen, was spontan Irritation und
Befremden, oft nach großer Distanz erst Begeisterung, ja Bewunderung auslöste.
Barbarisch und zärtlich, intellektuell und volkstümlich, grotesk, ironisch und tragisch,
schrill und nachdenklich – das sind Attribute, die auf jeden ihrer Filme passen. Daß sie
alle Muster des Marktes zu sprengen verstand und ihren individuellen Stil dickköpfig
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etablierte, führte dazu, daß ihr Werk nun gleichberechtigt zu den Klassikern der
italienischen Filmgeschichte gerechnet wird.
Nach der ungeteilten Beachtung, die “Mimi Metallurgico” (1971) fand, bedeutete “Liebe
und Anarchie”, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, den Durchbruch in
ihrer Erfolgslaufbahn.
Zu Beginn fragt Tunins Kinderstimme: “Mutter, was ist ein Anarchist?” Die Antwort lautet:
“Einer, der Könige tötet, Bomben wirft und dann dafür aufgehängt wird.” Mussolini hat
bereits zehn Jahre lang über Italien geherrscht, da wird Tunin, ein einfacher, naiver
Bauer, selbst zum Anarchisten. Weniger aus politischer Überzeugung, sondern weil er
seinem Freund, einem von den Faschisten ermordeten Widerstandskämpfer, versprochen
hat, das auf den Duce geplante Attentat auszuführen.
Der unbeholfene, sommersprossige Provinzler kommt nach Rom, wo sich seine
Kontaktadresse als luxuriöses Freudenhaus entpuppt, in dem die heißbegehrte Salomé
für die Widerstandsgruppe Informationen sammelt. Einer ihrer Stammkunden ist
Spatoletti, eine getreue Kopie seines Herrn Mussolini, der in großspuriger
Selbstgefälligkeit Ort und Zeit des von ihm vorbereiteten Auftritts des Duce ausposaunt.
Tunin verbringt die Tage bis zum Attentat in der quirligen, grellbunten Atmosphäre der
Casa di Tolleranza. Hier verliebt er sich – zwischen der Vorbereitung auf das Attentat und
den flammend antifaschistischen Reden Salomés – in die romantische Tripolina. Trotz
seiner eigenen Zweifel und Ängste und Tripolinas Versuchen, ihn von dem Vorhaben
abzubringen, hält Tunin an seinem Entschluß fest – nicht aus Idealismus, sondern “weil
es immer noch besser ist, wie ein Mensch zu sterben, als wie ein Hund zu leben”.
Den Morgen des Attentats verschläft er jedoch; nach einem heftigen Disput zwischen
Salomé und Tripolina über Sinn und Unsinn politischer Morde unterlassen es beide, ihn
rechtzeitig zu wecken. Rasend vor Enttäuschung, Scham und Verzweiflung rennt er,
anarchistische Parolen brüllend, einer zufällig erscheinenden Mannschaft der Sittenpolizei
in die Arme. Der Bauer Tunin wird wie ein Tier in die faschistischen Folterkeller
verschleppt und dort zu Tode geprügelt.
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Die Leidenschaft, meint Lina Wertmüller, sei die einzige Begründung für das politische
Chaos in ihrem Land. Ihrem überbordenden mediterranen Temperament gelingt, wie in
“Liebe und Anarchie”, immer wieder die perfekte Illustration dieser Erkenntnis. Das Private
mündet ins Politische, ins Zeitgeschichtliche, die Historie breitet sich unerbittlich über den
kleinen Alltagsgeschichten der Menschen aus. Dabei wendet sich ihre Erzählweise
niemals ins Analytische. Ihre Drehbücher, die sie selber schreibt, entstehen aus Kopf,
Herz und Bauch, irisieren zwischen der Tradition der Comedia dell'Arte und Fellinis
opulenter Phantasie. Ihre Frauen- und Männerfiguren verweigern sich allen Klischees –
wenngleich sie damit kokettieren – und auch allen ideologischen Festlegungen und
Forderungen.
Lina Wertmüllers Stil, bisweilen zu Unrecht als Stillosigkeit denunziert, wird zum
atemberaubenden Tanz auf Messers Schneide, wenn sie die faschistische Gesellschaft
oder gar das Konzentrationslager wie in “Sieben Schönheiten” (1975) als Orte ihre
Komödien wählt. Es gelingt ihr ohne Fehltritt durch die Wechselwirkungen von
barbarischer Groteske, sensibler Poesie und nicht zuletzt der Zurückhaltung und bisweilen
feinen chaplinesken Attitüde im Spiel ihres immer wiederkehrenden Hauptdarstellers
Giancarlo Giannini.
“Liebe und Anarchie” lief in den deutschen Kinos im Original mit Untertiteln. Auf Video
liegt nun eine ambitionierte, überraschend gut gelungene deutsche Synchronisation vor
(beileibe keine Selbstverständlichkeit), die einem breiten Publikum den Zugang zu diesem
unterhaltsamen, mitreißenden Werk ermöglicht.
Meinolf Zurhorst
79 Anatomie eines Mordes
Anatomy of a Murder (USA 1959)
Regie: Otto Preminger. Buch: Wendell Mayes nach dem Roman von Robert Traver.
Kamera: Sam Leavitt (schwarz-weiß). Musik: Duke Ellington. Darsteller: James Stewart,
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Lee Remick, Ben Gazzara, Joseph N. Welch, Arthur O'Connell, George C. Scott. Länge:
149 Minuten (Original: 160), Vertrieb: RCA/Columbia.
Ein Mord ist geschehen, der Täter wurde gefaßt, der Fall ist eindeutig. Rechtsanwalt Paul
Biegler (James Stewart), gerade vom Angelausflug zurückgekehrt, soll die Verteidigung
übernehmen. Publizität scheint garantiert, das Honorar auch: Der Festgenommene ist ein
dekorierter Soldat.
“Anatomie eines Mordes” erzählt die Geschichte einer Geschworenen-Gerichtsverhandlung mit der Präzision einer Prozeßakte. Daß er nicht so trocken wie diese geriet,
ist zuvorderst den ausgezeichneten Darstellern zu danken, allen voran James Stewart,
dem amerikanischen Leinwandsymbol von Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit. In seiner Rolle
als Rechtsanwalt Biegler verband Stewart den aufklärerischen Impetus eines Detektivs
oder Polizisten mit der hinterhältigen Taktik emotionaler Überrumpelung, die geradebiegt,
was krumm ist. Der Film entstand 1959, in einer Zeit, in der das Genre des Kriminalfilms
eine Veränderung erfuhr. Psychologische Feinzeichnung, wenn auch manchmal mit
grobem Strich, ersetzt die Aktion des Gangsterfilms in den Dreißigern und die Depression
des Films noir in den vierziger Jahren.
Bevor er endgültig den Fall des angeklagten Lieutenants Manion (Ben Gazzara)
übernimmt, läßt sich Biegler von dem mutmaßlichen Mörder den Hergang erzählen.
Manion begründet den Mord an dem Barbesitzer Quill damit, daß der seine Frau Laura
(Lee Remick) vergewaltigt habe, was diese bestätigt. Doch der Polizeiarzt hatte bei der
aufreizenden Blondine keinerlei Spuren einer Vergewaltigung gefunden, sieht man vom
blauen Auge ab. Außerdem verstrich zwischen der angeblichen Vergewaltigung und
Manions Tat ungewöhnlich viel Zeit. Der Mord an dem Barbesitzer scheint also vorsätzlich
begangen worden zu sein.
Bei seinen Gesprächen mit Manion erkennt Biegler dessen Eifersucht und Jähzorn.
Obwohl davon in der Mordnacht wenig zu spüren war, sieht der Anwalt darin eine Chance
der Verteidigung. Er übernimmt den Fall. Mit Hilfe seines alten Freundes Parnell (Arthur
O'Connell), ebenfalls Anwalt, doch nun der Whiskyflasche verfallen, treibt Biegler, der sich
immer als hinterwäldlerisch bezeichnet, in Wahrheit aber ein ausgekochter Jurist ist, ein
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Präzedenzurteil auf, das seine Strategie gegenüber dem karrieristischen Staatsanwalt
Claude Dancer (George C. Scott) festlegt: Biegler wird auf Unzurechnungsfähigkeit und
damit Freispruch plädieren, weil der Angeklagte zur Tatzeit einem “unwiderstehlichen
Impuls” gefolgt sei.
Doch die Beweise, die in der Verhandlung vorgebracht werden, sind erdrückend. Zeugen
marschieren auf, deren Aussagen eigentlich nicht zu erschüttern sind. Laura Manion
selbst macht auch keinen sehr vertrauensvollen Eindruck: Sie gilt als leichtlebig und war
an besagtem Abend angetrunken. Durch die geschickte Verhandlungsführung Bieglers
rückt aber die juristische Ebene immer stärker aus dem Blickwinkel, verdrängt durch eine
gefühlsbetonte Gestik und schon hinterhältig zu nennende Beeinflussung der
Geschworenen, auf die ein emotionaler Ausfall mehr Eindruck macht als die Aufreihung
trockener Fakten. Sogar der Richter (großartig gespielt von dem späteren McCarthyAnkläger Joseph N. Welch) läßt sich von der mal mitleidheischenden, mal aufgebrachten
Mimik Bieglers beeinflussen. So nimmt die Verhandlung eine andere Wende als von der
Staatsanwaltschaft intendiert. Nicht die Tat allein steht im Mittelpunkt, auch die möglichen
Motive kommen zur Sprache. Die gerissene Taktik Bieglers führt schließlich zum Erfolg.
Die Jury spricht Manion frei. Als Biegler und Parnell dann ihr Honorar abholen wollen, hat
sich das zweifelhafte Pärchen aus dem Staub gemacht.
“Anatomie eines Mordes” gilt vielen als der Prozeßfilm schlechthin. Der nach einem
Beststeller von Robert Traver entstandene Film versteht es, aus einem eigentlich
langatmigen Rededuell ein vielschichtiges Abbild der Welt zu machen und seine
Protagonisten in komplexen Interaktionen agieren zu lassen. Regisseur Otto Preminger
verzichtet fast völlig auf Großaufnahmen seiner Darsteller, stellt die Figuren vielmehr in
einen durchkomponierten Beziehungszusammenhang. Nur sehr selten ist eine der
Figuren in einer Einstellung allein zu sehen. Der Zuschauer wird durch diese stilistische
Methode auf Distanz gehalten. Sein Blickwinkel ähnelt während der Verhandlung dem der
Geschworenen. Wie diese ist er einem Wechselbad der Gefühle, des Glaubens und des
Unglaubens ausgesetzt.
Eigentlich bis zum Ende bleibt es offen, ob die Vergewaltigung tatsächlich stattgefunden
hat. Sogar die Eindeutigkeit des Mordes wird durch die Einbeziehung widersprüchlicher
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psychologischer Gutachten angezweifelt. Das amerikanische Gerichtswesen mit seinen
“unbeeinflußbaren” Geschworenen erscheint in keinem guten Licht, wird doch die
Wirklichkeit ersetzt durch ein Geflecht von Vermutungen und Scheinrealitäten, erzeugt
von einem skrupellosen Anwalt. Daß der Film seinerzeit den Protest der Fans von James
Stewart heraufbeschwor, hat indessen eine ganz andere Ursache. Zum ersten Mal wurde
derart explizit auf der Leinwand über das Tabuthema Vergewaltigung geredet. Zum ersten
Mal auch wurde – der Film bemüht dazu eine eigene Szene – ein Damenslip beim Wort
genannt – und das vom filmischen Saubermann der Nation.
Otto Preminger wußte, wie man einen Film erfolgreich macht. In all seinen Werken fiel der
publicitysüchtige, immer wieder Skandale produzierende Regisseur weniger durch die
Raffinesse seiner Inszenierungen auf als vielmehr durch die kongeniale Führung seiner
Schauspieler. In Filmen wir “Laura”, “Porgy and Bess”, “Der Mann mit dem goldenen Arm”
oder “Carmen Jones” erbrachten die Darsteller meist eine der anspruchsvollsten
Leistungen ihrer Laufbahn. James Stewart, dessen beste Rollen immer die waren, in
denen er gegen sein Image spielte, wurde für einen Oscar nominiert, aber durch Fehlurteil
von “Ben Hur” geschlagen.
Uwe Künzel
80 Paris, Texas
(Bundesrepublik Deutschland 1984)
Regie: Wim Wenders. Buch: Sam Shepard. Kamera: Robby Müller. Musik: Ry Cooder.
Darsteller: Harry Dean Stanton, Dean Stockwell, Aurore Clement, Hunter Carson,
Nastassja Kinski und andere. Länge: 145 Minuten. Vertrieb: marketing film.
Eine felsige Wüstenlandschaft, durch die ein einsamer Mann läuft. Er hat nichts weiter bei
sich als eine Feldflasche aus Plastik. Daraus nimmt er noch einen letzten Schluck, bevor
er sie fortwirft. Der Mann heißt Travis, wie der Zuschauer später erfährt – ist unrasiert,
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trägt schäbige Kleider. Ein festes Ziel scheint er nicht zu haben. Wo er herkommt, weiß
man nicht; er wird es bis zum Ende seiner langen Reise auch nicht verraten haben.
So beginnt “Paris, Texas”, jener Film, der seinem Autor Wim Wenders beim Festival von
Cannes 1984 die “Goldene Palme” eingebracht hat. Als einer der wichtigsten Regisseure
des “Neuen deutschen Films” galt Wenders längst – doch erst “Paris, Texas” brachte ihm
auch die Anerkennung und Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums, die Filmen wie “Im
Lauf der Zeit”, “Der amerikanische Freund” oder “Der Stand der Dinge” leider versagt
geblieben war.
“Paris, Texas”: Travis, der einsame Wanderer vom Beginn, ist auf der Suche nach seiner
Familie. Frau und Kind hat er Jahre zuvor im Streit verlassen; nun kehrt er zurück, um
jene Scherben zu kitten, die damals übriggeblieben sind. Zuerst jedoch trifft er seinen
Bruder Walt. Bei Walt und seiner Frau Anne hat Travis' Frau Jane den Sohn Hunter
untergebracht, nachdem Travis verschwunden war. Längst sieht Hunter Walt und Anne
als seine richtigen Eltern an – an seinen richtigen Vater kann sich das Kind nur noch sehr
unscharf erinnern.
Dennoch gelingt es Travis nach und nach, das Vertrauen seines Sohnes
zurückzugewinnen. Beide zusammen machen sich schließlich auf, um die verschollene
Jane zu suchen. Travis wird sie finden: Sie arbeitet nun in einer Peep-Show, irgendwo in
der Nähe von Houston. Als Kunde “getarnt”, schleicht sich Travis in das triste
Etablissement; dort kommt es dann zur entscheidenden Begegnung zwischen dem
entfremdeten Paar, das sich einst im Streit getrennt hat. Eine Art Lebensbeichte legt
Travis nun ab, doch er muß erkennen, daß es eine gemeinsame Zukunft nicht mehr
geben wird. So bringt er zwar noch Hunter und Jane zusammen, doch er selbst verläßt
seine Familie erneut – diesmal, so scheint es, für immer...
Der “zweite Film” von Wim Wenders. Alle früheren Werke seien sein erster gewesen – so
hat er selbst mit einer gewissen Koketterie formuliert.
Und tatsächlich: Thematisch verbindet “Paris, Texas” nichts mehr mit den
“Männererfahrungen” von Filmen wie “Am Lauf der Zeit”, “Falsche Bewegung” oder “Der
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amerikanische Freund”. Einzig zu dem 1974 entstandenen Werk “Alice in den Städten”
drängt sich manche Parallele auf: Hier wie dort wird ein einsamer, verzweifelter Mann
durch die Beziehung zu einem Kind “sozialisiert”, gleichsam “wiedereingegliedert” in eine
Gesellschaft, deren Konventionen und Banalitäten er nicht mehr länger ertragen zu
können glaubte.
Doch der Weg des Travis nimmt einen anderen Verlauf als jener der Hauptfigur Philip aus
“Alice in den Städten”: Hat dieser nur für kurze Zeit die Verantwortung für ein kleines
Mädchen übernommen, um dabei wie zufällig zu entdecken, daß er dazu überhaupt in der
Lage ist, so sehnt sich Travis nach der Verantwortung für seinen Sohn. Doch als er sie
dann tragen muß, gibt er sie schnell weiter, anders als für Philip scheint es für ihn keine
Alternative zu seinem verkorksten Leben zu geben.
Doch die Handlung, die melodramatische Geschichte einer unglücklichen Familie, bildet
nur eine Ebene des Films. Mehr noch, so scheint es manchmal, hat sich Wim Wenders,
der wie kein anderer deutscher Regisseur vom amerikanischen Kino, ja: von der
amerikanischen Kultur schlechthin geprägt wurde, hier ein Trauma von der Seele gefilmt.
“Paris, Texas” ist optisch eine einzige Hommage an die weiten Landschaften des
amerikanischen Westens.
Wenders' langjährigem Kameramann Robby Müller, der fast von Beginn an mit dem
Regisseur zusammengearbeitet hat, sind schier überwältigende Bilder gelungen, die
dennoch kein von der Handlung losgelöstes Eigenleben entwickeln, sondern sich stets
ganz in den Dienst der Geschichte stellen. Vergleicht man etwa den optischen Stil des
Beginns von “Paris, Texas” mit dem Mittelteil und dem Schluß, so wird man deutlich
sehen, wie die Sprache der Kamera jedesmal mit der Befindlichkeit der Protagonisten
korrespondiert. Die Weite der Landschaften zu Anfang, die Geborgenheit in den mit
sanften Farben gezeichneten Räumen des Bungalows von Walt und Anne, schließlich die
Kälte der Peepshow, gegen die sich die Wärme der Annäherung zwischen Travis und
Jane zur Wehr setzen muß: All dies verweist auf ein dramaturgisches Konzept, das nicht
an der Formulierung einer Botschaft hängt, sondern am schlüssigen Nachempfinden des
Zusammenhangs von Innen- und Außenwelt im Empfindungsbereich der von Wenders
geschilderten Personen.
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Dennoch war dieser Film in der Kritik nicht unumstritten: Das Lob für die handwerkliche
Leistung des Regisseurs Wim Wenders fiel zwar recht einhellig aus, doch die Geschichte
selbst, so meinten manche, erscheine doch über weite Strecken als unsäglicher Kitsch,
und es sei geradezu ein Skandal, daß “Paris, Texas” die längst überholte These
formuliere, Kinder würden zu ihren biologischen Müttern gehören.
Das kann man so sehen, doch Wenders' Triumph wird dadurch kaum geschmälert: Wie
kein anderer deutscher Regisseur – und das sieht man auch in “Paris, Texas” in jedem
Moment – beherrscht er die Sprache des Kinos in all ihren Ausdrucksformen. Und mit
seinem bislang letzten Film “Der Himmel über Berlin” hat er einmal mehr unterstrichen,
daß der Kritiker der “Süddeutschen Zeitung” vielleicht doch nicht ganz unrecht hatte, als er
1984 anmerkte, mit “Paris, Texas” habe sich Wenders als “bester Regisseur der Welt”
qualifiziert.
Horst Schäfer
81 Die offizielle Geschichte
La Historia Oficial (Argentinien 1985)
Regie: Luis Puenzo. Buch: Aida Bortnik, Luls Puenzo. Kamera: Félix Monti. Musik: Atilio
Stampone. Darsteller: Norma Aleandro, Héctor Alterio, Hugo Arana, Guillermo Battaglia,
Chela Ruiz, Patricio Contreras. Länge: 112 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
Ein “Privatmuseum Film” ohne einen Beitrag des Lateinamerikanischen Filmschaffens?
Das kann man sich nicht vorstellen. Leider aber ist das derzeitige Videoangebot nicht
umfangreich genug, um repräsentative Beispiele aus diesem Kontinent auswählen zu
können. In erster Linie kommt es ja darauf an, einen Film aus einem lateinamerikanischen
Land vorzustellen und nicht einen, der lediglich dort spielt (wie die “RevolutionsOperetten” beispielsweise) oder von Europa oder Nordamerika aus über Vorgänge und
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Vorfälle in diesen Ländern gedreht wurde (wie “Missing”, “Der unsichtbare Aufstand” oder
“La Victoria”).
Bedauerlich, daß keine authentischen Exemplare des “revolutionären Kinos” aus Brasilien
(etwa die Filme von Glauber Rocha) oder Cuba verfügbar sind. Ein glücklicher Zufall
jedoch, daß zu den wenigen Titeln, die der Handel anbietet, auch “Die offizielle
Geschichte” zählt: ein Film, der stellvertretend für viele andere belegt, wie sich die
nationale Kinematographie filmkünstlerisch entwickelt, wenn sie von den Fesseln der
Zensur befreit ist und um sie herum alle Bereiche der Kunst und Kultur von einer
euphorischen Aufbruchsstimmung erfaßt sind. In diesem Sinne ist der Film – seine
Handlung, seine Absicht und sein großer Erfolg – exemplarisch für eine Situation, die
anderswo bereits bewältigt wurde oder noch herbeigesehnt wird.
Im Mittelpunkt der 1983 in Buenos Aires spielenden Handlung steht Alicia, eine korrekte
Geschichtslehrerin, die der bürgerlichen Schicht der Gesellschaft angehört und mit
Roberto, einem juntafreundlichen Geschäftsmann, verheiratet ist. Ihre Ehe ist kinderlos,
vor einigen Jahren haben sie ein kleines Mädchen adoptiert, die nun fünfjährige Gabi.
Das Familien- und Berufsleben verläuft ungetrübt. Alicia und Roberto führen ein
geborgenes Wohlstandsleben. Die “offizielle Geschichte” Argentiniens lehrt Alicia so, wie
es in den Geschichtsbüchern steht. Die politische Realität dringt allenfalls in der
gefilterten Form belanglosen Partygeplauders zu ihr durch. Die Idylle bekommt
Schrammen, als Alicia von ihrer Freundin Ana besucht wird. Ana wurde vor einigen
Jahren eines “subversiven” Bekannten wegen von den Militärs verhaftet, gefoltert und
vergewaltigt; danach lebte sie im Exil in Europa. Von ihr erfährt Alicia erstmals von den
Terrormethoden der Machthaber und auch davon, daß den gefangenen Müttern die
Kinder weggenommen und zur Adoption an Regimetreue weitergegeben wurden.
Alicia will mehr über die Hintergründe der Adoption ihres eigenen Kindes erfahren, doch
Roberto blockt ihre Fragen ab. Es schleicht sich der Verdacht ein, daß Gabi die Tochter
von “Verschwundenen” sein könnte. Alicia will durch Recherchen in den Krankenhäusern
und mit Hilfe eines Suchdienstes die Zusammenhänge erkunden. Dabei verändert sich
nach und nach ihr Leben. Sie nimmt mehr wahr von den Vorgängen um sich herum, von
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den Demonstrationen auf den Straßen und den beharrlichen Fragen der Oberschüler, die
den Unterricht dazu nutzen, unbequeme Vergleiche zwischen historischen Ereignissen
und der politischen Gegenwart anzustellen.
Bislang hat Alicia in allen Fragen immer die “offizielle” Version akzeptiert, doch nun
bröckeln die Fassaden des Regimes und ihres Umfeldes ab und hinter den Rissen wird
eine ungeheure Lüge sichtbar. Alicia wird sensibilisiert für die Probleme der Unterdrückten
und Verfolgten; sie engagiert sich immer stärker in der Suche nach der Mutter ihrer
Adoptivtochter. Durch den Suchdienst wird eine Frau auf sie aufmerksam, die
möglicherweise Gabis Großmutter sein könnte. Ihren Berichten nach ist Gabi das Kind
ihrer Tochter, die sehr jung geheiratet hat. Als sie schwanger war, wurden sie und ihr
Mann verhaftet. Über das weitere Schicksal gibt es keine Informationen; die beiden sind
“verschwunden”. Geblieben sind nur noch schmerzende Erinnerungen und ein paar Fotos.
Alicia will Klarheit. Auch als Roberto, der in eine Korruptionsaffäre verwickelt ist, den
zusätzlichen Schwierigkeiten ausweicht, geht sie den einmal eingeschlagenen Weg auf
der Suche nach Wahrheit unerbittlich weiter. Sie besucht die permanenten
Demonstrationen der “Mütter von der Plaza de Mayo”, wo mit Transparenten, Plakaten
und Fotowänden von den Behörden Auskunft über vermißte Angehörige verlangt wird.
Alicia bricht endgültig aus der Ehe aus und verläßt ihren Mann. Gabi wird sie
voraussichtlich behalten können, da das Kind jetzt bei ihr besser aufgehoben ist als in der
Familie der wahren Eltern.
“Die offizielle Geschichte” thematisiert das Schicksal der Kinder der “verschwundenen” –
in Wahrheit: ermordeten – Gegner der argentinischen Militärjunta in den Jahren von 1976
bis 1983. Von einem Einzelfall ausgehend, werden die Mechanismen der Unterdrückung
und der Gewalt, die alle Kreise der Gesellschaft erfaßt, deutlich sichtbar. Puenzos
gesellschaftskritischer Film decouvriert bewußt die konservative Schicht des Bürgertums,
die nur Bruchteile der Lebenswirklichkeit anderer wahrnimmt oder wahrnehmen will. Der
gradlinig erzählende Film zeigt den Anteil der Mitwisser und Mitläufer am Überleben einer
Diktatur, die sich mit Folter und Mord einerseits, Gunst und Gnade andererseits an der
Macht hält.
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“Die offizielle Geschichte” entstand unmittelbar in der Aufbruchsphase des argentinischen
Kinos, nach den Jahren der Diktatur. Der Film belegt einen Ausbruch zur Wahrheit, der
sich kompromißlos mit der jüngsten Geschichte des Landes auseinandersetzt und somit
konkret in die Gegenwart hineinwirkt; er ist gleichzeitig auch ein Beispiel dafür, wie sich
das neue argentinische Kino um kulturelle Identität bemüht und auf die Stereotypen der
internationalen Unterhaltungsware verzichtet.
Luis Puenzo, 1946 in Argentinien geboren, arbeitete in vielen Sparten der Filmbranche
und tauchte – wie viele andere auch – in den Jahren der Militärherrschaft als Werbefilmer
unter. “Die offizielle Geschichte” ist sein erster Spielfilm nach der Zeit der Junta und wurde
zu einem Manifest der Generation der neuen argentinischen Filmemacher. Die
Darstellerin Norma Aleandro (Alicia) wurde 1985 in Cannes mit einem Preis für die beste
schauspielerische Leistung ausgezeichnet; der Film wurde 1986 als bester ausländischer
Film mit einem Oscar preisgekrönt.
Urs Jaeggi
82 Blow up
Blow up (Großbritannien 1966)
Regie: Michelangelo Antonioni. Buch: Michelangelo Antonioni, Tonino Guerra, nach dem
Roman von Julio Cortazar. Kamera: Carlo di Palma. Musik: Herbert Hancock. Darsteller:
Vanessa Redgrave, Sarah Miles, David Hemmings, Jane Birkin. Länge: 106 Minuten.
Vertrieb: IMV.
Thomas, der exzentrische Mode- und Livefotograf, ist der festen Überzeugung, mit seinen
Bildern die Wirklichkeit einzufangen. Das Verlangen, mit seinem Objektiv im Brennpunkt
des Geschehens zu sein, nimmt bei ihm ekstatische Formen an. Er schreckt vor nichts
mehr zurück. Mit der Kamera dringt er – gleichgültig ob er nackte Männer ohne deren
Wissen in einem Nachtasyl oder ein sich vor ihm windendes Modell fotografiert – in die
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ungeschützte Intimsphäre seiner “Opfer” vor. So auch, als er eines Tages in einem Park
aus einem Versteck heraus ein Liebespaar ablichtet.
Beim Entwickeln dieser Bilder im Labor entdeckt Thomas – von David Hemmings
übrigens hervorragend gespielt – eine weitere Wirklichkeit, die zweite Dimension der
Wahrheit sozusagen. Aufmerksam geworden durch die Tatsache, daß die Frau des
heimlich gefilmten Paares, die ihn entdeckt hat, bei ihm auftaucht und zornig die
Aufnahmen fordert, ja dafür schließlich gar Geld und ihren nackten Körper anbietet,
schaut er die Bilder genauer an. Und siehe da: aus einer Hecke im Hintergrund ragt –
unscharf zwar, aber doch deutlich wahrnehmbar – eine Hand, die eine Pistole umschließt.
Und unter einem anderen Busch liegt, die immer stärkere Vergrößerung bringt es an den
Tag, eine Leiche. Ist Thomas ungewollt Zeuge eines Mordes geworden? Noch nachts eilt
er in den Park und findet in der Tat den Liebhaber der Frau tot ausgestreckt auf dem
Boden. Geräusche, der Wind, der durch die Blätter streicht, und knackende Äste,
schlagen den Fotografen in die Flucht. Wieder zu Hause angekommen, muß er
feststellen, daß sein fotografisches Beweismaterial verschwunden ist. Als er am Morgen
erneut in den Park geht, sucht er vergeblich die Leiche. Ist Thomas einer Täuschung
erlegen, waren es bloß Halluzinationen, die ihn umfingen?
Diesen Grundeinfall des 1966 entstandenen “Blow Up” etwas genauer zu beschreiben,
drängt sich deshalb auf, weil darin gewissermaßen die Thematik dieses nach wie vor
überraschenden Films exponiert wird. Das Pendeln zwischen Wirklichkeit und Fiktion,
Wahrheit und Illusion, Sein und Schein ist für Antonioni Charakteristikum der Lebensart in
einer modernen urbanen Gesellschaft. Wo jeder andere Regisseur nun verbissen an der
Lösung des kriminalistischen Falles herumgebastelt hätte, sei es nun als Krimiknüller oder
als Psychothriller, schickt Antonioni seinen Helden per Rolls-Royce in das Getümmel der
Großstadt London, zu jener Zeit Hochburg der Mods und Beatniks. Er konfrontiert ihn, der
durch den Zwischenfall im Park und die mysteriösen Folgeerscheinungen etwas von
seiner Selbstsicherheit verloren hat, mit Menschen, die ihren eigenen Zynismus bis zum
Gehtnichtmehr pflegen, um damit ihre innere Leere zu verbergen. Und er führt Thomas in
Milieus, die nichts anderes als die zum Stil erhobene Hohlheit eines sinnentleerten
Daseins verkörpern. Zwar kennt Thomas diese Menschen und ihre Milieus. Aber er sieht
sie nun mit anderen Augen – vergrößert sozusagen. So wie er auf seinen Vergrößerungen
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plötzlich die Hand mit der Mordwaffe und die Leiche entdeckt, so stellt er nun in seiner
Welt einen Nihilismus und eine Kommunikationslosigkeit fest, die ihn zutiefst erschüttern.
Nun ist diese Erschütterung gleichzeitig der Ausgangspunkt zu einer Selbstfindung.
Thomas' persönliches Abbild der Wirklichkeit gerät ins Schlingern, Objektivität schlägt ins
Subjektive um, und Begriffe wie Wirklichkeit und Einbildung oder Wahrheit und Illusion
erhalten einen neuen Stellenwert, verlieren ihre einstige Klarheit.
Es gehört zum Pessimismus des Michelangelo Antonioni jener Zeit – zuvor noch hatte er
in kurzem Abstand die Filme “La notte”, “L'eclisse” und “Il deserto rosso” gedreht, Abbilder
alle einer in Kommunikationslosigkeit und Kälte erstarrenden Gesellschaft, in der allenfalls
noch die Liebe eine Hoffnung bildet –, daß er Thomas nicht aus seiner Umgebung
ausbrechen läßt, sondern ihn vielmehr in ihr gefangensetzt. Wenn der Regisseur in der
Schlußsequenz seinen Protagonisten in der Nähe des Tatortes das pantomimisch
ausgetragene Tennismatch einiger ausgelassener Jugendlicher verfolgen läßt und ihn
schließlich in das imaginäre Spiel miteinbezieht, indem er ihn einen scheinbar verirrten
Ball “zurückwerfen” läßt, rundet er nicht nur das filmische Spiel um die Vermischung von
Wirklichkeit und Illusion ab. Antonioni führt damit Thomas gleichzeitig zurück in die Welt
des Scheins. Als Hoffnung gibt er ihm allein einen intensiveren Bewußtseinszustand mit
auf den Weg. Während sich Thomas von der Gruppe entfernt, hört er immer deutlicher
den Aufschlag des Balles beim Spiel. Die Wahrheit ergibt sich aus der Verbindung von
Wirklichkeit und Imagination.
Auch wenn die Jahre an diesem Film nicht spurlos vorübergegangen sind und die
damalige Aufregung über einige freizügige Szenen in der Presse heute geradezu
lächerlich wirkt, so bleibt “Blow Up” dennoch ein Meilenstein in der Filmgeschichte.
Antonioni setzt in diesem Film in überzeugender Weise fort, was er in “II deserto rosso”
erstmals versucht hat: die Verwendung der Farbe zur Spiegelung der inneren
Befindlichkeit. In “Blow Up” erweist er sich erneut als ein Maler mit der Kamera. Die Stadt
London und die Interieurs, die er in kühlen, verfremdeten Farben zeigt, sind das Abbild
einer gefrorenen, erstarrten Seelenlandschaft. Sein bevorzugter Kameramann Carlo di
Palma hat einmal mehr eine Meisterleistung vollbracht.
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Hans Gerhold
83 Danton
L'Affaire Danton/Sprawa Dantona (Frankreich/Polen/BRD 1982)
Regie: Andrzej Wajda. Buch: Jean-Claude Carrière, nach dem Stück "L'Affaire Danton”
von Stanislawa Przybyszewska. Kamera: Igor Luther. Musik: Jean Prodromides.
Darsteller: Gérard Depardieu, Wojciech Pszoniak, Patrice Chéreau, Angela Winkler,
Jacques Villeret. Länge: 131 Minuten. Vertrieb: (atlas film + av).
Ein Kapitel aus der Geschichte der Französischen Revolution: Im Jahre 4 des neuen
Kalenders hat Robespierre (Wojciech Pszoniak) ein Terrorregime errichtet, der Tod durch
die Erfindung des Herrn Guillotin ist an der Tagesordnung. Im November 1793 kommt
Danton (Gérard Depardieu), der Justizminister und Mitinitiator der Revolution, der sich von
dem Terror distanziert hatte, aus seinem Provinzrefugium Arcy-sur-Aube nach Paris
zurück – vom Jubel des Volkes begleitet und doch gezwungen, seine Kutsche beim
Eintritt in die Stadt einer Kontrolle unterziehen zu lassen.
Das folgende Zusammentreffen der beiden politischen Kontrahenten wird zum Zentrum
eines Films, der sich als Allegorie auf die Revolution, die ihre Kinder frißt, versteht. Das
geistige Duell zwischen Danton und Robespierre, zwischen dem barocken
Sinnenmenschen und dem zynischen Dogmatiker der permanenten Revolution, führt zu
Gegnerschaft, Machtkampf und Waffengewalt. Es eskaliert in der Verhaftung Dantons,
der dann in einem tumultartigen Gerichtsverfahren verurteilt wird und endet mit der
Guillotinierung Dantons und seiner Anhänger am 5. April 1794 auf dem Platz der
Revolution.
Nicht mehr vermerkt wird Robespierres eigenes Ende: Knapp drei Monate später, der
Triumph ist nur von kurzer Dauer, wird er gestürzt und Ende Juli 1794 hingerichtet. Wajda
konzentriert sich mit der Wahl dieses knappen halben Jahres auf die größten
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Revolutionswirren. Das “Comité du Salut Public” (der Wohlfahrtsausschuß), das für die
Innenpolitik zuständig ist und von Robespierre und seinen Anhängern, darunter der Maler
David und der Politiker St. Just geleitet wird, ist vom Revolutionsgericht und Staatspolizei
beherrscht. Totale Repression soll die Revolution aufrecht erhalten.
Robespierre erscheint in diesem Film dennoch nicht als von der Ideologie besessenes
Monster, sondern als von Zweifeln geplagter Revolutionstheoretiker, der zum
vermeintlichen Wohle aller als sturer Bürokrat eine Strategie äußerster Härte praktiziert.
Klein, verkniffen, steif und starr, ein verklemmt-bösartiger Demagoge, läßt er allgemeine
Prinzipien über individuelle Gefühlsregungen siegen. Robespierre ist der Technokrat der
Macht, der in seinen vergeblichen Versuchen, Jugendfreunde wie Camille Desmoulins vor
der Guillotine zu retten, als schwächlicher Melancholiker erscheint. Ihm gegenüber ist
Dépardieus Danton ein bacchantischer Volkstribun, ein Hedonist und lebenslustiger,
sinnenfroher Genußmensch, der Liebling des Volkes, der sich bemüht, den dogmatischen
Kurs Robespierres auszugleichen. Vor dem Tribunal spricht er heiser und kaum mehr
vernehmbar davon, daß das Volk nicht Blut, sondern Brot wolle, daß es in Frieden vor
äußeren und inneren Feinden leben müsse, daß es nur einen wirklich gefährlichen Feind
habe: die Regierung.
Neben dieser Schlüsselszene inszeniert Wajda im einzigen Zusammentreffen der
Kontrahenten in Dantons großbürgerlichem Salon ein Kabinettstück politischen Disputs.
Robespierre hockt wie ein lauernder Buddha, brütend über seinen Vorstellungen von
Legitimität, während ihn Danton, ganz körperlich und spontan, mit auserlesenen Weinen
und Saucen traktiert. Auch das eine Illustration der Gegensätze von lebenspraller
Demokratie und puritanischer Dogmatik.
Wajdas Sympathie gehört Danton, doch nicht uneingeschränkt, denn der wie Robespierre
seinem kategorischen Imperativ folgende Vertreter von Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit, der den Terror als Ausdruck von Verzweiflung deutet, ist andererseits ein
hochmütiger Held, der die realen politischen Machtverhältnisse verkennt. Immerhin sieht
er sich und Robespierre als Antipoden: “Wenn man uns trennt, fallen wir beide”, sagt er
und weist auf beider Ende voraus. Farbdramaturgisch ist Robespierres Welt in fahles,
kaltes Blau getaucht, Dantons in die der symbolträchtigen Farben der Trikolore. Dem
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Handeln der Mächtigen gegenübergestellt ist das Treiben des Volkes, Szenen, die von
David inspiriert erscheinen.
Als “Danton”, Wajdas erster nichtpolnischer Film, vorgestellt wurde, hat man ihn als
Schlüsselfilm der aktuellen Situation Polens gedeutet, was heute nicht mehr so ohne
weiteres verständlich ist. Jetzt sehen wir ihn eher als brillante Filmlektion in Geschichte, in
der dem Prozeß der Revolution der Prozeß gemacht wird, darin Georg Büchners Dramen
verwandt. Wajda, Jahrgang 1926, mit “Asche und Diamant” (1958) und “Der Mann aus
Marmor” (1976) als Meister des politischen Aktionsdramas ausgewiesen, der über Macht
und die Macht von Bildern reflektiert, wurde für den Film “Danton” mit dem “Prix Louis
Delluc” und dem “César” für die beste Regie ausgezeichnet.
Walter Schobert
84 Uliisses
(Bundesrepublik Deutschland 1982)
Regie: Werner Nekes. Buch: Werner Nekes, frei nach “Die Odyssee” von Homer,
“Ulysses” von James Joyce, “The Warp” von Neil Oram. Kamera: Bernd Upnmoor. Musik:
Anthony Moore. Darsteller: VA Wölfl, Tabea Bloomenschein (= Blumenschein), Russel
Derson, Shezad Abbas, Sarah Antil. Länge: 94 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Ein Avantgardefilm: der modernste Film wohl in unserer Serie der Meisterwerke, einer, der
beide Prädikate wahrlich verdient, ist er doch einer der schönsten, aufregendsten und
innovativsten Filme der letzten Jahre. “Uliisses” ragt aus dem narrativen Einerlei des
bundesdeutschen Films, der modern höchstens wegen seiner Inhalte, kaum jemals aber
wegen seiner Ästhetik gewesen ist, heraus – und ist doch nur die Summe all der vielen
aufregenden und innovativen Filme, die dieser Filmemacher in den letzten zwei
Jahrzehnten geschaffen hat.
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In dieser Zeit ist Werner Nekes herangereift zum einzigen deutschen Regisseur, der
wirklich neue Ausdrucksformen fand, ist zum Avantgardisten im Wortsinn geworden: Er ist
den anderen voraus, bildet die Vorhut. Er hat mit neuen Aufnahmetechniken
experimentiert, neue Erzählweisen ausprobiert. Sein großes Thema dabei war der Film
selbst – und die Erforschung des filmischen Sehens. Er versuchte, die Grundlagen und
Grenzen der Wahrnehmung auszuloten, grub dazu historische Entdeckungen aus,
entwickelte umfangreiche Versuchsreihen, um das Sehvermögen zu testen, dabei
manchmal konventionelle Sehgewohnheiten attackierend und die Zuschauer
provozierend.
Auch bei Nekes, dem inzwischen 44jährigen, hat sich das Wort vom Propheten und
seinem Heimatland bewahrheitet. Im Ausland rechnet es sich jedes Filmmuseum zur
Ehre, seine Filme zu besitzen, wird er, zusammen mit seiner Frau Dore O., zu den
wichtigsten deutschen Filmemachern gerechnet, die höchste Reputation genießen.
Hierzulande, wo auch die Filmkritik nur das herkömmliche Erzählkino wahrnimmt, ist sein
Name immer noch nur einem allzu kleinen Kreis Eingeweihter bekannt, von den Filmen
ganz zu schweigen. Er wird von der Kritik, den Medien und leider auch den Gremien, die
Filmförderungsgelder verteilen, in das Ghetto des Experimentalfilms geschoben.
Aber experimentell, sagt er in einer Mischung aus Stolz und Bitterkeit, seien an “Uliisses”
höchstens die 300 000 Mark gewesen, mit denen er auskommen mußte, eine lächerliche
Summe in einer Zeit, in der selbst ein bescheidener Anfängerfilm leicht mehr als eine
Million kostet. Das Wunderbare ist, daß man seinem Film die Entbehrungen nicht ansieht,
daß der überbordende Reichtum an Phantasie den Mangel an Geld vergessen läßt. Aber
Nekes wäre wohl der letzte, der leugnen würde, daß der Zwang, mit eigenem Geld und
auf eigenes Risiko zu arbeiten, nicht einschränken, einengen würde. Seit zwanzig Jahren
trotzt dieser Mann seine Filme den widrigen Umständen selbst ab, setzt er mit jedem Film
wieder seine Existenz aufs Spiel.
Wenn einer mit einem solchen Filmverständnis ein Buch verfilmt, dann hat er anderes im
Sinn als simple Literaturverfilmung. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Nekes auf Joyce
stoßen mußte, seinem Verwandten im Geiste: Was der mit der Literatur machte, tut Nekes
mit dem Film; das Verhältnis des James Joyce zur Sprache ist das gleiche wie jenes des
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Werner Nekes zu den Bildern. Bei Joyce ist die Literatur selbst das Thema, bei Nekes das
Kino und seine Ausdrucks-, auch seine Illusionsmöglichkeiten, sein Wesen: Bewegung
und Licht. Und wie Joyce benutzt auch Nekes, umfassend gebildet, neben eigenem viel
fremdes, vorgefundenes Material, arbeitet er mit Zitaten, Anspielungen, Verweisen.
Joyces Buch war ihm nicht einmal genug; er greift auch auf Homer zurück.
Aus dem Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom wird bei Nekes Uli, der Fotograf; er “is' es”.
Und wie jener vom Dichter, so unterscheidet sich dieser vom Filmemacher: Er macht ja
nur unbewegte Bilder. Molly ist nicht Sängerin, sondern Fotomodell. Dublin wird zum
Ruhrgebiet, dort lebt und arbeitet Uli (und Nekes zeigt uns seine Heimat in nie gesehenen
Bildern, als eine mythische Landschaft), und dort schreibt er sie, im Jahr 1980, mit Licht,
seine “Lichteratur”.
In achtzehn Episoden gegliedert entfaltet Nekes die neue, seine Version eines alten
Verhältnisses: das von Odysseus und Penelope, also von Leopold und Molly, von Uli und
Tabea. Doch der “Gegenstand dieser Odyssee ist die Bildersprache selbst, das
Sehenlernen und Sehenwollen”, formuliert Dietrich Kuhlbrodt, im Hauptberuf Staatsanwalt,
sonst aber Verteidiger des Avantgardefilms in unserem Land. Und so wird Nekes' Film zu
einer Entdeckungsreise, zurück in Filmgeschichte und noch weiter zur
Vorkinematographie, bei der man mit Tabea einen veritablen Star sehen, Groucho Marx
oder Marilyn begegnen kann, sich plötzlich in “Casablanca” befindet und die herrlichsten
Dinge vorgeführt bekommt, die jahrhundertealt sind oder ganz neu und vom Polyorama
panoptique bis zum Laserstrahl und dem Hologramm reichen.
“Uliisses” ist, auch, eine Anthologie der Filmgeschichte, ihrer Prinzipien und Erfindungen,
jener Wunderdinge, die, halb Kinderspielzeug, halb wissenschaftliches Gerät, den Film
erst ermöglicht haben. Sie dienen zusammen mit ganz modernen Entdeckungen oder
auch mit übernommenen Kunstaktionen (wie VA Wölfls “Lichtbrechen”) dazu, durch Optik
und Licht Gedanken visuell auf den Punkt zu bringen. Nekes braucht keine Geschichte,
um zu zeigen, daß die Beziehung zwischen zwei Menschen gestört ist. Er nimmt nur die
Kamera, stellt davor Mutter und Kind – und manipuliert dann den Entwicklungsprozeß des
belichteten Films. Er mischt Negativ und Positiv, Bildstörungen flackern, Fehlbelichtungen
werden sichtbar: Zwei Menschen sind Opfer von Entwicklungsstörungen.
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Oder: Nekes benutzt die wunderbare Erfindung des Professors Schulze, das
Phosphorpulver, um zu zeigen, wie sich Odysseus/Uli der lästigen Freier entledigt. Er hat
sie photographiert, betrachtet ihre Porträts in der Dunkelkammer. Er schüttelt die Bilder –
und geheimnisvollerweise, das Pulver macht es möglich, kommen sie ins Rutschen, fallen
sie zusammen, werden zu Staub. Auch so kann man, filmisch, Rivalen auslöschen.
“Uliisses” ist ein Film, der auf mehreren Ebenen funktioniert, gesehen werden kann: ein
Avantgardefilm, aber einer, der einfach Spaß macht und Vergnügen. Man kann ihn naiv
sehen oder als Vexierspiel oder als komplexes Kunstwerk. Der Zuschauer kann
Pfadfinder spielen und Beziehungen und Anspielungen suchen, den Verweisen
nachspüren, die Geräte, Spielzeuge, Erfindungen identifizieren. Je mehr man
wiederentdeckt, desto größer der Genuß. Hilfreich kann dabei das bei Walther König in
Köln erschienene Buch zum Film sein. Die Fans von Arno Schmidt haben weiland ein
Dechiffriersyndikat gegründet, um die Werke des Meisters auszuschöpfen; auch er ein
Jünger Joyces, ein Liebhaber gewaltiger Spaziergänge durch die Kulturgeschichte.
“Zettels Traum” und “Uliisses”, wer sie vergleicht, kommt zu verblüffenden Ergebnissen,
was Methoden, Selbstverständnis – und ihren Rang als Kunstwerke betrifft.
Wolfgang Schwarzer
85 Z
Z (Frankreich/Algerien 1968)
Regie: Costa-Gavras. Buch: Costa-Gavras, Jorge Semprún, nach dem Roman von
Vassill Vassilikos. Kamera: Raoul Coutard. Musik: Mikis Theodorakis. Darsteller: Yves
Montand, Irene Papas, Jean-Louis Trintignant. Länge: 130 Minuten. Vertrieb: (zur Zeit
nicht bekannt).
Ministerpräsident Karamanlis hat seit 1955 Griechenland konsolidiert und an die EG
herangeführt. Die politische Macht indes liegt außerhalb der Parlamentskontrolle beim
König und seinen Beratern, bei der Armee, ihrem von der CIA kontrollierten
Geheimdienst, bei Polizei, paramilitärischen Milizen und rechtsradikalen Geheimbünden.
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Illegale und scheinlegale Praktiken dominieren, Wahlkampfmanipulationen verfälschen
demokratische Willensbildung.
Am 22. Mai 1963 präsidiert in Saloniki Gregorios Lambrakis, Professor der Medizin an der
Athener Universität, Sportidol der Jugend und Abgeordneter der “Union der
Linksdemokraten”, bei einer Versammlung der “Freunde des Friedens”, um gegen die
Aufstellung von Polarisraketen in Griechenland zu protestieren. Lambrakis gilt zu diesem
Zeitpunkt als ernsthafte Gefahr für die konservative Regierung und das Königshaus vor
den anstehenden Wahlen.
Beim Verlassen dieser Veranstaltung wird er von einem Lieferwagen angefahren. Drei
Tage später stirbt er im Krankenhaus. Die Autopsie belegt zweifelsfrei den Tatbestand
des Mordes: Lambrakis' Schädelverletzung war nicht durch den Sturz, sondern durch ein
kräftiges Schlaginstrument herbeigeführt worden. Da die Affäre erhebliches Aufsehen
erregt, gelingt es den Militärs nicht, die Version eines “bedauernswerten Unfalls” aufrecht
zu erhalten, zumal der Fahrer des Wagens und sein Komplize als Mitglieder eines
rechtsradikalen Geheimbundes identifiziert werden konnten. Georgios Papandreou,
Führer der Opposition, fordert Präsident Karamanlis auf, die “moralische Verantwortung”
für den Vorfall zu tragen.
Am 25. Mai 1963 beordert die Regierung einen jungen und unerfahrenen
Untersuchungsrichter zur Aufklärung des Falles: Christos Sartsetakis, später (seit März
1985) selbst Staatspräsident. Der Sohn eines Gendarmerie-Offiziers ermittelt hartnäckig
und objektiv, trotz Androhung von Sanktionen und anderer Einschüchterungsversuche
von vorgesetzten Institutionen. Er trägt Belege für ein minutiös vorbereitetes
Mordkomplott unter Beteiligung hoher Militärs zusammen. Noch in dieser Phase werden
Zeugen massiv bedroht und eingeschüchtert.
Der Fall Lambrakis beschleunigt den Sturz der Regierung Karamanlis am 11. Juni 1963.
Die Opposition der liberalen und sozialdemokratischen Zentrumsunion unter dem
Sozialisten Andreas Papandreou erringt bei Wahlen in der Folge die absolute Mehrheit.
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Die Verantwortlichen der Mordaffäre werden angeklagt und erhalten vergleichsweise
milde Strafen. Nach dem Militärputsch vom 21.4.1967 werden fünf beurlaubte Generale
umgehend rehabilitiert und wieder in ihre Ämter eingesetzt. Als Kriminelle werden nun
diejenigen verfolgt, die, wie Sartsetakis und der Journalist Romeos, die Aufklärung des
Falles Lambrakis betrieben hatten. Während der kurzen Ära Papandreou erhält der Jurist
und Schriftsteller Vassilis Vassilikos Gelegenheit, die Gerichtsakten der Affäre zu
studieren, auf deren Grundlage er den Roman “Z” verfaßt. Constantin Costa-Gavras,
Jahrgang 1933, in Frankreich lebender Grieche, entschließt sich nach der Lektüre
spontan, den Roman auf die Leinwand zu übertragen. Ihn fasziniert über die persönliche
Betroffenheit hinaus die Anatomie eines politischen Mordes, dessen Fakten und
Mechanismen in der Realität greifbar vorgegeben sind.
Das Drehbuch verfaßt Jorge Semprún, geboren 1923 in Madrid, Exilspanier, Mitglied der
französischen Resistance, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und bis
1964 einer der führenden Köpfe der im Untergrund arbeitenden Kommunistischen Partei
Spaniens. Semprún hatte 1964 das Drehbuch zu Resnais' Film “Der Krieg ist vorbei”
geschrieben, der dem französischen Kino neue politische Dimensionen eröffnete.
Der Autor konzentriert die dreieinhalb Jahre andauernde Affäre auf vier
Handlungsebenen: die Vorbereitung der Kundgebung des Abgeordneten Lambrakis und
dessen Ermordung, Planung und Verschleierung des Attentates durch die Obristen,
Aufklärung des Falles durch den Staatsanwalt und den Journalisten sowie schließlich die
Konsequenzen der Wahrheitsfindung im Wechsel der politischen Regime. Hält sich die
Handlung streng an die Realität, so bleiben Namen und Orte anonym. Die Wirklichkeit
gewinnt modellhafte Dimensionen.
Das Projekt droht an der Verweigerung der französischen und amerikanischen
Produzenten zu scheitern: Es sei zu politisch und zu wenig kommerziell.
Der Schauspieler Jacques Perrin ermöglicht die Realisierung, indem er selbst eine
Produktionsfirma gründet und die algerische Filmindustrie interessieren kann. Die
Dreharbeiten beginnen im Sommer 1968 in Algier. In den Hauptrollen erscheinen Stars
des französischen Kinos, an erster Stelle Yves Montand, der als Sohn italienischer
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Emigranten seit 1949 durch linksgerichtete politische Aktionen das Image aufrechter
Widerstandshaltung erworben hatte, ein gewisses Charisma, das er in seine Rolle
einbringt.
“Z” erweist sich als überragender Publikumserfolg und gewinnt Preise in Cannes und in
den USA. Costa-Gavras hatte nach Jahrzehnten unverbindlicher Kinounterhaltung exakt
den Nerv eines unruhig gewordenen, nach Information verlangenden Publikums getroffen.
Sein Verfahren, etablierte Formen des Erzählkinos und eingeschliffene Sehgewohnheiten
mit politisch relevanten Inhalten zu fällen, begründet ein neues Genre: den Polit-Thriller.
Umstritten bleibt Costa-Gavras' Verfahren allemal. Partisanen des militanten politischen
Kinos werfen ihm Verflachung, mangelnde Analyse und Starkult vor. Der Regisseur
hingegen hält es für einen Erfolg, beim großen Publikum innerhalb des kommerziellen
Verleihsystems Nachdenklichkeit und Mißtrauen den zu glatten Bildern der
staatstragenden Kommunikationsmittel gegenüber zu wecken. Mit “Das Geständnis”
(1969), “Der unsichtbare Aufstand” (1972) und “Missing” (1982) führt er das in “Z” erprobte
Verfahren konsequent fort. Seine Anklage richtet sich gegen totalitäre Staatsformen und
Unterdrückungsmechanismen, seien sie faschistisch oder stalinistisch orientiert. Bei aller
berechtigten Kritik dem Konzept gegenüber zeigt die Wirkungsgeschichte, daß Costa
Gavras' Filme als “Kino gegen die Intoleranz” einen unbestreitbar hohen Stellenwert
besitzen.
Meinolf Zurhorst
86 Gloria
Gloria (USA 1980)
Buch und Regie: John Cassavetes. Kamera: Fred Schuler. Musik: Bill Conti. Darsteller:
Gena Rowlands, John Adames, Buck Henry, Julie Carmen. Länge: 123 Minuten.
Vertrieb: RCA/Columbia.
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New York. Seine unverwechselbare Skyline. Nervöse Free-Jazz-Klänge untermalen die
Aufnahmen aus einem Hubschrauber. Manhattan, das in der Nacht brodelnde YankeeStadium, der Hudson River, die illuminierte Freiheitsstatue. Dann ein harter Schnitt, und
die Kamera ist im Straßengewühl, folgt einer jungen Frau aus dem Bus, sieht sie stolpern
und ihre Einkäufe verstreuen, folgt ihr weiter in ein Mietshaus, wo sie von einem
verrückten Schwarzen bedroht wird, und endet schließlich in ihrer Wohnung, in der sich in
Kürze ein Massaker ereignet. Diese auch stilistisch brillante Exposition, bei der Schnitt
und Kamera in ihrer fahrigen, gehetzten Bewegtheit sich nie um die konventionellen
Muster der Filmsprache kümmern, bei der sich durch zahlreiche Details eine Atmosphäre
der Bedrohung fast zwangsläufig einstellt, macht es überflüssig zu zeigen, was wenig
später passiert und Anlaß ist für die eigentliche Geschichte des Films.
Mafia-Gangster liquidieren einen ihrer Buchhalter, weil der mit dem FBI
zusammengearbeitet hat. Wichtiger aber als die Bestrafung ist ihnen ein kleines Buch, in
dem der penible Buchhalter die illegalen Transaktionen festhielt. Kurz vor seinem Tod
hatte der Mann seinen sechsjährigen Sohn Phil (John Adames) zu Gloria (Gena
Rowlands), der Nachbarin, geschickt. Die mag zwar keine Kinder, doch sie weiß, was
Phils Eltern widerfährt. Gloria kennt die Killer, sie war früher die Geliebte eines Gangsters.
Ihr gelingt es, mit Phil aus dem Haus zu entkommen. Dabei wird sie fotografiert; die
Gangster heften sich auf ihre Spur.
Schon bald sieht sich Gloria von ihren Verfolgern eingeholt. Die wollen das Buch und den
Jungen, aber sie haben ihre Rechnung ohne Gloria gemacht. Unvermittelt hat sie einen
Revolver in der Hand und schießt.
Nun ist auch sie die Gejagte, vogelfrei, denn sie hat sich gegen das System gewandt.
Taxis, Busse, Untergrundbahnen, Hotels sind die wechselnden Aufenthaltsorte des
ungleichen Pärchens. Gloria, die den Jungen anfangs so schnell wie möglich loswerden
wollte, muß erkennen, daß sie Muttergefühle entwickelt hat. Wie eine Löwin kämpft sie
von nun an um Phil. Sie schießt um sich, entwaffnet eine ganze Gang und erkämpft sich
die Zuneigung des Jungen. Schließlich aber ist Gloria bereit, der Mafia das Buch
auszuhändigen. Doch die will auch den Jungen. Wieder fallen Schüsse.
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Neben dieser aktionsreichen Geschichte inszenierte der Regisseur John Cassavetes,
zugleich auch der Drehbuchautor, die romantische, psychologisch einfühlsame Chronik
einer ungewöhnlichen Beziehung. Schritt für Schritt entwickelt sich zwischen Gloria und
Phil mehr als ein Mutter-Kind-Verhältnis. Fast schon werden sie zu Partnern, verdienen
sie sich den gegenseitigen Respekt. Es ist eine Entwicklung, die sich nicht mehr in den
Grenzen der Wahrscheinlichkeit abspielt, bestimmt durch die hektischen Bewegungen
von Flucht und Verfolgung. Aber darunter leidet die Glaubwürdigkeit nicht. Cassavetes
erhebt keinen realistischen Anspruch, sein Film ist die Inszenierung einer Atmosphäre,
eines permanenten Gefühls der Orientierungslosigkeit und Unsicherheit der
Protagonisten. Schauplätze wie Personen erscheinen nur in Ausschnitten, bleiben
schemenhaft wie die Handlung, die nur vordergründig den Gesetzen des Genres
gehorcht.
“Gloria” war der zehnte Film von John Cassavetes, dem breiteren Publikum eher als
Schauspieler (unter anderem in “Tod eines Killers”, “Das dreckige Dutzend” und
“Rosemarie's Baby”) bekannt, und seit seinem Desaster mit einer großen
Produktionsfirma wieder der erste, der unter konventionellen, kommerziellen Bedingungen
entstand. Mit seinem Regiedebüt “Shadows” gab Cassavetes 1959 den Anstoß zum
unabhängigen amerikanischen Film. Er hatte den Beweis geliefert, daß es möglich war,
ohne den Rückhalt eines großen Studios für wenig Geld einen Film zu drehen und sich
dabei künstlerischen Freiraum zu schaffen.
In der Folge drehte Cassavetes mit seinen Schauspielerfreunden Peter Falk und Ben
Gazzara, mit seiner Frau Gena Rowlands, zahlreichen Familienangehörigen und einem
festen Team eine Reihe von improvisiert wirkenden Filmen, die auf zahlreichen
europäischen Festivals preisgekrönt, in den USA aber kaum wahrgenommen wurden.
Nachdem er 1961 und 1962 mit den beiden von Paramount produzierten Filmen “Too Late
Blues” und “A Child Is Waiting” kommerziellen und vor allem künstlerischen Schiffbruch
erlitten hatte, verließ sich Cassavetes auf eine völlig unabhängige Produktionsweise. Das
nötige Geld verdiente er sich als Schauspieler.
In Filmen wie “Husbands” (Ehemänner; 1971), “The Killing of a Chinese Bookie” (Mord an
einem chinesischen Buchmacher; 1975) und vor allem “A Woman Under Influence” (Eine
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Frau unter Einfluß; 1974) festigte Cassavetes seinen Ruf als Amerikas ungewöhnlichster
und kreativster Filmemacher der siebziger Jahre. Ihm gelang es, die Unsicherheiten und
Umwälzungen der Zeit auf eine aufregend authentische Weise festzuhalten, in einer
filmischen Sprache, die mit ihrem Gegenstand kongenial korrespondiert. Star aller Filme
war seine Ehefrau Gena Rowlands, deren bravouröse schauspielerische Leistungen sie
zu einer der bedeutendsten Charakter-Darstellerinnen des amerikanischen Kinos
machten. Auch in “Gloria” ist sie Angelpunkt des Geschehens, das sich manchmal nur in
ihrer Mimik abspielt.
Ursprünglich wollte Cassavetes “Gloria” gar nicht selbst inszenieren. Er hatte das
Drehbuch Columbia angeboten, deren Produzenten begeistert waren und ihm auch noch
die Regie übertrugen. Bis heute schätzt Cassavetes, völlig zu Unrecht, seinen eigentlich
als konventionellen Action-Thriller konzipierten Film als belanglos ein, abgesehen von der
überragenden Präsenz seiner Frau. 1983 drehte John Cassavetes (als Regisseur und
Hauptdarsteller) für die Cannon Group den Film “Love Streams”, 1984 in Berlin mit dem
Goldenen Bären ausgezeichnet, die verwirrende Geschichte einer Geschwisterliebe. Mit
“Big Trouble” (Sterben ... und leben lassen), 1984 von Columbia produziert, inszenierte er
erstmals eine turbulente Komödie. Beide Filme wurden Flops an der Kinokasse und
zeigten einen Filmemacher, der sich am Ende im Netz des kommerziellen Studio-Films
wiederfand. Cassavetes' persönliche Handschrift war immer noch zu erkennen, hatte aber
ihre faszinierende Sperrigkeit verloren.
Günter Lebailly
87 Die roten Schuhe
The Red Shoes (Großbritannien 1948)
Regie: Michael Powell und Emeric Pressburger. Kamera: Jack Cardiff. Ausstattung:
Hein Heckroth. Musik: Brian Easdale (Die Musik des Balletts "Die Roten Schuhe”,
gespielt vom Royal Philharnionic Orchestra unter Leitung von Sir Thomas Beecham).
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Darsteller: Anton Walbrook (Adolf Wohlbrück), Marius Goring, Moira Shearer, Leonide
Massine, Albert Bassermann, Brian Esmond, Ludmilla Tscherina, Robert Helpman, Marie
Rambert. Länge: 128 Minuten. Vertrieb: VPS.
Premiere des neuen Balletts “Das brennende Herz”. Es tanzt das Ballett Lermontov. Die
Aufführung wird von Julian Craster, einem jungen Musiker, und von Viktoria Paige, einem
jungen Mädchen der Gesellschaft besucht, das als Tänzerin ausgebildet ist. im Anschluß
an die Aufführung begegnen beide dem Ballett-Impresario Boris Lermontov und werden
von ihm engagiert. Es dauert noch eine Weile, bis sie sich durch die gemeinsame Arbeit
an dem neuen Ballett “Die roten Schuhe” näher kennenlernen. Julian schreibt die Musik,
Viktoria tanzt die Hauptrolle. Das Ballett erzählt nach dem gleichnamigen Märchen von
Hans Christian Andersen die Geschichte eines Mädchens, das sich ein Paar rote Schuhe
wünscht, um darin zu tanzen. Als der Tanz vorüber ist, kann es die Schuhe nicht
ausziehen, sondern muß darin weitertanzen bis zum Tod.
Julian und Viktoria verlieben sich ineinander. Da jedoch Lermontov keine persönlichen
Eskapaden duldet, entläßt er beide aus seiner Truppe. Sie heiraten; Julian arbeitet an
einer Oper. Während der Vorbereitungen zur Aufführung in London fährt Viktoria in Urlaub
nach Monte Carlo, wo Lermontovs Ballett gastiert. Er kann sie überreden, wieder bei ihm
aufzutreten. Am Tag der Uraufführung von Julians Oper soll Viktoria wieder “Die roten
Schuhe” tanzen. Julian läßt seine Aufführung im Stich, reist seiner Frau nach und stellt sie
vor die Wahl, sich entweder für ihn oder für den Tanz zu entscheiden. Es scheint, daß der
Tanz siegen wird; Julian sagt sich von ihr los. Viktoria läuft ihm nach und wirft sich vor den
Zug, mit dem er abfahren will. Während noch einmal “Die roten Schuhe” gezeigt werden –
ohne Ballerina, bittet die sterbende Viktoria Julian, ihr die Ballettschuhe auszuziehen.
Es ist erstaunlich, wie wenig Patina der Film angesetzt hat. Natürlich, die Geschichte hat
ihre herzzerreißende Wirkung verloren. Zu oft haben wir inzwischen den Konflikt zwischen
künstlerischer (beruflicher) Karriere und privatem Glück in allen möglichen Varianten, bald
mit, bald ohne Happy End gesehen. Dafür tritt die Kunstfertigkeit stärker hervor, mit der
die Geschichte erzählt ist.
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Der erste Teil des Films zeigt in kurzen, prägnanten Szenen den Aufstieg von Vickie und
Julian in der Truppe Lermontovs und das Entstehen ihres neuen Balletts. Ohne daß
besonderer Nachdruck darauf gelegt wird, aber vielleicht gerade deshalb um so
eindringlicher, macht der Film dem Zuschauer deutlich, daß ein Bühnenwerk eine
kollektive Arbeit ist, an der viele Einzelne beteiligt sind.
In der Mitte des Films steht das fertige Ballett. Die fast zwanzigminütige Sequenz beginnt
als gefilmte Bühnenaufführung, weitet sich aber bald zu einem selbständigen Filmballett,
spielt mit den Möglichkeiten von Stoptrick, Mehrfachbelichtung, Zeitlupe und schiebt eine
Passage ein, in der das subjektive Empfinden der Tänzerin gespiegelt wird. Sie
verwandelt sich im Tanz in einen Vogel, eine Blume, eine Wolke – davon hatten Julian
und Vickie in einer vorhergehenden Szene gesprochen; als ihr Widersacher auf der
Bühne erscheinen ihr nacheinander Julian und Lermontov. Der dritte Teil enthält die
Romanze zwischen Vickie und Julian und vor allem Lermontovs Reaktionen darauf. Der
Schluß mit der Auseinandersetzung zwischen den drei Hauptpersonen ist nach der eher
lockeren Szenenfolge des ersten Teils dramatisch stark zugespitzt.
Natürlich wird das tödliche Ende im Märchen vorweggenommen. Und daß dieser Film
nach einem Märchen von Hans Christian Andersen entstand, betont er sowohl im
Vorspann als auch durch die Schlußvignette der herabgebrannten Kerze auf dem Buch,
dessen Rücken den Namen des dänischen Märchendichters trägt. Dennoch ist der Schluß
eben nicht “wie im Märchen”, das ja nicht unbedingt gut ausgehen muß, sondern “wie im
Melodram”. Glücklicherweise verzichtet der Film auf alle Requisiten und Effekte dieses
Genres.
Was seinen besonderen Reiz ausmacht, ist die optische Gestaltung: die eleganten
Innenräume, aber auch die attraktive Schäbigkeit hinter der Bühne, die Schönheit der
Mittelmeerlandschaft und vor allem die phantastische Ausstattung der Ballettsequenzen.
Für die Fülle der Details und die Delikatesse der farblichen Gestaltung wurde Hein
Heckroth mit einem “Oscar” ausgezeichnet.
“Die roten Schuhe” ist einer der wenigen Ballettfilme, die Tanzsequenzen nicht als
unterhaltsame Einlagen verwenden, sondern sie als konstituierende Teile in die Handlung
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integrieren. Der Film ist aber auch ein Ballettdokument von seltsam schillerndem Reiz. Er
zeigt dem Betrachter Beispiele für den Tanzstil der 40er und 50er Jahre.
Die Gestalt des Boris Lermontov (von Adolf Wohlbrück mit eisigem Charme und
hintergründiger Dämonie gespielt) ist ganz sicher nach dem Vorbild des großen Sergej
Diaghilev erfunden, dem bedeutendsten Ballett-Impresario unseres Jahrhunderts. Darauf
weisen nicht nur die Orte London, Paris und Monte Carlo hin, wo auch Diaghilev mit
seinem Ballets Russes künstlerische Standquartiere hatte. Die Tänzer im Film tragen
durchweg russische Namen; die Anwesenheit von Leonid Massine stellt eine unmittelbare
Verbindung zu Diaghilev her. Eine Hommage an Massines Schaffen für Diaghilev sind
Zitate aus “Der Dreispitz” und “Der Zauberladen”.
Dem englischen Ballett, das in den 30er Jahren seinen Aufstieg begann, wird gehuldigt
durch das kurze Auftreten von Marie Rambert, einer der Gründerinnen der englischen
Ballett-Tradition; dazu durch Robert Helpman (im Film Viktorias Tanz-Partner), einen der
bedeutenden Tänzer und Choreographen des jungen englischen Balletts; und natürlich
durch Moira Shearer, die am Anfang ihrer Ballerinen-Karriere die Rolle der Viktoria
bezaubernd spielt und tanzt. Für die deutschen Theaterfreunde beachtenswert ist die
anrührende väterliche Gestalt des Bühnenbildners Ratov, gespielt von Albert Bassermann
in einer seiner letzten Rollen.
Die beiden englischen Produzenten und Regisseure Michael Powell und Emeric
Pressburger haben versucht, den großen Erfolg ihres Films “Die roten Schuhe” mit dem
gleichen Team einige Jahre später durch Jacques Offenbachs Oper “Hoffmanns
Erzählungen” zu übertreffen. Aber trotz der phantastischen Ausstattung von Hein
Heckroth erwies sich dieser Film als Fehlschlag. Er war in seiner Mischung wohl doch zu
künstlich und fand weder bei den Opern- noch bei den Ballettfreunden rechten Anklang.
Vielleicht ist es gerade die Mischung von märchenhafter Realität und phantastischer
Künstlichkeit, die “Die roten Schuhe” aus allen vergleichbaren Filmen heraushebt und zum
unwiederholbaren Ereignis macht.
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Walter Schobert
88 Berlin. Die Sinfonie der Großstadt
(Deutschland 1927)
Regie: Walter Ruttmann. Kamera: Karl Freund, Reimar Kuntze, Robert Baberske, Lászlo
Schäffer. Musik: Edmund Meisel. Länge: 65 Minuten. Vertrieb: Inter Pathé.
Das Mißverständnis begann gleich nach der Premiere – und es dauert bis heute an, dafür
sorgend, daß Ruttmanns Film höchstes Lob ebenso auf sich versammelt wie heftigste
Kritik. Es war sein erster abendfüllender Film, der am 23. September 1927 im
Tauentzienpalast uraufgeführt wurde, und alles deutete auf einen neuen Triumph des
Schöpfers avantgardistischer Kurz- und kommerzieller Werbefilme hin.
Bis dahin hatte Ruttmann nur mit gemalten
und gezeichneten Bildern gearbeitet. Im
neuen Film verwendete er, wie er es
nannte, “lebendes Material”, also reale
Aufnahmen, die er, unterstützt von einem
großen Stab, in Berlin machen ließ. Die
amerikanische Fox finanzierte, als
Produzent (und Chefkameramann) fungierte
der große Karl Freund. Der Komponist
Edmund Meisel, der kurz vorher für die
deutsche Erstaufführung eine vom
Regisseur autorisierte Musik zu Eisensteins
“Panzerkreuzer Potemkin” geschrieben
hatte, zeichnete für die “sinfonische Musik”
verantwortlich (sie ist nicht identisch mit der
auf der Kassette!). Das Orchester war mit
75 Mann besetzt, der Komponist stand am
Pult.
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Das Publikum war begeistert, der Jubel groß, auch die Kritik überschlug sich; nur wenige
skeptische, ablehnende Stimmen wurden laut – und sie begründeten ihre Verrisse mit den
gleichen Argumenten, die Ruttmanns Anhängern als Gründe für ihre Hymnen dienten.
Ruttmann hatte, so der allgemeine Tenor, sich etwas Gewaltiges vorgenommen: ein
Portrait der Stadt, in der er (und seine Premierenzuschauer) lebten; er hatte versucht, die
Dynamik, den Schwung, den Rhythmus, den Rausch dieser Stadt einzufangen, ihr ein
Denkmal zu setzen, sie als Inbegriff der modernen Großstadt zu feiern. Die hingerissenen
Berliner sahen in seiner “Sinfonie” ihr Bild von ihrer Stadt, fanden, daß ihr Lebensgefühl
vollkommen ausgedrückt war.
Seitdem gilt Ruttmanns Arbeit als Dokumentarfilm über Berlin schlechthin. In schöner
Regelmäßigkeit kommt er bei Umfragen nach den besten Werken der Gattung auf einen
der ersten Plätze. John Grierson, dem großen englischen Dokumentaristen und Autor
eines Standardwerkes, gilt er als Meisterwerk. Ruttmann fand Nachfolger, Städtefilme in
seiner Manier wurden Mode; Legionen von “Querschnittfilmen” und Städte-Sinfonien
folgten. “Berlin” gilt den Kunsthistorikern als Meilenstein der “Neuen Sachlichkeit”.
Auch seinen Gegnern gilt er als Dokumentarfilm. Und sie fanden ja genug Anhaltspunkte:
Beginnt er nicht mit Bildern eines nach Berlin fahrenden und im Morgengrauen dort
ankommenden Zuges? Hat der Regisseur seine Sequenzen nicht so angeordnet, daß sie
den Ablauf eines Tages wiedergeben, beginnend mit dem Erwachen der Stadt, dem
Szenen aus der Welt der Arbeit folgen, die von der Mittagspause unterbrochen werden?
Dann folgen der Nachmittag, die hektischen Vergnügungen der Freizeit, ehe der Film mit
mitternächtlichen Szenen endet.
Hätte nicht der Krieg dafür gesorgt, daß diese Bilder das einzige sind, was nach den
Bomben von diesem Berlin übrig geblieben ist und daß viele diesen Film mit den gleichen
sentimentalen Gefühlen sehen, mit denen sie in einem Bändchen mit alten Ansichtskarten
blättern – die Beliebigkeit, die Austauschbarkeit, die Oberflächlichkeit dieser Bilder wäre
offensichtlicher. Man nehme nur die Passagen, die sich mit “der” Arbeit beschäftigen,
oder, eindeutiger noch, die Zusammenstellung der Essensequenz: Impressionen von
Luxuslokalen werden gemischt mit Aufnahmen von Stehimbissen, einer armen Frau mit
ihren zwei aggressiv-zärtlichen Kindern. Auch säugende Kamele dürfen nicht fehlen. Und
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so ist der ganze Film: Er reiht Szene an Szene, läßt sich auf Assoziationen ein, montiert
optisch Verwandtes aneinander. Scharf formuliert: Er läßt sich von der puren Oberfläche
faszinieren.
So gesehen, kann man Kracauer nur recht geben, der als erster heftig protestierte, dem
Film zwar glänzende Bildeinfälle attestierte, sich aber entschieden verwahrte gegen diese
Art, eine Stadt zu porträtieren. Er (und nach ihm Generationen von Filmhistorikern seiner
Schule) wurde nicht müde, Ruttmann zu beschimpfen, ihn des Leichtsinns und der
Gedankenlosigkeit zu zeihen, der politischen Blindheit und Verharmlosung zu
beschuldigen und ihn haftbar zu machen für einen inhaltslosen und nur am formalen
Glanz interessierten Dokumentarismus, dessen schlimmste Verkörperung Leni
Riefenstahl ist.
Leider hat Ruttmanns spätere Biografie den Gegnern (teilweise) recht gegeben: Was die
Riefenstahl konnte, lernte sie von ihm, der auch am Parteitagsfilm anfangs mitarbeitete,
ehe er sich (aus unbekannten Gründen) zurückzog; der nicht emigrierte, sondern in
Deutschland blieb und seinen Namen hergab für so schlimme Machwerke wie “Deutsche
Panzer”, einen der bösesten Propagandafilme der Nazis – eine sehr deutsche
Filmkarriere, typisch, aber auch rätselhaft, galt Ruttmann doch noch in den Zwanzigern
als “links”.
Aber auch ohne solche Beurteilung aus dem Rückblick kann man, muß man Kracauer
folgen: als Dokumentarfilm gesehen ist Ruttmanns Film mißlungen. Das Problem ist nur:
Es ist gar kein Dokumentarfilm.
Schon die Zeitgenossen hätten sehen können, daß Ruttmann ganz anderes im Sinne
hatte. Wie anders wäre die zornige Enttäuschung Carl Mayers zu verstehen, der,
wahrscheinlich im Gefolge des Bauhäuslers Moholy-Nagy (der schon 1921 einen
ähnlichen Entwurf publiziert hatte) das Exposé zu einem Städtefilm verfaßte und seinen
Namen zurückzog, als er sah, worauf Ruttmann hinauswollte? Und hatte nicht schon die
Eingangssequenz gezeigt, daß Ruttmann, der Avantgardist, der Erfinder des absoluten
Films, sich treu bleiben wollte? Da sieht man Wellen, Wasseroberfläche. Plötzlich Bilder,
die abstrakt sind, konstruktivistisch anmuten. Die Streifen werden übergeblendet in
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Telegrafendrähte. Zwei zuklappende schwarze Balken finden ihr optisches Pendant in
einer sich schließenden Schranke: Das sind direkte Zitate aus Ruttmanns 1925
fertiggestelltem “Opus IV”, und sie dokumentieren seine Absicht, abstrakte
Bewegungsstudien fortzusetzen, diesmal mit Realfotografien, mit Bildern aus der
Wirklichkeit.
Nicht auf deren Inhalte kommt es Ruttmann an, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern
auf die ihnen innewohnenden Bewegungsabläufe. Aus ihnen schafft er seine visuelle
Sinfonie. Die Bilder Berlins sind ihm nur Material, der Ablauf des Tages gibt ihm die
Struktur und verhilft ihm zu seinen temporeichen Etüden, zum Spiel mit Geschwindigkeit
und Langsamkeit, mit dem sensibel und abwechslungsreich variierten Rhythmus.
Der ehemalige Musiker Ruttmann, wohlvertraut mit den Gesetzen der Musik und sichtlich
animiert von der Begegnung mit dem die Filmästhetik revolutionierenden “Potemkin”, ist in
seinem Element: Er experimentiert; Versuchsfeld ist eben nicht Berlin, sondern: die
Filmmontage.
Wie seine “Opus”-Filme Versuche waren, die Theaterhaftigkeit zu überwinden, dem Film
zum Bewußtsein der ihm eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu verhelfen, des Lichts, der
Formen, der Farbe und vor allem und immer wieder: der Bewegung, so ist “Berlin” ein
radikales Stück, das die Möglichkeiten der Montage ausprobiert. Ruttmann hat damit dem
deutschen Kino, zu dessen kreativsten und potentesten Künstlern er gehört, die
Möglichkeiten des neuen Ausdrucksmittels vordekliniert.
Thomas Brandlmeier
89 Der kleine Cäsar
Little Caesar (USA 1930)
Regie: Mervyn Le Roy. Buch: Francis Faragoh, nach dem Roman von W. R. Burnett.
Kamera: Tony Gaudio. Musik: Leo Forbstein. Darsteller: Edward G. Robinson, Sidney
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Blackmer, Glenda Farrell, Ralph Ince, Douglas Fairbanks jr. Länge: 76 Minuten. Vertrieb:
Warner Home Video.
Zusammen mit “Scarface” (Howard Hawks/1932) und “Public Enemy” (William
Wellman/1931) begründete “Little Caesar” (Mervyn Le Roy/1930) einen neuen und bis
heute klassischen Typus des Gangsterfilms: die Geschichte von Aufstieg und Fall (“rise
and fall”) eines monomanen und egozentrischen Gangsters. Das plötzliche Erscheinen
einer Gangsterkarriere als Negativbild der klassischen success-story hat besondere
historische Gründe.
Die Ära der Prohibition in den USA (1920 bis 1934) hatte der Unterwelt ein
Wirtschaftsimperium aus Schwarzbrennereien, Schmugglerflotten, Transportunternehmen
und Flüsterkneipen in die Hände gespielt. Surplusprofite, kombiniert mit anderen illegalen
Geschäften, brachten die ganze Nation ans Gängelband der Unterwelt. Nicht nur ein Heer
biederer Bürger, auch Politiker und Polizisten standen auf den Lohnlisten der Syndikate,
und wenn der Konkurrenzkampf um die Märkte nicht immer wieder in blutigen
Bandenkriegen ausgetragen worden wäre, hätte niemand ernsthaft Anstoß an derart
verständnisinniger Korruption genommen. In der Wirtschaftskrise erwies sich der
Alkoholmarkt als relativ krisensichere Branche und ließ die Macht der Syndikate nochmals
sprunghaft anwachsen.
Die schweren Erschütterungen der Depression brachten für den frühen theaterhaften
Tonfilm richtungweisende Innovationen. Auch in diesem Kontext muß man “Little Caesar”
sehen: ein Film mit pointierten Dialogen, zügigem Schnitt und neuen, gewagten Themen.
Mervyn Le Roy war ein Regisseur am Anfang einer Karriere, der immer wieder Vorlieben
für rasant inszenierte und sozialkritische heiße Themen zeigt. Die Wahl des ebenfalls
noch wenig bekannten Edward G. Robinson für die Rolle des größenwahnsinnigen
kleinen Caesar erwies sich als seltener Glücksfall.
Wäre “Little Caesar” ein ›realistischer‹ Zeitfilm, müßte er von korrupten Anwälten,
Politikern, Polizisten und dem Management der Syndikate handeln, wo Männern wie dem
kleinen Caesar – was der Film gelegentlich andeutet – nur die Rolle des austauschbaren
Offiziers einer Privatarmee zukommt. Aber Hollywood hat aus dem Stoff einen
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amerikanischen Mythos gemacht: die anachronistische Figur des Einzelgängers mit
hohem Identifikationswert. Robert Warshow schreibt in seinem berühmten Essay über
den “Amerikanischen Mythos” von 1954: “Die zwei erfolgreichsten Schöpfungen des
amerikanischen Films sind die Gangster und der Westerner – beides Männer mit
Pistolen ... (Der Westerner) ähnelt dem Gangster, weil auch er einsam und bis zu einem
gewissen Grade schwermütig ist ... Der Gangster muß andere entweder heftig abstoßen
oder ebenso heftig anziehen; der Westerner ist nicht auf diese Weise gezwungen, Liebe
zu suchen. ”
Der Gangster ist der einsame tough guy, den der Kampf um Erfolg korrumpiert und die
Großstadt neurotisch gemacht hat. Edward G. Robinson erscheint als der klare Held des
Films: Der kleine Mann von der Straße, der beschließt, seine Machtphantasien
auszuleben. Sein Gegenspieler von der Polizei, der als moralischer Zeigefinger der
Zensur an jeder wichtigen Stufenleiter von Klein-Caesars Erfolg auftaucht und zum Schluß
triumphieren darf, ist daneben nur eine blasse Figur. Aber die Moral (crime doesn't pay)
glaubt sowieso niemand, und darum geht es auch gar nicht. Gangsterfilme sind
Männerfilme. Die eigentliche Liebesgeschichte findet immer zwischen Männern statt.
Edward G. Robinson liebt Douglas Fairbanks jr., und daß ihn dieser wegen einer Tänzerin
verläßt, ist der Verrat, an dem er zerbricht. Fairbanks stößt ihn zurück in die Einsamkeit
seines Aufstiegs und Falls. Wenn die beiden über Tanz (“Weiberjob”) und Liebe
(“Kindergeschwätz”) streiten, ist das eine der schönsten Eifersuchtsszenen der
Filmgeschichte. Aus Liebe verschont Robinson die Kronzeugen der Polizei. Und
konsequenterweise stirbt er unter einem riesigen Werbeplakat für das Tanzpaar
Fairbanks/Farrell. Die Worte “laughing – singing” werden durch das Rattern der
Maschinenpistole bitter konterkariert. “O Heilige Mutter Maria, ist das das Ende von
Rico!?”. The End.
Reinhard Kleber
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90 Fahrenheit 451
Fahrenheit 451 (Großbritannien 1966)
Regie: François Truffaut. Buch: Truffaut, Jean-Louis Richard, nach dem Roman von Ray
Bradbury. Kamera: Nicolas Roeg. Musik: Bernard Herrman. Darsteller: Julie Christie,
Oscar Werner, Cyril Cusack, Anthony Diffring. Länge: 108 Minuten. Vertrieb: CIC Video.
Der Regisseur des Films “Der Mann, der die Frauen liebte” (1973), liebte das Kino
geradezu besessen. Mit “Die amerikanische Nacht” (1973) setzte er dem Kino und sich
selbst ein Denkmal. Sein letzter Film hieß “Auf Leben und Tod” (1984). Im gleichen Jahr
starb François Truffaut, 52 Jahre alt. Hinterlassen hat der neben Jean-Luc Godard
wichtigste Repräsentant der französischen Nachkriegs-Kinematographie einundzwanzig
abendfüllende Spielfilme. Der Durchbruch war ihm 1959 mit dem autobiographischen
Erstling “Sie küßten und sie schlugen ihn” in Cannes gelungen.
“Fahrenheit 451” (1966) spielt in Truffauts Werk eine besondere Rolle: Es ist sein erster
Farbfilm, die einzige ausländische Produktion und sein erster Zukunftsfilm. Die literarische
Vorlage lieferte der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury mit seinem gleichnamigen
Roman von 1953. Titel und Buch beziehen sich auf den Hitzegrad (232 Grad Celsius
entspricht 451 Grad Fahrenheit), bei dem Bücherpapier Feuer fängt.
In einem totalitären Zukunftsstaat wird das Lesen von Büchern streng bestraft. Die
Feuerwehr hat die Aufgabe, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. Ihr Mitglied Guy
Montag tut sich dabei besonders hervor, um befördert zu werden. Einige Literaturfreunde
versuchen, möglichst viele Bücher zu retten. Die Begegnung mit einer lesewütigen
Nachbarin (ver)führt Montag selbst zum heimlichen Lesen. Bei einem Einsatz muß er
zusehen, wie eine alte Frau sich mit ihrer Bibliothek selbst verbrennt. Von seiner
obrigkeitshörigen Ehefrau denunziert, tötet er seinen Vorgesetzten mit dem
Flammenwerfer und setzt sein eigenes Haus in Brand. Er flieht in die Wälder zu den
verfemten “Büchermenschen”, die ihre Lieblingsbücher für zukünftige Generationen
auswendig lernen.
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Truffaut lehnt sich in Geist und Atmosphäre eng an Bradburys Anti-Utopie an, verändert
aber wichtige Handlungselemente durchaus selbstbewußt. Beispielsweise fehlt der im
Buch so wichtige Kriegsausbruch – eine Anspielung auf Weltkrieg und Atombombe. Das
Buch endet zuversichtlich mit dem Aufbruch der Waldmänner nach der Eliminierung der
nahen Stadt durch einen Bombenangriff in die unberührte ländliche Provinz; im Film steht
am melancholischen Ende die paradiesische Lernidylle im winterlichen Wald.
Wie üblich hat Truffaut die Hauptrollen hochrangig besetzt: Der Österreicher Oskar
Werner, der schon in “Jules und Jim” (1962) mitwirkte, gibt den Feuerwehrmann als
coolen Eisblock, der erst allmählich auftaut; die Britin Julie Christie, die während der
Dreharbeiten den Oscar für ihre Hauptrolle in John Schlesingers “Darling” erhielt, spielt
virtuos eine Doppelrolle – die attraktive, gedankenlose Ehefrau Linda und die rebellische,
junge Lehrerin Clarisse. Für die aufwendige Produktion der Hollywood-Firma Universal
wurden erstklassige Mitarbeiter gewonnen: Die Musik lieferte Hitchcocks Hauskomponist
Bernard Herrman, die brillanten Bilder Nicholas Roeg (“Wenn die Gondeln Trauer
tragen”).
“Fahrenheit 451” ist kein konventioneller Science-Fiction-Film. Neben den heute lächerlich
wirkenden, primitiven Flugmaschinen und einer Schwebebahn sucht man futuristisches
Design vergebens. Dieser Regisseur war nie ein radikaler Experimentator. Anders als
Godard ist der romantische Ironiker nach seinen frühen Filmen bei einer traditionellen
linearen Erzählweise geblieben. Sein skeptischer Zukunftsfilm knüpft gerade an die
“Tradition der Qualität” an, die er als Kritiker der führenden französischen Fachzeitschrift
“Cahiers du Cinéma” in jungen Jahren so heftig attackiert hatte.
Die Originalität von Truffauts persönlichem Erzählstil liegt in der Feinstruktur. Die
Sensibilität seiner Personenschilderung sowie Humor und Ironie in Darstellung und
Thema haben den Ruf der “Leichtigkeit” seiner Filme begründet. Nicht wenig trägt dazu
ein Kardinalthema Truffauts bei, das Verhältnis von Kunst und Leben. Dieses
Spannungsfeld manifestiert sich vor allem in seiner Liebe zur Literatur und zum Kino.
Zentrales Thema dieses Films ist die Liebe zu den Büchern. Im Zeitalter der
audiovisuellen Medien plädiert Truffaut für die gute alte Schrift- und Lesekultur. Gegen
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den Triumphzug des allgegenwärtigen Fernsehens hält er an den traditionellen Werten
der hohen Literatur fest. Montag erschließt sich zum Beispiel durch “David Copperfield”
von Charles Dickens ein unbekanntes Phantasiereich. Durch die Bücherverbrennungen
zerstört die anonyme Mediendiktatur gerade solche Individualitätsreservate. In der
gleichgeschalteten Gesellschaft verlernen die Menschen mit dem Lesen das Denken. Auf
das historische Vorbild verwies Truffaut schon durch die Wochenschauaufnahmen der
nazistischen Bücherverbrennungen in “Jules und Jim”. In seiner orwellesken Anti-Utopie
droht allen Nichtlesern der Verlust der Identität durch die sprachlose Entfremdung von den
Mitmenschen. Aus der Kommunikationsöde retten sich manche in die Fluchtwelt der
Literatur. In den Wäldern werden sie zu “Buchmenschen”, die nach dem Auswendiglernen
die geliebten Bücher verbrennen – sicherheitshalber.
Diese Reduktion des Menschen auf die Reproduktion von Wissen ist allerdings gerade
wegen des vorgeblichen Kulturidealismus ethisch bedenklich. Kultur wird hier zum
Selbstzweck! Zu bloßen ›Schutzumschlägen‹ degradiert, werden die Menschen als
Menschen belanglos. Während Bradbury die missionarischen Aktivitäten der
Buchmenschen noch ausdrücklich in den Dienst einer phönixhaften “Kulturdämmerung”
stellt, läßt Truffaut seine melancholische Gemeinde in einer idyllischen Diaspora
verharren. Gegenüber dem pragmatischen Optimismus des Amerikaners behält sein
humanistischer Skeptizismus das letzte Wort, das letzte Bild. Die letzte der 963
Einstellungen (erster Schnee im Wald der Buchmenschen) “friert”, wie in vielen TruffautFilmen, zum Standbild ein. Die Allegorie ist sinnfällig.
Der filmgeschichtliche Rang von “Fahrenheit 451” liegt nicht zuletzt in der
unnachahmlichen Synthese von mitfühlendem Anliegen und elegant-ironischer Form, die
den Zuschauer zum Nachdenken anregt. Darin ist Truffaut unübertroffen.
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Wolfgang Schwarzer
91 I ... wie Ikarus
I ... comme Icare (Frankreich 1979)
Regie: Henri Verneuil. Buch: Verneuil, Didier Decoin. Kamera: Jean-Louis Picavet.
Musik: Ennlo Morricone. Darsteller: Yves Montand, Michel Etchevery, Jacques Sereys,
Jean Negroni. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
“Die Schüsse, die Präsident Jary töteten, wurden von Carl Eric Daslow abgegeben.
Aufgrund des der Kommission vorliegenden Beweismaterials kommt sie zu dem Schluß,
daß Daslow allein gehandelt habe. Die Kommission ist während ihrer gesamten
Untersuchungstätigkeit auf keinen Beweis für eine Verschwörung, subversive Tätigkeit
oder einen Verstoß gegen die Treuepflicht seitens eines Beamten des Bundes, der
Einzelstaaten oder Gemeinden gestoßen. Diese Schlußfolgerungen stellen das
wohlbegründete Urteil aller Mitglieder der Heiniger-Kommission dar.”
Ersetzt man die Namen Jary, Carl Eric Daslow und Heiniger durch Kennedy, Lee Harvey
Oswald und Warren, so entsteht unvermittelt historische Realität und der getreue Wortlaut
des Warren-Reports. Wenngleich angezweifelt und wegen seiner Unstimmigkeiten
kritisiert, wurde die Veröffentlichung des Warren-Reports als amtlicher Schlußstrich unter
die Aufklärung des Kennedy-Attentats akzeptiert.
Die historische Realität fand allerdings keinen Generalstaatsanwalt Henry Volney, der wie
in “I ... wie Ikarus” durch sein Veto den Heiniger-Report außer Kraft setzt und die
Untersuchungen erneut aufnimmt. Volney findet von der Kommission unbeachtete Zeugen
der Tat, die neue Sachverhalte einbringen und nun einer nach dem anderen getötet
werden. Er rekonstruiert Indizien, die den Verdacht auf hohe Persönlichkeiten aus
Staatsbürokratie und Geheimdienst lenken. Schließlich konzentriert sich die
Aufmerksamkeit auf eine geheimnisvolle Operation “I ... wie Ikarus”, die er jedoch nicht
mehr entschlüsseln kann. Sie steht für seine eigene Exekution. Wie der griechische
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Sagenheld der Sonne, so war Volney der Wahrheit darüber, wie unsere politischen
Systeme funktionieren, zu nah gekommen und mußte stürzen.
Hat Verneuil eine der intelligentesten Filmversionen des Kennedy-Attentats inszeniert, so
steht – entgegen dem ersten Anschein – dieser Aspekt doch im Hintergrund der
Geschichte. Am Beispiel Carl Eric Daslows, der bereit war, den Mord durchzuführen, aber
durch zynische Schachzüge der wirklichen Hintermänner der Tat lediglich als
vorgeschobener Sündenbock diente, rückt ein ganz anderes Problem in den Mittelpunkt:
der Bürger als Helfershelfer korrupter Politiker, das Verbrechen aus Staatsraison.
Daslow als labiler Idealist erweist sich als Täter und Opfer zugleich. In seiner Person wird
deutlich, was Professor Stanley Milgram zwischen 1960 und 1963 in der Yale-Universität
bei Experimenten, die im Sommer 1970 durch die Forschungsstelle für Psychopathologie
und Psychotherapie in der Max-Planck-Gesellschaft München ergänzt wurden, schlüssig
nachweisen konnte: In der menschlichen Zivilisation ist Gehorsam und Unterordnung
unter Autoritäten, die sich im weißen Kittel der Wissenschaft, durch den Titel eines Amtes
repräsentieren, zum Reflex geworden, zur unkritisch akzeptierten Größe.
Verneuils Film nähert sich am Konzept eines politischen Mordes der Frage, wie nicht nur
der bestellte Meineid eines Untergebenen, sondern auch Phänomene wie Auschwitz, die
Gulags und Chile, wie Folter, Inquisition und Völkermord in unserer zivilisierten,
humanitären Gesellschaft möglich sind. Eine minutiös ausgeführte Demonstration der
Versuche Milgrams stellt die Schlüsselszene der Geschichte dar.
Unter dem Vorwand, Versuche über menschliches Lernverhalten durchzuführen, muß ein
freiwilliger Kandidat – Daslow gehört zu ihnen – in der Lehrerrolle einem
festangeschnallten und an Elektroden angeschlossenen “Schüler” im Falle einer
Fehlreaktion Elektroschocks zwischen 15 und 450 Volt versetzen. Die Schocks sind
simuliert, der Schüler ist ein Schauspieler, was die Versuchsperson natürlich nicht ahnt.
Nach Milgram ist Ziel des Experiments, “herauszufinden, wie weit ein Mensch in einer
konkreten, meßbaren Situation geht, in der ihm befohlen wird, einem protestierenden
›Opfer‹ zunehmende Qualen zuzufügen. An welchem Punkt wird sich die Versuchsperson
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weigern, dem Versuchsleiter weiter zu gehorchen? ( ... ) Bei 285 Volt kann die Reaktion
nur noch als qualvolles Schreien bezeichnet werden. Trotz dieser Reaktion, trotz der
immer verzweifelter werdenden Schreie des Schülers, trotz der Tatsache, daß er ab 330
Volt überhaupt nicht mehr reagierte – trotz dieser Gegebenheiten war ein beachtlicher
Prozentsatz der Versuchspersonen bereit, bis zur höchsten Stufe, bis 450 Volt
weiterzumachen. Zwar protestierten nahezu alle Kandidaten beim Versuchsleiter und
litten oft sichtbar unter dem, was sie taten – aber viele beließen es bei diesen Einwänden
und unterwarfen sich, als der Versuchsleiter auf einer Fortsetzung des Experiments
bestand, seiner Autorität.”
Volney, Daslow und die Heiniger-Kommission – zwei Männer und eine Institution, die in
ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung jeweils auf sehr unterschiedliche Weise scheitern.
Drei Beispiele, individuell zu ergänzen durch alltägliche Begebenheiten. “I ... wie Ikarus”,
vielleicht der beste Film des Unterhaltungsroutiniers Verneuil, ist nicht nur ein spannender
Politthriller, sondern ein erschreckender Spiegel, vor dem sich Gesellschaftsordnungen
jeder politischen Couleur und jeder Staatsbürger in Frage stellen müssen.
Horst Schäfer
92 Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß
They Shoot Horses, Don't They? (USA 1969)
Regie: Sidney Pollack. Buch: James Poe und Robert E. Thompson, nach einem Roman
von Horace McCoy. Kamera: Philip Lathrop. Musik: John Green. Darsteller: Jane Fonda,
Michael Sarrazin, Gig Young, Susannah York, Red Buttons, Bonnie Bedelia, Michael
Conrad, Bruce Dern. Länge: 120 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP.
Den Tiefpunkt erreichte die Depression in den Vereinigten Staaten 1932. Skrupellose
Unternehmer veranstalteten in billigen Tanzschuppen spektakuläre MarathonTanzturniere. Für ein paar warme Mahlzeiten am Tag, ein Dach über dem Kopf und die
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Aussicht 1500 Silberdollar zu gewinnen, waren die Menschen bereit, unvorstellbare
Strapazen auf sich zu nehmen – ausbeuterische Teilnahmebedingungen auf der einen,
ein sensationslüsternes Publikum auf der anderen Seite. Tausende wollten an den
berühmt-berüchtigten Turnieren teilnehmen. Wie beim Militär wurden sie gemustert: Ein
Arzt untersuchte die Menschen, das Management ihr Gepäck.
Vor dem Hintergrund dieser Jahre spielt “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß”. Im
Mittelpunkt steht die junge Filmkomparsin Gloria (Jane Fonda) die abgeklärt und
desillusioniert ihre Chance wahrnimmt, um durch die Siegesprämie unabhängig zu
werden. Gemeinsam mit dem Gelegenheitsarbeiter Robert (Michael Sarrazin) bildet sie
ein Zufallspaar, das – wie andere auch – mit zäher Verbissenheit in die mörderischen
Runden geht: 42 Tage lang Dauerstreß. Ihr Gegenspieler ist der ölige, sarkastische
Entertainer Rocky (Gig Young), der mit allen Schikanen das Letzte aus den gequälten
Menschen herausholt, das Publikum aufputscht und ihm gibt, was es sehen will: Freude
und Vergnügen am Leiden und der Verzweiflung von Menschen, die der Not gehorchend
ihre Würde aufs Spiel setzen und ihre Selbstachtung verlieren.
Neben der Geschichte der Zufallsbekanntschaft von Gloria und Robert werden auch
andere tragische Schicksale in die Handlung einbezogen; der selbstzerstörerische
Durchhaltewillen einer Hochschwangeren beispielsweise und das tragische Ende eines
“ewig jungen” Seemannes, der sich übernimmt und eine Herzattacke erleidet. Zu den
dramatischen Höhepunkten des Films zählen die Sequenzen, in denen die sogenannten
“Derbys” gezeigt werden. Hier kommt es in einer Art Wettrennen darauf an, nach einem
Rundlauf von zehn Minuten nicht auf den letzten Plätzen zu sein. Gezeigt werden auch
Szenen aus den stickigen Umkleide- und Ruheräumen, wo sich die hysterischen Anfälle
häufen. Die Paare streiten sich, Neid und Eifersucht bestimmen das Zusammenleben.
Solidarität untereinander gibt es nicht.
Kurz vor dem Finale – die meisten der Teilnehmer sind bereits ausgeschieden – erfährt
Gloria, daß sie auch im Falle eines Sieges wieder einmal zu den Verlierern zählen wird.
Die in Aussicht gestellte Preissumme zehrt sich auf durch Spesen und Sachleistungen,
die das Management für das Sieger-Paar verauslagt hat. Sie gibt auf, findet noch nicht
einmal mehr die Kraft zum Selbstmord und bittet Robert, sie zu erschießen. Während er
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draußen vor dem Ball-Room von der Polizei verhaftet wird, geht drinnen der Wettbewerb
in seine letzte Phase.
Schonungslos realistisch, mit virtuosen Bildern und ohne Happy-End führt uns Sidney
Pollack in “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß” nicht nur Bilder aus den dreißiger
Jahren vor Augen. Sein Film zeigt das Modell einer allgemeingültigen und daher auch
gegenwärtigen Situation und steht parteilich auf der Seite der Menschen, die in dem
unerbittlichen Existenzkampf unserer Leistungsgesellschaft auf der Strecke bleiben; er
fragt provozierend nach unserer Anteilnahme, unserer Solidarität. Darüber hinaus ist der
Film auch eine Abrechnung mit den zynischen Machenschaften des lärmenden
Showbusineß, das Elend kommerzialisiert und als Unterhaltung präsentiert.
Sidney Pollack, geboren 1934, war Darsteller und Regisseur bei Theater und Fernsehen,
bevor er mit dem Psychodrama “Stimme am Telefon” (1965; mit Anne Bancroft und
Sidney Poitier) seine Filmkarriere startete. “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß”
wurde sein erster großer Erfolg. Pollack gilt als Regisseur, der bevorzugt mit StarSchauspielern zusammenarbeitet (unter anderem mit Barbra Streisand, Paul Newman,
Dustin Hoffman) und dabei nicht auf ein bestimmtes Genre festgelegt ist. Zu den bei uns
bekanntesten Filmen zählen der Schnee-Western “Jeremiah Johnson” (1971), der Film
über Hollywood in der McCarthy-Ära “Cherie Bitter” (1973), der Rodeo-Abgesang “Der
elektrische Reiter” (1978), der FBI-Krimi “Die Sensationsreporterin” (1981) und die
Showsatire “Tootsie” (1982). Bevorzugter Darsteller von Sidney Pollack ist Robert
Redford; in einem Zeitraum von zwanzig Jahren drehte er mit ihm sechs Filme, darunter
auch seinen bislang erfolgreichsten: das mit sieben Oscars ausgezeichnete
Kinomelodram “Jenseits von Afrika” (1985), die Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte
der dänischen Schriftstellerin Karen Blixen.
Für Jane Fonda – in einem späteren Pollack-Film auch einmal Partnerin von Redford –
bedeutete “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß” die erste wirkliche Herausforderung
als Schauspielerin, nachdem sie in vergleichsweise belanglosen Filmen wie “Cat Ballou”
(1965) und “Barbarella” (1968) wenig Chancen hatte, sich hervorzuspielen und ihr
tatsächliches Können zu beweisen. Auf den “Marathon-Tanz”, der hohe körperliche
Anforderungen stellte, bereitete sie sich außerdem durch ein sportliches
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Trainingsprogramm vor. Im Gegensatz zu ihren früheren Filmen handelte es sich nun
auch um einen Film, der mit ihrem gesellschaftlichen und politischen Engagement
übereinkam. Als Gloria war sie so überzeugend, daß sie für einen Oscar nominiert wurde.
Paradoxerweise (oder verständlicherweise) waren es aber gerade ihre spektakulären
Aktionen für das Women's Liberation Movement und gegen den Vietnam-Krieg, die einer
solchen Ehrung entgegenstanden (Einen “Oscar” erhielt 1969 nur Gig Young als bester
Nebendarsteller). Für ausgleichende Gerechtigkeit sorgte dann die New Yorker Filmkritik,
die Jane Fonda für die “beste schauspielerische Leistung des Jahres” ehrte.
Hans Gerhold
93 Verrückte Musikanten
More Silly Symphonies (USA 1932-1938)
Regie: Walt Disney, Burt Gillett, Wilfred Jackson, David Hand, Ben Sharpsten, Hugh
Harman. Länge: 83 Minuten. Vertrieb: Euro Video.
In der Kunst des Zeichentrickfilms haben die von Walt Disney (1901-1966) und seinen
Mitarbeitern entwickelten Techniken und Themen Maßstäbe gesetzt. Bis heute sind ihre
Produktionen in der Sorgfalt der Phasen-Zeichnung, der Bewegungsfolgen, der
Detailgenauigkeit, der liebevollen Charakterisierung in Mienenspiel und Gestik, der
phantastischen Erfindungen und visuellen Reichhaltigkeit, der Hintergrundeinbeziehung
und der Verbindung von illustrativer Musik (abwertend “Mickey Mousing” genannt) und
geschickter Stoffwahl selten übertroffen worden.
Bevor der Vater der Mickey Mouse und Donald Ducks mit “Schneewittchen und die sieben
Zwerge” 1937 den ersten abendfüllenden Trickfilm der Filmgeschichte schuf, hatte er
seine Begabung für das Erzählen von Geschichten mit Kurzfilmen erprobt, die im
Vorprogramm in den Kinos liefen und ihm mehrere “Oscars” eintrugen. Von 1929
(“Skeleton Dance”) bis 1938 realisierte er in der Serie “Silly Symphonies” 77 Kurzfilme, in
denen Mickey & Co. nicht auftraten, aber die drei kleinen Schweinchen und der böse Wolf
debütierten.
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Fast alle “Silly Symphonies” sind kleine Märchenmusicals, die ihre Themen aus Fabeln
(Aesop), Legenden und Märchensammlungen bezogen; einige sind Originalstoffe. Darin
wimmelt es von Tieren, Zwergen, phantasievollen Gestalten und jener belebten Flora und
Fauna, die Disneys Werk als unerschöpfliches Reservoir an Formenreichtum ausweist,
von animierten Stiefmütterchen über tanzende Bäume bis zu grinsenden Wolken. Speziell
die Waldesflora, Bäume, Blumen und Pflanzen sind perfekte anthropomorphe, das heißt,
vermenschlichte Wesen. Doch wirken sie mit ihren menschlichen Gesichtern, Mienen und
Gesten durchaus natürlich und ergänzen die Handlung in pantomimischer Eleganz.
Ein Großteil der auch heute noch überzeugenden und ungeheuren Wirkung der “Silly
Symphonies” entsteht aus der genialen Kombination dieser Wesen, ihrer die Gesetze der
Physik mühelos überwindenden Schwerelosigkeit und dem Farbenreichtum, in den sie
buchstäblich getaucht sind und der diese kleinen Perlen der Animation als StudioExperimente auf dem Weg zum Langfilm kennzeichnet. Ebenso wichtig und sinn- wie
formkonstituierend ist der Einsatz der Musik, von Liedern, populären Songs, klassischen
Kompositionen, Märschen, Symphonien oder Blues- und Jazz-Rhythmen: Da kennt die
Virtuosität keine Grenzen.
Die vorliegende Kassette enthält zehn “Silly Symphonies”, die repräsentativ für die Serie
und ihren wahrhaft umwerfenden Charme sind: Kleine Meisterwerke der hohen Schule der
Animation, wie sie genannt wurden, sind sie im besten Sinne anrührend, ohne sentimental
zu sein, naiv, ohne kitschig zu wirken, lehrreich, ohne pädagogisierend aufzutreten, vor
allem aber witzig, humorvoll, mit einer Rasanz der Erzählung und einem Rausch an
farbenprächtigen Bildern, die visuellen Genuß garantieren.
Im einzelnen: “Babes in the Woods” (1932) ist eine “Hänsel und Gretel”Variation, die mit
typisch amerikanischer Pragmatik den Sieg über die Hexe als Ergebnis praktizierter
Solidarität von Kindern und Tieren präsentiert: Auf dem Rücken der Gänse reiten Gnomen
und bewerfen die Hexe mit Kürbissen. “The Goddess of Spring” (1934) erklärt die
Herkunft der Jahreszeiten: Der Herr der Unterwelt entführt die Frühlingsgöttin und läßt sie
wegen ihrer Tränen wieder auf die Erde, mit dem Versprechen (als Arie gesungen),
zeitweise wieder zu ihm zurückzukehren. Wie später in “Cinderella” (1950) tragen Vögel
die Schleppe des Gewandes der Göttin.
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“Lullababy Land” (1933) erzählt didaktisch klug von Babyträumen, den Gefahren für
Kinder (“Messer, Gabel, Schere, Licht”) und dem Sandmann. Ein Leckerbissen ist “Music
Land” (1934): Wegen der verbotenen Liebe zwischen einer Violine und einem Saxophon,
das – wie anders? – in einem Metronom eingekerkert wird, bekämpfen sich das Land der
Symphonie und die Insel des Jazz. Der Krieg der Töne endet mit einer Brücke der
Harmonie über dem Meer der Zwietracht.
“Toby Tortoise Returns” (1936) ist ein witziger Boxkampf zwischen Toby Schildkröte und
Max Hase (der Warners' Bugs Bunny vorwegnimmt). Am Ring sitzt Mae West. “Three
Little Wolves” (1936) variiert “Der Wolf und die sieben Geißlein” und endet wie immer bei
Disney mit der Niederlage des Wolfes. “Merbabies” (1938) schildert die verspielten
Unternehmungen von Meerkindern, Seepferdchen und anderen Unterwasserbabies, läßt
die Tintenfische wie Elefanten paradieren und nimmt die Pastorale-Sequenz aus
“Fantasia” (1940) vorweg: der optisch schönste der Kurzfilme.
In “Broken Toys” (1935) reparieren sich die auf den Müll geworfenen Spielzeuge aus
eigener Kraft und wandern ins Waisenhaus. “The Golden Touch” (1953) bringt einen
wahren König Goldfinger (alles, was er berührt, wird zu Gold) zur Verzweiflung, an den
Rand des Verhungerns und zur Einsicht, auf den schnöden Mammon zu verzichten: Zum
Schluß sitzt er mit einer Konservendose auf dem Kopf in einer Grube und verspeist einen
Hamburger (“mit Zwiebeln”).
Der letzte Film, wieder ein Höhepunkt für Cineasten, ist eine Folge animierter
Kinderreime: “Mother Goose Goes Hollywood” (1938), mit der Gans als MGM-Löwe,
versammelt Karikaturen von Hollywood-Stars: Katharine Hepburn, die Marx-Brothers, Fred
Astaire, Clark Gable, Edward G. Robinson mit Greta Garbo auf der Schaukel, Laurel und
Hardy, Joe E. Brown, Cab Calloway und – besonders geglückt – W. C. Fields als Lewis
Carrolls Humpty Dumpty. Ausgerechnet der Kinderfeind Fields half in “Broken Toys”
Spielzeuge reparieren: ein geistreicher Einfall.
Die “Silly Symphonies” sind, da ihre Bilder für sich sprechen, äußerst sparsam untertitelt
worden: eine kluge Entscheidung des Vertriebs.
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Günter Lebailly
94 Adel verpflichtet
Kind Hearts and Coronets (Großbritannien 1949)
Regie: Robert Hamer. Buch: Robert Hamer und John Dighton. Kamera: Douglas
Slocombe. Musik: Ernest Irving. Darsteller: Alec Guinness, Dennis Price, Valerie
Hobson, Joan Greenwood. Länge: 100 Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
Wer Freude an einer gut erzählten Geschichte, dazu noch Sinn für jene Art von
schwarzem Humor hat, den wir als “typisch englisch” zu bezeichnen pflegen, für den ist
dieser Film sicher ein großer Spaß. Es geht, mit dem Titel eines Essays von Thomas de
Quincey gesagt, um “Mord als schöne Kunst betrachtet”. Die Geschichte beginnt am
Ende. Der Henker kommt ins Gefängnis, wo die Hinrichtung des zehnten Herzogs von
Chalfont stattfinden soll. Gefaßt schreibt dieser seine Memoiren, aus denen er für uns
zitiert.
Louis Mazzini ist der Sohn einer Tochter des siebenten Herzogs von Chalfont und eines
italienischen Tenors. Infolge ihrer unstandesgemäßen Heirat wird seine Mutter aus der
herzoglichen Familie ausgestoßen, er selbst nicht als rechtmäßiger Nachkomme
anerkannt. Da sein Vater bereits bei Louis' Geburt stirbt, zieht seine Mutter ihn allein auf
und läßt ihn nie vergessen, welcher Abstammung er ist. Als ihr nach dem Tod die adelige
Verwandtschaft ein Grab in der Familiengruft verwehrt, reift in Louis der Plan, die Familie
d'Ascoyne auszulöschen, um Herzog von Chalfont zu werden.
Acht Anwärter stehen zwischen Louis und der Herzogswürde. Da wir bereits wissen, daß
er an sein Ziel gekommen ist, sind wir natürlich neugierig darauf, wie er es geschafft hat
und was der Grund für sein Scheitern war. Wir sehen sechs raffiniert eingefädelte Morde,
bei denen der berechnende Louis sich die Schwächen und Marotten seiner Opfer zunutze
machte, sehen die Untaten auf elegante Art ausgeführt und dargestellt.
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Das erste Opfer ist der arrogante junge Ascoyne d'Ascoyne. Louis folgt ihm zu einem
Weekendausflug mit seiner Geliebten. Während das Pärchen auf dem Fluß von Liebe
träumt, bindet Louis das Boot los, als das Wehr geöffnet wird. Ebenso interessiert wie er
schauen wir dem Boot nach, wie es ruhig den Fluß hinabgleitet, sich über dem Wehr kurz
aufrichtet und verschwindet. Das nächste Opfer ist der junge Henry d'Ascoyne. Sein
Hobby ist das Fotografieren. Allerdings erfahren wir, daß dies nur Fassade gegenüber der
schönen, aber sittenstrengen Gattin ist, um im Fotolabor einen Schluck trinken zu können.
Louis präpariert die Lampe in der Dunkelkammer, und während er mit der schönen Edith
d'Ascoyne im Garten Tee trinkt, hören wir einen dumpfen Knall und sehen über der
Gartenmauer Rauch aufsteigen.
Der liebenswürdige, senile Reverend Lord Henry d'Ascoyne liebt gegen den Rat seines
Arztes immer noch zu sehr den Portwein. Louis nähert sich ihm in der Verkleidung eines
Kolonialbischofs aus Matabele-Land, wird erwartungsgemäß eingeladen und vergiftet
seinen Wein. Die pointierte Darstellungskunst von Alec Guinness macht daraus ein
Kabinettstückchen von Kinotod.
Lady Agatha d'Ascoyne ist eine kämpferische Suffragette. Ihr stellt Louis mit Pfeil und
Bogen nach, als sie von einem Freiballon aus Flugblätter auf die Stadt streut. Wir sehen
Louis von seinem Fenster aus einen Pfeil abschießen, hören, vom Orchester gespielt,
eine fallende Tonleiter und einen dumpfen Aufschlag, und erfahren, daß Lady Agatha auf
den Berkeley-Platz gefallen sei.
Admiral Lord Horatio d'Ascoyne wird ein Opfer seines eigenen Starrsinns, als er nach
einer von ihm verursachten Havarie mit seinem Schiff untergeht. An General Lord Rufus
d'Ascoyne schickt Louis eine Dose Kaviar, in der eine kleine Bombe versteckt ist.
Während er im Club mit seinen Kriegsabenteuern renommiert, wird ihm die Delikatesse
gebracht. Den Atem anhaltend, sehen wir, wie er sein Messer der verhängnisvollen Dose
nähert, dann verschwindet er hinter einer weißen Rauchwolke.
Dem Herzog Ethelred d'Ascoyne wird seine Jagdleidenschaft zum Verhängnis. Er fängt
sich in einer Falle, die er für Wilddiebe hat aufstellen lassen, und Louis erschießt ihn.
Diesen Mord nehmen wir Louis übel. Nicht aus moralischen, sondern aus ästhetischen
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Gründen. Dieser Mordist zu brutal, zu direkt, gar nicht elegant. Zwar gestehen wir Louis
zu, daß er in diesem Fall unter Zeitdruck arbeiten mußte, da der Herzog im Begriff war,
sich wiederzuverheiraten, aber wir haben das unabweisbare Gefühl, daß die Sache nicht
gut ausgehen wird. Der letzte Anwärter auf die Herzogswürde, der Bankier Lord Ascoyne
d'Ascoyne, stirbt am Herzschlag, als er erfährt, daß er neunter Herzog von Chalfont
geworden ist.
Louis Mazzini ist am Ziel. Jedoch, unter die Gratulanten für den zehnten Herzog von
Chalfont mischt sich ein Inspektor von Scotland Yard, der ihn wegen Mordes verhaftet.
Die Ironie des Schicksals will es, das er eines Mordes angeklagt wird, den er nicht
begangen hat. Hier ist eine Frau im Spiele, seine Jugendliebe Sibella, die den
langweiligen, aber wohlhabenden Lionel Holland geheiratet hat – und Louis' Geliebte
geblieben ist. Als Louis sich der Herzogswürde nähert und dazu noch die verwitwete Edith
d'Ascoyne heiraten will, kommt Sibella der Selbstmord ihres inzwischen bankrotten Gatten
sehr gelegen, um sich an dem treulosen Geliebten zu rächen.
Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem die Geschichte begonnen hat. Aber sie ist noch
nicht ganz am Ende. Die Pointen werden um zwei Drehungen weitergetrieben, halten den
Schluß ironisch in der Schwebe und lassen unserem bereits erheblich gestörten
moralischen Empfinden, das sich an den eleganten Morden delektierte, die Aussicht, daß
der Gerechtigkeit vielleicht doch noch Genüge getan werde, vielleicht ...
Die Qualität des Films liegt ganz zweifellos in seinem hervorragend konstruierten
Drehbuch. Doch was wäre der schöne Text ohne die Bilder. Beide pointieren sich
gegenseitig. Die Bilder werden nicht zum Selbstzweck, sondern bereiten in ihrer
sorgfältigen Balance zwischen Realismus und Karikatur den Boden für den Nonsens der
Geschichte, der doch in sich ganz logisch und glaubhaft ist.
Und was wäre der Film ohne die Darsteller. Dennis Price spielt den Louis Mazzini mit
einer Mischung aus Nonchalance und Snobismus, mit jener Haltung des Gentlemans, der
auch das Unwahrscheinliche und Peinliche mit Würde zu nehmen weiß. Die Damen sind
schön und kontrastiert: Valerie Hobson als Edith würdevoll und damenhaft; verspielt und
ein bißchen lasterhaft Joan Greenwood als Sibella. Die Krone aber gebührt Alec
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Guinness, der sämtliche acht Mitglieder der Familie d'Ascoyne spielt, als nuancierte
Karikaturen eines Adelsgeschlechts, und mit dieser Leistung seinen Weltruhm
begründete.
Horst Schäfer
95 Die verlorene Ehre der Katharina Blum
(BRD 1975)
Regie: Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, nach der gleichnamigen Erzählung
von Heinrich Böll. Kamera: Jost Vacano. Musik: Hans-Werner Henze. Darsteller: Angela
Winkler, Mario Adorf, Dieter Laser, Jürgen Prochnow, Heinz Bennent, Hannelore Hoger.
Länge: 106 Minuten. Vertrieb: atlas film + av.
Die Hausangestellte Katharina Blum, geschieden, bewohnt im Uni-Center in Köln ein
Appartement; sie führt ein zurückgezogenes, unauffälliges Leben. Gelegentlich erhält sie
“Herrenbesuche” von einem Geschäftspartner ihres Arbeitgebers, was ihr etwas
Abwechslung und kleine materielle Zuwendungen einbringt.
In den Karnevalstagen im Februar 1975 lernt sie den von der Polizei observierten Ludwig
Götten kennen, ein des Terrorismus verdächtigter Bundeswehr-Deserteur, der zusätzlich
Wachsoldat-Gelder entwendet hat. Die ahnungslose Katharina verliebt sich in ihn und
nimmt ihn mit in ihre Wohnung. Als ein Spezialtrupp der Polizei am nächsten Morgen dort
einbricht, ist Ludwig bereits verschwunden. Katharina wird als Komplizin verdächtigt. Ein
Konsortium aus Sicherheitstruppen, Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft ist davon
überzeugt, daß ihr Treffen nicht auf einer Zufalls-, sondern auf einer “Plankontaktschaft”
beruht, und unterzieht Katharina entwürdigender Verhöre. Ermittelt wird dabei nur in eine
Richtung. Als sehr hilfreich erweist sich dabei die Unterstützung von Tötges, einem
Skandalreporter der “ZEITUNG”, der sich mit showträchtigem Gehabe in den Fall
schmeißt und ihn zur Titelstory seines Boulevardblattes hochpuscht. Tötges arbeitet mit
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zynischen Methoden, mit Verdrehungen, Unterstellungen, Halbwahrheiten und Lügen. Er
zerrt das Privatleben Katharinas und das ihrer Freunde an die Öffentlichkeit und tauscht
Informationen und Spekulationen mit dem Polizeiapparat aus. Kritik an diesem Vorgehen
wird einem “Anschlag auf die Pressefreiheit” gleichgesetzt. Einige aus Katharinas Umfeld
setzen sich von ihr ab; zu ihnen zählt auch der “Herrenbesuch”, über den sich die
Beschuldigte ausschweigt, was zu weiteren Verdächtigungen seitens der Ermittler führt.
Als Arzt verkleidet dringt Tötges zu Katharinas todkranker Mutter vor, um neue (falsche)
Schlagzeilen zu produzieren. Katharina ist anonymen Belästigungen und hinterhältigen
Schmähungen ausgesetzt. Das wahrscheinlich durch das Verhalten des Reporters
verursachte plötzliche Ableben ihrer Mutter führt sie an den Rand der Verzweiflung.
Hilfesuchend nimmt sie telefonisch Kontakt zu Ludwig auf, dem sie den Schlüssel zum
Landhaus ihres “Gönners” gegeben hatte. Da ihr Telefon überwacht wird, ist es für die
Polizei ein leichtes, in einer Großaktion Ludwig zu umzingeln, ihn anzuschießen und
festzunehmen.
Katharina erlebt nur noch das Ende dieses Einsatzes mit. Sie bestellt Tötges zu einem
Exklusivinterview in ihre Wohnung. Mit skrupelloser Selbstgefälligkeit und provozierendem
Auftreten spielt dieser sein Tun herunter. Er will den Fall weiter in den Medien kochen –
diesmal aus Katharinas Sicht. Sie antwortet darauf mit gezielten Schüssen aus einer
Pistole – in dem Glauben, damit ihre verlorene Ehre wiedergewonnen zu haben. Während
die Täterin in ihrer Zelle zur Ruhe kommt, erhält Tötges ein feierliches Begräbnis, auf dem
mit pathetischen Worten noch einmal die Ideale der Pressefreiheit beschworen werden:
Wer sie angreift, vergeht sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres
Staates.
Die geradlinig erzählte Handlung des Films, die in diesem Punkte von der labyrinthischen
Struktur der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll abweicht, spielt zwischen dem 5.
und 9. Februar 1975 in Köln und Umgebung. Die Kulisse bildet der Kölner Karneval, was
dem Geschehen makabre Pointen verleiht. Das “närrische Treiben” verdichtet sich zu
einer unwirtlichen, bedrohlichen Atmosphäre. Schlöndorff hat die Böllsche Vorlage zu
einer realistischen Kinogeschichte mit starker emotionaler Wirkung verarbeitet. Beide
attackieren die Machenschaften des Revolver- und Scheckbuch-Journalismus, die
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menschenverachtende und -vernichtende Schlagzeilen-Presse, ihre profitgierigen
Methoden und ihre korrupte Haltung gegenüber den “tragenden Kräften unserer
Gesellschaft”. Böll hat in seiner Arbeit eigene Erfahrungen mit Presse-Hetzkampagnen
verarbeitet, und wegen dieses Films wurde auch Schlöndorff von einem Teil der Presse
öffentlich als Sympathisant der Terroristen diskreditiert. Wohl kein anderer Film der
deutschen Nachkriegszeit hat derartige Auseinandersetzungen ausgelöst.
Aus heutiger Sicht gewinnt ein Aspekt des Films eine besonders aktuelle Bedeutung: Die
Tatsache, daß die Organe der Staatsgewalt mit überzogenen und rüden Methoden immer
wieder in das Leben unschuldiger Personen einbrechen und ein Chaos hinterlassen, das
viel größer ist als der angerichtete Sachschaden. Nicht zuletzt sind es doch auch solche
hysterischen Übergriffe, die die davon Betroffenen auf die Seite der Verfolgten treiben.
Schlöndorffs Film arbeitet beklemmend heraus, daß Katharina in eine Situation gedrängt
wird, in der ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als Ludwig zu verteidigen und mit ihm zu
sympathisieren. “Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann”, lautet der Untertitel
von Heinrich Bölls 1974 erschienener Erzählung.
“Die verlorene Ehre der Katharina Blum” wurde auch ein filmkünstlerischer Erfolg. Der Film
erhielt eine Reihe von Auszeichnungen: unter anderem das Prädikat “Besonders wertvoll”
der Filmbewertungsstelle Wiesbaden; den Preis der spanischen Filmkritik (CEC) und den
Preis des Internationalen Katholischen Filmbüros (OCIC, 1975). Angela Winkler wurde mit
dem Bundesfilmpreis (Filmband in Gold) sowie mit dem Kritiker-Preis 1975 in der Sparte
Film für die Darstellung der Titelfigur ausgezeichnet. Für seine Kameraführung in
Schlöndorffs Film (und in “Lieb Vaterland, magst ruhig sein” von Roland Klick) erhielt Jost
Vacano ebenfalls einen Bundesfilmpreis (Filmband in Gold).
Schlöndorffs Böll-Verfilmung bildet auch den Abschluß einer filmgeschichtlich überaus
reizvollen Begegnung zwischen dem “Jungen deutschen Film” und der “Neuen deutschen
Literatur”; der Zusammenarbeit von Filmemachern wie Schaaf, Fleischmann, Peter
Schamoni, Fassbinder, Wenders, Hauff, Vogeler und Fengler mit Autoren wie Herburger,
Seuren, Sperr, Kroetz, Handke, Driest, Miehe und Brandner. Volker Schlöndorff ist seinem
schon früh eingeschlagenen Weg bis heute treu geblieben. Er verfilmte Musil (1966),
Kleist (1969), Brecht (1969), Yourcenar (1976), Grass (1979), Born (1981), Proust (1983),
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Miller (1985) und Gaines (1986). Die internationale Wertschätzung, die er dabei gefunden
hat, zeigt, daß Literaturverfilmungen Kino sein können und nicht nur Arbeitsfelder für
Germanistik-Studenten.
Urs Jaeggi
96 James Bond 007 – Goldfinger
Goldfinger (Großbritannien 1964/65)
Regie: Guy Hamilton. Buch: Richard Malbaum, Paul Dehn, nach dem Roman von lan
Fleming. Kamera: Ted Moore. Musik: John Barry, Leslie Bricuse, Anthony Newley.
Darsteller: Sean Connery, Gert Fröbe, Honor Blackman, Tanla Mallet, Shirley Eaton.
Länge: 109 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Max Anderson, alias Aronson, der erste Cowboy der Filmgeschichte schlechthin, lebte in
den 376 Filmen, die er innerhalb von sieben Jahren abdrehte, treu einer Devise nach:
“Man wechselt nicht das Thema, man wechselt das Pferd.” Was für den Western gut ist,
mag für die James-Bond-Filme billig sein. Obschon es deren bisher erst 15 gibt, gilt
Andersons Grundsatz in leicht veränderter Form auch für sie: “Man wechselt nicht das
Thema, man wechselt die Regisseure und die Hauptdarsteller.” Filmgeschichte geworden
ist das Genre um den berühmten britischen Agenten im Dienste ihrer Majestät allemal,
obschon dies in den seriösen Handbüchern, Lexika und Enzyklopädien des Films
überhaupt nicht oder wenn, dann nur marginal erwähnt wird. Weit über eine Milliarde
Erdenbürger aller Kontinente haben bis heute die Abenteuer des Gentleman-Agenten mit
der Lizenz zum Töten miterlebt und damit ihr bescheidenes Scherflein zum Riesenerfolg
beigetragen.
Worauf dieser Erfolg beruht, ist indessen gar nicht so einfach auszumachen. Ist es die
Identifizierung mit dem smarten Helden, dem die schönsten Frauen reihenweise zu Füßen
und die miesesten Tunichtgute dieses Erdballs haufenweise zum Opfer fallen? Ist es die
geheime Hoffnung, daß letztlich ein Sauber- und Supermann doch noch verhindern kann,
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daß irgendein Bösewicht die Welt aus den Fugen geraten läßt? Ist es der lässige Mix von
Jet-Set, Abenteuer und technischem Schabernack in mitunter geradezu bombastischer
Inszenierung? Ist es schlicht die Lust am Märchen, das zu guter Letzt die Bösen im Ofen
schmoren läßt und den Unverzagten mit der schönen Prinzessin belohnt?
Märchen sind die James-Bond-Filme allemal. Ihre Moral ist die Scheidung des Guten vom
Bösen. Gut sind der Bentley oder der Aston Martin, der Champagner Dom Perignon
(Jahrgang 1946) und Miami Beach, das savoir vivre und die Suite im Hilton Hotel. Böse
sind der Kommunismus und die Schlitzaugen, die anonymen Massen und die
uniformierten Schergen, die Habgier und die Hinterlist der Feinde. Klare Verhältnisse,
wären da nicht noch die Frauen, diese verführerischen Wesen. Sie machen alles ein
wenig komplizierter, denn sie lassen sich von 007 nicht nur gerne vernaschen, sondern
sind auch jederzeit dafür gut, ihm eine gefährliche Falle zu stellen. Und mit schöner
Regelmäßigkeit tappt der sonst so Umsichtige in sie hinein. Daß er weiblichem Charme
stets erliegt, ist Bonds Achillesferse. Das macht ihn, bitte schön, so ungemein menschlich
...
“Goldfinger”, 1964 von Guy Hamilton gedreht, ist der dritte Film der Serie. Auch er ist ein
Märchen durch und durch, aber auch schon gekennzeichnet von einer Art Wende. War es
in den zwei ersten Filmen – “Dr. No” und “From Russia With Love” – noch vorwiegend der
Geistesblitz und der geniale Einfall, die den Agenten immer wieder überleben ließen, so
sind es in “Goldfinger” mehr und mehr die Erfindungen jenes ominösen “Q”, der in der
Waffenschmiede des britischen Geheimdienstes tätig ist: Ein Aston Martin vor allem hat
es in sich, der nicht nur mit einem Schleudersitz und einer kugelsicheren Rückwand
ausgestattet ist, sondern auch Nebel und Öl versprühen kann und für den Notfall über
zwei gut getarnte Maschinengewehre verfügt. “Goldfinger” signalisiert den Beginn jener
gewaltigen Materialschlachten und pyrotechnischen Feuerwerke, welche die James-BondFilme fortan immer nachhaltiger prägen sollten.
Harry Saltzmann und Albert R. Broccoli haben als überaus geschäftstüchtige Produzenten
bald gemerkt, daß sich die Zuschauerzahlen kräftig steigern lassen, wenn die JamesBond-Filme das Prädikat “jugendfrei” erhalten. Alsbald verschwanden alle Anzüglichkeiten
und Zweideutigkeiten aus den Filmen. In “Goldfinger” darf Sean Connery, der erste und
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bisher immer noch beste James Bond, zwischendurch mal verbal verfänglich werden, im
Bild aber bestehen selbst die Bettszenen mit den hübschen Gespielinnen vor den
kritischen Blicken auch der allerstrengsten Zensoren – auch dies ein Markenzeichen der
007-Filme.
Weniger zimperlich als mit dem Sex nehmen es die James-Bond-Filme mit der Ideologie.
Da ist stramme Haltung gefragt. In “Goldfinger” noch ein wenig mehr als in den übrigen.
God save the Queen and bless America. Die Kommunisten indessen schicke er zum
Teufel. Die kleine, aber schmutzige Atombombe, die der Bösewicht zur Erpressung der
Welt braucht, haben selbstverständlich die “Rotchinesen” geliefert. Die Bond-Filme sind
wie die 13 Romane von Ian Fleming, die ihnen als Idee zugrunde liegen, Produkte des
Kalten Krieges. Die eindeutige ideologische Botschaft wird allerdings so raffiniert
verpackt, daß sie sich nicht nur weltweit verbreiten, sondern auch gleich noch vermarkten
läßt. In der Bond-Filmserie spiegelt sich das Wesen des Kapitalismus in seiner reinsten
Form: Man verbreitet das massenwirksam aufgebaute Feindbild nicht nur in den eigenen
Reihen, sondern verkauft es gleich auch noch dem Gegner. Kaum verhohlener
Rassismus, ein simples Gut-und-Böse-Schema sowie die Zementierung ohnehin schon
festgefügter Normen wie etwa das Rollenverhalten der Frau bilden die tragenden Säulen
der erzkonservativen Botschaft, die allen Bond-Filmen eigen ist.
Die Geschichte von “Goldfinger”? Wie gehabt: Man wechselt nicht das Thema. Man
wechselt den Bösewicht. Diesmal heißt er Gert Fröbe und hat es auf die in Fort-Knox
gelagerten Goldreserven der Vereinigten Staaten abgesehen. 007 legt dem hochgradigen
Hypertoniker und Exzentriker natürlich das Handwerk. Wo kämen wir sonst hin?
Horst Schäfer
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97 Wie ich den Krieg gewann
How I Won the War (Großbritannien 1967)
Regie: Richard Lester. Buch: Charles Wood, nach einem Roman von Patrick Ryan.
Kamera: David Watkin. Musik: Ken Thorne. Darsteller: Michael Crawford, John Lennon,
Roy Kinnear, Les Montague, Jack MacGrowan, Michael Hordern, Karl Michael Vogler.
Länge: 110 Minuten. Vertrieb: Warner Home Video.
Richard Lester hat mit “Wie ich den Krieg gewann” einen Anti-KriegsFilm gemacht; einen
Film, der gegen den Krieg und gegen den Kriegsfilm ist. Seine Arbeit steht nicht in der
Tradition der klassischen Vorgänger “Im Westen nichts Neues” (USA 1930; Regie: Lewis
Milestone), “Die Brücke” (BRD 1959; Regie: Bernhard Wicki) oder “Nobi” (Japan 1959;
Regie: Kon Ichikava); eher entspricht er – Mitte der sechziger Jahre gedreht – dem
Lebensgefühl der heranwachsenden Beatles-Generation, wie es Lester zuvor schon in
seinen Filmen “A Hard Day's Night” (1964) und “Help!” (1965) visualisiert hatte.
Sucht man nach Vergleichen in der Filmgeschichte, so bietet sich die freche, satirische
Form an, mit der die Marx-Brothers 1933 in “Duck Soup” den Militarismus veralberten.
Zwischen diesen beiden Filmen liegen jedoch 35 Jahre und der Zweite Weltkrieg, was
eine so unbekümmerte Vorgehensweise wie die der Marx-Brothers heute nicht mehr
legitim erscheinen läßt. Lester hat sich nicht zuletzt angesichts des aufkommenden
Engagements der Vereinigten Staaten in Vietnam ganz bewußt für die plakative
Dekuvrierung einer Haltung entschieden, die den Krieg einem nationalen sportlichen
Ereignis gleichsetzt, das nach den Regeln des Fairplay geführt wird. “Wie ich den Krieg
gewann” ist in vieler Hinsicht antiautoritär und bricht mit Absicht die Regeln und Klischees
jener Kriegsfilme, die den Krieg glorifizieren, alte Schlachten wiederbeleben oder zu
neuen motivieren.
Bei der Erprobung neuer, zeitgemäßer Ausdrucksformen hat Lester Gestaltungsmittel
benutzt, die sich den griffigen Definitionen der Film-Genres entziehen; eindeutig
festzustellen ist die Verwandtschaft mit dem “Theater des Absurden”; die provozierende
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Darstellung der untergründigen Irrationalität und der gestörten Realitätsbeziehung des
modernen Menschen in den Formen der Groteske und der Farce.
In Lesters Film erzählt der an der Rheinfront gefangengenommene junge englische
Lieutenant Goodbody (Michael Crawford) einem deutschen Offizier (Karl Michael Vogler)
von einem absurden Unternehmen, das in Rückblende gezeigt wird. Nach einer vom
Kolonial-Gehabe des britischen Militärs geprägten Grundausbildung in England erhält sein
Zug eine Gruppe jämmerlicher Zivilisten, unter ihnen Musketier Gripweed (John Lennon) –
den Auftrag, in Nordafrika hinter den feindlichen Linien ein Cricketfeld zu errichten.
Goodbodys Leute treffen bei diesem Unternehmen immer wieder auf deutsche Truppen;
sie werden in Kämpfe verwickelt und müssen Verluste hinnehmen. Der sinnlose Einsatz
kostet fast allen Männern das Leben.
Mit den paar verbliebenen Soldaten kehrt Goodbody nach Europa zurück, wo sie gegen
die Deutschen kämpfen müssen. Nur Goodbody überlebt. Er kommt in Gefangenschaft
und kann eine letzte wahre Heldentat verbringen: Die Deutschen bereiten den Rückzug
vor und wollen eine strategisch wichtige Brücke sprengen; mit einem ungedeckten Scheck
kauft Goodbody dem deutschen Offizier die Brücke ab und sichert den nachrückenden
Alliierten den einzig intakten Übergang über den Rhein.
In “Wie ich den Krieg gewann” jongliert der Regisseur mit schwarzem Humor, Slapstick
und Klamotte; erbaut aber nicht auf ihre vordergründige Wirkung, sondern setzt sie gegen
die Erwartungen eines Massenpublikums ein. Zusätzliche Irritationen besorgen
einmontierte Dokumentaraufnahmen und scheinbar realistische, im Stil von
Wochenschausequenzen gedrehte Episoden.
Der gut getimte rasche Wechsel von scharfer Satire – ähnlich der in den Monty PythonFilmen – zum “blutigen” Ernst – ähnlich der fingierten Dokumentation in Peter Watkins
“Culloden” (1964) – schafft schockierende Gegensätze, die Lester viel Kritik eingebracht
haben: schlechter Geschmack, platte Technik, Unfähigkeit. Aber Lester verzichtet bewußt
auf logische Übergänge und Abfolgen, er mischt Zeit- und Handlungsebenen, baut
Varieté-Einlagen und Bühnensketche ein. Mal ist der Film albern und clownesk, mal bissig
und respektlos.
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“Wie ich den Krieg gewann” ist so grausam-komisch wie “Picknick im Felde” von
Fernando Arrabal; wie bei Jean Tardieu üben die Schauspieler das Beiseitesprechen (sie
reden untereinander oder wenden sich direkt dem Zuschauer zu) und wie in Jean Genets
Algerien-Stück “Die Wände” sind die Toten nicht tot, sondern weiterhin am Geschehen
beteiligt, wenn auch als “Außenstehende”, durch auffallende Farben gekennzeichnet und
verfremdet. Von daher liegt es nahe, Lesters Film mit dem Theater zu vergleichen.
In den fünfziger Jahren hatten sich Beckett, Ionesco & Co. die Bühnen der Welt erobert.
Martin Esslin schrieb 1961 in seinem Buch “Das Theater des Absurden”: “Wenn es auch
den Anschein hat, als würde das Theater durch die Massenmedien verdrängt, so übt es
doch weiterhin einen sehr großen, ja wachsenden Einfluß aus – gerade, weil Film und
Fernsehen sich derart ausgebreitet haben. Die Massenmedien sind in der Produktion zu
umständlich und zu kostspielig, um viele Experimente und Neuerungen zu erlauben.
Deshalb blieb das Theater, obwohl seine Mittel beschränkt sind und es nur einen kleinen
Kreis erfaßt, der Ort, an dem Schauspieler und Autoren der Massenmedien geschult
werden und ihre Erfahrungen sammeln.” Lesters Filme aus den sechziger Jahren sind der
direkte, überzeugende Beweis für diese These.
Richard Lester, am 19.1.1932 in den USA geboren, arbeitete für verschiedene
Fernsehprogramme, ab 1955 auch in England. Er wurde bekannt durch Kurzfilmgrotesken
und turbulente Filmkomödien. 1965 erhielt er für “The Knack”/“Der gewisse Kniff” – ein
Porträt des Swinging London – in Cannes die Goldene Palme. In seinen späteren Filmen
spezialisierte er sich auf Genre-Parodien und komödiantische Mantel- und Degen-Filme,
mit denen er aber nicht mehr an die großen Erfolge in den sechziger Jahren anknüpfen
konnte.
Hans Gerhold
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98 Frühstück bei Tiffany
Breakfast at Tiffany's (USA 1961)
Regie: Blake Edwards. Buch: George Axelrod, nach dem Buch von Truman Capote.
Kamera: Franz F. Planer. Musik: Henry Mancini. Darsteller: Audrey Hepburn, George
Peppard, Patricia Neal, Mickey Rooney, Buddy Ebsen. Länge: 114 Minuten. Vertrieb:
CIC Video.
Ausgeflippt war Hollywood schon, bevor das Wort Mode wurde. Einer der schönsten
kinematografischen Beweise für diese zwischen ausgelassener Parodie, grenzenlos
maniriertem Ambiente und surrealem Spaß pendelnde Ver-Rücktheit ist Blake Edward's
Lippenstift-Pikareske “Frühstück bei Tiffany”, die gleich nach dem gleichnamigen
Kurzroman (1958) von Truman Capote entstand. Wie später noch öfter war der Regisseur
Blake Edwards seiner Zeit damit um Jahre voraus.
Holly Golightly (Audrey Hepburn in der Rolle ihrer Karriere) ist ein Manhattan-Model,
Playgirl, Darling und immer auf Männerjagd, Begleiterin schwerreicher graumelierter
Herren. Zu den Künstlern in Greenwich Village, der Jeunesse dorée vom Hudson River
und der Snobiety am Rande der Wall Street will Holly gehören, um jeden Preis, und
deshalb nimmt sie jeden Morgen vor den noch geschlossenen Räumen des Juweliers
Tiffany ihr Frühstück ein: Hörnchen und Milch. Tiffany ist das Ziel, die Endstation
Sehnsucht einer höchst modernen Schwester von Joan Crawford; Tiffany ist das Symbol
von Reichtum, Luxus, Macht und – Lebensstil.
Doch kann diese Jagd manchmal so enden wie der Kater, den Holly in höchster
Verwirrung ihrer widerstreitenden Gefühle in strömendem Regen aus dem Taxi wirft, um
ihn flugs wieder zurückzuholen: Da steht er, das edle Fell zerzaust, zwischen Mülltonnen,
wo er nun wirklich nicht hingehört, dieser zweite “drifter” auf den Wellen des Lebens, die
Holly zwischen Parties, small talk und als unwissende Botengängerin für einige Gangster
auf und ab wirbeln.
Sie wird sich – im Gegensatz zum Roman, in dem sie in Afrika weiter nach den Millionen
jagt – für den dritten “drifter” entscheiden, einen Schriftsteller (George Peppard), der seit
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Jahren nichts mehr geschrieben hat und seine Kreativität gegen das bequeme Leben als
Gigolo einer älteren Frau eingetauscht hat. Diesen Happy-End-Zwang, dem auch
Hitchcock und Welles in ihren Studioarbeiten nicht entgangen sind, mag man als Glättung
eines Themas verstehen, aber damit wird eine Dimension für den Film eröffnet, an die
man vor 27 Jahren noch gar nicht dachte: “Tiffany” ist nämlich auch eine
Erlösungsgeschichte.
Denn erlöst werden Holly und ihr erfolgloser Autor von der Sucht und dem Zwang, ständig
Masken tragen zu müssen, mit geborgten Identitäten zu leben. Sie finden, während der
Sturzbach des New Yorker Regens sie von Puder, Make-Up, Tränen und kaschierten
Gefühlen freispült, zu sich, zum Ich und damit zum Du. Damit nimmt Edwards heitermelancholisch jene Studien urbaner Einsamkeit vorweg, die Woody Allen in seiner
mittleren Periode (von “Manhattan” bis “Hannah und ihre Schwestern”) so meisterhaft
inszeniert. Edwards charakterisiert den hektischen Leerlauf dieses Lebens als das blinde
Rennen, Retten, Flüchten einer Gesellschaft, die die ewige Party feiert, den Hedonismus
als Sinn praktiziert und Kultur konsumiert. Konsequent realisiert er eine verrückte
Partyszene (die nicht im Buch vorkommt), die als Miteinander aneinandervorbeiredender,
-stehender und -laufender Sommergäste bei ihrer eitlen Selbstbespiegelung angelegt ist.
Holly stolziert durch dieses planmäßige Chaos (das Edwards 1967 in “The Party” auf
Spielfilmlänge dehnte) mit einer 40 cm langen Zigarettenspitze und löst eine brillante
Serie von präzise getimten, sich selbst wieder aufhebenden Katastrophen aus: Sie brennt
eine Perücke an, die ebenso unwissentlich wieder gelöscht wird. Diese Party
versammelte zum ersten Mal eine Galerie von Personen, deren sexuelle Identität unsicher
bis zweifelhaft ist, und setzte damit filmhistorisch ein Signal für den kommenden liberalen
Umgang mit der Sexualmoral in Hollywoodfilmen.
Regisseur Blake Edwards, Jahrgang 1922, ist in der Genealogie der Komödienregisseure
der legitime Nachfolger von Lubitsch, Wilder oder Frank Tashlin und hat in seinen rund 40
Spielfilmen alle Arten von Komik ausprobiert – vom anarchischen Slapstick, der flotten
Burleske und der treffsicheren Parodie bis hin zur beißenden Satire und ironischen Farce
–, zumeist mit Erfolg. Zu seinen Meisterwerken gehören “Der Partyschreck” (1967),
“Darling Lili” (1969) und zuletzt “Victor/Victoria” (1982).
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Edwards dreht stets in Cinemascope. Mit seiner außergewöhnlichen Kameraarbeit erzielt
er Raumeffekte von erstaunlicher Souveränität und Tiefe, selbst in Studiokulissen und
Interieurs, oft mit surrealen Effekten. Seit 1960 arbeitet er kontinuierlich mit dem
Komponisten Henry Mancini, der für “Tiffany” zwei Oscars erhielt: für die Musik und den
Song “Moon River”.
Walter Schobert
99 Buster und die Polizei
Cops (USA 1922)
Regie: Buster Keaton und Eddie Cline. Kamera: Elgin Lessley. Ausstattung: Fred
Gabourie. Darsteller: Keaton, Virgina Fox, Joe Roberts. Länge: 18 Min. Vertrieb: Inter
Pathé.
Er war der Mann mit dem steinernen Gesicht. The great stone-face war das
Markenzeichen der Figur Buster, die der Komiker gleichen Namens für sich geschaffen
hatte. Mit ihm ließ sich die Eigenständigkeit Busters gegenüber den Konkurrenten Lloyd,
Langdon und vor allem dem Charlie Chaplin auf einen klaren Begriff bringen – und das
war wichtig für das harte Geschäft der Filmkomik in Hollywood.
Es ist viel geschrieben und gerätselt worden über dieses Gesicht. Es gab biographische
Erklärungen, die auf Keatons frühere Theaterpraxis hinweisen und auf die Anforderungen,
denen der Vater schon den Dreijährigen auf der Bühne aussetzte; da gab es wahrlich
wenig zu lachen für ein Kind. Auch die Rolle des Herumgestoßenen in den rohen
Vaudeville-sketchen wurde angeführt. Es gab auch quasi-philosophische Begründungen:
Buster, der auch Rollo oder Jimmy heißen kann, ist in seinen Filmen immer mit Aufgaben
konfrontiert, die die ganze Anstrengung des Seins symbolisieren; wie anders ließen sie
sich bewältigen als durch äußere Ernsthaftigkeit?
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Man darf freilich nicht übersehen, daß dieses Gesicht mit dem weißen Oval und dem
scharfen Strich des Nasenrückens, das ein wenig an eine archaische Maske erinnert,
seltsam schön ist, zwar starr, aber niemals stumm; zumindest die Lippen bewegen sich,
und die Augen sprechen eine sehr beredte Sprache. Es könnte auch sein, daß das
Gesicht sich der sorgfältigen Arbeit des auf größte Wirksamkeit seiner Figur bedachten
Komikers und Künstlers verdankt. Ein größerer Gegensatz läßt sich nicht denken: Dieser
Körper ist reine Bewegung. Das Gesicht bleibt unbewegt.
“Cops”, einer der kurzen Zweiakter aus den Anfängen seiner Karriere, ist dafür eines der
schönsten und amüsantesten Beispiele. Wie oft bei Buster beginnt alles damit, daß er
einer jungen Dame nicht gut genug ist, noch nicht. Er muß sich, wie im Märchen, erst
Prüfungen unterziehen, ehe er hoffen darf. Schneller als erwartet, kommt er zu dem
Vermögen, das die Angebetete verlangt: Er findet eine prall gefüllte Geldbörse. Die wird er
zwar schnell wieder los, aber das Geld behält er. Wie Hans im Glück tauscht er es bei
einem Gauner gegen ein Fuhrwerk mit betagtem Gaul, worauf er für einen lange
erwarteten Spediteur gehalten wird.
Die Länge der Nacherzählung dieser Exposition steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer
Kürze im Film, wo sie nur wenige Minuten dauert. Der Rest des Filmes läßt sich in einem
Satz beschreiben, aber er macht Zweidrittel seiner Länge aus: Mit dem beladenen Karren
platzt Buster in die jährliche Polizeiparade und sprengt sie, dank einer eingefangenen
Anarchistenbombe, im Wortsinn, worauf die Cops ihn jagen. Diese Jagd und ihre
Inszenierung sind das Ziel des Films: pure Bewegung, pures Kino.
“Cops”: das ist eine der Sternstunden des Akrobaten Keaton, der ein durchtrainierter
Athlet war und nie einen stuntman brauchte. Keiner konnte laufen wie er – in “Cops” kann
man es sehen, wenn er einer immer größeren Zahl von Polizisten durch seine
Behendigkeit durch die Lappen geht. Auch seine Stürze waren ein Markenzeichen. In
“Cops” ist leider kein besonders spektakulärer Sturz zu beobachten. Dafür kann man aber
sehen, wirklich sehen, daß die ganze Akrobatik, so lustig sie ist, erst zur Wirkung kommt
durch den Regisseur Keaton. Mag im immerwährenden Duell zwischen ihm und Chaplin
jeder selbst entscheiden: als Regisseur ist Keaton der Bessere. Kein Komiker kannte die
Mittel des Films besser als er. Er war ein Meister in der Beherrschung des Raums und der
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Zeit. Präzise, mathematisch genau sind die Gags aufgebaut und mit einem untrüglichen
Gefühl für timing. Sie entwickeln sich so klar wie eine Dreisatzrechnung.
Und die Raumbeherrschung: das Spiel mit der Kamera, der Perspektive, der Einstellung!
Schon die erste in “Cops” beweist es: Buster ist hinter Gittern und erst der Schnitt
offenbart, daß es kein Gefängnis ist, sondern ein Parktor, an dem er mit seiner Braut
plaudert. Kein Zufall, daß er die Totale liebt, zeigt sie doch die ganze Welt, die ihn
herausfordert und der er sich stellt. In “Cops” sind die Läufe ins Bild gesetzt, wie Linien in
einer geometrischen Figur, die geformt wird von Häusern, Straßen, den Polizeimassen
und ihm. Keatons Komik ist eine der Symmetrie, mit der er genußvoll und kunstvoll
balanciert; wie auf der erst zur Wippe, dann zu einer Schleuder werdenden Leiter über
dem Bauzaun.
Details über Details, schon bei diesem kurzen Film, über die man ins Schwärmen geraten
könnte, die man nacherzählen möchte. Keaton, der Perfektionist, hat immer alle
Kleinigkeiten kontrolliert; er war ein besessener Handwerker. Manchmal hat er sogar, wie
im “General” (aus diesem Film stammt die Abbildung auf Seite 304), historische Fotos
durch seine Filmbilder rekonstruiert. Selbst die Zwischentitel verraten die Sorgfalt, die er
sich und seinem ständigen Team abverlangt hat. Sie sind oft ein Element eigenständiger
Komik, wenn etwa der Bürgermeister, als die Bombe die Parade durcheinanderbringt,
ausruft: “We need some cops to protect our policemen!”
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Natürlich ist “Cops” nur eine Etüde, auf seine Art ein Meisterwerk, aber keines, bei weitem
nicht, der Hauptwerke Keatons. Die kamen erst in den Jahren darauf: “Our Hospitality”,
“The Navigator”, “The General”. Andere stehen diesen kaum nach. Es war eine glänzende
Serie, die erst Ende der zwanziger Jahre ihr trauriges Ende fand (nicht durch die
Einführung des Tonfilms, wie oft behauptet wird, sondern eher durch persönliche Gründe.)
“Cops” zeigt schon, welches Zeug Keaton und sein Buster hatten. Vieles weist auf die
spätere Meisterschaft voraus.
Aber in dem Kurzfilm fehlt, natürlich, jede tiefere Dimension der Figur, die Keaton ihr erst
in den längeren Filmen geben konnte. Es fehlt zum Beispiel die Umkehrung
Scheitern/Bewältigen; es fehlt zum Beispiel das Spiel mit den Analogien, das erklärt,
warum er ein Liebling der Surrealisten war; es fehlt natürlich alles, was die schon
angesprochenen philosophischen Diskurse provozieren könnte über Buster, der auszieht,
trotz schlechter Voraussetzung, den Alltag, das Leben zu meistern, die Welt zu
verarbeiten. Es fehlt auch der geniale Ingenieur Keaton, der seinen Buster hinreißende
Maschinen bauen läßt.
Aber, und hier sind wir wieder beim Grundproblem unserer Serie: auf Video gibt es eben
nicht die Hauptwerke, sondern nur “Cops” (und “Balloonatics”). Das ist weiß Gott besser
als nichts; denn ein Keaton soll und muß in dieser Reihe vertreten sein.
Meinolf Zurhorst
100 Doktor Schiwago
Dr. Zhivago (USA 1965)
Regie: David Lean. Buch: Robert Bolt, nach dem gleichnamigen Roman von Boris
Pasternak. Kamera: Fred A. Young. Musik: Maurice Jarre. Darsteller: Ornar Sharif,
Geraldine Chaplin, Julie Christie, Tom Courtenay, Rod Steiger, Alec Guinness, Ralph
Richardson. Länge: 184 Minuten. Vertrieb: IMV.
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Millionen in aller Welt waren zu Tränen gerührt. Von einem mehr als dreistündigen
Mammutepos mit überbordenden Gefühlen förmlich in die Kinosessel gedrückt, von der
Tragik der Leinwandschicksale überwältigt und dem Charme der (damals unbekannten
Hauptdarsteller) begeistert. David Leans monumentales Epos “Dr. Schiwago” war einer
der großen Kinoerfolge in den sechziger Jahren, zu deren Beginn der Autor der
Romanvorlage gestorben war.
Boris Pasternak, 1890 in Moskau geboren, erlebte – nach Studienaufenthalten in Paris,
Marburg und Italien – die Oktoberrevolution und etablierte sich in seiner Heimat als
Dichter. Doch schon 1933 geriet er in politisches Ungemach. Statt eigenen literarischen
Arbeiten übersetzte er Shakespeare, Goethe und Schiller. Erst 1954 wurde sein
berühmter Roman in der Sowjetunion angekündigt. Zugleich aber schickte Pasternak sein
Werk in den Westen, wo es 1957 vom italienischen Verleger Feltrinelli veröffentlicht
wurde.
Der in viele Sprachen übersetzte Roman gilt inzwischen als eines der großen literarischen
Werke dieses Jahrhunderts; er war nicht nur künstlerisch erfolgreich, sondern wurde auch
viel gelesen. 1958 wurde Pasternak der Nobelpreis verliehen, doch er mußte die
Auszeichnung ablehnen, denn man hätte ihn nach der Ehrung nicht wieder in seine
Heimat einreisen lassen. Dreißig Jahre lang blieb dieses Hauptwerk der russischen
Literatur in der Sowjetunion unveröffentlicht. Pasternak selbst zeigte sich dem politischen
Druck in seiner Heimat nicht gewachsen und schrieb einen Widerruf. Sein Roman aber
blieb weiter unpubliziert. Erst dreißig Jahre nach seinem Erscheinen wurden, dank des
vielzitierten “Glasnost”, erste Passagen des Werkes gedruckt, Pasternak posthum in den
sowjetischen Schriftstellerverband wieder aufgenommen. Das bringt auch den
gleichnamigen Film wieder in Erinnerung, mittlerweile ein Klassiker des romantischen
Epos, dessen Meister der Brite David Lean ist.
Der Revolutions-General Jewgraf Schiwago (Alec Guinness) findet nach jahrelanger
Suche ein Mädchen (Rita Tushingham), das er für die Tochter seines verstorbenen
Halbbruders Jurij hält. Er erzählt dem nichtsahnenden Mädchen die traurige Geschichte
seiner Eltern.
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Der als Waise bei reichen Verwandten aufgewachsene Jurij (Omar Sharif) studiert
Medizin und schreibt Gedichte. Wie selbstverständlich heiratet er Tonja (Geraldine
Chaplin), die Tochter seiner Pflegeeltern. Ihre Verbindung ist glücklich, auch die ersten
Zeichen der Revolution können ihr Verhältnis nicht beeinträchtigen. Durch Zufall aber lernt
Jurij die junge Lara (Julie Christie) kennen, die einen Selbstmordversuch unternommen
hat, um ihrer Hörigkeit gegenüber dem opportunistischen Politiker und Geschäftemacher
Komarovskij (Rod Steiger) zu entkommen.
Immer wieder führt das Schicksal Jurij und Lara zusammen. 1914, im ersten Weltkrieg,
während Jurij als Frontarzt arbeitet, ist Lara, inzwischen mit dem jungen Revolutionär
Pascha (Tom Courtenay) verheiratet, seine Helferin und engste Vertraute. Ihre Bindung
wächst und vertieft sich. Nach der Oktoberrevolution, vor deren Wirren Schiwago und
seine Familie aufs Land fliehen, wird aus ihrer Bindung Liebe. Denn der Zufall will es, daß
Lara mit ihrer Tochter in der Nähe von Schiwagos selbstgewähltem Exil lebt. Wieder
werden sie voneinander getrennt, Partisanen verschleppen Schiwago und zwingen ihn, ihr
Arzt zu sein, doch nach einigen Jahren findet Jurij Lara wieder. Sie verbringen einen
gemeinsamen glücklichen Winter in der ländlichen Abgeschiedenheit. Jurij beginnt wieder
zu dichten, doch ihr Glück währt nur kurz. Komarovskij taucht wieder auf und bietet seine
Hilfe an. Er will Lara außer Landes bringen, denn als Frau eines in Ungnade gefallenen
Revolutionärs ist sie selbst in Gefahr. Lara weigert sich, Jurij zu verlassen. Mit einem
Trick gelingt es Schiwago, Lara dazu zu bringen, in Komarovskijs Schlitten zu steigen.
Beide werden sich nie wieder sehen. Zurück in Moskau stirbt Jurij durch einen Herzanfall,
als er versucht, eine Frau zu erreichen, die Lara sein könnte. Dem Mädchen, dem Jewgraf
Schiwago diese herzergreifende Geschichte erzählt, bedeutet das alles sehr wenig. Sie
kann sich an nichts mehr erinnern, sie lebt ihr eigenes Leben. Und das weist nur in die
Zukunft.
Zusammen mit dem Drehbuchautor und Dramatiker Robert Bolt gelang es David Lean, die
gewaltige Stoffülle des Romans, der von einem mehr als dreißigjährigen Zeitraum handelt,
in einem bewegenden und in seinen Massenszenen beeindruckenden Film zu
komprimieren. Wie nur wenige Filmemacher versteht es Lean dabei, zuletzt in “Die Reise
nach Indien”, einen historischen Hintergrund mit emotionaler Tiefe zu verbinden. Lean ist
gewiß ein konventioneller Regisseur, doch ihm gelingen Szenen, die Filmgeschichte
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machten. Die Abschiede zwischen Jurij und Lara gehören zum klassischen Arsenal des
romantischen Kinos. Wo viele in den Kitsch abgeglitten wären, behauptete Lean mit
Stilwillen und inszenatorischer Raffinesse eine künstlerische Eigenständigkeit, die die
literarische Größe der Vorlage respektierte. Sechs “Oscars” waren nur ein oberflächlicher
Lohn für diese Bemühungen. Der anhaltende Publikumszuspruch, die emotionale
Wirkung, die der Film noch immer erzeugt, deuten auf die Zeitlosigkeit des Werkes hin.
Wolfgang Schwarzer
101 Die Regenschirme von Cherbourg
Les parapluies de Cherbourg (Frankreich/BRD 1963)
Buch und Regie: Jacques Demy, Kamera: Jean Rabier. Musik: Michel Legrand.
Darsteller: Catherine Deneuve, Nino Castelnuovo, Anne Vernon, Ellen Ferner, Marc
Michel, Mireille Perrey. Länge: 90 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Ein Außenseiter, der Unzeitgemäßes hervorbringt – dieses Etikett trifft wohl für Jacques
Demy zu. Und es klingt wie Abwertung, wie Vorverurteilung. Das große Publikum hat
seine Filme in der Regel gemieden. So mancher Kritiker fühlte sich zu einer Ehrenrettung
bemüßigt. Andere sehen in ihm den größten französischen Filmemacher. Mit elf
Spielfilmen für das Kino seit 1960 ist sein Werk schmal. Schmal wie der Rücken eines
Bändchens Poesie, das zwischen Folianten auf dem Bücherregal darbt, und dessen
Gehalt dem ihren allemal die Waage hält.
Die beiden Kurzfilme, mit denen er 1956 und 1957 debütiert, nehmen Grundzüge seines
Werkes vorweg. “Le sabotier du Val de Loire” dokumentiert bis zur kleinsten Geste getreu
das aussterbende Metier des Holzschuhmachers. Die exakte Beobachtung eines
Handwerks wird durch Demys Blick unvermittelt auch zum poetischen Essay über das
Ausklingen einer Epoche, zu deren letzten lebendigen Zeugen diese abgeschiedene
Werkstatt gehört, und damit auch über das Verrinnen der Zeit. “Le bel indifférent”, nach
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Cocteaus Einakter, experimentiert unkonventionell mit dem Zusammenspiel von Farbe,
Dekors und Kameraeinstellungen.
Das Produktionssystem der “Nouvelle Vague” eröffnet Demy die Möglichkeit, seinen
ersten Spielfilm, “Lola” (1960), zu drehen, der auch Beginn einer für den Regisseur
richtungsweisenden Zusammenarbeit mit dem Komponisten Michel Legrand ist. Wenn
Roland Cassard drei Jahre später in den “Regenschirmen” von seiner enttäuschten Liebe
zu einer Frau erzählt, so spielt er auf die Handlung dieses Films an.
Mit den “Regenschirmen” entwickelt Demy seinen unverwechselbaren Stil, der ihm
weltweite Anerkennung bei Kritik und Publikum und einen Platz in der Filmgeschichte
sicherte. Ein unwiederholbarer Jubel indes. Der Film sollte als Erfolg vom Regisseur
unübertroffen bleiben. Schule machte er nicht und fand keine Nachahmer, da die
Konfrontation der ausschließlich gesungenen Dialoge mit dem realistischen Stil der
Darstellung in dieser Form als sehr individuelle Ausdrucksform Demys angesehen werden
muß. Sadoul sprach hilflos von “poetischem Neorealismus”.
Die Geschichte präsentiert sich als lakonisches Melodram. Der 20jährige Automechaniker
Guy liebt die 17jährige Geneviève, deren Mutter in Cherbourg ein Regenschirmgeschäft
besitzt. Guy wird im November 1957 zum Wehrdienst nach Algerien einberufen.
Geneviève, die ein Kind von ihm erwartet, leidet sehr unter der Trennung. Als lange Zeit
keine Nachricht von Guy eintrifft, gibt sie dem Werben des Diamantenhändlers Roland
Cassard nach, der sie heiratet und das Kind adoptiert.
Guy trifft diese Nachricht tief, als er im März 1959, körperlich und seelisch angegriffen,
aus Algerien heimkehrt. Nach einer Zeit der Verzweiflung eröffnet er im Juni desselben
Jahres mit der Erbschaft seiner verstorbenen Tante eine Tankstelle und heiratet
Madeleine, die ihm und der Tante seit langem still und zurückhaltend nahegestanden
hatte.
Am Weihnachtsabend des Jahres 1963 hält ein Mercedes vor der Tankstelle. Die Fahrerin
ist Geneviève, nicht mehr das junge Mädchen, sondern eine sichtbar wohlhabende Frau.
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Guy und seine einstige große Liebe haben sich nichts mehr zu sagen. Sie trennen sich
wie flüchtige Bekannte.
Die Schritt für Schritt exakt datierte Entwicklung der Geschichte umfaßt sechs Jahre, in
deren Verlauf sich das Leben aller Hauptpersonen schicksalhaft verändert – und nach
denen auch Frankreich nicht mehr derselbe Staat ist wie zuvor.
Demy gehört zu den raren Ausnahmen, die die Aktualität des Algerienkrieges
thematisieren, welche sonst nur in der manipulierten Hofberichterstattung der staatlich
gelenkten Medien angesprochen oder von der Zensur unter den Tisch gekehrt wird.
Offiziell existiert dieser Krieg nicht, aber dennoch prägt er in undramatischen
Entwicklungen von banaler Alltäglichkeit die Menschen. Diese Veränderungen sind es,
denen Demy nachspürt.
Genevièves Schicksal ist durch Guys Abwesenheit, durch das ihm aufgezwungene
Schweigen geprägt. Guy verleiht jener verlorenen Generation ein Gesicht, die durch das
Grauen verändert wurde, das man vor den Daheimgebliebenen verleugnete. Als er,
gezeichnet von der Katastrophe, heimkehrt, findet er eine veränderte Welt vor. Die
verrinnende Zeit, die Wandlung der Stadt Cherbourg und die Entfremdung der Menschen
sind Demys zentrale Themen, deren Bitterkeit er in einer Atmosphäre melancholischer
Poesie vermittelt.
Die in Alltagssprache gehaltenen Dialoge werden ausnahmslos als Rezitative zu
Legrands expressiver Musik gesungen. Ein Stilmittel, das als effektvoller Kontrapunkt zu
den realistischen, bestechend komponierten Dekors und Farben Bernard Eveins
erscheint. Jean Rabiers Bilder verleihen den Ebenen der Inszenierung, welche auf ein
Gesamtkunstwerk zielt, bruchlosen Zusammenhalt. Die Schauspieler nehmen in
bewundernswerter Disziplin und Natürlichkeit ihren Platz in dem fragilen Gebilde ein. Die
junge Catherine Deneuve legte mit der Interpretation der Geneviève den Grundstein für
ihren Weltruhm. Jacques Demy erhielt für “Die Regenschirme von Cherbourg” den prix
Louis Delluc und die Goldene Palme beim Festival von Cannes 1964.
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Walter Schobert
102 Der Kontrakt des Zeichners
The Draughtsman's Contract (Großbritannien 1982)
Buch und Regie: Peter Greenaway. Kamera: Curtis Clark. Musik: Michael Nyman.
Darsteller: Anthony Higgins, Janet Suzman, Anne Louise Lambert, Hugh Frazer, Neil
Cunningham. Länge: 108 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Dies ist der seltene Fall eines Films, der exzellente Unterhaltung mit intellektuellen
Ambitionen und formalen Experimenten verbindet: eine Versöhnung von Erzählkino und
Avantgardefilm. Zu ihm, seiner (britischen) Variante des “structuralism”, rechnete
Greenaway, der seinen Unterhalt als Filmcutter verdiente und sich auch als Maler,
Romancier und Buchillustrator betätigte, fünfzehn Jahre lang, ehe er vom Britischen FilmInstitut nach intrigenreichen Auseinandersetzungen die Mittel für “Der Kontrakt des
Zeichners” bekam. Die zugesagten 180 000 Pfund reichten zwar nicht aus und mußten
am Ende auf 300 000 erhöht werden: für einen Spielfilm jedoch immer noch ein lächerlich
geringer Betrag, der die Bewunderung für Greenaway und die visuelle Opulenz seines
Films noch erhöht.
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Die Diskrepanz zwischen den ärmlichen
Produktionsmitteln und dem Reichtum des
Films erinnert an Werner Nekes' “Uliisses”,
Greenaways bundesdeutschen Bruder im
Geist, der methodisch ähnlich arbeitet und
seine Geschichten entstehen läßt aus einer
kaum je ganz entschlüsselbaren Fülle von
literarischen, kunsthistorischen und
kinematographischen Anspielungen,
Verweisen, Assoziationen, mit einer aufund anregenden Selbstverständlichkeit,
Eleganz und Sinnlichkeit, die den Film als
außerordentlichen Genuß erleben, als im
modernen Kino beispiellos erscheinen läßt
und an literarische Abenteuer erinnert, wie
sie ein Arno Schmidt, ein Joyce ihren
Lesern schenken oder deren geistige Väter
Jean Paul und Laurence Sterne und dessen
“Tristram Shandy”.
Der drängt sich überhaupt ständig auf, schon wegen des souveränen Witzes und des
doppelbödigen Humors, aber auch wegen der Zeit, in der Greenaway seinen Film
angesiedelt hat: Ende des 17. Jahrhunderts, genauer 1694. Das war die Zeit, als in
England die landbesitzenden kleinen Adligen den Stolz auf ihre Nation und ihren
Protestantismus durch wohlgepflegte Landsitze ausdrückten, sich prächtige Häuser
bauten und eindrucksvolle Gärten anlegten. Sie liebten es auch, die Künste zu fördern
was den angenehmen Nebeneffekt hatte, daß die bescheiden honorierten Maler mit ihren
Porträts von Familienangehörigen und mit ihren Landschaftsbildern den Besitz und den
Wohlstand ihrer Auftraggeber für die Nachwelt dokumentierten.
Solch ein Adliger ist Mr. Herbert, auf dessen Gut in Compton Anstey in Wiltshire sich der
ehrgeizige Zeichner Mr. Neville aufhält. Als Mr. Herbert nach Southampton abreist, um
sich dort zu vergnügen, läßt sich Neville entgegen seiner ursprünglichen Weigerung von
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der Dame des Hauses überreden, zwölf Ansichten des Hauses und des Gartens
anzufertigen; zu seinem Honorar gehört, daß Mrs. Herbert “ihm zu festgesetzten Zeiten
zur Verfügung” stehen muß. Neville geht an die Arbeit, teilt den Tag in Abschnitte, in
denen er jeweils an einem Motiv arbeitet, verlangt, daß in diesen Zeiten alles
menschenleer zu sein und immer gleich auszusehen habe: er fühlt sich ganz als der
allmächtige Künstler, der seinen Anspruch, die Wahrheit zu zeichnen, realisiert und allen
seinen Willen aufzwingt. Eine Leiter hat immer am gleichen Fleck zu stehen, die Wäsche
immer gleich angeordnet zu sein, und als der Schwiegersohn vor sein als Zeichenhilfe
benutztes Perspektiv gerät, fordert er, daß er täglich wiederzukommen habe – im gleichen
Rock.
Greenaway erzählt in kräftigen, leuchtenden Bildern, den schönsten, den man seit
Kubricks “Barry Lyndon” gesehen hat: Bilder einer herrlichen Landschaft, Bilder, die
dunkel im Kerzenlicht schimmern. Er schwelgt in Schönheit, die durch die an Purcell sich
orientierende Musik seines Komponisten Michael Nyman noch intensiviert wird. Es breitet
sich das behagliche Gefühl aus, in einem äußerst sorgfältig inszenierten Historienfilm zu
sein.
Doch dann stören bei der Musik seltsame Disharmonien. Man wundert sich über die
sexuelle Gewalttätigkeit des Malers. Man bemerkt, daß die Kostüme übertrieben sind, daß
die kunstvoll aufgetürmten Perücken wohl niemals so hoch waren, die Sprache schwerlich
so stilisiert. Plötzlich scheint auch das Gras des englischen Rasens unnatürlich, fast giftig:
Unterderhand hat sich der Ausstattungsfilm in einen Thriller verwandelt. Tatsächlich muß
Neville, spätestens als er an die zweite Serie seiner Zeichnungen geht, feststellen, daß
nicht er die Handlung bestimmt, sondern andere ein Spiel treiben, in dem ihm eine Rolle
zugedacht ist, die er (und der Zuschauer) bestenfalls ahnen. Der Kontrakt wird ergänzt:
die Tochter des Hauses zwingt ihn dazu, “ihr zur Verfügung zu stehen”. Daß Neville Opfer
einer kunstvollen und raffinierten Intrige ist, wird deutlich, als am Tage seiner Abreise der
Leichnam des Hausherrn im Wassergraben gefunden wird. Der bleibt nicht das einzige
Opfer: Neville wird, soviel sei gesagt, ohne das Spiel zu verderben und zuviel zu verraten,
für seinen Hochmut bestraft – mit der zeitgemäßen Brutalität der Gesellschaft, die nur
äußerlich elegant war und nicht zufällig für Hygiene und Kosmetik nur Unmengen von
Puder benötigte.
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Als Krimi steht der Film in einer guten englischen Tradition: Seine anheimelnde
Verpackung und sein Verzicht auf Grobheiten läßt das Schaudern noch fröhlicher
genießen als sonst. Doch die wiedererzählbare Geschichte ist bestenfalls die äußere Haut
dieses Films, der sich schälen läßt wie eine Zwiebel. Es ist der Geduld, der
Hartnäckigkeit, der Wißbegier (und der Genußsucht) des Zuschauers überlassen, ob er
sich mit der Oberfläche zufriedengibt oder zu weiteren Schichten vordringen will. Er wird
dann vielleicht bestimmten Strukturen auf die Spur kommen, die die Montage bestimmen.
Er wird feststellen, daß Greenaways Bilder denen der Landschaftsmaler des 17.
Jahrhunderts entsprechen und fein durchkomponiert sind: Dies ist ein Film über und von
einem Zeichner (die Ansichten im Film stammen von Greenaway), und zurecht nennt der
Regisseur sein Werk einen Film über Figuren in einer Landschaft. Sie sind fotografiert,
wie es seinerzeit Resnais in “Marienbad” gemacht hat; dessen Kameramann Sacha
Vierny hat sich Greenaway für seine nächsten Arbeiten “Ein Z und zwei Nullen” und “Der
Bauch des Architekten” geholt.
Auch der fleißigste Zuschauer wird nicht alle Rätsel lösen. Was zum Beispiel bedeutet die
immer wieder auftauchende und in die Handlung eingreifende lebende Statue? Ist sie
mehr als ein witziger Einfall? Dieser Film ist ein Vexierspiel, und wer will, kann ihn auch
als philosophischen Diskurs sehen, zum Beispiel über den Unterschied zwischen der
Wahrheit (der Suche nach ihr) und der Wahrnehmung – ein Thema, das sich wie ein
Leitmotiv durch den ganzen Film zieht: Das Perspektiv, das Neville benutzt, ist nicht nur
Requisit, sondern macht, indem es sich ständig zwischen den Zuschauer und das
Abgebildete schiebt, bewußt, daß wir uns in einer Schule der Wahrnehmung befinden.
Auch dieses Thema übrigens teilt Greenaway mit Nekes (und Resnais). Verlorene
Liebesmüh, hier fortzufahren und zu versuchen, den Film auszuschöpfen. Am besten,
man schaut ihn sich an, wieder und wieder.
Horst Schäfer
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103 Nackte Jugend
Seishun Zankoku Monogatari (Japan 1960)
Buch und Regie: Nagisa Oshima. Kamera: Ko Kawamata. Musik: Riichiro Manabe.
Darsteller: Miyuki Kuwano, Yusuke Kawazu, Yoshiko Kuga, Fumio Wataanabe. Länge:
93 Minuten. Vertrieb: VCL/Virgin.
Tokio 1960. Kiyoshi, Student der Philosophie, hilft der Oberschülerin Makoto aus der
Klemme, als sie von einem Mann belästigt wird; sie lernen sich kennen, bleiben
zusammen. Kiyoshi hält nicht viel vom Studium, sondern träumt von einem freien und
ungebundenen Leben mit Mädchen, Rockmusik, Whisky und Zigaretten; er sucht die
Bekanntschaft von “harten Jungs”, die von Zuhälterei und kleinen Gaunereien leben. Die
lebenshungrige Makoto trennt sich von ihrem Elternhaus, weil man ihren neuen Umgang
nicht billigt, und zieht zu Kiyoshi. Besonders ihre ältere Schwester, die sehr früh ihre
Ideale begraben mußte und streng erzogen wurde, hat kein Verständnis für Makotos
Lebensweise. Aber um so leben zu können, braucht man Geld. Makoto und Kiyoshi
nehmen ältere Männer aus. Zum Schein läßt sie sich auf sie ein, macht sie an und
provoziert eine Situation, die das Eingreifen des zufällig auftauchenden Kiyoshi erzwingt.
Mit der Drohung, zur Polizei zu gehen, erpressen sie Geld.
Makoto vernachlässigt die Schule und gerät in schlechten Ruf. Sie versucht vergeblich,
sich von Kiyoshis Einfluß zu befreien. Als sie schwanger ist, wird eine Abtreibung
vorgenommen. Danach haben beide den festen Vorsatz, ihr Leben zu ändern und einen
Neuanfang zu versuchen. Aber zu spät, die Vergangenheit holt sie ein. Wegen Nötigung
und Erpressung kommt Kiyoshi ins Gefängnis. Die minderjährige Makoto wird in eine
Besserungsanstalt eingewiesen. Durch alte Beziehungen und Verbindungen erreicht
Kiyoshi, daß die Anzeige zurückgenommen wird und sie wieder freikommen, doch die
Kraft für ein neues gemeinsames Leben bringen sie jetzt nicht mehr auf. Sie trennen sich.
Kiyoshi wird von der Zuhältergang brutal zusammengeschlagen, weil er sich weigert,
Makoto der Bande auszuliefern. Makoto springt an einer anderen Stelle der Stadt aus
einem fahrenden Auto, weil sie sich von dem Fahrer bedroht fühlt. Beide sterben auf der
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Straße. Eine Parallelmontage führt sie im Schlußbild wieder zusammen – aber nicht
zueinander.
Oshimas Film erinnert in seinen schnellen Schnitten, mit seinen irritierenden Brüchen und
harten Übergängen, im Handlungstempo und in der Verwendung von schriller, lauter
Musik, sehr stark an die Eddie Constantine-Filme jener Zeit: schnörkellos und direkt zur
Sache kommend. “Nackte Jugend” ist ein wütender und radikaler “Halbstarken”-Film, mit
einer auf hektische Großstadtatmosphäre fixierten expressiven Kamera und mit den
Neon-Farben der Beton- und Plastikwelt. Der Regisseur, 1932 auf einer Insel zwischen
Japan und Korea geboren, politisch aktiver Student und Cineast, war 28 Jahre alt, als er
diesen Film drehte. Er zeigt seine Generation als Opfer der Widersprüche dieser Zeit; es
ist “die Geschichte einer Jugend, die ihren Zorn nur auf Umwegen zum Ausdruck bringen
kann. Indem ich die Tragödie der Jugendlichen zeige, die eine schöne Jugend hätten
haben können, jedoch so sehr in die Enge getrieben wurden, daß ihnen nur noch eine
klägliche, erbärmliche Niederlage blieb, will ich meine eigene Empörung über die Situation
zum Ausdruck bringen, mit der die heutige Jugend sich herumschlagen muß”.
“Nackte Jugend” ist ein “Zeit- und Sittenbild” über existentialistische Lebensformen, über
Jugend, Sexualität und Gewalt – und über das Cliquenverhalten, das sich in Japan nicht
anders abspielt als in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten. Neben Kiyoshi und
Makoto sind auch andere Jugendliche zu sehen; solche, die sich politisch engagieren,
sich an Demonstrationen beteiligen. In die Spielfilmhandlung eingefügt sind
Dokumentaraufnahmen von Studentenprotesten gegen den japanischamerikanischen
Sicherheitspakt, was einen authentischen Eindruck von dem widersprüchlichen
Lebensgefühl der japanischen Jugend vermittelt, die sich einerseits am amerikanischen
Lebensstil orientiert, andererseits gegen die zu enge Bindung an die Politik dieses Landes
protestiert.
Die Handlung des Films ist schlicht und einfach, eigentlich banal. Aber sie wird erzählt in
einer raschen Folge greller Momentaufnahmen von aufbegehrenden, rebellierenden
Großstadtjugendlichen, und es ist deutlich zu erkennen, daß sie orientierungslos sind, die
alten Werte verworfen, mit der Tradition gebrochen haben und ihre (kulturelle) Identität
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suchen. Es ist aber auch ein Film über und für die Elterngeneration, denn er führt ihr das
Scheitern ihrer politischen Utopien vor Augen.
Oshimas Film war seiner Zeit in vielen Dingen weit voraus. Er kam relativ schnell (1962)
in unsere Kinos und wurde von der Kritik als “gröblich verzerrtes Bild” mit “pessimistischer
und sadistischer Tendenz” abgetan. Heute – nach seiner Wiederaufführung 1986 – wird er
mit anderen Augen betrachtet: als “Frühwerk des Meisters”, von “großer visueller Kraft”
und “künstlerisch noch aktuell”. Zu der Neubewertung hat zweifellos die
Auseinandersetzung beigetragen, die dem “Skandal” um die verbotene Aufführung von
Oshimas Film “Im Reich der Sinne” 1976 in Berlin folgte. “Nackte Jugend” steht jetzt
gleichrangig neben zwei anderen Klassikern, die zeitgleich entstanden sind: “Denn sie
wissen nicht, was sie tun” (Nicholas Ray, USA 1955) und “Außer Atem” (Jean-Luc
Godard, Frankreich 1959).
VCL Communications verbreitet den Film unter dem Titel “Nackte Jugend” – so, wie er
auch 1962 in unsere Kinos kam. Eine andere Titelübersetzung war “Grausame
Geschichten einer Jugend”, was dem Werk gerechter würde. Das für die Entstehungszeit
typische CS-Format “schmälert” das Erscheinungsbild und den Genuß des Films auf dem
Bildschirm, leider. Dafür aber wurde der sehr schöne, plakative Original-Vorspann
beibehalten; vielleicht als kleine Entschädigung für die reißerische und wenig subtile
Aufmachung des Covers. Das Buch zum Film: “Die Ahnung der Freiheit”, streitbare
Schriften des Regisseurs, erschien im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1982.
Reinhard Kleber
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104 Ronja, die Räubertochter
Ronja Rövardotter (Schweden 1984)
Regie: Tage Danielsson. Buch: Astrid Lindgren nach ihrem gleichnamigen Roman.
Kamera: Rune Erikson. Musik: Björn Isfält. Darsteller: Hanna Zetterberg, Dan Håfström,
Lena Nyman, Per Oscarsson. Länge: 121 Minuten. Vertrieb: Taurus Video.
In einer stürmischen Gewitternacht bringt Lovis ihrem Mann, dem Räuberhauptmann
Mattis, eine Tochter zur Welt. Zur gleichen Zeit spaltet ein Blitz die Räuberburg in zwei
Hälften. Dazwischen klafft nun ein gefährlicher Höllenschlund im Berg. Zwölf Jahre später
entdeckt Ronja, die Räuberstochter, daß der zweite, vermeintlich unzugängliche
Felsenburgteil von der feindlichen Sippe des Räuberkonkurrenten Borka besetzt worden
ist. Zwischen den rauhbeinigen Räuberhäuptlingen und ihren ungebärdigen Banden bricht
eine alte Fehde wieder auf.
Ronja lernt inzwischen Borkas Sohn Birk kennen, der in der gleichen Nacht wie sie selbst
geboren wurde. Auf ihren abenteuerlichen Streifzügen durch die urwüchsigen Wälder, die
von allerlei bedrohlichen und betulichen Fabelwesen bevölkert sind, bestehen beide
gemeinsame Gefahren. Einmal rettet sie Birk in der gefährlichen Höllenschlucht das
Leben, ein andermal rettet er Ronja knapp vor dem Sturz in einen Wasserfall. Die
geschwisterliche Kinderfreundschaft blüht bald auf zur ersten Liebe. Doch die beiden
müssen ihre aufkeimenden Gefühle verheimlichen. Weil sich ihnen die verfeindeten
Räuberclans in den Weg stellen, reißen Ronja und Birk schließlich aus. In einer
Bärenhöhle richten sie sich häuslich ein und ernähren sich von Lachsfang und von
Stutenmilch.
Doch der dickschädelige Räubervater Ronjas kann den Verlust der Tochter nicht ertragen
und holt die Verstoßene wieder heim in die Mattisburg. Durch ihre Hartnäckigkeit schaffen
es die Sprößlinge schließlich sogar, ihre Väter zu versöhnen, die sich nun mit vereinten
Kräften gegen die feindlichen Landsknechte behaupten können. Ronja und Birk sind also
nicht Romeo und Julia. Die zarten Bande werden in diesem romantischen
Abenteuermärchen nicht abrupt gekappt wie in Shakespeares Tragödie. Die von ihren
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Kindern zur Raison gebrachten Eltern erlauben in Zukunft den gemeinsamen
Sommeraufenthalt des Nachwuchses in der Bärenhöhle. Eines jedoch ist gewiß: Räuber
wollen die beiden nicht werden.
Mit diesem Film ist dem schwedischen Regisseur Tage Danielsson und der
Kinderbuchautorin Astrid Lindgren vor vier Jahren ein großer Wurf gelungen. Wie zu den
meisten Verfilmungen ihrer Werke hat die greise Schriftstellerin auch diesmal das
Drehbuch selbst geschrieben. Zwar ist die Liebesgeschichte im Film entschärft worden,
ansonsten jedoch sind Geist und Sinn der literarischen Vorlage adäquat bewahrt. Der
Kinderbuchfilm ist zugleich ein Bilderbuchfilm.
Der einfühlsame Regisseur hat das Seinige dazugetan, indem er erstklassige
Schauspieler zu Höchstleistungen anspornte. Börle Ahlstedt etwa weiß dem gutmütigen
Mattis reiche Facetten abzugewinnen. Die beiden Hauptdarsteller Hanna Zetterberg und
Dan Håfström als Ronja und Birk sind Glücksbesetzungen. Selbst Nebenfiguren sind noch
psychologisch durchgezeichnet. Der Kameramann Rune Ericson hat traumhaft schöne,
archaische Landschaften des hohen Nordens in leuchtenden Farben fotografiert. Die
Tricktechniker und Kostümbildner haben Grau-Gnomen und Wild-Druden zum Leben
erweckt.
“Ich möchte gerne, daß meine Filme Kinderfilme und Filme für Erwachsene sind.” Dieser
Wunsch hat sich erfüllt. Genau genommen ist “Ronja Räuberstochter” ein Familienfilm par
excellence. Obwohl sich bei dem Robin-Hood-ähnlichen Thema Gewaltszenen angeboten
hätten, verzichtet der Film auf unnötige Brutalitäten. Für seine “besondere Phantasie”
erhielt die aufwendige schwedisch-norwegische Koproduktion bei der Berlinale 1985
einen Silbernen Bären.
Kritik fällt bei diesem Meisterwerk nicht leicht. Immerhin ist der gut zweistündigen Kinobeziehungsweise Videofassung bei manchen harten Schnitten und abrupten
Szenenwechseln anzumerken, daß ihr eine längere Fernsehfassung, die das
mitproduzierende ZDF zum “Astrid-Lindgren-Jahr” (1987) ausstrahlte, zugrunde lag. Die
niedlichenWichtel sind in überflüssiger Anlehnung an amerikanischen Fantasy-Kitsch allzu
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süßlich geraten. Auch die computeranimierten Wild-Druden, die wie Hitchcocks “Vögel”
auf die Kinderköpfe niederstoßen, fallen aus der perfekt inszenierten Naturidylle heraus.
Zwischen all den herrlichen Bildern erscheint nur gelegentlich verstohlen der
pädagogische Zeigefinger: “Ronja Räubertochter” will gewiß nicht plump moralisieren, hat
aber doch moralische Anliegen. So wirbt der Film dafür, Kinder als eigenständige
Persönlichkeiten anzuerkennen. “Besonders wertvoll” – nicht nur durch das
Filmbewertungsprädikat macht den Film die souveräne Art und Weise, wie hier gezeigt
wird, daß kindliche Ängste spielerisch bewältigt werden können, indem man sich ihnen
mutig, aber umsichtig aussetzt, und daß Erwachsenwerden ein schmerzlicher
Abnabelungsprozeß ist, bei dem man lernen muß, Vertrauen zu sich und anderen zu
fassen. Dabei wird allerdings der von Machtstreben beherrschten Welt der Erwachsenen
das kindliche Reich der Liebe und Hilfsbereitschaft gegenübergestellt.
Bei ihrem Plädoyer gegen Gewalt überzeugen die Kinder am Ende ihre Väter, sie nehmen
ihre Zukunft in die eigene Hand. Hier schimmert die Überzeugung der Lindgren durch, daß
die Erwachsenen, wenn sie sich überhaupt ändern wollen, von den Kindern lernen
können, ja müssen. In einer solch friedlichen Utopie zählt dann selbst ein faustgroßer
Silberklumpen nichts mehr – Ronja wirft ihn am Schluß einfach in den Fluß.
Insgesamt hält der Film bewundernswerte Balance zwischen humanistischer
Wertevermittlung und schwelgerischer Räuberballade, zwischen geschickter
Räuberwaldpädagogik und beschwingtem Kinoabenteuer. “Ronja Räubertochter” ist ein
Glückstreffer für's Kinderkino. Der Regisseur Tage Danielsson starb am 13. Oktober 1985
im Alter von 57 Jahren. Weitere heiter-skurrile Filme, wie sie typisch für ihn waren, wird es
nun leider nicht mehr geben.
Meinolf Zurhorst
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105 Jäger des verlorenen Schatzes
Raiders of the Lost Ark (USA 1981)
Regie: Steven Spielberg. Buch: Lawrence Kasdan, nach einer Story von George Lucas
und Philip Kaufman. Kamera: Douglas Slocomb, Paul Beeson. Musik: John Williams.
Darsteller: Harrison Ford, Karen Allen, Paul Freeman, Ronald Lacey, Denholm Elliott,
Alfred Molina. Länge: 115 Minuten. Vertrieb: CIC Video.
Die Idee entstand im Mai 1977 auf Hawaii. Steven Spielberg und George Lucas, bereits
als Wunderkinder des Neuen Hollywood gepriesen, obwohl ihre großen Erfolge noch
bevorstanden, kreierten eine Filmfigur, die sowohl ihren Wünschen wie ihren
Filmerfahrungen entsprach. Spielberg träumte immer davon, einen “James Bond”-Film zu
machen, Lucas war fasziniert von den Abenteuerfilmen der dreißiger und vierziger Jahre.
Serials wie “Spy Smasher”, “Commander Cody” oder “Tailspin Tommy” waren ihre
konkreten Vorbilder. Beide konnten sich den phantastischen Geschichten der als
Programmfüller gedachten und mit geringsten Mitteln realisierten Trivialfilmen nicht
entziehen. So wurde der Protagonist “Indiana Jones” geboren- ein Abenteurer und
besessener Wissenschaftler mit einer Vorliebe für hübsche Mädchen. Die Zeit waren die
vierziger Jahre, was es leicht machte, überzeugende Schurken zu finden. Bis heute sind
die Nazis die bevorzugten Bösewichte in Film und Fernsehen der angelsächsischen
Länder.
In einer atemberaubend schnellen, fast schon gewalttätig geschnittenen Exposition wird
der Held eingeführt und der anschließende Film schon vorweggenommen. Indiana Jones,
ein Archäologe mit der besonderen Fähigkeit, die Peitsche zu schwingen, pirscht durch
den Dschungel und unheimliche Katakomben, um eine goldene Büste zu finden und an
sich zu nehmen. Das löst bösartige, tödliche Mechanismen aus, denen Jones nur knapp
entkommt. Doch am Ende seines Weges wartet sein größter Gegner, der französische
Archäologe Belloq (Paul Freeman), der ihm seinen Fund stiehlt.
Das Drehbuch von Lawrence Kasdan, wenig später selbst ein erfolgreicher Regisseur
(“Body Heat”, “Silverado”), ist schulmäßig konstruiert. Es charakterisiert den Helden und
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die Konflikte, die ihn erwarten, in einer konventionellen aber dramaturgisch bestens
erprobten Weise. Geschickt verstand es Kasdan, dem Zuschauer erst gar nicht die
Möglichkeit zu geben, über all die Unwahrscheinlichkeiten nachzudenken. Denn schon
folgte die nächste. In der Anhäufung gewinnen die zahlreichen Unwahrscheinlichkeiten an
Glaubwürdigkeit, eine Glaubwürdigkeit, wie sie so nur die Logik des Kinos zuläßt.
So ist auch die Kostbarkeit, um deren Besitz es im Film dann eigentlich geht, nur eine
kinematographische Erfindung. Hitchcock nannte die Gegenstände, die Auslöser einer
Geschichte, aber im Grunde völlig irrelevant sind, “McGuffins”. Der “McGuffin” im Film
“Jäger des verlorenen Schatzes” ist die Bundeslade, in der die zehn, in Stein gemeißelten
Gebote “Moses” aufbewahrt sind. Ihr Besitzer kann die Macht über die Menschheit
erringen. Klar, daß die Nazis sie suchen. Jones soll ihnen zuvorkommen.
Doch die zombiehaften Schergen des Führers, die sämtliche Klischees in der Darstellung
von Nazis mit Anstrengung zu erfüllen suchen, sind ihm auf den Fersen und verwickeln
ihn in zahlreiche Kämpfe. Zusammen mit Marion (Karen Allen), in deren Besitz ein
Amulett ist, mit dem die Bundeslade gefunden werden kann, reist Indiana von Nepal nach
Ägypten. Dort trifft Jones seinen Widersacher Belloq wieder, der für die Nazis die
Ausgrabungen leitet. Marion wird von ihnen entführt, während Jones die Lade findet. Doch
wieder kann er seinen Erfolg nicht genießen, denn Belloq steht mit seinen Mannen zur
Übernahme des Fundes bereit. Die Lade wechselt noch einige Male ihren Besitzer, bevor
sie von Belloq geöffnet wird. Das ausströmende Licht vernichtet alle, die sich an dem
Heiligtum vergangen haben – bis auf Indiana und Marion.
Darsteller des Indiana Jones ist Harrison Ford, der auch durch die “Star Wars”-Saga
berühmt wurde. Ford entpuppte sich als ideale Projektionsfläche für die synthetischen und
naiven, unreflektierten Vorstellungen der Macher von modernen Märchen, in denen die
Phantasie durch Trivialität ersetzt wird. Er verband den Charme des gezähmten Wilden
mit der Ironie des erfahrenen Abenteurers. In seiner Person gewinnen die
Unglaubwürdigkeiten an Überzeugung. Er nimmt überkommenen Klischees die
Peinlichkeit und ironisiert den aufdringlichen Chauvinismus der Figur. Durchaus
überzeugend mimt Ford eine Mischung aus Humphrey Bogart, Zorro, Western-Held und
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Abenteurer Hemingwayscher Prägung. Spielberg verglich seinen Star mit einem
Chamäleon, das den Charakter des jeweiligen Helden annimmt.
“Jäger des verlorenen Schatzes” wurde ein weltweiter Erfolg und rangiert unter den zehn
kassenstärksten Filmen. Die Kritik reagierte wohlwollend und betonte vor allem den hohen
Unterhaltungswert. Wie auf einer Achterbahn wird der Zuschauer von einem Ereignis ins
andere getrieben. Es entsteht ein Sog, der Details vergessen läßt. Die Fülle von
Ereignissen überwältigt und läßt der Phantasie des Zuschauers keinen Raum.
Im zweiten Film der Reihe, “Indiana Jones und der Tempel des Todes” (1984) wird dieses
Prinzip der Überrumpelung noch auf die Spitze getrieben – am besten symbolisiert in
einer rasenden Fahrt der Helden in einer führerlosen Lore durch einen Bergwerksschacht.
Die Ereignisse sind noch unwahrscheinlicher, die Tricks und Effekte noch aufwendiger. Im
dritten Teil der Serie, dessen Produktion derzeit noch läuft, finden dann die Vorbilder
zusammen. Indiana Jones trifft seinen Vater, gespielt wird er von Sean Connery, dem
ersten Darsteller des James Bond. Die Trivialmythen der vierziger vereinigen sich mit
denen der sechziger und siebziger Jahre.
Hans Gerhold
106 Gandhi
Gandhi (Großbritannien 1982)
Regie: Richard Attenborough. Buch: John Briley. Kamera: Billy Williams, Ronnie Taylor.
Musik: Ravi Shankar. Darsteller: Ben Kingsley, Candice Bergen, Edward Fox, John
Gielgud, Trevor Howard. Länge: 188 Minuten. Vertrieb: RCA/Columbia.
Für Winston Churchill war er nur der “nackte Fakir”, der Mann, von dem Albert Einstein
gesagt hat: “Ein späteres Geschlecht wird es vielleicht kaum glauben können, daß so
einer als Geschöpf aus Fleisch und Blut wirklich auf dieser Erde gewandelt ist.” Die Rede
ist von Mahatma Gandhi (1869 bis 1948), einer Persönlichkeit, die überragendes
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Ansehen, politische Bedeutung und geistig-moralisches Charisma vereinte und somit ein
ideales Objekt für eine monumentale filmisch-historische Biografie abgibt.
Mehr als zwanzig Jahre lang hatte Produzent und Regisseur Richard Attenborough um die
Realisierung seines Films gekämpft, der dann mit Unterstützung der damaligen indischen
Regierung (Ministerpräsidentin Indira Gandhi, die mit dem Mahatma allerdings nicht
verwandt war) an den Originalschauplätzen entstand: für 22 Millionen Dollar und mit über
200000 Statisten in 24 Wochen Drehzeit.
“Gandhi” setzt mit dem Attentat, dem der Mahatma (“die große Seele”) zum Opfer fiel, ein
und erzählt in episodenhafter Struktur die wichtigsten Stationen eines Lebens, in dem
Politik und Privatleben, Überzeugung und öffentliches Wirken modellhaft und vorbildlichkonsequent aufeinander bezogen sind. Als junger Rechtsanwalt erlebt Gandhi 1893 in
Pretoria die Rassendiskriminierung des Apartheidstaates Südafrika. Mit den Mitteln des
gewaltlosen Widerstandes lehnt er sich dagegen auf, gründet ein “Ashram“ (Gemeinde)
als Kommune, in der alle gleiche Rechte und Pflichten haben, und kann, trotz
mehrmaliger Verhaftung, einen Teil seiner Ziele verwirklichen: die Aufhebung der
Paßgesetze.
Nach Indien zurückgekehrt, tritt Gandhi seit 1915 für die Unabhängigkeit seines Landes
von der Kolonialherrschaft der Briten ein. Mit den Methoden der friedlichen Demonstration
und Arbeitsverweigerung durch Fasten und Beten schwächt er die Position der Briten, die
mit Gewalt und brutaler Unterdrückung reagieren, etwa 1919 im Massaker von Amritsar,
dem 379 unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fallen. Weitere Stationen:
der Boykott britischer Textilien durch die Förderung handgesponnenen Tuches in
indischen Familien (die “home-spun”-Idee); die Verweigerung der Kooperation mit der
Besatzungsmacht und 1930 der “Salzmarsch” (241 Meilen zum Meer) als Zeichen
einsetzender ökonomischer Unabhängigkeit: Salz wird für den Eigenbedarf hergestellt.
Immer wieder wird Gandhis Lebensweg durch Gefängnisaufenthalte und Fastenaktionen
etwa zugunsten der Parias unterbrochen. Zwar kann der Mahatma seine Volksbewegung
ausbauen, doch die anfängliche Zusammenarbeit zwischen Hindus und Moslems
zerbricht. 1947 wird Britisch-Indien in zwei Staaten, Pakistan (für die Moslems) und
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Indien, getrennt: Gandhi kann den Bürgerkrieg mit einer Fastenaktion nur zeitweilig
unterbrechen. Der politischen und geistigen Tragödie folgt die persönliche: Kurz nach der
Unabhängigkeit beider Staaten wird Gandhi am 30. Januar 1948 von einem
Hindufanatiker erschossen.
“Gandhi” ist als Heiligenbild kritisiert worden, weil der Film die Massen zugunsten der
Personalisierung politischer Bewegungen vergesse und ein nach Führern ausgerichtetes
Staatsprinzip propagiere. Doch geht die Kritik an der Leistung des Films vorbei, dem es
gelingt, sowohl Gandhis auch heute zeitgemäße Botschaften zu transportieren –
Gewaltlosigkeit, Würde des Menschen und Aufzeigen sozialer Ungerechtigkeiten – als
auch die Heiligenlegende durch ein gehöriges Maß an Selbstironie und Zweifeln zu
brechen.
Das ist vor allem das Verdienst des Hauptdarstellers Ben Kingsley (damals 39), der
fünfzig Jahre eines Lebens glaubhaft und einfühlend, überzeugend und eindrucksvoll
vermittelt und die Würde in den Film einbringt, die Gandhi auszeichnete. Bei allen
historischen Ungenauigkeiten – Indiras Vater Pandit Nehru wird zum Beispiel als zweiter
Held übermäßig aufgebaut – kommt jedoch das Verdikt des Historikers und ehemaligen
US-Botschafters in Indien, John Kenneth Galbraith, dem Film am nächsten: Als
historisches Prunkstück gelinge eine superbe Evokation des indischen Lokalkolorits. Vor
allem aber sei es Gandhis Genie gewesen, jene grundlegende Symmetrie zwischen
Aktion und Reaktion (Gewalt gegen Gewalt) zu durchbrechen, indem er sah, daß seine
Stärke in der Asymmetrie (bedingungslose Gewaltlosigkeit gegen Gewalt und sorgfältig
abgestufter ziviler Ungehorsam gegen Repressionen) lag: eine Lektion, die später etwa
Martin Luther King mit ähnlichem Effekt nutzte (“Film Comment”, Jg. 19, Heft 1).
Filmhistorisch steht “Gandhi” mit am Anfang des sogenannten “Neuen britischen Kinos”,
das sich in den achtziger Jahren aus der Stagnation erholte. Er löste eine neue Welle des
Indientourismus und eine Serie von Kino- und TV-Filmen aus, die den “Stolz des Empire”
zum Gegenstand hatten, darunter David Leans “Reise nach Indien” (1984).
Regisseur Attenborough, Jahrgang 1923, bis dahin vor allem als Schauspieler bekannt,
setzte seinen Hang zu so kinowirksamen wie engagierten Monumentalfilmen 1987 mit
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“Cry Freedom – Schrei nach Freiheit” fort, der das Apartheidsystem Südafrikas attackiert.
“Gandhi” gewann 1983 gegen starke Konkurrenz, darunter “E.T.”, überraschend und
verdient acht Oscars: für den besten Film, die beste Leistung in Regie, Kameraarbeit,
Schnitt, Kostüme, Originaldrehbuch, für den besten Hauptdarsteller und die beste
künstlerische Gesamtleitung sowie Ausstattung.
Horst Schäfer
107 The Killing Fields
The Killing Fields (Großbritannien 1984)
Regie: Roland Joffé. Buch: Bruce Robinson, nach einer autobiographischen Vorlage von
Sydney Schanberg. Kamera: Chris Menges. Musik: Mike Oldfield. Special effects: Fred
Cramer. Darsteller: Sam Waterston, Haing S. Ngor, John Malkovich, Julian Sands, Craig
T. Nelson, Spalding Gray. Länge: 136 Minuten. Vertrieb: Cannon/VMP.
Der Vietnam-Krieg spiegelt sich als zentrales Ereignis der nordamerikanischen
Nachkriegsgeschichte in der nationalen und internationalen Filmproduktion wider.
Vietnam-Filme sind zu einem Genre geworden. Die meisten beuten auf unterstem Niveau
und mit reaktionärem Gehabe das Thema in immer rücksichtsloserer und
gewaltverherrlichender Weise aus. Demgegenüber gibt es nur wenige kommerzielle
Filme, die mit mahnendem und/oder kritischem Ansatz einen gesellschaftspolitischen
Beitrag zur Aufarbeitung des Traumas leisten wollen. Der Film jedoch, der nach
unwidersprochener Ansicht des Südostasien-Experten Peter Scholl-Latour am echtesten,
nicht überdramatisiert und von einer unglaublichen Wahrhaftigkeit ist – das ist “Killing
Fields”.
Bis Mitte der sechziger Jahre konnte Kambodscha auf eine lange Zeit friedlichen
Zusammenlebens mit seinen Nachbarländern zurückblicken. Durch den “Ho-Chi-MinhPfad” und seine Verlängerung, der sogenannten “Sihanouk-Piste” weitete sich der
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Vietnam-Krieg Anfang der siebziger Jahre auf Kambodscha aus. Unter CIA-Regie wurde
Prinz Sihanouk, der eigenwillige und extrovertierte Alleinherrscher des Landes, beseitigt.
Er stand der Politik Nixons im Wege, der das Vietnam-Abenteuer so schnell wie möglich
beenden wollte. Nach einem Militärputsch im März 1970 mußte Sihanouk nach Peking
fliehen, wo er eine Exilregierung bildete. Sein Nachfolger wurde General Lon Nol; er war
nicht in der Lage, die verschiedenen Kräfte des Landes zu einigen und mußte immer mehr
Provinzen an die “Roten Khmer” abtreten, die ihn aus dem Dschungel heraus bekämpften.
Chaos und Korruption breiteten sich aus.
Die Roten Khmer, seit Jahren im Urwald lebende Revolutionäre, orientierten sich
ideologisch an einer Art Steinzeit-Kommunismus, der jede Form westlicher Zivilisation
verneinte und radikale Gesellschaftsveränderungen und Umerziehungsprogramme vor
allem für die in den Städten lebende Bevölkerung vorsah. Da sie in den Vietnamesen ihre
traditionellen Feinde sahen, waren die von der Volksrepublik China unterstützten Roten
Khmer auch gegen die Anwesenheit nordvietnamesischer Eliteverbände in ihrem Land. Im
April 1975, mit dem Ende Saigons, besetzten die Roten Khmer nach zweijähriger
Belagerung die Hauptstadt Pnom Penh. Sie schlossen Kambodscha von der Außenwelt
ab, um innenpolitisch die gesellschaftliche und religiöse Revolution mit Gewalt
voranzutreiben – in einem Land, das ohnehin schon infolge der von amerikanischen
Bomben zerstörten Reisfelder kaum lebensfähig war. Die neuen Machthaber gingen mit
blutigem Terror und unvorstellbaren Grausamkeiten gegen die Bevölkerung vor; es
begann mit der Evakuierung der Einwohner von Pnom Penh und endete mit der völligen
Zerstörung von Traditionen und Familienstrukturen. Fast zwei Millionen Menschen sollen
diesem Vernichtungsfeldzug zum Opfer gefallen sein.
Die Handlung von “Killing Fields” beruht auf authentischen Erlebnissen, und es liegt ihr
eine Artikelserie des Südostasien-Reporters der “New York Times”, Sydney Schanberg,
zugrunde. Zusammen mit seinem einheimischen Verbindungsmann und Freund Dith Pran
berichtete er zwischen 1973 und 1975 über den Bürgerkrieg zwischen den von den
Amerikanern unterstützten Regierungstruppen und den kommunistischen Roten Khmer
von Pol Pot.
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Zunächst ist Schanberg die Hauptfigur des Films, der mit der irrtümlichen Bombardierung
einer von Regierungstruppen gehaltenen Stadt durch einen amerikanischen Bomber
beginnt. Hier schon zeigt Joffé eindringliche Szenen der Kriegsgreuel, die aber an keiner
Stelle den Beigeschmack des Voyeuristischen, Actionhaften annehmen. Als zwei Jahre
später die Roten Khmer die Hauptstadt Pnom Penh einnehmen, setzen sich die meisten
Amerikaner ab. Schanberg bleibt zurück und kann sich erst später mit Hilfe von Pran nach
New York retten. Die Handlung verfolgt jetzt Prans Schicksal, der das Land nicht
verlassen durfte und in eines der berüchtigten Umerziehungslager gerät. Er leugnet seine
Identität und gibt sich als Landarbeiter und Taxifahrer aus, da man die Intellektuellen
schonungslos verfolgt. Als Jahre später die Roten Khmer den Vietnamesen weichen
müssen, nutzt Pran das Durcheinander für seine Flucht aus.
Schanberg erhält den Pulitzer-Preis für “Internationale Reportagen unter höchstem
persönlichen Risiko”. Er spricht die Hälfte davon Pran zu, an dessen Tod er nicht glaubt.
Als Journalist sieht sich Schanberg plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Er
nutzt die Situation aus und analysiert in seiner Dankesrede die amerikanische Politik in
Kambodscha, wobei er schonungslos ihre Fehler aufdeckt. Insgeheim wird er von
Selbstzweifeln gequält, da er sich für das Schicksal Prans verantwortlich fühlt, und die
Ungewißheit ihn nicht zur Ruhe kommen läßt. Am 9. Oktober 1979 erreicht ihn die
Nachricht von der Rettung Prans, der sich nach Thailand durchschlagen konnte.
“Killing Fields” wurde zu einer Metapher für das Schicksal des kambodschanischen
Volkes unter der Herrschaft der Roten Khmer. Der Film hält den Überlebenskampf eines
Volkes unter den unmenschlichsten Bedingungen für alle Zeiten fest; er ist gleichzeitig
eine leidenschaftliche und überzeugende Anklage gegen die Indochinapolitik der
Vereinigten Staaten und die Mitschuld Nixons am Verlauf des kambodschanischen
Bürgerkrieges, dem – von einer Bevölkerung von sieben Millionen – insgesamt drei
Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Roland Joffé, 1945 in Kensington geboren, wurde 1973 der jüngste Regisseur am
National Theatre. Seit 1975 arbeitet er für das Fernsehen; er inszenierte Serien und
Fernsehspiele, die zum Teil mit internationalen Auszeichnungen bedacht wurden. “Killing
Fields” ist seine erste Arbeit als Spielfilmregisseur. Produzent David Puttnam, 1941 in
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London geboren, war in der Werbebranche tätig, bevor er ins Filmgeschäft ging. Unter
anderem produzierte er “Mahler” von Ken Russel und “Midnight Express” von Alan Parker.
Sein größter Erfolg war bislang. “Die Stunde des Siegers” (1981). “The Killing Fields”
erhielt viele Preise und ehrende Anerkennungen.
Der Schauspieler und Performance-Künstler Spalding Gray, der in “Killing Fields” eine
kleine Rolle als Mitarbeiter der US-Botschaft spielt, hat seine Erlebnisse bei den
Dreharbeiten zu einer eigenwillig-autobiographischen Ein-Mann-Show verarbeitet. Die
Aufführung von “Swimming to Cambodia” wurde 1987 von Jonathan Demma abgefilmt
und unter dem gleichen Titel herausgebracht. Der Film war 1987 beim Münchner Filmfest
zu sehen, fand aber in der Bundesrepublik noch keinen Verleiher. Der Text der
Performance liegt allerdings in deutscher Sprache vor und wurde vom Kiepenheuer &
Witsch Verlag (Köln 1988) veröffentlicht.
Meinolf Zurhorst
108 Asphalt-Cowboy
Midnight Cowboy (USA 1969)
Regie: John Schlesinger. Buch: Waldo Salt, nach dem Roman von James Leo Herlihy.
Kamera: Adam Holender. Musik: John Barry. Darsteller: Jon Voight, Dustin Hoffman,
Brenda Vaccaro, Sylvia Miles, John McGiver Länge: 113 Minuten. Vertrieb: Warner
Home Video.
Die sechziger Jahre bedeuteten auch für Hollywood eine Veränderung. Nicht nur neue
Namen tauchten auf, auch die alten Mythen und Traditionen wurden einer Veränderung
unterworfen. Das europäische Kino hatte sich, vor allem durch das Auftauchen der
Nouvelle Vague in Frankreich, einem radikalen Wandel unterzogen. Kinematographische
Erzählweisen wurden von Grund auf in Frage gestellt, inhaltliche Schranken und
Einschränkungen fielen, die Filme bekamen einen persönlicheren Charakter. Die
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Studentenrevolten hatten eine weitergehende Liberalisierung von Verhaltensweisen zur
Folge, die Hüllen fielen – wortwörtlich.
John Schlesinger, ein britischer Regisseur, der zum Dunstkreis des New Cinema in
England zählte, hatte nach seinem Welterfolg “Darling” (1965) schnell in Hollywood Fuß
gefaßt und inszenierte mit “Asphalt Cowboy” einen Film, der im Trend der ausgehenden
sechziger Jahre lag. Schlesinger, der immer behauptete, an Geschichten zu glauben,
unternahm mit “Asphalt Cowboy” den Versuch, traditionelle Schemata aufzubrechen. Aus
der Distanz von zwanzig Jahren wirkt seine Inszenierung zuweilen sehr synthetisch und
gekünstelt.
Joe Buck, Tellerwäscher irgendwo auf dem Land, lebt die populären Mythen des USAlltags. Angezogen wie ein Cowboy, beschließt er eines Tages, nach New York zu gehen
und dort ein Vermögen zu verdienen als Gigolo für alte, reiche Frauen. Doch Joes plumpe
Annäherungsversuche scheitern, der “Möchtegern”-Cowboy wird zur Spottfigur. Als seine
Ersparnisse sich dem Ende zuneigen, lernt er den kränkelnden, humpelnden Ratso Rizzi
kennen. Nach anfänglichen Streitereien raufen sich die beiden zusammen. Joe, pleite,
zieht in Ratsos Behausung, die sich als halbzerfallene, leere Bruchbude erweist, in der es
weder Wasser noch Heizung gibt.
Auch Ratso hat einen Traum. Er will eines Tages soviel Geld besitzen, daß er im
sonnigen Florida seine Krankheiten auskurieren kann. Ratso, der kleine, erfolglose
Gauner aus der Bronx, wird Joes Manager. Er vermittelt den Pseudo-Westerner, der
immer noch in seiner Cowboy-Kleidung herumläuft, an zahlungswillige Sexhungrige. Sie
treffen auf eine bunte gesellschaftliche Mischung: Da gibt es den religiösen Eiferer, die
Karrierefrau, die Kunstfilmerin, den heimlichen Homosexuellen und den Drogensüchtigen.
Joes Potenz, mit der er immer wieder geprotzt hat, erweist sich ebenso als Bluff wie
Ratsos angeblich so coole Straßenganoven-Mentalität.
Beiden gemeinsam sind die Enttäuschungen, die ihnen das Leben bereitet, und das
Bewußtsein, Verlierer zu sein. Als Ratso immer kränker wird, gelingt es Joe schließlich,
das nötige Geld für die Fahrt in den sonnigen Süden aufzutreiben. Er schlägt einen
ältlichen Homosexuellen mit dem Telefonhörer nieder und raubt ihn aus. Der Traum vom
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großen Erfolg und vom vielen Geld erweist sich als eine kleinkriminelle Tragödie. Doch die
Reise nach Florida wird Wirklichkeit. In dem Augenblick aber, in dem Joe endlich sein
lächerliches Cowboy-Kostüm abgelegt hat, stirbt Ratso. Joe ist wieder da, wo er
hergekommen ist. Alleine, aber um einige desillusionierende Erfahrungen reicher.
Schlesinger kehrte traditionelle Mythen und Figuren des amerikanischen Kinos in ihr
Gegenteil um. Ratso ist eine Figur, die eher am Rande der Geschichte erscheint, ihr aber
den Charakter geben sollte. In “Asphalt Cowboy” wird sie zu einer Hauptfigur, die dem
Zuschauer eine Identifikation anträgt, wenngleich in der Distanz der Fiktion. Die Figur des
Cowboys dagegen, im Kino ein Symbol von Aufrichtigkeit und Erfolg, gerät bei
Schlesinger zum völligen Versager, zum Klischee, zu einem Charakter, der seine Identität
aus Kindheitsträumen (die in Rückblenden erzählt werden), Jugenderlebnissen und aus
den Massenmedien gewinnt. Aus dem Westerner wird ein Strichjunge für männliche
Kundschaft.
Das Image des Westerners verkommt bei Schlesinger zu seinem völligen Gegenteil. In
dem Umstand, daß sowohl Schlesinger wie auch sein Drehbuchautor Waldo Salt sich
mehr für ihre Intentionen als ihre Figuren interessierten, liegt auch eine Schwäche des
Films. Die Botschaft wird da zum Inhalt, wo es die Geschichte hätte sein müssen. Die
Kritik reagierte gespalten, warf dem Film nicht zu Unrecht seine etwas konfuse
Inszenierung und Montage vor, in denen sich zwar die Zeit widerspiegeln sollte, die aber
doch den nachhaltigen Eindruck hinterlassen, nur aus spekulativen, kommerziellen
Erwägungen heraus realisiert worden zu sein.
Dem Erfolg des Films tat dies keinen Abbruch. Das Publikum verlangte offenbar nach
Geschichten, die sich ungewöhnlich präsentierten, die modische Trends des Alltags
aufgriffen. In der Popmusik hielt eine psychedelische Selbstbespiegelung Einzug, die von
den Drogenhalluzinationen der Musiker und Literaten profitierte und im Kino gerne und
leicht aufgegriffen wurde. Verkantete Kameraeinstellungen, schnelle, assoziative Schnitte,
monochrome Farbgebungen deuteten den Versuch an, imaginäre Kopfbilder unmittelbar
kinematographisch umzusetzen. Drei Academy Awards (“Oscars”) für den besten Film,
die beste Regie und das beste Drehbuch waren der Lohn für diese Mühe. Der Erfolg des
Films aber beruhte nicht allein auf seiner modischen Aufmachung. Vor allem die beiden
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Hauptdarsteller, Jon Voight als Joe und Dustin Hoffman als Ratso, verstanden es, den
schablonenhaften Charakteren wirkliches Leben zu geben, aus Kunstfiguren Menschen
zu machen. Beider Schauspielkunst verschafft “Asphalt-Cowboy” große filmische
Momente und macht das Werk auch über seine formale und inhaltliche Zeitbezogenheit
hinaus zu einem Kino-Ereignis.
Walter Schobert
109 Die zehn Gebote
The Ten Commandments (USA 1957)
Regie: Cecil B. DeMille. Buch: Aneas MacKenzie, Jesse L. Lasky jr., Jack Gariss,
Frederic M. Frank. Kamera: Loyal Griggs. Musik: Elmer Bernstein. Darsteller: Chariton
Heston, Yul Brynner, Anne Baxter, Yvonne de Carlo, Edward G. Robinson, John Derek.
Länge: 207 Minuten. Vertrieb: CIC Video.
DeMille war der Meister des Monumentalfilms, der seinerzeit, um die Alliteration
fortzuführen, noch “Monstre-Film” genannt wurde; ein Magier der Massen, der es wie
kaum einer vor und keiner nach ihm vermochte, riesige Statistenheere vor seiner Kamera
zu dirigieren und mit grandiosen Massenszenen die Leinwand zu füllen. “Die Zehn
Gebote” sind dafür nur ein Beispiel unter den mehr als siebzig Filmen, die der aus einer
Theaterfamilie stammende Cecil B(lount) DeMille zwischen 1915 und 1959 drehen konnte,
wenn auch vielleicht das spektakulärste.
Zusammen mit dem ebenso legendären Lasky und dem damals noch Goldfish heißenden
Samuel Goldwyn gründete er schon 1912 die Jesse Lasky Feature Play Company und
machte für sie “The Squaw Man”, “The Verginian” und eine aufwendige “Carmen”, ehe die
Firma mit der Gesellschaft Zukors zur “Famous Players” (der Name war Programm)
fusionierte und schließlich zur Paramount wurde, einem der großen Studios mit einem für
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Eingeweihte leicht zu identifizierenden Programm und einem unverwechselbaren
Studiostil. DeMille hielt der Paramount ein Leben lang die Treue.
Der Spezialist für frivole Gesellschaftsdramen wandelte sich bald unter dem Einfluß und
dem Druck der die Sittenlosigkeit jener Filme kritisierenden und vor allem mit Boykott
drohenden Frauenverbände zum Experten für eben jene Monumentalfilme, die sein
Markenzeichen wurden: Ein Kino, wie es das breite Publikum liebte, mit spannenden
Geschichten, die in direktem, plakativen Stil erzählt waren und deren Aufwand für die
Ausstattung, Dekoration, Inszenierung und deren kolossale Länge oft in verblüffendem
Kontrast zur inhaltlichen Schlichtheit und Naivität stand; es waren oft ziemliche Schinken.
Es ist durchaus imponierend, wie er mehr als ein halbes Jahrhundert so völlig
unbeeinflußt die immer gleiche Geschichte in immer neuen Variationen erzählte: Eine
Heldensage, deren Vorlage er in der amerikanischen (die Western “Union Pacific” und
“The Plainsmen”) oder römische Geschichte (“Cleopatra”) fand. Auch die Bibel durfte es
sein. Er erzählte “Im Zeichen des Kreuzes” und von “Samson und Delilah”. Und von den
Zehn Geboten.
Von ihnen gleich zweimal: Schon 1923 hatte er sie, schwarzweiß und stumm, verfilmt. Der
Grund für ein Remake war angeblich ein Ideenwettbewerb beim amerikanischen
Publikum, aus dem der Stoff als Sieger hervorging. Aber vielleicht war auch das schon
Teil einer PR-Kampagne, die den Film von Anfang an begleitete und ebenso aufwendig
und gekonnt betrieben wurde wie die Arbeit am Film selbst, ja, die ein Teil von ihm war
und DeMille und der Paramount so perfekt gelang, daß man ihnen professionelle
Bewunderung nicht versagen kann.
Zehn Jahre habe die Planungsphase gedauert, vier Jahre die Realisierung, 1900 Bücher
in dreißig internationalen Bibliotheken seien konsultiert, Hunderte von Wissenschaftlern
um Auskunft gebeten worden. 3000 Photos habe man angefertigt: Zahlen, die so
imponieren sollen wie die Zahl der eingesetzten Darsteller, der Legionen von Statisten.
Selbst das Staraufgebot umfaßt ein gutes Dutzend. Das Budget betrug die damals
ungeheure Summe von acht Millionen Dollar; es wurde, werbewirksam, um den gleichen
Betrag überschritten. Der Aufwand sollte den Produzenten zufolge nur einem dienen: dem
Streben nach Glaubwürdigkeit und Authentizität. Dafür war nichts zu gut und zu teuer.
327
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Gedreht wurde natürlich an den Originalschauplätzen, wenn sie auch noch so schwierig
zu erreichen und unwegsam waren. Und selbstverständlich basiert der Film “auf der
Heiligen Schrift”, mit der kleinen Einschränkung “und anderen alten Texten und modernen
Forschungen”: will sagen, ganz so zimperlich war man denn doch nicht, um den guten
Zweck zu erreichen.
Für ihn ließen sich dann Kardinäle ebenso gern einspannen wie protestantische Bischöfe
und besonders gern die Politiker. Sie alle lobten den Film und bereiteten dem Regisseur
die Ehre eines Empfanges. In der Bundesrepublik ließen der Bundeskanzler und der
Bundespräsident bitten, die Liga für Menschenrechte übernahm die Schirmherrschaft.
Auch der Papst gewährte eine Audienz für DeMille. Der hatte alle seine Einkünfte aus
dem Film einem Erziehungsfond gestiftet.
Die Anerkennung galt einem Film, der tatsächlich (auch heute noch) in seinen Bann zieht
und kaum eine der mehr als zweihundert Minuten langweilig werden läßt, der immer
wieder durch “kolossale Bauten, kolossale Massenszenen, kolossales Pathos” (Lexikon
des internationalen Films) fesselt, durch sein Gefühl für plastische Wirkungen und für
Bewegung, durch effektvolle Szenen so beeindruckt, daß man darüber vergißt, wie
zutiefst fragwürdig das Unternehmen ist, das die biblische Geschichte auf ein
Hollywooddrama voller Verbrechen und Erotik reduziert. Ein Meisterwerk? Ganz sicherlich
als ein bestimmter Typus Hollywoodkino, vielleicht sogar als Dokument des persönlichen
Glaubens seines Regisseurs, gewiß nicht als gelungene und adäquate Bibelverfilmung.
Das fängt mit Kleinigkeiten an: DeMille scheut nicht davor zurück, Lücken, die das Alte
Testament läßt, zu füllen, zum Beispiel die zwischen 2. Mose 1,10 und 11; sein Hinweis
auf “andere alte Texte”, ist da leider nicht stichhaltig. Und natürlich folgt er in der
Charakterisierung seiner Figuren den Bedürfnissen des Historienfilms – und nicht der
biblischen Geschichte. Sein Mose gleicht eher Maciste, ist mehr ein Volkstribun als ein
Prophet, und besonders die Frauenfiguren geraten oft an die Grenze der Peinlichkeit.
Vollends ablehnen muß den Film, wer sich nicht vor der bilderbogenhaften Opulenz und
Naivität die Augen übergehen läßt, sondern biblisch-theologische Kriterien anlegt. Dabei
ist nicht sein schlichter Umgang mit Wundern wie dem Durchzug durchs Rote Meer
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problematisch; das kann man akzeptieren, muß man aufgrund der Tricktechnik
bewundern. Und natürlich hat sich die Binsenwahrheit, daß man Gott nicht filmen kann,
auch bis zu DeMille herumgesprochen. Aber kann man dann die Stimme Gottes ertönen
lassen, kann man gar zulassen, sie zu synchronisieren? Und fängt die Unmöglichkeit, das
Heilige abzubilden, nicht schon früher an, vielleicht schon bei der Figur des Mose?
Spätestens als er die Zehn Gebote bekommt, muß jedem klar werden, daß und warum
DeMille scheitern muß, wie jeder gescheitert ist, der es vor und nach ihm versucht hat: Je
nach Temperament wird der eine diese Szene lächerlich finden, der andere
blasphemisch. Kein Zufall, daß DeMille bei seiner Rede anläßlich der Uraufführung, auf
die ewige Gültigkeit der Zehn Gebote eingehend, das zweite nicht erwähnte. Es lautet:
“Du sollst Dir kein Bildnis machen”.
Walter Schobert
110 Emil und die Detektive
(Deutschland 1931)
Regie: Gerhard Lamprecht. Buch: Billy Wilder, nach dem Roman von Erich Kästner.
Kamera: Werner Brandes. Musik: Allan Gray. Darsteller: Fritz Rasp, Hans Richter, Käthe
Haack, Rolf Wenkhaus. Länge: 75 Minuten. Walt Disney Produktion. Vertrieb: EuroVideo.
“Erste Verfilmung des Romans von Erich Kästner, die kaum etwas an Frische eingebüßt
hat und auch jüngeren Kindern Werte wie Demokratie und Solidarität einsichtig macht.
Fesselnde Unterhaltung.” – “Der renommierte Film der Vor-Hitler-Zeit offenbart schlagend
die Nähe bürgerlicher, scheinbar unverdächtiger ›Law and order‹-Vorstellungen zum
Faschismus ... Tatsächlich hat die Filmhandlung ihr Modell ebenso im Judenpogrom wie
in der demokratischen Detektivarbeit ... Feind aller aber ist der Außenseiter, der
Gesetzesbrecher mit der undeutlichen Physiognomie und dem polnischen Namen.”
Schwer zu glauben, daß beide Kritiken denselben Film meinen, die eine vor wenigen
Wochen im katholischen “filmdienst” erschienen, die zweite, verfaßt von Frieda Grafe und
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Enno Patalas, 1970 in der “Zeit”. Noch schwerer: einzusehen, daß beide recht haben
könnten.
Besonders der Verdacht rassistischer und faschistischer Tendenzen scheint weit
hergeholt bei einem Film, der gedreht ist nach einem Jugendbuchklassiker, dessen Autor
Erich Kästner zu denen gehörte, dessen Werke die Nazis auf den Scheiterhaufen warfen;
einem Film, dessen Drehbuch von keinem Geringeren stammt als von Billy Wilder, der
1933 seine Heimat verlassen und ins Exil gehen mußte; einem Film, dessen Regisseur
Gerhard Lamprecht in den zwanziger Jahren mit Arbeiten wie “Die Verrufenen”,
“Menschen untereinander” und “Die Unehelichen” sich im Geiste Zilles und in dessen
Milieu für “die im Schatten”, in den Berliner Slums Lebenden engagierte: Gestandene,
aufrechte Demokraten alle drei, die über jeden Verdacht erhaben sind.
Grafe/Patalas beziehen sich in ihrer Polemik auf Siegfried Kracauer, der den Film freilich
auch “entzückend” nennt, was für ihn ein geradezu enthusiastisches Lob darstellt, und
auch auf seinen legendären Erfolg im In- und auch im Ausland hinweist, aber doch auch
anmerkt, daß die dem Buch in Ablauf und Charakterisierung streng folgende Geschichte
“sich zu einem wahren Kinderkreuzzug” entwickelt, will sagen, manchmal zu fanatisch und
rachsüchtig wirkt.
Diese Geschichte, um sie noch einmal zu erzählen, handelt von dem kleinen Emil, der von
seiner Mutter, die er über alles liebt, mit dem Zug nach Berlin geschickt wird. Dort lebt die
Großmutter, der er 120 Mark bringen soll, eine Summe, die sich die Mutter sauer und
mühsam erspart hat. Im Zug macht sich ein Fremder an Emil heran und stiehlt ihm das
Geld. In Berlin angekommen, nimmt Emil die Verfolgung des Diebes auf – unterstützt von
einer immer größer werdenden Schar neu und schnell gewonnener Freunde, die das
Detektivspielen leidenschaftlich ernstnehmen und es so perfekt organisieren, daß
schließlich die Polizei eingreift: Der Dieb ist ein langgesuchter Bankräuber, auf dessen
Ergreifen eine hohe Belohnung ausgesetzt ist. Emil wird reichlich entschädigt für die
erlittene Unbill und kehrt im Flugzeug nach Hause zurück, ein von der ganzen Stadt mit
Jubel empfangener Held.
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Spätestens hier löst sich die kunstvoll aufgebaute Spannung in milder Ironie – die indes
schon vorher immer wieder durchschimmerte: Weil der Film wie auch das Buch ja nichts
weiter als eine nicht auf einem Schloß oder im Wald, sondern in der modernen Großstadt
spielende Version des guten, alten Märchens ist, des Märchens vom Guten, der vom
Bösen bedroht wird und Schlimmes erleiden muß, ehe er schließlich doch siegt: erzählt
von einem, der fest daran glaubte – und daran, daß man es Kindern und Erwachsenen
nicht oft genug neu erzählen könne, der sich der gattungsimmanenten
Schwarzweißmalerei nicht entzog, sie aber durch feinen Humor und augenzwinkernde
Selbstironie konterkarierte, und der einen Regisseur fand, der nicht zu den ganz Großen
des deutschen Kinos gehört, aber mit grundsoliden Filmen zu dessen Ruf beigetragen
hat. Lamprecht hat das Märchen-Schwarzweiß konsequent zum stilistischen Leitmotiv
dieses Films gemacht. Er wurde sein Meisterwerk.
Schon Kracauer hat gesehen, daß sich um den von Fritz Rasp in meisterlicher
Selbstüberwindung unglaublich fies gespielten Dieb immer Schatten verbreitet, daß er
selbstverständlich in Schwarz gekleidet ist, sich in einem schwarzen Mantel unsichtbar
macht, jeder Zoll der Bösewicht aus dem Kindermärchen, während Emil und die Kinder
der Helligkeit zugeordnet sind: Als der Dieb endlich gestellt ist, läßt strahlende
Morgensonne alle unheimlichen Schatten verblassen. Das Licht siegt über die Finsternis
und mit ihm siegen die Solidarität, die Gemeinschaft, der Geist der Freundschaft, der
Ehrlichkeit, des Mutes über Falschheit, Verschlagenheit, Lüge, Gemeinheit.
“Emil und die Detektive” gehört zu den wenigen Filmen aus der Weimarer Republik, die
sich für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie einsetzten, die es wenigstens
versuchten und sich bemühten, die soziale und politische Wirklichkeit jener Jahre
abzubilden. Insofern ist der Märchen- auch ein Dokumentarfilm, der mit unprätentiöser
Kameraführung und liebevoller Genauigkeit die quer durch Berlin gehende Jagd der
Kinder nach dem “verfolgten Rattenfänger” (Kracauer) auch dazu nutzt, die damalige
deutsche Hauptstadt und ihre Menschen zu porträtieren – wie es Drehbuchautor Wilder
schon vorher in “Menschen am Sonntag” und später, als sie zerstört war, in “A Foreign
Affair” versuchte.
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Solche Dimensionen in diesem Film zu entdecken, wird freilich nur die überraschen, die
arrogant und verächtlich meinen, Kinderfilme seien nichts für Erwachsene: Diesen können
alle lieben, er kann allen etwas geben. Für die Kinder ist er freilich ein besonderer
Glücksfall, nimmt er sie doch wie wenige Kinostücke ernst und zeigt ihnen, wie stark
Kinder sein können.
Urs Jaeggi
111 Das Opfer
Offret (Schweden/ Frankreich 1985)
Buch und Regie: Andrej Tarkovskij. Kamera: Sven Nykvist. Musik: Johann Sebastian
Bach. Schwedische und japanische Folklore. Darsteller: Erland Josephson, Susan
Fleetwood, Valérie Malresse. Länge: 155 Minuten. Vertrieb: atlasfilm+av.
Der siebente Spielfilm von Andrej Tarkovskij ist sein letzter geworden. Kurz nach
Vollendung ist der im französischen Exil lebende Russe im Alter von erst 54 Jahren
gestorben.
“Das Opfer” ist mehr als ein Film. Dieses Werk muß als das Vermächtnis eines
eigenwilligen Künstlers und eines unentwegten Suchers nach den letzten Dingen gelten.
Der Film – 1986 entstanden – nimmt seinen Anfang in abgelegener schwedischer
Küstenlandschaft mit einem stahlblauen See im Hintergrund. Hier pflanzt Alexander
(Erland Josephson) zusammen mit seinem nach einer Stimmbandoperation noch
stummen Sohn einen dürren Baum und erzählt dem Kind dazu die orientalische Legende
vom gläubigen Mann, der einen abgestorbenen Strunk so lange und regelmäßig
bewässert, bis eines Tages grüne Zweige ausschlagen: Ein Gleichnis des Glaubens, der
Liebe und der Hoffnung.
Eine Handvoll Menschen dringt in die einsame Welt Alexanders ein, die dieser sich als
begnadeter Diener des Wortes – er ist ein berühmter Schriftsteller und Essayist –
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philosophisch zurechtgelegt hat: Adelaide, die ängstlich Hysterische, Martha, die
Jugendliche, Victor, der wissenschaftlich Auf- und Abgeklärte, der kauzige Briefträger, der
mal Geschichtslehrer war und sich nun neben seinen Botengängen mit Nietzsche und
parapsychologischen Erscheinungen beschäftigt. Sie alle wollen Alexanders Geburtstag
mit einem Diner feiern, das Julia, die hingebungsvoll dienende Gouvernante, zusammen
mit Maria, der geheimnisvollen Magd isländischer Abstammung, zubereitet.
Gespräche im Familienkreis: Unter Belangloses mischt sich Existentielles; kleinere und
größere Intrigen spielen sich ab, Sehnsüchte und Ängste werden formuliert, Egoismus
flackert auf, Eitelkeit schlägt durch. Gezeigt wird – äußerst präzise wie immer bei
Tarkovskij – der Mikrokosmos einer Gesellschaft, die sich in hohlem Raum bewegt,
abgekoppelt von eigentlicher Sinnerfüllung, ständig bemüht, die innere Leere zu
überspielen, die existentiellen Ängste zu verdrängen. Scheinwerte und Scheinwelten sind
die Strohhalme, an die sich jeder klammert. Wortschwälle stürzen wie Kaskaden in ein
unendliches Meer des Nichts.
Dann das große Entsetzen durch eine kleine Meldung im Fernsehen: Raketen mit
nuklearen Sprengköpfen sind abgefeuert worden. Die Welt steht in Erwartung des
selbstverschuldeten Untergangs. Die Lichter gehen aus; aus der Bildröhre des Fernsehers
flackern die letzten Lichtpunkte. Ungläubige Sprachlosigkeit hier, Hysterie dort als
Reaktion. Der Arzt spritzt Beruhigungsmittel, betäubt das Entsetzen: sinnlose
Symptombekämpfung. Inmitten der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus der
bevorstehenden Katastrophe wirkt Alexander als einziger ruhig und gefaßt. Er zieht sich
zurück, flüchtet ins Gebet. Dem Vater im Himmel verspricht er, alles hinzugeben, wenn
seine Angehörigen verschont bleiben: das Opfer.
Nach einer langen Nacht bricht der Morgen an. Es sieht aus, als wäre nichts geschehen.
War alles nur ein böser Traum? Bereits quengeln und nörgeln die Mitglieder der Familie
wieder. Alexander aber geht hin, türmt auf der Veranda Korbstühle auf, gießt Benzin
darüber und reißt das Streichholz an. Bald steht das Haus lichterloh in Flammen.
Alexander verzichtet darauf, über sein Opfer zu sprechen. Er legt alles ab, was in der
menschlichen Gesellschaft als vernünftig gilt, schottet sich ab von jener Normalität, in der
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die menschliche Katastrophe sozusagen vorprogrammiert wird. Lieber geht er gleich ins
Irrenhaus; allerdings nicht ohne Hoffnung: Der kleine, stumme Junge schleppt zwei
Wasserkübel zum dürren Baum. Dann legt er sich ins Gras und schaut zwischen den
Ästen der Krone zum Himmel empor. Erstmals im Film spricht er: “Am Anfang war das
Wort. Warum, Vater?”
Tarkovskijs “Das Opfer” ist von letzter Konsequenz. Auf die Suche nach dem
Entscheidenden, dem in “Stalker” sein Spürtrupp nachforscht und auf die bohrende
Sehnsucht nach einer in der Geborgenheit des Glaubens aufgehobenen Welt, wie sie in
“Nostalghia” zum Ausdruck kommt, folgt jetzt die Gewißheit: Nur wenn der Mensch glaubt,
liebt und hofft, vermag er zu überleben. Aber Glaube, Liebe und Hoffnung fordern eine
radikale Abkehr vom eingeschlagenen Kurs und eine Überwindung der ideologischen
Festungen, des Bollwerks des Materialismus und der Schanze des Egoismus. Es braucht
die Überwindung auch jenes aufklärerischen, cartesianischen Geistes, der – fern aller
Geheimnisse – alles im Griff haben und auf mathematische und physikalische Formeln
reduzieren will. Für diese Botschaft, die Tarkovskij als eine wesentliche Lebenseinsicht an
die nächste Generation weitervermittelt – er widmet “Das Opfer” seinem Sohn –, hat er
eine Parabel geschaffen, die einerseits von bestechender Klarheit und Transparenz ist,
andererseits in ihrem tiefsten Inneren geheimnisvoll bleibt. Der Film läßt sich nicht einfach
aufbrechen. Zu seinem Kern vorzudringen, erfordert die Mitarbeit des Zuschauers.
Tarkovskij wirklich zu begegnen, heißt in eine Welt der Symbole und Mythen
einzutauchen, deren Maßstab nicht mehr die Stunde, sondern das Universum ist. Sven
Nykvist, der schwedische Kameramann, hat “Das Opfer” in das magische Licht der
Mittsommernacht getaucht, hat Bilder komponiert, die zu lkonen gerinnen: Nach strengen
Mustern gefertigt auf der einen Seite, von dichtester Aussagekraft im Vordergründigen wie
im geheimnisvoll Verborgenen andererseits.
Horst Schäfer/Walter Schobert
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Nachwort
Vor zwei Jahren wurde im “Rheinischen Merkur” das “Privatmuseum Film” geöffnet: 111
Meisterwerke der Filmkunst, die auf Video erhältlich sind, wurden ausgewählt und
gewertet.
Nicht in allen Fällen ist der Anspruch “Meisterwerk” haltbar. Von Regisseuren, die
Filmgeschichte machten, waren manchmal nur Filme zweiter Wahl erhältlich. In der
Startphase legten wir uns auf dreißig Titel fest und hofften, die Entwicklung des Marktes
werde uns eine Fülle von Filmen bescheren, die aus dem vollen schöpfen läßt. Doch am
Ende hatten wir große Mühe, die letzten Plätze sinnvoll zu besetzen. “Privatmuseum Film”
ist im Endergebnis nur so gut, wie es das Angebot zugelassen hat.
Wir identifizieren uns dennoch mit allen Titeln dieser Auswahl, bedauern gleichzeitig aber
auch die großen Lücken, die einen Präsenzbestand zur internationalen Filmkunst und
Filmgeschichte verhindern. Was wir vor zwei Jahren bemängelten – zu wenig FilmkunstKlassiker, kaum Beispiele für die nationalen Kinematographien von Ländern aus Asien,
Afrika oder Südamerika, unterversorgte Genres – gilt unverändert.
Dennoch: Das Erscheinungsbild der Videobranche hat sich in einigen Bereichen erfreulich
verbessert. Die Video-Horror-Diskussion ist so gut wie abgeklungen, die Branche hat das
Problem der Raubkopien besser in den Griff bekommen und viele Neugründungen oder
Zusammenschlüsse auf Zeit von Programmanbietern und Vertriebsfirmen haben für
Bewegung und Abwechslung gesorgt. Zu beklagen ist jedoch die mangelnde Sensibilität
im Umgang mit der Geschichte des Films – von der “Ehrfurcht vor großen Meistern” ganz
zu schweigen. Es bedarf noch vieler Anstrengungen, bis wir annähernd den Standard des
Literatur- und Musikangebotes erreicht haben.
Es war unsere Absicht, mit “Privatmuseum Film” eine Anthologie von großem
Gebrauchswert zusammenzutragen – mit Filmen, deren Kenntnis für jeden lohnend ist,
der sich für den Film und seine Geschichte interessiert. Abschließend stellen wir fest, daß
wir trotz aller Einschränkungen und Engpässe dieses Ziel erreicht haben; ein Ergebnis,
das wir dennoch später nachbessern, korrigieren möchten.
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Zu Beginn der Reihe haben wir unser Unbehagen formuliert, überhaupt Filme auf Video
zu empfehlen und die Gründe dafür genannt, die uns (Kinogänger!) zu dieser Arbeit
bewogen haben. Wir hofften, “daß ein ›Privatmuseum auf Video‹ den Film auf der Großen
Leinwand nicht ersetzt, sondern erschließen hilft”. Diese Hoffnung geben wir nicht auf. In
diesem Sinn haben wir, die in den letzten zwei Jahren im “Rheinischen Merkur/Christ und
Welt” veröffentlichten Filmbesprechungen und -empfehlungen über die Einzelausgaben
hinaus als Buch, Nachschlagewerk und “Museums-Führer” herausgegeben.
Die Beobachtung des Videomarktes hat zu einigen Erkenntnissen geführt, die nicht
schmeichelhaft sind für die Branche. Unvermeidbar ist wahrscheinlich, daß mit
aufgemotzten Kassettenhüllen Käufer und Entleiher angesprochen werden sollen.
Kinoplakate und Trailer verfahren nicht viel anders. Ärgerlich ist aber, daß in vielen Fällen
Etikettenschwindel betrieben wird.
Falsche oder irreführende Inhaltsangaben stehen auf dem Cover, die Laufzeiten sind
ungenau und die Produktionsjahre unkorrekt oder überhaupt nicht angegeben.
Festgelegte Berufsbezeichnungen für Regisseure, Kameraleute, Autoren, werden aus
anderen Sprachen nicht sinngemäß ins Deutsche übersetzt: Aus dem Kameramann wird
der Regisseur, aus dem Regisseur wird der Drehbuchautor. Die in vieler Hinsicht falschen
Verpackungen finden ihre Zuspitzung in schlampigen Synchronisationen.
Die Kritik trifft nicht in erster Linie die im “Privatmuseum Film” vorgestellten Produktionen,
sondern die billigen Action- und Massakerfilme, die immer noch den größten Teil des
Marktangebotes ausmachen. Nicht betroffen sind die marktbeherrschenden
Programmanbieter, die ihre Gelder in annehmbare Synchronisationen investieren, die
einen reichen Filmschatz im Rücken haben und über langjährige Erfahrungen beim
Vertrieb anspruchsvoller Unterhaltungsware verfügen.
In den deutschen Filmtheatern können aus Kapazitätsgründen pro Jahr nur rund 300 bis
350 Kinofilme aus der internationalen Produktion als Erstaufführungen starten. Zählt man
die TV-Erstaufführungen (ARD und ZDF) hinzu, steigt die Zahl um weitere hundert Titel.
Bei den Spielfilm-Video-Erstaufführungen errechneten wir für 1987 insgesamt etwa 400
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Produktionen mit einer Länge von mehr als 60 Minuten (reine Fernsehfilme und indizierte
Titel ausgenommen); es waren gut 20 Prozent mehr als 1986.
Was Neuerscheinungen angeht, hat Video folglich mit Kino und TV gleichgezogen.
Außerdem steht den Zuschauern heute ein Gesamtangebot von circa 8000 Spielfilmen
auf Video zur individuellen, zeitunabhängigen Verfügung. Damit kann das Kino nicht mehr
konkurrieren. Gegenüber den Anfangsjahren des Videohandels hat sich das Verhältnis
der Filmwirtschaft zur Videobranche etwas verbessert: Man redet miteinander.
Wechselseitige Schuldzuweisungen am Besucherrückgang oder an Niveauverlusten sind
verbraucht. Seit 1986 übertrifft der Videomarkt die Umsätze der Kinos; nun muß man sich
arrangieren.
Es geht um die gemeinsame Auswertung von Lizenzen, um die Aufteilung von Start- und
Synchronisationskosten, um die Unterstützung “interessanter” bundesdeutscher
Produktionen. Diese Entwicklung ist nicht unumstritten. Einige Verleiher und Kinobesitzer
ziehen es vor, den Film im Kino zu fördern, in Kino zu investieren und Filme auf möglichst
großen Leinwänden zu zeigen. Demgegenüber stellt das Deutsche Video-Institut (DVI)
fest, daß Video heute schon mit einem Anteil von bis zu 60 Prozent zur Finanzierung von
Spielfilmprojekten beiträgt: “Das unterstreicht die Bedeutung dieses Mediums für die
gegenwärtige und zukünftige Filmkultur.”
Die Euphorie des DVI in allen Ehren, aber man muß sich schon auf einen sehr weiten
Kulturbegriff einigen, damit diese Gleichsetzung stimmt. Es ist noch immer richtig,
zwischen dem “Film als Ware” und dem “Film als Kulturgut” zu unterscheiden. Wo Schrott
angeboten wird und Filme verramscht werden, wäre etwas mehr Selbsterkenntnis und
Zurückhaltung angebrachter.
Es ist üblich geworden, daß in zunehmendem Maße kleine ausländische Fernseh-Serien
als Videos zu uns kommen. Auf die meisten von ihnen kann man getrost verzichten, aber
es sind auch Produktionen dabei, die unseren öffentlich-rechtlichen Anstalten gut
anstehen würden. “Die Plutonium-Affäre” (Großbritannien 1985; Regie: Martin Campbell;
Laufzeit circa fünf Stunden) ist ein solcher Fall. Diese britische TV-Produktion zählt zu den
spannendsten und aufschlußreichsten Polit-Thrillern, die sich – vergleichbar mit den
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Filmen von Rainer Erler – mit illegalen Atom-Praktiken befassen. Der Film zeigt, wie mit
Hilfe von Geheimdiensten Täuschungsmanöver inszeniert, Öffentlichkeit und Medien
hintergangen werden. Er wurde mit sechs Oscars des britischen Fernsehens
ausgezeichnet. Auch in einigen anderen Fällen hatten die Video-Anbieter die Nase vorn:
“Blue Velvet” von David Lynch, “Crossroads” von Walter Hill, “Garp – und wie er die Welt
sah” von George Roy Hill waren als Kassette früher da als auf der Leinwand.
Der äußere und innere Zustand der Videobranche ist ablesbar an der alljährlichen
Selbstdarstellung in Wiesbaden. Beim 3. Kongreß Ende August 1987 gab es gegenüber
dem Vorjahr eine Umsatzsteigerung von 20 bis 30 Prozent; 6000 Besucher kamen zu den
85 Ausstellern, deren Präsentationsfläche sich im Vergleich zu 1985 verdoppelt hatte.
Beim 4. Deutschen Video-Kongreß (8. bis 11. September 1988 in der Rhein-Main-Halle)
blieb die Anzahl der Aussteller und der Besucher in etwa gleich: Die Zahl der
Videorekorder in den Haushalten steigt zwar weiterhin, die Zahl der intensiven Nutzer von
Videotheken ist hingegen rückläufig.
Der Aufwärtstrend der Video-Wirtschaft hält jedoch an. Neue Programmanbieter sind
hinzugekommen; das Titelangebot insgesamt ist vielfältiger geworden. Der Umsatz der
Spielfilm-Programmanbieter stieg von (1986) 402 Millionen auf (1987) 525 Millionen Mark;
der Absatz von bespielten Kassetten an den Fachhandel erweiterte sich von 3,6 auf 4,4
Millionen. Die Erwartungen für 1988 richteten sich auf sechs Millionen Kassetten mit
einem Umsatz von 540 bis 575 Millionen Mark. Also: zufriedene Gesichter bei den
Anbietern und Händlern allenthalben, auch wenn sich auf der Handelsebene die
Verschärfung des Wettbewerbs über weiter sinkende Verleihpreise spürbar auswirkt.
Bei dem 4. Deutschen Video-Kongreß in Wiesbaden wurden im Rahmen einer Video-Gala
auch Preise vergeben. Der meistausgezeichnete Film ist der Überraschungs-Hit “Dirty
Dancing” (bester Verkauf, weiblicher und männlicher Videostar des Jahres). “Beliebtester
Video-Film des Jahres” wurde “Der Name der Rose”; er erzielte in den Videotheken
zwischen dem 1.7.1987 und 30.6.1988 die meisten Vermietungen. Der hier erstmals
verliehene Deutsche Video-Film-Preis erweist sich mit diesen Titeln und Namen als eine
pure Verlängerung von Kino-Erfolgen, was aber nicht unsympathisch sein muß. Immerhin
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hätten ja auch “Platoon” oder “Rocky/Rambo/Schimanski”-Titel das Rennen machen
können.
Mit der Verleihung des Deutschen Jugend-Video-Preises will das Bundesministerium für
Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit seit 1985 Produktionen auszeichnen, die sich
besonders für Kinder und Jugendliche eignen. Analog zum Deutschen Jugendbuch-Preis,
den es seit über 25 Jahren gibt, sollen Orientierungswerte geschaffen werden, die sich
positiv auf den Umsatz der speziell empfohlenen Titel auswirken. Dieses Ziel hat der
Preis in den ersten Jahren seines Bestehens noch nicht ganz erfüllt; die mit ihm
verknüpften Erwartungen werden enttäuscht. Ein Problem liegt mit Sicherheit in der
Haltung einiger Videotheken, die aufgrund der Jugendschutzbestimmungen Kinder und
Jugendliche gänzlich als Kunden ausschließen. Das hat der Gesetzgeber in dieser
Konsequenz nicht beabsichtigt, doch die Videotheken selbst haben diese Fakten
geschaffen und der Handel ist nun dabei, das zu überprüfen und zu revidieren.
Erster Ansatz: “Woche des guten Kinder- und Jugendvideos” in den deutschen
Videotheken; eine Gemeinschaftsveranstaltung, die BVV und IVD in Zusammenarbeit mit
Unicef und dem Kinder- und Jugendfilmzentrum der Bundesrepublik Deutschland im
September 1988 in allen deutschen Videotheken durchführten.
Es wurden elf Titel ausgewählt, die als besonders wertvoll und förderungswürdig
angesehen werden. Allesamt sind sie erhältlich. Diesen Vorstoß hin zur
familienfreundlichen Videothek unterstützt ein anderes von sechs in der Bundesrepublik
ansässigen Tochterfirmen der großen Hollywood-Studios gemeinsam betriebenes
Vorhaben.
Es wurde eine Gemeinschaftswerbung konzipiert, die auf “gute Unterhaltung für jede
Altersgruppe und für jeden Geschmack” zielt. Über die großen Publikumszeitschriften hofft
man, 70 Prozent der deutschen Besitzer von Video-Rekordern zu erreichen. Ziel dieser
Aktion ist es, den Handel zu ermutigen, mehr Videotheken zu eröffnen, die auch für
Kinder und Jugendliche zugänglich sind. Immerhin handelt es sich um das
Kundenpotential der Zukunft.
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Videos für Kinder und Jugendliche nehmen im Angebot der öffentlichen Videotheken und
Medienstellen schon jetzt einen breiten Raum ein. Nachdem das Berufsbild der
Bibliothekare entsprechend erweitert wurde und sich das Deutsche Bibliotheksinstitut
(DBI) an einigen erfolgreichen Modellprojekten beteiligt hat, ist eine Expansion über die
bestehenden Initiativen hinaus absehbar.
“Privatmuseum Film” mit seinen 111 Titeln zur Filmkunst und Filmgeschichte ist nicht nur
ein Ratgeber für Cineasten. Die Videos dieser Serie sind gleichzeitig ein
Präsenzbestandteil für Film- und Medienkunde, der in den kommenden Jahren
komplettiert und erweitert werden kann.
Das wurde erkannt. Von zentralen oder dezentralen Anschaffungsstellen öffentlicher
Bibliotheken, Videotheken und Medienzentralen ist zu hören, daß sie mit den Titeln des
“Privatmuseums Film” den Grundstock ihrer filmhistorischen Ecke bilden wollen. Diese
Publikation – unser “Museumsführer” – ist folglich das “Buch zu den Meisterwerken der
Filmkunst”.
(Geschrieben zum Abschluß der Serie im Oktober 1988)
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Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren
Thomas Brandlmeier, geboren 1950. Studium der Amerikanistik, Slawistik,
Theaterwissenschaften sowie Biochemie. Dr. phil. Filmkritiker, Lehraufträge an
verschiedenen Hochschulen, Herausgeber zahlreicher filmhistorischer Dokumentationen
und Autor filmwissenschaftlicher Bücher. Fachgebiet: Filmkomödie. Lebt in München.
Günter Engelhard, geboren 1937 in Frankfurt am Main, ist leitender Redakteur (Kultur)
der Wochenzeitung “Rheinischer Merkur/Christ und Welt”. Er beobachtet die europäische
Kunst- und Theaterszene für das Wirtschaftsmagazin “Capital”, ist Autor des
Kunstmagazins “art”, Mitarbeiter der Schweizer Wochenzeitung “Die Weltwoche” und des
Westdeutschen Rundfunks. Nach Redaktionsjahren in Dänemark, Bremen und Stuttgart
war er 1970/71 Ressortleiter Feuilleton der “Frankfurter Rundschau”, 1972/73
Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus. 1975 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis
für Kultur.
Hans Gerhold, geboren 1948, Studium der Publizistik, Anglistik/Amerikanistik und
Romanistik. Dr. phil., MA. Von 1980 bis 1983 Wissenschaftlicher Angestellter am Institut
für Publizistik Münster. Autor einer Monographie über Jean-Pierre Melville (München
1982) und von “Medientransfer. Kurzgeschichten in Kurzfilmen” (Münster 1983); Fischer
Taschenbuch: “Kino der Blicke”. Der französische Kriminalfilm. Eine Sozialgeschichte (Bd.
4484). Filmhistoriker, lebt als freier Journalist in Münster.
Roff-Ruediger Hamacher, geboren 1946 in Bensheim an der Bergstraße. Buchhändler.
Studium der Sozialarbeit. Gründung von und Mitarbeit bei verschiedenen Filmclubs. Seit
1971 Dozent für Medienpädagogik an der Fachhochschule Köln. Freier Mitarbeiter bei
Tageszeitungen, Rundfunk und Filmfachzeitschriften. Programmkinomacher in Köln und
Aachen. Lebt in Köln.
Hilmar Hoffmann, geboren 1925. Bis 1970 Leiter der Internationalen Westdeutschen
Kurzfilmtage in Oberhausen, seit 1970 Kulturdezernent in Frankfurt am Main .
Lehrbeauftragter an den Universitäten Bochum, Frankfurt am Main, Marburg und Tel Aviv;
Honorarprofessor. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. “Theorie der Filmmontage”;
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Fischer Taschenbücher: “Kultur für alle” (Bd. 3036), “Kultur für morgen” (Bd. 3082) und
“Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit” (Bd. 4404).
Urs Jaeggi, geboren 1941 in Bern/Schweiz. Redakteur der Medienzeitschrift “ZOOM” in
Bern. Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission und Präsident des
Begutachtungsausschusses, der beim Bundesrat als Expertengremium beantragt, welche
Filmprojekte in den Genuß von Herstellungsbeiträgen durch den Bund kommen sollen.
Heinz Kersten, geboren in Dresden. Studium der Germanistik, Publizistik und
Theaterwissenschaft. Film- und Theaterkritiker, freier Mitarbeiter verschiedener Zeitungen
und Rundfunkanstalten. Beschäftigt sich besonders intensiv mit dem Film in der DDR und
der Sowjetunion. Autor zahlreicher Buchbeiträge. Lebt in Berlin.
Reinhard Kleber, geboren 1958 in Merzig/Saar. Studium der Germanistik, Geschichte
und Publizistik bzw. Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Mainz und Frankfurt.
Freie Mitarbeit bei Zeitungen und Zeitschriften. 1987/88 Seminarassistent bei der
Zentralen Fortbildung der Programmitarbeiter von ARD/ZDF in Frankfurt und Wiesbaden.
Seit 1988 Radio-Redakteur in Stuttgart.
Uwe Künzel, geboren 1954 in Berlin. Studium der Germanistik und
Erziehungswissenschaften. Seit 1978 als freier Filmjournalist in Freiburg tätig. Autor einer
Monographie über Wim Wenders.
Günter Lebailly, geboren 1937 in Warnemünde (Mecklenburg). Studium der Germanistik,
Theaterwissenschaft, Musik- und Kunstgeschichte in Köln und Wien. Seit 1962 als
pädagogischer Mitarbeiter an Volkshochschulen tätig, seit 1968 hauptberuflich, derzeit in
Gütersloh. Filmfreund von Jugend an. Zum genaueren Kenner der Materie vor allem durch
die Bewegung der kommunalen Kinos ab Ende der 60er Jahre geworden. Selbst zwölf
Jahre lang Leiter einer kommunalen Spielstelle.
Hans Günther Pflaum, 1941 in München geboren. Studium der Germanistik,
Zeitungswissenschaften und Theatergeschichte. 1972-76 Redakteur der “FilmKorrespondenz”, seither freier Journalist, u. a. für die “Süddeutsche Zeitung”. Autor
mehrerer Filmbücher. Lebt in München.
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Helmut Regel, geboren 1935 in Frankfurt/Oder. Studium der Geschichte, Germanistik und
Kunstgeschichte. Einige Jahre Mitarbeiter der Zeitschrift “Filmkritik” in München.
Archivoberrat im Bundesarchiv Koblenz, dort seit 1973 Referent im Filmarchiv, zuständig
für Dokumentarfilm bis 1945, Spielfilm und Filmdokumentation. Zahlreiche Publikationen,
u. a. “Der deutsche Stummfilm”, “Der Spielfilm im Dritten Reich”.
Horst Schäfer, geboren 1942 in Duisburg. Pädagogischer Mitarbeiter der
Volkshochschule Duisburg bis 1977. Ab 1970 Aufbau und Leitung des Kommunalen Kino
Duisburg bis zur ersten Duisburger Filmwoche 1977.1978 und 1979 Mitarbeiter bei atlas
Film + AV Duisburg. 1980 und 1981 Referent für Freizeitpolitik bei der Kulturbehörde der
Freien und Hansestadt Hamburg. Seit 1982 Leiter des Kinder- und Jugendfilmzentrums in
der Bundesrepublik Deutschland. Lebt in Köln. – Regelmäßige Beiträge für Rundfunk und
Presse; Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen über Medienpädagogik,
Medienpolitik und Film (u.a. Herausgeber des “Fischer Film Almanach”).
Hans-Joachim Schlegel, geboren 1942, studierte Slawistik, Germanistik und
Philosophie. Lebt als freier Filmwissenschaftler, Kritiker und Übersetzer in Berlin.
Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft. Mitarbeiter der
Westdeutschen Kurzfilmtage Oberhausen (1976-1987) und der Internationalen
Filmfestspiele Berlin seit 1986. Herausgeber, Übersetzer und Kommentator einer
sechsbändigen Edition der Schriften von Sergej Eisenstein und von Andrej Tarkovskijs
“Die versiegelte Zeit”. Fachpublikationen zur Theorie und Geschichte vor allem der
slawischen, arabischen und ungarischen Völker sowie zur avantgardistischen Frühzeit
des Films.
Walter Schobert, geboren 1943 in Erlangen (Franken), Studium der evangelischen
Theologie und der Theaterwissenschaft. Von 1967 bis 1969 Vikar in Münchberg.
Gründung und Mitarbeit bei verschiedenen Filmclubs. Von 1970 bis 1973 Filmreferent bei
der Evangelischen Konferenz für Kommunikation. Seit 1974 Leiter des Kommunalen
Kinos Frankfurt am Main. Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zum Film (u.
a. Herausgeber des “Fischer Film Almanach”). Lehrauftrag für Filmgeschichte an der
Universität Frankfurt. Professor an der HfG Offenbach. Direktor des Deutschen
Filmmuseums Frankfurt a. M.
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Leo Schönecker, geboren 1930. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften sowie
Soziologie, Dr. jur. Leitet das Filmkundliche Archiv und Referat für Filmgeschichte in Köln,
korrespondiert in Deutschland u.a. für “film-dienst” und “Film-Korrespondenz”. Lebt in
Köln.
Wolfgang Schwarzer, geboren 1947 in Melle (Niedersachsen). Studium der Romanistik,
Germanistik und Literaturwissenschaft. Seit 1972 Mitarbeit beim Kommunalen Kino
Duisburg. Veröffentlichungen schwerpunktmäßig zum französischen Film. Regelmäßige
Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Vortragstätigkeit über Themen französischer
Kultur. Arbeitet als Fachbereichsleiter für romanische Sprachen bei der Volkshochschule
der Stadt Duisburg.
Wolfram Tichy, Herausgeber und Mitverfasser” von “Buchers Enzyklopädie des Films”
sowie mehrerer Biographien über Chaplin, Keaton, Lloyd und andere Persönlichkeiten des
amerikanischen Films. Lebt als Mitarbeiter eines Unternehmens der Filmbranche in
München.
Meinolf Zurhorst, geboren 1953 in Berg. Gladbach. Studium der Theater-, Film- und
Fernsehwissenschaften, Kunstgeschichte, Ethnologie und Philosophie. Seit 1977
regelmäßige, freie Mitarbeit bei Magazinen, Zeitungen und Fernsehen.
Buchveröffentlichungen über den Gangster- und Kriminalfilm, Jack Nicholson, Lino
Ventura, Robert De Niro, die neuen Gesichter von Hollywood und Mickey Rourke. Lebt als
Film- und Videoproduzent in Köln.
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außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
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Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in
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