Das Rollenspiel von Politikern und Journalisten Von Susanne Gaschke Sehr geehrte Damen und Herren, über die Einladung zu ihrer Verbandstagung habe ich mich sehr gefreut. Wie sehr, das können Sie daran sehen, dass ich sogar darauf verzichtet habe, heute in Berlin vor der Queen zu knicksen, nur um bei Ihnen sein zu können. Aber eine Auseinandersetzung mit dem „Rollenspiel von Journalisten und Politikern“, wie sie mir aufgegeben wurde, reizt mich eben ganz besonders. Denn ich habe, das wird der eine oder andere hier im Raum vielleicht wissen, zumindest versucht, beide Rollen zu spielen: die Rolle der politischen Redakteurin bei der ZEIT in Hamburg. Die Rolle der direkt gewählten Oberbürgermeisterin meiner Heimatstadt Kiel, hoch im Norden der Bundesrepublik. Leider verlief das Politik-Experiment weniger glücklich, als ich gehofft hatte – so dass ich mich heute ein weiteres mal in der Rolle der politischen Autorin finde, jetzt für die WELT in Berlin. Die Erfahrungen, die ich mit dem politischen Amt und mit den „Mechanismen der Skandalisierung“ gemacht habe (um hier gleich zu Anfang den Titel eines ungeheuer klugen Buches von Hans Matthias Kepplinger zu zitieren), waren teilweise sehr unschön, um nicht zu sagen: exisntenzbedrohend. Ich möchte sie niemandem wünschen. Gleichwohl waren sie auch faszinierend und lehrreich wie nichts zuvor in meinem Berufsleben. Fehler und Katastrophen, die man überlebt hat, soll man ja nicht für sich behalten, sondern sie mit anderen teilen, die es besser machen wollen. Meine Analyse hat, das ist ja klar, eine sehr subjektive Komponente, und meine Sichtweise geht von deutschen Verhältnissen aus. Aber womöglich ist der eine oder andere Gedanke auch für Sie hier in Österreich von Interesse. Ich vermute, dass wir nicht darüber streiten müssen, ob es im Zeitalter der elektrischen Geschwindigkeit, des Internets und der Globalisierung eine Medienkrise gibt. Es gibt sie in Amerika. Es gibt sie in Deutschland. Dort haben sich die Werbeeinnahmen der Medienbranche in den vergangenen 10 Jahren halbiert. Die Auflagen sind um fast ein Drittel gesunken. Das betrifft Boulevardzeitungen wie die BILD, aber auch die Qualitätszeitungen bleiben nicht verschont: Die letzten Einzelverkaufs-Zahlen, die ich zum Beispiel von der ZEIT gesehen habe, waren beunruhigend. Große Verlage wie die FAZ oder die Madsack-Gruppe bauen Stellen ab. Fragwürdige Konzentrationsprozesse beschleunigen sich, so dass wortgleiche Kommentare in der Frankfurter Rundschau, dem Kölner Stadt-Anzeiger und der Mitteldeutschen Zeitung erscheinen. In den Redaktionen macht sich Panik breit. Und das Verhältnis zum Publikum scheint auf einmal gründlich gestört: Anders ist es kaum zu verstehen, dass es ein Buch wie Udo Ulfkottes „Gekaufte Journalisten“ zu einem so wahnsinnigen Erfolg bringt. Oder dass die diffus unzufriedenen PegidaDemonstranten gleichermaßen gegen „die“ Politik und die „Lügenpresse“ zu Felde ziehen. Dass russlandkritische Korrespondenten mit Hassmails überschwemmt werden. Und dass Fachmagazine wie „Medium“ ganze Ausgaben zur „Glaubwürdigkeitsfalle“ machen. Was ist da los? Ich persönlich glaube, dass im Zentrum der Krise tatsächlich eine Krise des politischen Journalismus – und also des eingangs erwähnten Rollenspiels – steht. Nicht der „Landlust“-Journalismus hat ein Problem. Nicht der „BEEF!“-Journalismus hat ein Problem. Nicht der Motor-Journalismus hat ein Problem. Ein Problem hat der politische Journalismus. Ich werde jetzt mit großer Radikalität die Internet- und Beschleunigungsseite der Medienkrise übergehen, und mich ganz auf den politischen Journalismus konzentrieren. Natürlich ist das Internet eine Herausforderung, natürlich hat der permanente Zeit- und Konkurrenzdruck das journalistische Arbeiten viel schwieriger gemacht. Natürlich müssen neue Formate erfunden werden und neue Bezahlmodelle. Interessant wäre auch die Frage, wie sehr die traditionellen Medien ihren Lesern und Zuschauern überhaupt erst eingeredet haben, sie wollten lieber permanente Echtzeitinformation im Internet als sorgfältig ausgewählte und kuratierte Zeitungsartikel. Aber all dass lasse ich jetzt erst einmal beiseite und frage nur: Wo kommt der Vertrauensverlust her, woher die Wut des Publikums, woher die Verunsicherung – und damit auch die zunehmende Aggression – der Journalisten? Ich möchte hier eine These wagen, die nicht jedem gefallen wird, die vielleicht auch sehr zugespitzt ist, die aber die einiges erklären könnte: Was den politischen Journalismus heutzutage so anstrengend macht, ist die schlimme Besserwisserei der tonangebenden, stilbildenden Alpha-Journalisten. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der von Besser- oder vielleicht sogar von Am-Besten-Wisserei sicher nicht völlig frei war, hat das kurz vor seinem Tod sehr hellsichtig „journalistisches Übermenschentum“ genannt. Wie ist es dazu gekommen? Unsere, meine Generation ist aufgewachsen in der polarisierten Welt des Kalten Krieges – und in einer Zeit, als es noch erkennbar „rechte“ und „linke“ Medien gab. Den „Rotfunk“ von NDR und Radio Bremen. Den konservativen Bayerischen Rundfunk. Den (vielleicht bis auf Frauenthemen) „linken“ Spiegel, die eher „rechte“ WELT. Den "linken" Report mit Franz Alt. Das „rechte“ ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal. Ich selbst begann 1997 bei der ZEIT zu arbeiten und habe dort noch eine – ich vermute: die letzte – Generation von Journalisten erlebt, für die sogar eigenes Engagement in der politisch-administrativen Sphäre kein no go war: Herausgeber Gerd Bucerius saß einst für die CDU im Bundestag (wie übrigens SpiegelHerausgeber Rudolf Augstein für die FDP). Der legendäre ZEIT-Politikchef Kurt Becker war Regierungssprecher gewesen, Theo Sommer hatte für Verteidigungsminister Schmidt im Planungsstab gearbeitet. Der prominenteste Umsteiger aus der Politik in die Publizistik war natürlich Helmut Schmidt selbst – und jeder, der ihm einen parteipolitischen Bias unterstellt hätte, hätte sich lächerlich gemacht. Journalisten durften noch bis Ende der achtziger, Anfang der neunziger ein politisch erkennbares Profil haben. Man traute dem Publikum, das ja selbst rechts, links, liberal oder gottweißwas sonst sein konnte, intellektuelle Souveränität im Umgang mit diesen Positionen zu. Wie so vieles andere ist auch dieser Anspruch mit dem Wegfall des Systemkonflikts verschwunden. Plötzlich schien das Ende der Geschichte erreicht. Und eine große Erzählung hatte sich – anscheinend – durchgesetzt. Neoliberales Denken begann die politische Großmode jener Jahre zu prägen: Als gäbe es die eine, messbare, naturwissenschaftlich nachweisbare, eben die richtige Politik. Als gäbe es auf Fragen nach Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, überhaupt nach staatlicher Regulierung nur eine, nämlich die wirtschaftsliberale Antwort. Dieser Trend ist auch am Journalismus nicht spurlos vorbeigegangen. Zunehmend fühlte man sich jenseits von rechts und links. Es wurde immer unfeiner, als Journalist selbst einer Partei anzugehören. Rechte und linke Medien näherten sich einander im Bemühen um „objektiven“ Journalismus immer stärker an und die „politische Klasse“ als ganze wurde zum in Schach zu haltenden Gegenüber. Jeder junge Journalist könnte Ihnen auch heute noch den legendären Hajo Friedrichs zitieren, der sagte, ein Journalist dürfe sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Was Friedrichs allerdings nicht meinte, war, dass sich ein Journalist jeder Sache überlegen fühlen sollte. Und davon sind wir, besorgniserregender Weise, nicht mehr allzu weit entfernt. Jeder Erstsemesterstudent der Geisteswissenschaften lernt zwar – hoffentlich! – noch, was erkenntnisleitende Interessen sind und dass es keinem Menschen möglich ist, vollkommen unabhängig von seiner Herkunft, seinen sozialen Erfahrungen, seinen Ängsten, Vorlieben und Abneigungen zu urteilen. Jeder Journalist müsste wissen, dass er seine Umwelt subjektiv wahrnimmt und sein Material nach subjektiven Kriterien sortiert. Aber in dem Maße, in dem klare (partei)politische Zuordnung nicht mehr erwünscht und immer weniger möglich sind, wächst offenbar im Journalismus der falsche Glaube an die Möglichkeit sachlicher Objektivität – und daraus die Selbstwahrnehmung als Schiedsrichter, die gewissermaßen nicht nur außerhalb des Systems, sondern sogar über ihm stehen, wie die Männer mit den Sonnenbrillen, die die Aliens bekämpfen, die Men in Black. Kurioser Weise werden die Produkte dieses vermeintlich „objektiven“ Journalismus immer tendenziöser, nur eben nicht mehr im Rechts-links-Schema: Es geht gegen das System insgesamt. Kommentar und Meinung verschwimmen immer häufiger, und die Wertungen durch Aufmachung und Überschrift sind eindeutig: Politikern im Allgemeinen, der politischen Klasse insgesamt ist nicht zu trauen. „Der Dilettant“ stand über der Spiegel-Titelgeschichte zum SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit deklarierte diesen hoch intelligenten Politiker und Publizisten zum „traurigen Clown“. Von „Steinbrücks Fettnäpfchen“ schrieb das Handelsblatt, von „Steinbrück, dem Kommunikationstölpel“ der Onlinedienst Meedia. „Nur hinter den Kulissen gilt Steinbrück als Idiot“ konzedierte freundlicher Weise der WELT. Hätten Sie unter diesen Bedingungen auch mal Lust, Kandidat zu sein? Frank Schirrmacher illustriert seinen „Übermenschen“-Vorwurf mit dem Beispiel des ZDF-Moderators Claus Kleber, der im Heute-Journal den SiemensVorstandsvorsitzenden Joe Kaeser eher angeprangert als interviewt hatte: Es ging um die Frage, wie dessen Russland-Reise im Frühjahr 2014 während der UkraineKrise moralisch zu bewerten sei. Ähnlich schlimm das überlange Kreuzverhöhr, in dem Marietta Slomka (ZDF) den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu der Frage vernahm, ob eine Mitgliedsentscheidung der Sozialdemokraten über den Koalitionsvertrag der Großen Koalition verfassungskonform sei. (Slomka war nicht dieser Ansicht, was sie den streng Befragten auch fast acht Minuten lang spüren ließ.) In einem Portrait des scheidenden Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), hieß es in der WELT: „Wir erleben in Reinform: Positionsverweigerung zwecks Unangreifbarkeit, hundertprozentiges Emotionsmanagement statt Intuition, Neutralisierung des Menschen durch das Amt, die Maschinalisierung des Klaus Wowereit […] Zwar sieht dieser Mensch auf dem Sofa aus wie jener – man mag es kaum noch aussprechen – ‚Wowi‘, doch der, den wir kannten, oder zu kennen meinten, hat schon lange diesen Körper verlassen. Vor uns sitzt eine Hülle und redet in Hülsen.“ In dieser Passage – es gibt viele ähnliche davon im Text – kommt die Frustration darüber zum Ausdruck, dass hier einer nicht mehr mitspielen will, nicht noch einmal ein Feuerwerk abbrennt, keine guten Quotes liefert, sich verdammt noch mal einfach keine Mühe mehr gibt! „Hej Kollegen“, möchte man den Autoren zurufen: „Erstens: Hättet Ihr Lust, sowas über Eure Freunde oder erwachsenen Kinder zu lesen? Und zweitens: Der Mann hat sich doch nur deshalb Unangreifbarkeit und verschlusssichere Formulierungen angewöhnt, weil Leute wie Ihr, Leute wie wir, Medienleute eben, ihn zu oft für Angreifbarkeiten, für Uneindeutigkeiten haben büßen lassen!“ Besonders schlimm fielen die journalistische Überhebung, die Verdachtsberichterstattung und die Vorverurteilungskultur im Fall des aus dem Amt skandalisierten Bundespräsidenten Christian Wulff aus. Adam Soboczynski gehört zu den ganz wenigen deutschen Journalisten, der das später in der ZEIT knallhart auszusprechen wagte: „Es ist nicht im Ansatz benannt, geschweige denn begriffen worden“, schreibt er, „dass nicht Christian Wulff einen Skandal hatte. Die Medien hatten einen Skandal.“ Von all den maßlosen Vorwürfen gegen das deutsche Staatsoberhaupt blieb am Ende – nichts. Auf Entsetzen über das eigene Tun, auf Selbstkritik, wenigstens ein bisschen Selbstreflexion, gar auf eine Entschuldigung bei Wulff wartete man aber vergebens. Die Bitte um Verzeihung hätte ja auch bedeutet, den SuperGAU zuzugeben. „Der für die Medien ungünstige Umstand, dass sich die investigativen Spuren in einem Wirrwarr von Lappalien verloren hatten“, schreibt Soboczynski weiter, „schien erst recht eine unerbitterliche Kritik an Wulff zu befördern. Bei all dem ungeheuren journalistischen Ermittlungsaufwand, den man betrieb, konnte es nicht angehen, dass er folgenlos blieb.“ Das kommt eben dabei heraus, wenn man nicht nüchtern und bedacht recherchiert und kommentiert, sondern ernsthaft das „Jagdfieber“ für ein geradezu „konstituierendes Element der Demokratie“ hält, wie der offenbar von allen guten Geistern verlassene Spiegel-Kollege Dirk Kurbjuweit. „Jagdfieber“ ist aber nicht der Modus der Wahrheitsfindung, es ist der Modus der Meute, Jagdfieber kann nur mit einem Opfer befriedigt werden, egal ob schuldig oder unschuldig. Oder, so hat es Peter Huth, Chefredakteur der B.Z. in seinem ungeheuer lesenswerten Zombie-Roman „Berlin Requiem“ ausgedrückt: „Er erkannte, dass er ein Jäger war, der nicht aus Hunger, sondern aus der Lust an der Trophäe jagte. Das Gegenteil von einem guten Journalisten.“ Solche Einsichten sind aber selten. Vor dem Hintergrund des journalistischen TeflonSelbstverständnisses war klar, dass Wulff selbst mit seinem für das Ausmaß der Anfechtungen abwägenden Bericht „Ganz oben – Ganz unten“ keine Genugtuung würde erzwingen können: Schon fast vor Erscheinen des Buches wurde auf breiter Front seine „Uneinsichtigkeit“ verhandelt, womit die Autoren sich wunderbar gegen jeden Zweifel, jedes Nachdenken über Wulffs Argumente, immunisieren konnten. Am Ende reduzierte sich die gesamte Kritik am Ex-Präsidenten auf den Vorwurf, er habe – begraben unter einer Flutwelle von Vorwürfen und Verdächtigungen – nicht bella figure gemacht, sich nicht geschickt und elegant genug verteidigt. Wer so etwas sagt, versteht nicht im Ansatz die brutalen Kräfte, die auf eine zu Unrecht skandalisierte Person einwirken. Hans Matthias Kepplinger beschreibt das mit einer großen Einfühlsamkeit: Der Skandalisierte habe eine „Wirkungsvermutung“ über all die negativen, seine Person betreffenden Berichte – und diese Wirkungsvermutung löse, auch bei medienerfahrenen Personen (wie es Christian Wulff zweifelsohne ist), ein Gefühl von Existenzgefährdung, Angst und Empörung aus. Kepplinger: „Die Ursachen der weitgehend automatischen und kaum kontrollierbaren Reaktionen von Personen, die öffentlich angegriffen werden, sind in der Persönlichkeit tief verankert und lassen sich auf die Notwendigkeit zurückführen, die Bindung zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten.“ Der Skandalisierte sieht diese Möglichkeit grundsätzlich in Frage gestellt. Was soll aus seinen Bindungen werden, wie soll er sein Amt ausfüllen, was sollen sein Ehepartner, seine Eltern, Kinder, Freunde, Mitarbeiter denken, wenn sie all das glauben, was da zu lesen und zu hören ist? Der Betroffene fängt an, sich selbst zu misstrauen: Wirkt das, was er gerade tut, irgendwie verdächtig? Ist er vielleicht wirklich kein guter Mensch? Er nimmt, schreibt Kepplinger, die Welt nicht mehr als "gerecht und wohlwollend" wahr. Er zweifelt an seiner Urteilsfähigkeit. Die starken Ängste, die dieser Kontrollverlust auslöst, machen die Reste seiner Handlungsfähigkeit zunichte. Er hat nur noch das Gefühl, sich rechtfertigen, um jeden Preis glaubhaft sein zu müssen. Aber wie soll er glaubwürdig sein? Er ist schließlich parteiisch. Und deshalb konnte Christian Wulff, als Bettina Schausten im ZDF die absurde Behauptung erhob, sie bezahle immer Geld für Übernachtungen bei ihren Freunden, nicht einfach fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank habe. Deshalb war es so ein Glücksfall für den – viel weniger angefochtenen – Frank-Walter Steinmeier, dass ihn ein besonnener, kenntnisreicher Experte in der FAZ gegen falsche Plagiatsvorwürfe in Bezug auf seine Doktorarbeit verteidigte. Hätte Steinmeier die selben Argumente selbst angeführt, sie wären lange nicht so viel wert gewesen; wer weiß, was sich aus der Sache entwickelt hätte. Was also allenfalls ein wenig hilft im Skandal sind gewichtige Fürsprecher. Die politische Klasse hat, dass muss man an dieser Stelle ehrlicher Weise auch sagen, einen erschütternden Mangel an Solidarität mit Wulff gezeigt, manche sicher aus klammheimlicher Freude, manche aus Angst vor Ansteckung. "Wenn jeder Satz und jede Bewegung darauf abgeklopft werden, ob sie als Fauxpas oder Fettnäpfchen ausgebeutet werden können, dann öffnet sich ein Trichter, in dem der Hauptdarsteller des vermeintlichen Skandals mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts gerissen wird", hat Peer Steinbrück in einer Rezension von Wulffs Buch für die ZEIT geschrieben. Und es im Nachhinein sehr bedauert, dass er selbst den rechten Zeitpunkt verpasste, um Wulff beizuspringen. Fest steht: Unter dem Ansturm der Skandalisierung kann niemand, der halbwegs normal ist, eine gute Figur machen. Der Skandalisierte kämpft irgendwann um alles: sein Amt, seine Ehre, sein Ansehen, seinen Verstand, sein Leben. Und deshalb ist es um so erheblicher, ob die Vorwürfe gegen den Betroffenen eigentlich wahr sind. Ob sie stimmen. Oder nur so halb. Oder gar nicht. Das ist nicht trivial. Dafür tragen Journalisten Verantwortung. Und deshalb ist es wichtig, wie Journalisten arbeiten. Ich kann nur noch einmal betonen, Jagdfieber ist nicht die richtige Methode zur Wahrheitsfindung – das ist vielmehr beharrliche, kompetente Recherche. Eine grundsätzliche Skepsis, auch den eigenen Antrieben gegenüber. Ein maßvolles Urteil. Und ja, auch ein Schuss Empathie. Queen Elizabeth II, mit der ich mich in den vergangenen Tagen aus Anlass ihres Deutschlandbesuchs beschäftigt habe, hat es, in der tiefsten DianaKrise des Königshauses, einmal so formuliert: „Das genaue Hinschauen, das harte Recherchieren kann genau so effektiv sein, wenn es mit einer Spur von Sanftheit, Humor und Verständnis vorgenommen wird.“ Sanftheit, Humor und Verständnis – vielleicht sind das interessante Stichworte für eine Neuorientierung. Nicht gegenüber Steuerhinterziehern natürlich. Nicht gegenüber den Herstellern von Kinderpornografie. Nicht gegenüber denen, die Kriegswaffen nach Saudi Arabien liefen. Aber gegenüber denen, die, wie gut oder schlecht auch immer, versuchen, politische Verantwortung zu übernehmen. Weil es so wichtig ist, was wir schreiben, halte ich die neue Mode der "Investigativteams" für bedenklich: Es ist ja geradezu ihre Aufgabe, Skandale zu produzieren. Aber echte Skandale sind eben nicht der Normalfall, sie sind Sonderfälle, Pathologien. Wenn ich im Dauerauftrag Pathologien zutage fördern muss, wird die Skandalschwelle niedriger. Ich persönlich fühle mich wohler mit einem Investigativjournalismus, der von kenntnisreichen Fachautoren betrieben wird, die ihren Bereich beherrschen. Die erkennen, wenn etwas faul ist. Die ihre Quellen und deren Motive einzuschätzen wissen. Solche Fachleute werden wesentlich seltener dem Spin interessierter Dritter erliegen, sie werden wesentlich seltener der Versuchung erliegen, aus einem "Nichts" eine Riesensache zu machen. Sie werden die Fakten schlicht besser beurteilen können als Allrounder, die für Krawall bezahlt werden. Sie wissen auch, dass es, streng genommen, keine Eigenleistung sit, durchgestochene Akten auf den Schreibtisch gelegt zu bekommen. Ich finde, es gibt ein paar andere Unsitten, die über die Jahre eingerissen sind und die der Qualität des journalistischen Produkts schaden. Da ist die Themenkonvergenz. Wenn vor 20 Jahren eine junge Redakteurin über ein Thema schreiben wollte, das die SZ ausgegraben hatte, dann sagte ihr der Chefredakteur bei der ZEIT: Aber nur, wenn Ihnen dazu etwas ganz eigenes einfällt. Heute sagt er in der Konferenz: Warum haben wir das nicht? Angesichts sinkender Auflagen ist die Angst der Chefs, etwas falsch zu machen, allzu verständlich. Aber genau der allgegenwärtige Gleichklang in den Medien führt doch zu diesem Gefühl des Hermetischen beim Publikum, zum Gefühl: Die stecken alle unter einer Decke, und dann kann ich mir auch kostenlosen Kram im Internet ansehen. Vielleicht müssten Sie, die Verleger, Ihren Print-Redaktionen signalisieren, dass die Zukunft den Mutigen gehört, und dass man nur mit Qualität und Unterschiedlichekeit überhaupt noch Geld verdienen kann. Zur Qualität von Berichterstattung tragen übrigens anonyme "Unter 2"-Zitate nicht bei. Früher waren sie auch deutlich verpönter als heute. Man kann so etwas mal machen, um eine vertrauliche Information aus dem Kanzleramt, um die Stimmung aus einer Fraktionssitzung zu transportieren. Man kann es machen, wenn Informanten aus Unternehmen, aus Armee oder Geheimdienst geschützt werden müssen. Aber generell sollte gelten: Eine politische Meinung, zu der man nicht mit Namen stehen kann, gehört nicht in die Zeitung. Schwierig finde ich auch die "Bei-Anruf-Zitat"-Methode. Es bringt die politische Debatte nicht wirklich voran, wenn man vor dem Wochenende bei X oder Y anruft, sie fragt: "Was sagen Sie zur Z?" Und dann die Sonntagszeitung aufmacht mit "X und Y kritisieren Z!" Das ist Schein-Journalismus. Es ist auch sehr beschämend, für unseren Berufsstand, wie sehr gerade landespolitische Korrespondenten am Tropf ihrer Ministerpräsidenten hängen, die oft ihre einzige Quelle zu sein scheinen, vielleicht noch in Kombination mit den entsprechenden Oppositionsführern. Das politische Leben in den Ländern und k Kommunen ist sehr viel komplexer, als es sich auf diese Weise ermitteln lässt. Und die Leser und Zuschauer wissen oder ahnen das. Es ist nicht gut, Politiker zu erpressen: Kooperation und schöne Bilder oder eine schmutzige Scheidungsgeschichte. Es ist nicht gut, wenn sich Journalisten zu den Bütteln von Spin-Experten machen lassen. Es ist nicht gut, dass Journalisten jede Kritik als Angriff auf die Pressefreiheit begreifen. Es wäre gut, wenn die Medienschaffenden ein bisschen besser verstehen würden, dass die Logik der Medien und die Logik der Sache, um die es geht, nicht ein und das selbe sind, dass sie oft sogar gegenläufig sind. Das entlastende Argument ist dann immer, Politiker bräuchten und benutzten doch die Öffentlichkeit. Gewiss. Aber deshalb sind vernünftige Politiker noch lange nicht scharf darauf, nach jeder Anfrage zu springen oder jeden komplexen Gedanken in 45 Sekunden zu formulieren. Die Medien sind zumindest mit Schuld daran, wenn Oberbürgermeister sich lieber beim eigenhändigen Verfüllen von Schlaglöchern fotografieren lassen als zu versuchen, komplizierte EU-Förderrichtlinien zu erklären. Aber wir brauchen keine Symbolpolitik. Wir brauchen Leute, die die Arbeit machen. Wenn die Pressefreiheit nicht eingeschränkt werden soll – und das darf sie nicht –, dann ist der einzige gangbare Ausweg die Selbstkontrolle der Medien. Das beginnt bei der Frage nach korrekter Faktenwiedergabe und hört beim Ton von Kommentaren noch lange nicht auf, sondern führt bis hin zu Bildauswahl, Schnitt, Titelzeile. Medien müssen über andere Medien berichten, und das ohne Kumpanei. In vielen Qualitätsmedien haben Diskussionen zu den problematischen Trends im Journalismus, über Personalisierung und Themenkonvergenz schon begonnen. Journalisten geben selbst Erklärungen für negative Entwicklungen, die mehr oder weniger weh tun. Unbestreitbar ist die Beschleunigung der Berichterstattung durch Online-Medien – dieses Problem betrifft die traditionellen Zeitungen und Sender. Die Konsequenz daraus kann freilich nicht einfach lauten, dass das Publikum sich dann eben mit schlechterer Qualität zufrieden geben muß. Weit kreativer wäre es, über Entschleunigung und „Zeitpuffer“ nicht nur für Hochgeschwindigkeitsbörsen, sondern auch für Nachrichtenticker nachzudenken, wie Frank Schirrmacher das vorgeschlagen hat. Beliebt, um journalistische Schlampereien wegzuentschuldigen, ist auch das Argument, alle Medien seien unter Quotendruck und alle Redaktionen würden kaputtgespart. Was auch immer es war – Quotendruck kann nicht der Grund gewesen sein, der den NDR in meinem eigenen, höchst persönlichen Fall zu einer unglaublich einseitigen Berichterstattung getrieben hat. Quotendruck ist für den gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk kein zulässiges Argument für irgendetwas. Vielmehr wäre der gebührenfinanzierte Rundfunk geradezu prädestiniert, bei der Selbstkontrolle der vierten Gewalt eine vorbildliche Rolle zu spielen. Und was die kaputtgesparten Redaktionen angeht, kommt es sehr auf den Einzelfall an. Es gibt solche, die mit zwei Leuten sehr ordentlich und solche, die mit 20 Leuten verantwortungslos arbeiten. Die meisten Journalisten würden jedenfalls zustimmen, dass Beschleunigung und Quotendruck Qualitätsprobleme erzeugen können. Es gibt aber eine dritte Fehlerquelle, über die ich heute ja schon viel gesagt habe: Die journalistische Besserwisserei. Gegen diese Haltung (noch dazu von Redakteuren, die in der internen Diskussion zusammenbrechen, wenn der Chefredakteur die Augenbrauen runzelt) ist nur ein Kraut gewachsen: Öffentlichkeit. Die Autoren/Moderatoren/Studioleiter sollten befürchten müssen, dass über ihre Attitüde berichtet wird. Dass sie selbst Gegenstand der Beobachtung und Bewertung werden. Journalisten als Veränderer der Wirklichkeit müssen aus dem toten Winkel heraus. Sie müssen selbst sichtbar werden. Und nicht herumleiden wie der Spiegel beim Wulff-Interview: Da fragten sie doch im Editorial tatsächlich ganz weinerlich, wie Journalisten noch unbefangen arbeiten sollten, wenn ihr eigenes Tun Gegenstand der Diskussion würde… Weil zu viele noch so denken, brauchen wie Medienseiten und -sendungen, die sich nicht auf die Rezension neuer Online-Projekte oder die Berichterstattung über Auflagen und Hin- und Herverkäufe von Sendern und Zeitungen beschränken. Sondern die sich ruhig und sachlich, aber in der Sache kompromisslos, mit der Qualität der Arbeit der anderen auseinandersetzen. Wir brauchen eine Selbstverpflichtung der Medien, sich nicht still und heimlich davon zu machen, wenn sie falsch gelegen haben, sondern groß, in gleichem Umfang und an gleicher Stelle den Fehler aufzuklären – freiwillig, ohne gerichtlich dazu gezwungen zu werden. Wir brauchen eine mediale Entschuldigungskultur, auch für schlimm daneben gegangene Kommentare. Wir brauchen ein viel vorsichtigeres Vorgehen, wenn strafrechtliche oder andere ehrverletzende Vorwürfe zur Debatte stehen – Vorwürfe, die Menschen vernichten können, wenn auch nur der Anschein erweckt wird, sie seien wahr. Sie müssen dann auch wahr sein. Was entgeht der Öffentlichkeit, was entgeht der Rechtsfindung, wenn über Strafverfahren erst in dem Moment berichtet wird, in dem sie eröffnet werden? Was haben Ermittlungen, die so oder so oder so enden können, mit großen Überschriften in den Medien zu suchen? Ich bin sicher, dass das Publikum, das überhaupt noch Geld für „Bezahlmedien“ ausgibt, eine anti-besserwisserische Wende begrüßen würde. Ich glaube, Leser und Zuschauer würden mehr Bescheidenheit und Offenheit mögen – und natürlich Sorgfalt und gutes Handwerk. Der Trendforscher Matthias Horx hat geschrieben: „Immer mehr Menschen verstehen, dass die Medien die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern massiv verzerren. Gerade in den vergangenen Jahren haben wir eine Eskalation der Erregungs- und Skandalisierungskultur erlebt. Die demografische ‚Katastrophe‘, der ‚Untergang Europas‘, die ‚schlimmste Krise der Weltwirtschaft‘, aber auch die Hatz auf einzelne Politiker […] – alles Anzeichen für eine gefährliche mediale Hysterisierung unserer Kultur. […] Immer mehr Menschen werden sich aus diesen Erregungskaskaden verabschieden und einfach abschalten.“ Ich glaube, dass Horx recht hat. Ich selbst habe monatelang keine Zeitung gelesen, auch nach meinem Rücktritt nicht. Wenn alle dort verbreiteten Urteile über Menschen so gültig waren wie diejenigen über mich; wenn alle Berichte so sorgfältig recherchiert, alle Kommentare so fair waren – warum sollte ich daran dann irgendwelche Gedanken verschwenden? Warum sollte ich das glauben? Natürlich ist das keine Haltung, die ich mir selbst als Journalistin und schon gar nicht als Demokratin durchgehen lassen kann. Wir brauchen eine kritische Medienöffentlichkeit, und selbstverständlich muss sie auch gegenüber der politischen Sphäre kritisch sein. Selbstverständlich gibt es echte Skandale. Aber mehr Bedacht beim Urteilen, korrekte Tatsachen, Selbstaufklärung über den Standpunkt des Autors, weniger Herdentrieb, weniger Blutrausch, mehr Mut zur abweichenden Meinung: Das wäre gut. Es ist ebenso schlecht für die Demokratie, wenn immer mehr Menschen sich aus der klassischen Mediennutzung verabschieden und „abschalten“, wie es schädlich ist, wenn unter den Bedingungen dieser Öffentlichkeit niemand mehr für öffentliche Ämter kandidieren will. Wir, die wir hier sitzen, haben einen großen Vorteil: Wir können etwas tun. Aber wir müssen auch.
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