Herkner / Kapitel 6 / Teil 3C 470 3. DIE RISIKOBEREITSCHAFT IN GRUPPEN: Gruppenentscheidungen sind sehr oft risikofreudiger als Entscheidungen von Einzelpersonen Procedere beim Vergleich von Risikobereitschaft von Einzelpersonen und Gruppen: • VPn treffen meist einzeln Entscheidungen zwischen - Alternative mäßig attraktiv, aber sicher - Alternative sehr attraktiv, aber mit beträchtlichem Risiko verbunden BEISPIEL: Î VPn soll Person bei Berufswahl beraten - durchschnittlich bezahlter Job bei alter und angesehener Firma - sehr gut bezahlter Job bei neuer Firma mit völlig ungewisser Zukunft dazu Vorgabe von bestimmten Antwortmöglichkeiten: Posten soll angenommen werden, wenn Chancen 1:9, 3:7, 5:5, 7:3, 9:1 Aus Antworten der VPn (z.B. wie oft rät VP zu sicherer Entscheidung, unter welchen Bedingungen rät sie zu riskanter Alternative) Schätzung ihrer Risikobereitschaft • VPn in Gruppen, sollen dieselben Entscheidungsprobleme jetzt diskutieren und sich auf Lösung einigen • oft danach noch einmal Einzelversuch: VP bekommt die Probleme noch einmal vorgegeben und soll noch einmal allein entscheiden Experimente zeigen (z.B. Stoner, 1961; Wallach, Kogan & Bem, 1962): Î Gruppenentscheidungen sind riskanter als Einzelentscheidungen VOR der Gruppensitzung Î Einzelentscheidungen NACH der Gruppensitzung sind riskanter als Einzelentscheidungen VOR der Gruppensitzung (d.h. echte Meinungsänderung des Einzelnen aufgrund der Gruppensituation!) = „risky-shift“-Phänomen (Risikoaufschub) (Kogan, 1969) tritt auf: - bei VPn verschiedener Nationalität - bei VPn verschiedenen Alters - bei VPn verschiedener Berufs - auch wenn VPn durch ihre Entscheidungen Geld verlieren können Herkner / Kapitel 6 / Teil 3C 471 Erklärungen für die erhöhte Risikobereitschaft von Gruppen (sind aber alle nicht allgemein gültig): (1) Verteilung der Verantwortung (Wallach, et al., 1964): bei Gruppenentscheidungen für den Einzelnen: - weniger Verantwortlichkeit - weniger aversive Konsequenzen - keine Bestrafung durch andere - keine Selbstbestrafung (z.B. Gewissensbisse) Grund: Person hat ja nicht allein entschieden, sondern Entscheidung war eine anonyme Gruppenentscheidung Gruppenentscheidungen sind umso riskanter, je mehr Personen in der Gruppe (2) Risikofreudige Personen sind einflussreicher (Collins & Guetzkow, 1964): Personen, die von Haus aus zu riskanten Entscheidungen neigen, treten überzeugender auf und sind in Gruppendiskussion einflussreicher (risikofreudige VPn wurden nach Gruppensitzung von anderen VPn auch tatsächlich als einflussreicher bezeichnet) ABER: Untersuchungen mit homogenen Gruppen von sehr risikofreudigen Personen ergab auch hier risky-shiftPhänomen (Hoyt & Stone, 1968) [was ja eigentlich nicht passieren hätte sollen, wo doch alle schon VOR der Gruppensitzung sehr risikofreudig waren] (3) Soziale Vergleiche (Brown, 1965): Gruppen entscheiden riskanter, weil Risikobereitschaft von den meisten Menschen in vielen Situationen als positiv eingestuft wird. In Gruppe hat Einzelner Gelegenheit, sich hinsichtlich seiner Risikobereitschaft mit anderen Personen zu vergleichen, Folge: er möchte ein bisschen risikobereiter sein als die anderen, damit er positiv beurteilt wird und so sein Selbstbild bestätigt, daher riskantere Entscheidungen als allein Herkner / Kapitel 6 / Teil 3C 472 Damit kann Brown auch das Gegenteil von risky-shift, nämlich „cautious-shift“ erklären: Î wenn eher vorsichtiges Verhalten normgerecht erscheint, dann will Einzelner noch vernünftiger erscheinen als die anderen, daher: ABER: in solchen Situationen sind Gruppenentscheidungen vorsichtiger als Einzelentscheidungen Gruppenentscheidungen entsprechen manchmal weniger sozial erwünschtem Verhalten als Einzelentscheidungen (z.B. in Experiment von Baron, et al., 1974, waren Einzel-VPn wesentlich großzügiger beim Geldspenden als Gruppen-VPn) (4) Überzeugende Argumente (Burnstein & Vinokur, 1975): Entscheidung hängt ab von Anzahl und Qualität der Argumente für die verschiedenen Alternativen; Argument = gut, wenn es neu und stichhaltig (d.h. valide) ist. 2 Vorzüge dieses Ansatzes: Ö Î kann sowohl vergrößerte als auch verminderte Risikobereitschaft erklären: ob Gruppe riskant oder vorsichtig entscheidet, hängt ab vom Prozentsatz überzeugender (riskant vs. vorsichtig) Argumente Î Betonung der Argumentqualität wie in aktuellen Theorien der individuellen Einstellungsänderung (z.B. ELM), daher Möglichkeit zu einheitlicher Erklärung von individuellen und kollektiven Einstellungsänderungen viele Untersuchungen sprechen für (3), aber auch für (4) Wahrscheinlich ist es so: Î sowohl Informationsverarbeitungsprozesse (Argumentqualität) als auch Motivationsprozesse (sozialer Vergleich und Selbstdarstellung) spielen eine Rolle Î Ob Vergleichsprozesse oder Argumentqualität mehr Einfluss haben, hängt wahrscheinlich ab von Aufgabentyp und Entscheidungsregel Herkner / Kapitel 6 / Teil 3C 473 Risikoaufschub = Spezialfall eines allgemeineren Phänomens, und zwar: Ö Polarisierung und Extremisierung durch Gruppeninteraktionen (Moscovici & Zalloni, 1969); wurde auch bei politischen Einstellungen, Altruismus beobachtet, daher: Annahme, dass in Gruppen Einstellungen und Verhalten extremer werden als bei Einzelpersonen, dürfte stimmen; Gründe, warum das so ist, sind aber noch unklar.
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