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LAMPEDUSA IM WINTER
Ein Film von Jakob Brossmann
Begleitmaterial zum Unterricht
Lampedusa im Winter
Seite 1
FILMLADEN FILMVERLEIH
präsentiert
LAMPEDUSA IM WINTER
Ein Film von Jakob Brossmann
WELTPREMIERE im Rahmen des Internationalen Filmfestivals Locarno im August
2015, Österreichpremiere im Rahmen der Viennale 2015
Kinostart in Österreich: 6. November 2015
Website: http://lampedusaimwinter.derfilm.at
Facebook: https://www.facebook.com/lampedusaimwinter
INHALT
Synopsis
Lampedusa – Die Insel
Anzahl der ankommenden Flüchtlinge
Directors Statement von Jakob Brossmann
Marco Zucchi zu LAMPEDUSA IM WINTER aus dem Katalog der
Semaine de la Critique, Internationales Filmfestival Locarno
Interview mit Jakob Brossmann
Lampedusa im Winter
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Synopsis
Der Kampf um Solidarität am Rande Europas
Nach den Tragödien des Herbstes ist auf der „Flüchtlingsinsel“ Lampedusa der
Winter eingekehrt. Die Touristen haben die Insel verlassen. Die letzten Flüchtlinge
kämpfen um einen Transfer auf das Festland. Ein Fährunglück isoliert die Insel.
Nachdem die Flüchtlinge endlich mit dem Flugzeug verlegt werden, beginnen die
Fischer einen verzweifelten Streik. Um eine Verbesserung der Fährverbindung zu
erzwingen, blockieren sie den Hafen. Nun ist die Insel von jeglicher Versorgung
abgeschnitten.
Die winzige Gemeinschaft am Rande Europas ringt verzweifelt um ihre Würde – und
um Solidarität mit den afrikanischen Bootsflüchtlingen, die viele für den Grund der
andauernden Krise halten.
Lampedusa – Die Insel
Quelle: Wikipedia unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pelagie_Islands_map_de.png#/media/File:Pelagie_Islands_map_de.png
Lampedusa im Winter
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Lampedusa ist die größte der Pelagischen Inseln im Mittelmeer zwischen Tunesien
und Sizilien. Die Insel gehört zur Gemeinde Lampedusa e Linosa in der italienischen
Provinz Agrigent.
Lage: Lampedusa liegt rund 205 Kilometer südlich von Sizilien und rund 130
Kilometer östlich von Zentral-Tunesien, etwa auf gleicher Breite wie die Stadt
Monastir.
Beschreibung: Die Fläche beträgt etwa 20 km², der höchste Punkt ist Albero Sole mit
113 m s.l.m. Die neun km lange und bis zu drei km breite Insel erstreckt sich in OstWest-Richtung. Die Nordküste ist geprägt von steilen Klippen, an der Südküste
befinden sich mehrere Buchten mit Sandstränden. Der Hauptort der Insel an der
Ostküste heißt ebenfalls Lampedusa. Zurzeit (Stand 2005) wohnen etwa 4500
Menschen dauerhaft auf Lampedusa, in der Hauptreisezeit allerdings zeitweilig bis zu
10.000. Die Bewohner leben vom Tourismus, vom Fischfang und von der Produktion
von Fischkonserven.
Klima/Bewuchs: Lampedusa besitzt typisches Mittelmeerklima. Dank der Position
zum europäischen Kontinent und geologisch zu Afrika gehörend hat die Insel eine
der höchsten Durchschnittstemperaturen am Mittelmeer (22,3 °C). Selbst im Februar
erreicht Lampedusa eine Durchschnittstemperatur von 15 °C. Die jährliche
Niederschlagsmenge ist mit 300 mm sehr gering. Durch Rodungen und fehlende
Quellflüsse ist das Inselinnere verödet.
Nachbarinseln: 45 km nordöstlich von Lampedusa liegt die bewohnte Insel Linosa,
17 km nordwestlich die unbewohnte Insel Lampione. Vor der Südküste liegt die
kleine Insel Isola dei Conigli (dt. Kanincheninsel).
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Lampedusa
Anzahl der ankommenden Flüchtlinge
Die Zahlen wurden freundlicherweise von UNHCR zur Verfügung gestellt.
Anzahl der ankommenden Flüchtlingszahlen in den letzten beiden Jahren (letzte
verfügbare Zahlenmeldung im Ende August 2015)
Total number of arrivals to
Lampedusa in 2014
Jan 2015
Feb 2015
Mar 2015
Apr 2015
May 2015
June 2015
July 2015
August 2015
Total number of arrivals to
Lampedusa in 2015 (Until
August)
Lampedusa im Winter
4,164
545
0
1,861
2,419
3,767
2,558
3,313
2,852
17,315
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Directors Statement Jakob Brossmann
Für Tausende Flüchtlinge ist Lampedusa ein Versprechen, für viele die Rettung. Die
Insel ist ihr erster Eindruck von Europa. Für 4500 Lampedusani bedeutet das ein
Leben als Zeugen des permanenten Scheiterns. Seit Jahren kämpfen sie mit dem
Ausnahmezustand der Insel. Ich wollte diese Lebensrealität beschreiben. Ich glaube,
dass sie den Blick für die Verhältnisse schärft – zwischen den Fliehenden und der
"aufnehmenden" Gesellschaft, letztlich uns selbst.
Lampedusa ist wahrscheinlich der am meisten von Migration und Flucht betroffene
Ort der Welt. Ich wollte wissen, was das in einer Gemeinschaft verschiebt. Ich
entschied während des Winters zu arbeiten, wo eine Insel in dem Zustand der
„Insularità“ auf sich zurückgeworfen ist.
Die Touristen und die Medien verschwinden, weniger Flüchtlinge kommen an und
existentielle Fragen und Probleme werden sichtbar. Sehr schnell stellte sich heraus,
dass nicht die Flüchtlinge das Problem der Insel sind. Ich entdeckte auf Lampedusa,
dass die dortige Situation nicht, wie man als europäischer Medienkonsument meinen
möchte, ein Nährboden für Rassismus und Xenophobie ist. Im Gegenteil: Es findet
hier eine Form von Solidarität statt – die nicht immer zum Zug kommt, aber
grundsätzlich vorhanden ist. Denn die Inselbewohner sehen sich als Opfer derselben
zynischen Politik wie die Flüchtlinge. Daher nimmt der Film nicht nur eine
Perspektive auf Lampedusa ein, sondern zeigt vor allem eine lampedusanische Sicht
der Dinge.
Marco Zucchi zu LAMPEDUSA IM WINTER aus dem Katalog der
Semaine de la Critique, Internationales Filmfestival Locarno
Vom Norden, vom wohlhabenden Teil Europas aus betrachtet, scheint sie wie eine
Achillesferse, die Sorgen bereitet. Vom Süden aus hingegen ist sie ein Tor der
Hoffnung für unzählige Mittellose auf der Flucht, für Verfolgte, die Rettung suchen.
Lampedusa im Winter
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Das sind die zwei Kehrseiten der gleichen Medaille, die im Mittelmeer schimmert:
Lampedusa, mit gerade mal 20,2 km2 Fläche, mittlerweile weltbekannt. Die Insel ist
Ziel vieler maroder Boote voller Migranten, die von Nordafrika aus in See gestochen
sind. Im Glücksfall schaffen es die Flüchtlinge an Land, oder sie werden auf hoher
See von der italienischen Küstenwache aufgegriffen. Oft geraten sie aber in Not in
einem Meer, das zur Grabstätte ohne Namen geworden ist. In den Medien verbreiten
sich die Nachrichten der (un)menschlichen Dramen Lampedusas wie ein Lauffeuer.
Es braucht von der internationalen Gemeinschaft, von Regierungen und der
Zivilgesellschaft Lösungen, die aber noch in weiter Ferne liegen.
Offensichtlich fällt es schwer, die humanitäre Pflicht gegenüber Bedürftigen mit der
protektionistischen Abschottung in Einklang zu bringen, welche die Vox Populi der
wohlhabenden Staaten fordert.
Was die Medien berichten, gibt nur einen Teil der Wirklichkeit wieder.
Vom kleinen „Meeresfelsen“ Lampedusa erfahren wir nur seine globale Rolle, von
der lokalen Realität, den rund sechstausend ansässigen Sizilianern hingegen nichts.
Sie waren lange vor den Migranten da, bemessen ihren Alltag heute nach der
Präsenz der «Gäste» und müssen ihre Alltagsprobleme weiter bewältigen, nachdem
diese weitergereist sind. Es ist sozusagen eine dritte Seite der Medaille, jene, die
man am wenigsten sieht, die der Österreicher Jakob Brossmann mit großer
Sensibilität beobachtet und dokumentiert hat. Sein Blick als Regisseur ist behutsam
und unaufdringlich. Wir sehen den friedlichen Aufstand der Fischer gegen das
inkompetente Fährunternehmen, das seinen Auftrag verschlampt, die Verbindung mit
dem Festland zu gewährleisten. Wir beobachten das Juniorenfußballteam, das
gewissenhaft trainiert, um sich auf die Saison vorzubereiten. Erhalten Einblick in das
Museum der Meerestragödien, eröffnet von jemandem, der mit Herzblut gefundene
Habseligkeiten von Schiffsbrüchigen einsammelt, von Briefen bis zu Rettungswesten.
Und da ist die kämpferische Bürgermeisterin, die sich für alle einsetzt, Einheimische
wie Migranten. Der Film begleitet das winterliche Leben vieler einfacher Menschen,
die in ihrem Dialekt – der sich noch an die Zeit früheren Piratentums erinnert – alle
Ankömmlinge einfach als „Türken“ bezeichnet. Doch dann versuchen sie, diese mit
großer Menschlichkeit aufzunehmen.
Lampedusa im Winter
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INTERVIEW mit Regisseur Jakob Brossmann geführt von Karin Schiefer
„Lampedusa ist wahrscheinlich der am meisten von Migration und Flucht betroffene
Ort der Welt. ... ... Ich wollte wissen, was das in einer Gemeinschaft verschiebt.“
Jakob Brossmann über Lampedusa im Winter, das eindringliche Bild einer winzigen
Insel, die durch ihre Lage am äußersten Rand Europas gezwungen ist, sich mit
Fragen zu konfrontieren, die das restliche Europa zu umgehen versucht.
Lampedusa ist in den letzten Jahren zur Metapher für Flüchtlingstragödien im
Mittelmeer und das Problem Europas im Umgang mit den Flüchtlingen geworden.
Niemand fragt nach der Identität, nach dem Leben auf einer 5000-Seelen-Insel. Lag
der Anstoß zu diesem Projekt, nach der Identität dieses Ortes zu suchen?
JAKOB BROSSMANN: Das Thema Flucht beschäftigt mich schon sehr lange. Zuvor
arbeitete ich an einem Drehbuch über die Abschiebung jüdischer Flüchtlinge über die
Schweizer Grenze zurück ins sogenannte Dritte Reich. Damals brach gerade der
Arabische Frühling los und Lampedusa war mit den ewig gleichen Bildern in den
Medien omnipräsent. Ich beschäftigte mich mit der Frage der „aufnehmenden"
Gesellschaft und des Umgangs mit den Flüchtlingen am Ankunftsort.
Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen.
Mit welcher Fragestellung haben Sie Lampedusa zum ersten Mal betreten?
JAKOB BROSSMANN: Meine Intention war es, abseits der gängigen
Medienproduktion die Bevölkerung und den strukturellen Kontext zu erfassen und zu
schauen, wo die Begegnungen zwischen Flüchtlingen und BewohnerInnen statt
finden. Wie sehen sie aus? Lampedusa ist wahrscheinlich der am meisten von
Migration und Flucht betroffene Ort der Welt. Ich wollte wissen, was das in einer
Gemeinschaft verschiebt. Dazu kam dann noch der Faktor des Winters, wo eine Insel
in dem Zustand der „Insularità" auf sich zurückgeworfen ist. Die Touristen und die
Medien verschwinden, weniger Flüchtlinge kommen an und existentielle Fragen und
Probleme werden sichtbar. Sehr schnell stellte sich heraus, dass nicht die Flüchtlinge
das Problem der Insel sind. Man entdeckt auf Lampedusa, dass die dortige Situation
nicht, wie man als europäischer Medienkonsument meinen möchte, ein Nährboden
für Rassismus und Xenophobie ist, sondern genau das Gegenteil. Es findet hier eine
Form von Solidarität statt – sie kommt nicht immer zum Zug, aber sie ist
grundsätzlich vorhanden. Denn die Inselbewohner sehen sich als Opfer derselben
zynischen Politik wie diese Flüchtlinge. Die Lampedusani erleben aus nächster
Nähe, wie eine kleine Gesetzesänderung plötzlich unermessliches Leid über die Welt
bringt und wie scheinbar „natürliche Phänomene" auf politischer Ebene „gemacht"
sind. Daher nimmt der Film nicht nur eine Perspektive auf Lampedusa ein, sondern
zeigt vor allem eine lampedusanische Sicht der Dinge.
Was wäre dafür ein Beispiel?
JAKOB BROSSMANN: Am Beginn meiner Arbeit habe ich das Thema Bootsflucht
nicht grundlegend hinterfragt, sondern als eine Art naturgegebenes Phänomen
betrachtet. Meine Erlebnisse auf Lampedusa und die vielen Gespräche mit den
Bewohnern dort haben mir die Hintergründe klar gemacht. Das Problem der
Bootsflucht könnte innerhalb kürzester Zeit gelöst sein. Man müsste das BotschaftsLampedusa im Winter
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Asyl wieder aufbauen und die sicheren Reiserouten für Leute, die einen
Asylanspruch oder zumindest das Recht auf einen Antrag haben, wieder
autorisieren. Die risikoreichen Überfahrten sind ein direktes Resultat der Zäune von
Ceuta und Melilla, und ähnlicher Anlagen die man überall errichtet. Sie sind
unmittelbare Auswirkungen von Gesetzestexten, die den Schaden auf eine
Fluggesellschaft abwälzen, wenn diese jemanden ohne Einreisedokumente
befördert. Die Lampedusani haben selbst erlebt, wie ihre Insel instrumentalisiert
wurde, um Bilder einer „Invasion" zu erzeugen. Das entspricht aber gar nicht dem,
was sie in der Begegnung mit den Flüchtlingen wahrnehmen.
Die Insel per se ist ein Ort der Isolation, der eingeschworenen Gemeinschaft, aber
auch ein Rettungsanker. Ist Lampedusa auch ein Essay über das Wesen der Insel?
JAKOB BROSSMANN: Auf einer gewissen Ebene sicherlich. Der Film enthält abseits
der Beschreibung konkreter Zustände und Fragestellungen auch eine essayistische
Komponente. Ich bin auch immer wieder zum Gedanken verleitet, Lampedusa könnte
ein Symbol für „Europa in der Welt" sein. Eine Insel, die vor Fragen gestellt wird, mit
denen man nicht wirklich konfrontiert werden möchte, aber denen man sich doch
stellen muss. Was mich an Lampedusa berührt hat, ist der Umstand, dass es der
winzigen Gemeinschaft gelingt, nicht die eigenen Probleme gegen die der anderen
auszuspielen. Es wird dort der Versuch notwendig, mehrere Problemfelder
gleichzeitig zu denken – und das gleichwertig und meist würdevoll.
Es scheint auch an ganz außergewöhnlichen Persönlichkeiten zu liegen,
die aktiv sind, allen voran die Bürgermeisterin Giusi Nicolini.
JAKOB BROSSMANN: Giusi Nicolini ist seit Mai 2012 Bürgermeisterin. Ich kannte
sie schon aus der Zeit vor der Wahl und habe sie dann in ihrer ersten großen
Fährkrise durch den ersten Winter als Bürgermeisterin begleitet. Sie ist eine
außergewöhnliche Person. Sie hat den Film gewiss sehr stark mitgeprägt. Bei
unserem ersten Treffen, dachte ich gerade darüber nach, Lampedusa abseits von
Flucht und Flüchtlingsproblematik zu beschreiben. Die Flucht einmal bewusst
Lampedusa im Winter
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auszuklammern. Ihre Ansage dazu war klipp und klar: „Das geht nicht. Du kannst
nicht über Lampedusa sprechen, ohne über Flucht zu sprechen. Sie ist Teil unserer
Identität und Teil der Fragestellung." Ein rein auf die Bevölkerung Lampedusas
fokussiertes Projekt war für sie unvorstellbar. Und das, obwohl Lampedusa die
Aufmerksamkeit für seine eigenen Probleme ja dringend braucht! Einer der großen
Aspekte, der Lampedusa für uns so relevant macht, ist die Erfahrung der eigenen
Hilf- und Machtlosigkeit. Einer der Kernmomente des Films ist für mich, als sich die
Bürgermeisterin mit ausgebreiteten Armen vor 25 Flüchtlinge stellt und sich für die in
Europa herrschenden Gesetze entschuldigt, an denen sie gar nichts ändern kann.
Das ist ein wesentliches Merkmal lampedusanischer Realität. Das Ausgeliefertsein
ist ein Gefühl, das jeder Mensch nachvollziehen kann – oder muss.
Dokumentarfilm ist in erster Linie eine Frage des Aufbaus von Vertrauen zu den
Menschen. War das in einer Inselgemeinschaft, die in der Regel als geschlossener
gilt, schwieriger? So wie die Kamera in diesem Film agiert, zeugt sie jedenfalls von
einem starken Vertrauensverhältnis.
JAKOB BROSSMANN: Kamerateams auf Lampedusa sind ja ungezählt, besonders
in der Phase nach den Tragödien. Fragen und Zugänge wiederholen sich ständig.
Bei uns fiel auf, dass wir im Winter kamen und blieben, dass ich keine oder wenn,
dann nicht die üblichen Fragen stellte. Ich hatte eine phantastische Dolmetscherin,
ich alleine hätte die Sprachbarriere nie überwinden können. Das Sich-Einlassen auf
die Themen und die Menschen wurde wahrgenommen und geschätzt.
Sie haben punktuell Lebenswelten der Insel – Fußballverein, Radio, Fischer – in den
Fokus geholt, um von der Insel zu erzählen.
JAKOB BROSSMANN: Dass Giusi Nicolini eine Protagonistin im Film sein würde,
war mir schon klar, ehe sie zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Sie hat ja zuvor einen
Umweltverband geleitet. Ich habe versucht, mit diesen Eckpfeilern in den mir zur
Verfügung stehenden 90 Minuten die Inselrealität abzustecken. Das Fußballtraining
ist sehr wesentlich, da es bei Fußball immer auch um einen Traum von einem
anderen, großen, bedeutungsvollen Leben geht. Das steht in Relation zu den
Geschichten, mit denen man die Insel sonst verbindet. Dass es während unserer
Anwesenheit zu so deutlichen Konflikten auf der Insel gekommen ist und wir diese
auch begleiten durften, hat in der Struktur des Films sehr viel verändert. Das lässt
sich nicht planen, dafür kann ich nur dankbar sein. Der Streik bewirkte, dass es dann
in der Fußball-Geschichte vielmehr darum ging, wie wir miteinander umgehen:
innerhalb der Mannschaft, mit unseren Gegnern und mit unseren eigenen
Niederlagen. Die Fußballmannschaft ist ein kleines Erzähl-Element, das immer
wieder auftaucht, und das es ermöglicht zu zeigen, dass es ein eigenes Leben
abseits der Tragödien, Katastrophen und der existentiellen Not gibt. Für mich hat es
etwas Tröstliches. Eines der Dinge, die einem Lampedusa geben kann, ist
Zuversicht. Die Botschaft für uns ist: Das Leben endet nicht, weil 70.000 Asylwerber
nach Österreich kommen. Ich frage mich immer wieder, wie diese Annahme
überhaupt aufkommen kann. Ein kleiner Ort wie Lampedusa, der wie kein anderer
von Migration betroffen ist, hat ein ganz normales Leben und auch massive
Probleme. Die wenigsten davon haben mit den Flüchtlingen zu tun. Diese Tatsache
könnte den europäischen Umgang mit den Flüchtlingen, die zu uns kommen und um
eine Chance bitten, doch zumindest ein wenig entspannen.
Lampedusa im Winter
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Der Film zeigt auch Menschen, die aus einer moralischen Verpflichtung heraus aktiv
werden und auch die Notwendigkeit der Trauer- und Erinnerungsarbeit gegenüber
den verunglückten Schiffbrüchigen sehen.
JAKOB BROSSMANN: Besonders im Winter, wenn die Insel auf sich selbst
zurückgeworfen ist, wenn der Druck des sommerlichen Geldverdienens weg ist,
wenn die Bewältigung der akuten Krise auf der Agenda nicht ganz oben steht, dann
tritt die Frage in den Vordergrund, wie man mit diesen immer wiederkehrenden
Tragödien umgeht, was dieses Leben als Zeugen mit den Bewohnern macht. Es gibt
Menschen, die das wegschieben, aber es geschieht auch sehr viel Aufarbeitung, aus
der heraus wiederum politische Positionen entstehen, die weit über die konkrete
Frage Lampedusa hinausweisen. Paola, eine ehemalige Anwältin und Protagonistin
im Film, ist in ihrem Engagement so komplex, dass es im Film nicht einmal
ansatzweise Platz hat. Sie versucht sich in einem Journalisteninterview, das wir im
Film beobachten, von der Tragödie selbst abzugrenzen. Etwas später im Film sieht
man, wie sie wieder zurückgeht und sich wieder auf die gegebenen tragischen
Umstände einlässt, und die Erinnerung weitergibt. Nicht aus Mitleid, sondern aus
dem Motiv heraus, dass wir uns das als Menschen selbst schulden.
Die Kleinheit der Insel macht auch das Wegschauen schwer.
JAKOB BROSSMANN: Lampedusa ist ein wunderschöner Ort, ein phantastisches
Urlaubsziel, es sind dort Menschen, die zu leben verstehen, selbst wenn es ihnen
mal an die existenzielle Grundlage geht – und dies mit einem Bewusstsein für
Umstände, die sich eigentlich nirgendwo leugnen lassen. Die Menschen dort sind mit
einem immer wiederkehrenden Verweis auf das Elend in der Welt konfrontiert. Die
Lampedusani lernen in regelmäßigen Abständen Menschen aus der ganzen Welt
kennen, hören ihre Geschichten und verlieren diese Freundschaften wieder, weil sie
nicht aufrechtzuerhalten sind. Und sie erleben immer wieder, wie sich das Glück des
Geretteten oder Überlebenden in blanke Verzweiflung über das europäische
Asylwesen verwandelt.
Lampedusa im Winter
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Der Film gibt auch der Institution Küstenwache eine menschliche Dimension und
fragt nach, was diese Einsätze mit den Menschen machen und von ihnen fordert.
JAKOB BROSSMANN: Diese Einsatzkräfte sind auf dieser Insel ein Faktum wie die
ankommenden Flüchtlinge, die Fischer, die Kinder. Sie verbringen dort eine Mission
von ein bis zwei Monaten, wenn die Situation es einfordert auch länger. Dem einen
menschlichen Raum zu geben, war mir besonders wichtig. Diese Männer haben mich
beeindruckt – mit ihrer Professionalität und mit ihrem Mut – denn die Einsätze, die im
Film zu sehen sind, sind bei Weitem die harmlosesten.
Die Küstenwache ist eine Einheit, die in den letzten zwanzig Jahren eine kaum
vorstellbare Zahl von Menschen gerettet hat und außer von den Geretteten und den
Lampedusani, die sie sehr schätzen, nie ein Wort des Dankes erntet. Im Gegenteil –
aus dem übrigen Europa kommen Vorwürfe, die auf einer individuellen Ebene eine
Schuldfrage verhandeln, die meiner Meinung nach in den meisten Fällen nur auf
einer strukturellen und politischen Ebene beantwortet werden kann. Aber das
enthebt uns nicht der Verantwortung, auf die Verbrechen der Außengrenze
hinzublicken, für die ich mich als Europäer zutiefst schäme.
Sie sind bei einigen Einsätzen mit der Kamera dabei gewesen und haben wohl selbst
körperlich eine weitere Dimension dieser Arbeit erfahren.
JAKOB BROSSMANN: Ich persönlich werde leider seekrank. Das fand ich erst
heraus, als der Seegang vor Lampedusa das obere Ende der Skala erreicht hat. Das
ist ein Zustand, unter dem es sich sehr schwer drehen lässt, insbesondere weil es
den emotionalen und den intellektuellen Zustand schwerstens beeinträchtigt. Es gibt
aber Medikamente, die immerhin das Stehen ermöglichen. Es ist eine gesteigerte
Erfahrung des existenziellen Alleinseins, wenn man als Binneneuropäer zum ersten
Mal in seinem Leben von nichts als Wasser umgeben ist. Wir halten das Mittelmeer
für einen netten Badeteich. Wenn man aber einmal stundenlang auf einem
italienischen Schnellboot mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs ist und nur Wasser
sieht, dann flößt einem das enormen Respekt ein. Was es heißt, auf einem kaum
seetauglichen Holzboot mit 250 bis 350 Menschen an Bord, diese Strecke zu
bewältigen, ist unvorstellbar. Auch die Lampedusani betonen immer wieder, wie
evident die Verzweiflung sein muss, dass man so ein Boot besteigt. Meine Erfahrung
reicht niemals aus, um so etwas nur annähernd nachvollziehen zu können. Schon
die lampedusanische Perspektive auf dieses Meer als Gefahr, als Nahrungsquelle
und als existenzielles Moment, hat uns alle, das ganze Team, sehr beschäftigt.
Von der ersten Schwarzblende zu Beginn, die nur akustisch einen Seenotruf verfolgt,
zieht sich durch den ganzen Film sehr dezent eine Kritik an den Medien, wie Bericht
erstattet wird, was alles im Dunkeln bleibt – von den unzähligen nie georteten Opfern
bis zu einer Insel, die alles andere als fremdenfeindlich ist.
JAKOB BROSSMANN: Es gibt es natürlich eine wichtige Grenze des Darstellbaren,
des Fassbaren, der Pietät. Wie man damit umgeht, was man bewusst ausspart, wie
viel „Effekt" man in Kauf nimmt, um sein Publikum zu erreichen – das hat uns immer
wieder sehr beschäftigt. Die Medienberichte sind vor allem geprägt von der
dauernden Fokussierung auf die Todesopfer oder der Stilisierung einer Invasion. Und
beides entbehrt meist jeden Kontext. Aber ich nehme mich von der Kritik nicht
ganz aus. Es gibt diesen bereits angesprochenen Moment im Film, wo wir ein
Interview mit einer der Protagonistinnen beobachten, und sie sagt zu dem
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Journalisten, „Ihr kommt zu uns und macht die Zeugen zu euren Protagonisten. Habt
ihr nichts Besseres zu tun angesichts der Fragen dieser Welt, als die Zeugen zu
interviewen?" Ich hoffe, dass wir mit dem Film und der Haltung, mit der wir nach
Lampedusa gegangen sind, in der Lage sind, etwas zu erzählen, was über das
Leben der Zeugen allein hinausreicht. Zur Rolle der Medien insgesamt muss man
sagen, dass sie mit ihren begrenzten Mitteln, ihren Zeitläufen , mit ihrer Ökonomie
der Aufmerksamkeit, ebenso überfordert sind wie wir. Aus lampedusanischer
Perspektive werden diese Mechanismen oft durchschaubar. Der Film soll vor allem
eine Einladung sein, den Fokus zu erweitern, sich Zeit zu lassen und sich auf Fragen
einzulassen, die sich nicht in Zweizeilern formulieren oder beantworten lassen. Die
Mehrheit der Medien- und Filmproduktionen haben den Luxus, den wir uns als Team
auf Kosten unserer Selbstausbeutung geleistet haben, nicht.
Lange Präsenz am Drehort bedeutet gewiss auch viel Material...
JAKOB BROSSMANN: Ich gestehe, so lang war das am Anfang gar nicht geplant –
und ich weiß gar nicht, wie viele Stunden Material am Ende da waren. Seit dem
letzten Drehblock haben Nela Märki und ich über ein Jahr sehr intensiv geschnitten.
Vor allem die Frage, wie viele Aspekte ein Film „verträgt", wie viele Geschichten und
Probleme man als Zuseherin bereit ist aufzunehmen, war nicht leicht zu erarbeiten.
Eine Situation, in der mehrere Probleme miteinander in „Konkurrenz" stehen, ist
dramaturgisch schwierig. Aber zugleich wesentlich für uns, um Lampedusa zu
verstehen. Es fand aber auch zwischen den Drehblöcken eine intensive Aufarbeitung
des vorhandenen Materials statt, um immer wieder zu analysieren, wo wir standen.
Wenn man sich einem Thema in einer beobachtenden Haltung annähert, ist das
Risiko des Scheiterns unkalkulierbar und omnipräsent. Man dreht viele Dinge
aus der Verzweiflung heraus, dass man der Sache nicht gerecht werden könnte.
Dass die Flüchtlinge aus dem Lager ausbrechen, in dem man nicht drehen darf (dass
wir es leer drehen durften, war Ergebnis monatelange Arbeit), dass sie plötzlich mit
einer Forderung in Erscheinung treten und vom Objekt plötzlich zum politischen
Subjekt auf der Insel werden – das war nicht planbar. Bis so etwas passiert, sitzt
Lampedusa im Winter
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man ein wenig am Trockenen und fragt sich, wie soll der Film je der Dimension
gerecht werden, die wir uns da auferlegt haben. Und aus dieser durchaus auch
verzweifelten Position produziert man Material, das im Schnitt überhaupt nicht in
Frage kommt. Man kann nur bereit sein. Das bedeutete Beziehungsarbeit mit der
Bevölkerung, der Polizei, Kontakte zu den Flüchtlingen... das Feld kennen, damit
man dann, wenn es passiert, das Vertrauen genießt. Die Produktion war aber auch
abseits davon von Rückschlägen und schwersten Hindernissen gepflastert. Die
Fähre ist ja nicht nur für Lampedusa abgebrannt, sie ist auch für uns abgebrannt. Wir
waren noch auf Sizilien, als das Boot, auf das wir unbedingt wollten, abgebrannt ist.
Für eine winzige Produktion mit einer in Relation zum Vorhaben kleinen Förderung
war das ein Desaster. Wir sind dann geflogen, haben das Equipment zunächst zum
Großteil in Sizilien gelassen, weil das Fluggepäck so limitiert war, nach Wochen kam
es dann nach. Dazu kamen Equipment-Schäden, krankheitsbedingte Ausfälle von
Teammitgliedern. Mein Team meinte scherzhaft – „Das Making-of, das wir nicht
drehen, wäre wahrscheinlich der spannendere Film." Auch wir haben Lampedusa als
Grenzerfahrung erlebt.
Lampedusa im Winter transportiert eine klare Gegenstimme zum Diskurs, der im
medialen Mainstream herrscht. Was wünschen Sie sich nun, wo er fertiggestellt ist,
dass er an Botschaft vermittelt?
JAKOB BROSSMANN: Wenn man dieses Material gesammelt hat, dann erwacht so
etwas wie ein Gefühl der Verantwortung, dass man es auch zugänglich machen
muss. Dieses Anliegen hat die Erzählweise mitgeprägt. In der Erfahrung von
Lampedusa kommt man zu dem Bewusstsein, dass man einen Film nicht nur für den
eingeschworenen Kreis an Dokumentarfilm-Connaisseuren machen will, sondern
dass man trotz der eigenen filmischen Haltung viele Menschen erreichen will – und
zugleich weiß man, dass das nur schwer gelingen kann. In diesem durch die lange
Beobachtung entstandenen Material steckt eine Botschaft und eine politische
Dimension, für die ich mir ein großes Publikum wünsche. Auf Lampedusa sieht man
sehr deutlich, dass die Gefahr nicht in den ankommenden Flüchtlingen liegt, sondern
im Umgang Europas mit diesen Menschen – wie man sie zum Faktor, zur Nummer
macht, sie in ein entmenschlichtes System einschleust, jede Würde nimmt und jenen,
die unterm Strich das Glück haben, einen Asylstatus zu erlangen, kaum
Integrationschancen einräumt. Und gleichzeitig steht Lampedusa, wie ich es sehe,
auch für unseren Umgang mit den Marginalisierten an den Rändern und Grenzen
unserer Gesellschaft. Der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt fehlt, die
Peripherien werden sich selbst überlassen. Das sind die eigentlichen Gefahren. Nicht
die Flüchtlinge.
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