Reclam Hans Peter Neureuter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen Hoffmanns »Deutscher Sang«. Versuch einer historischen Auslegung Von Hans Peter Neureuter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: »Das Lied der Deutschen« Deutschland, Deutschland über Alles, Über Alles in der Welt, Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält, Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt – Deutschland, Deutschland über Alles, Über Alles in der Welt! Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang, Uns zu edler That begeistern Unser ganzes Leben lang – Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang! 1 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. 5 10 15 Reclam Hans Peter Neureuter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland! Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand – Blüh’ im Glanze dieses Glückes, Blühe deutsches Vaterland! 20 Abdruck nach: Hoffmann’s von Fallersleben Gesammelte Werke. Hrsg. von Heinrich Gerstenberg. 8 Bde. Berlin: F. Fontane, 1890–93. Bd. 3. Lyrische Gedichte. 1891. S. 233. Erstdruck: Das Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben. Melodie nach Joseph Haydn’s: »Gott erhalte Franz den Kaiser, / Unsern guten Kaiser Franz!« Arrangirt für die Singstimme mit Begleitung des Pianoforte oder der Guitarre. (Text Eigenthum der Verleger.) 1. September 1841. Hamburg: Hoffmann und Campe / Stuttgart: Paul Neff. Neudr. München: Drei Masken-Verlag, 1923. [Faks. bei Günther, S. 76–79. – In der ersten Handschrift (Faks. u. a. bei Günther, S. 81) links über der Titelzeile: »Helgoland 26. Aug. 41«; neben den beiden letzten Zeilen die Variante: »Erst: Stoßet an und ruft einstimmig: Hoch das deutsche Vaterland!« – vielleicht ist diese »Erst«-Version (?) als Alternative für entsprechende Gesangssituationen festgehalten, in einer späteren Handschrift ist sie förmlich als Schluss (23 f.) eingesetzt (vgl. Günther, S. 75); weitere Variante einer 2 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Hans Peter Neureuter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen Reclam eigenhändigen Abschrift: »Von dem Rhein bis an die Memel« (vgl. Volkmann, S. 298)]. Weitere wichtige Drucke: [Hoffmann von Fallersleben:] Deutsche Lieder aus der Schweiz. Zürich/Winterthur: Literarisches Comptoir, 1843. [Fortsetzung der satirischen »Unpolitischen Lieder«.] – Hoffmann von Fallersleben: Gedichte. 3. Aufl. Leipzig: Weidmann, 1843. – Deutsche Lieder nebst ihren Melodien, Leipzig: Freise, 1843. [Berliner studentisches Kommersbuch.] – Ludwig Erk (Hrsg.): Alte und neue Volkslieder für Männerstimmen gesetzt. 2 Bde. Essen: Baedeker, 1845. – Hoffmann von Fallersleben: Deutsches Volksgesangbuch. Leipzig: Engelmann, 1848. Hoffmanns »Deutscher Sang«. Versuch einer historischen Auslegung Der Text hat 117 Wörter. Ohne Wiederholungen und Artikel sind es 58, ohne Partikel und Pronomina nur 43 verschiedene Wörter, das ist etwas über ein Drittel der gesamten Wortmenge. Die Substanz, die hier umgewälzt wird, ist zur Hauptsache in den 26 Substantiven enthalten, nur durch wenige Verben miteinander verbunden: ein Prädikat in der ersten Strophe, in einem Nebensatz, »zusammenhält« (4); zwei in der zweiten, »sollen [. . .] behalten« (11), (sollen) »begeistern« (13); drei in der dritten, »laßt uns [. . .] streben«, »sind«, »blüh(e)« (19, 22–24). Nur das letzte Verb hat üppigere, selbstständige Bedeutung, fast alle haben futurischen Sinn, der einzige präsentische Indikativ formuliert den einzigen Gedanken des Gedichts: »Einigkeit und Recht und Freiheit / Sind des Glückes Unterpfand.« (21 f.) 3 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Hans Peter Neureuter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen Reclam Die appellativ wiederholten Nomina sind offenbar weder ›Ideen‹ noch schlechthin Sachen. »Deutschland«, 1841 zwar keine staatliche Realität, aber doch Eigenname einer Gegend mit 30 Millionen Einwohnern in der förmlich angegebenen Erstreckung »von der Maas bis an die Memel, / Von der Etsch bis an den Belt« (6), wird durch die dringliche Doppelung am Anfang hinausgehoben über die Bezeichnung bloßer Territorien und bloßer Menschen. Drei weitere Gedichte Hoffmanns beginnen ebenso und enthüllen einen seltsamen Namensfetischismus: »Deutschland! Deutschland! / O heil’ger Name, o süßer Klang! / [. . .] Deutschland! Deutschland! / Heil deinem Namen« (1847; III,239 f.; ferner V,150 und 349 f.). Auch in unserem Text ist die Silbe »deutsch« mit 15 Nennungen die häufigste, sie tönt betäubend aus beinahe jedem siebten Wort. Befremdlich und künstlich wirkt darum die Bedingung, unter der »Deutschland über Alles« gestellt wird, nämlich »wenn es [. . .] brüderlich zusammenhält« (4). Der eindeutige Sinn des alten Topos wird vom Autor selbst an anderer Stelle verdeutlicht: »und wir können jeden Feind / Treuverbunden überwinden« (Eins und – Alles; IV,104). »Alles« meint also logisch »alle«. Die Drohung beschränkt sich auf Verteidigungswillen, aber nur so wird man künftig moderne Nationen mit allgemeiner Wehrpflicht für den Krieg werben können. Wichtiger als die Rekonstruktion des rationalen Wortsinns ist jedoch die Enträtselung der primären Unklarheit selber, der Gärungspotenz einer Vaterlandserhöhung »himmelwärts« (III,329), die dennoch »in der Welt« (2) bleibt. Das Erhobene wird offenbar gegen die bedingende Logik absolut gesetzt, indem sein irrealer Siegesanspruch nach innen schlägt und im Subjekt vollbringt, was es in Wirklichkeit nicht kann; eine Vaterlandsmystik, der kaum ein Motiv säkularisierter Religiosität fehlt: VatergottAnbetung, Jesus- und Marien-Minne, Kirchenliedton und Analogien wie Auferstehung und Pfingstwunder. Das Ich zerschmilzt in Hingabe: »Treue Liebe bis zum Grabe / Schwör ich dir mit Herz und Hand: /Was ich bin und was ich habe, / Dank ich dir, mein 4 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Hans Peter Neureuter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen Reclam Vaterland. // [. . .] ewig sind vereint wir beide, / Und mein Trost, mein Glück bist du« (1839; III,237); »Mein Vaterland ist meine Braut!« (1841; III,237); »O du mein heiß Verlangen, / Du meiner Wünsche Spiel, / Du meines Herzens Bangen, / Du meiner Hoffnung Ziel! // [. . .] Ich leb nur, um zu leben / Für dich, mein Vaterland!« (1852; III,250 f.). Eine Art kuscheliger Gemütston in diesen Zeilen ist das Neue gegenüber der »vaterländischen Panegyrik« der Befreiungskriege (vgl. Bayerdörfer, S. 173), an welche die zweite Strophe noch stärker erinnert. Vom Besingen des Namens übergehend zur Benennung des Wesens, präsentiert sie den traditionellen Tugendkatalog des deutschen Patriotismus seit dem Mittelalter, wie er zuletzt in der Lyrik von 1809–15 und in den sie fortsetzenden Burschenschaftsliedern virulent geworden war. Das gilt besonders für den Inbegriff deutscher Selbstdeutung, die »deutsche Treue« (9). So ist etwa in Ernst Moritz Arndts Bundeslied 1815 (»Es lebe alte deutsche Treue«, in: Schauenburgs Kommersbuch, Nr. 102) oder in Karl Follens Turnerstaat 1817 (ebd., Nr. 95) auch die Wiedererweckungsgebärde der »altdeutschen Treu« noch kenntlich. »Deutsche Frauen« (9) sind vor allem die Mütter: »Ihr kennt noch frohe deutsche Weise, / Noch deutsche Zucht und Sittsamkeit; / [. . .] wohlan! ihr sollt im Kind erwecken / Den Sinn für Vaterland und Recht« (1840; IV,103 f.). Die Frauen gehören daher ebenso wenig wie »deutscher Wein und deutscher Sang« (10) in die ›Wein-Weib-Gesang‹-Trinität des eigentlichen Trinkliedes. Das aufdringliche Adjektiv nimmt allen sowohl Sinnlichkeit als auch Idealität, erfüllt damit vollkommen den Tatbestand der Idolatrie. Auch ›Treue‹ ist offenbar mehr als »deutsche Treue«. Indessen wird von allen Idolen »in der Welt« zunächst nicht mehr verlangt, als dass sie ihren »schönen Klang« behalten und zu diesem Zweck auch die Sänger »zu edler Tat begeistern« (12, 13) sollen. Die Wendung lässt aufhorchen, aber das Verhältnis von Wort und Tat gelangt, wie überall bei Hoffmann, nicht zum Bewusstsein 5 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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