als PDF - Französischen Kirche zu Berlin

2. Advent
6. Dezember 2015
Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
Predigt über Lukas 21,25-33
Was kommt jetzt noch, liebe Gemeinde?
Advent 2015. Ein schlimmes Jahr geht zu Ende. Die Zeichen der Zeit zeigen in den roten Bereich. Die Stimmungskurven liegen am Boden, die Hoffnungsresoursen sind versickert, die
Glaubensreserve hat sich verflüchtigt. Selbst der spätsommerlichen Willkommenseuphorie ist
die Puste weit vor Weihnachten ausgegangen und die regierungsamtliche Ermunterung „Wir
schaffen das!“ hat sich verbraucht.
Hat noch jemand Lust auf Weihnachten?
Advent 2015. In eine – wenn mich nicht alles täuscht - gedrückte Stimmung schlägt ein Text
ein – donnernd und brandheiß, verwirrend und verstörend - auch tröstlich und aufbauend –
Fragezeichen?
Ich lese aus dem Lukasevangelium:
Und es werden Zeichen erscheinen an Sonne und Mond und Sternen und auf Erden ein
Bangen unter den Völkern, die weder ein noch aus wissen vor dem Tosen und Wogen
des Meeres.
Und den Menschen schwindet das Leben vor Furcht und in banger Erwartung der
Dinge, die über den Erdkreis kommen. Denn die Himmelskräfte werden erschüttert
werden.
Und dann werden sie den Menschensohn kommen sehen auf einer Wolke mit großer
Macht und Herrlichkeit.
Wenn aber das zu geschehen beginnt, dann seht auf und erhebt eure Häupter, denn
eure Erlösung naht.
Und er erzählte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle anderen Bäume!
Wenn sie ausschlagen, und ihr seht es, wisst ihr von selbst, dass der Sommer schon
nahe ist.
Genau so sollt ihr, wenn ihr dies alles geschehen seht, wissen, dass das Reich Gottes
nahe ist.
Amen, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bevor dies alles geschieht.
Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.
Liebe Gemeinde,
die Zeichen der Zeit, ein Bangen der Völker, die weder ein noch aus wissen vor dem Tosen
und Wogen des Meeres und vor dem Rasen und Wüten des Terrors.
Das Tosen und Wüten des Meeres. Das Schmelzen der Gletscher und der Pole, El Nino und
seht ihr den Feigenbaum und alle anderen Bäume, wie sie ausschlagen mitten im warmen
Winter? Erderwärmung.
Die Zeichen der Zeit. Es ist zu erkennen, dass die Völker sie auf der Weltklimakonferenz in
Paris zwar erkennen, die Zeichen der Zeit, aber unfähig und unwillig sind, zu handeln. Denn
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2. Advent
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Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
es müsste ein Preis bezahlt werden, wer will ihn bezahlen? Es müsste ein Verzicht geleistet
werden, wer will sich einschränken? Wir etwa? Es findet sich immer einer, auf den man mit
dem Finger zeigen kann.
Die Zeichen der Zeit, das Bangen unter den Völkern. Sie wandern, die Völker. Eine Völkerwanderung, welch ein euphemistisches Wort, als sei es eine Freizeitbeschäftigung. Völkerflucht müsste es heißen. Vertrieben werden sie vom Terror, sie fliehen vor dem Wüten der
Wahnsinnigen. Religiös motivierter Terror ist schlimmer als jeder politisch motivierte Terror,
will mir scheinen. Uns wird bange. Gegen diesen Terror kann man sich nicht rüsten. Wir gehen in den Krieg und wissen schon jetzt, dass er sinnlos ist. Wir gehen trotzdem. Weil auch
das Sich Raushalten sinnlos ist. Verzweifelte Taten, blinder Aktionismus. Aber wer weiß bessern Rat? So teuer in dieser schlimmen Zeit. Und den Menschen schwindet das Leben vor
Furcht und in banger Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen. Denn die Himmelskräfte werden erschüttert werden.
Die Zeichen der Zeit. Sie deuten ins Dunkel, ins Chaos. Hält der Himmel noch? Welche Kräfte halten ihn? Die Zeichen der Zeit und die Zeichen in diesem Text, sie laufen auf diesen Satz
am Ende hinaus: Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen.
Ist das eine Drohung oder ist das ein Trost? Was soll am Ende noch das Wort, das allein überlebt? Wer hört das Wort denn noch, wenn Himmel und Erde vergangen sind? Will Gott sein
Wort in schwarze Löcher rufen? Von dort kommt ihm kein Widerhall, kein Echo, geschweige
denn eine Antwort.
Advent 2015, liebe Gemeinde, „wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?“ (EG 7,4)
Wir sind betrübt. Wir fühlen uns machtlos und sind es ja auch. Wir fragen, was wir tun können und finden keine Antwort.
Was können wir tun?
Es gibt in diesem Text dazu nur eine einzige Antwort, eine, die zunächst gar keine Lösung auf
all unsere Fragen zu sein scheint. Was können wir tun? Die kleine Antwort lautet: Seht auf
und erhebt eure Häupter!
Und das ist schon die ganz große Antwort. Seht auf und erhebt eure Häupter!
Wir leben mit gesenktem Haupt. Die Augen schauen nach unten. Sie schauen auf die Füße,
um den nächsten Schritt zu erkunden, sie schauen auf die Hände, um die nächste Tat zu erforschen. Was können wir tun? Wohin sollen wir gehen? Der gesenkte Blick ist der Blick der
Angst, der Blick der Panik, der Blick der Geschäftigkeit. Dieser Blick ist blind.
Erhebt eure Häupter! Das ist nur eine kleine Bewegung. Sie braucht kaum Muskelkraft, auch
nicht die große Motivation. Es ist nicht anstrengend, nur ein kleiner Impuls. ein bisschen
Neugier genügt, um den Kopf zu heben. Und doch ist das ein entscheidender, ein weitreichender Schritt, ein Schritt des Hauptes. Der Blick muss nach oben kommen. Der Horizont
muss sich weiten. Dann löst sich die Genickstare, die den Blick auf den vermeintlichen Boden
der Tatsachen verkrampft, auf die Fixierung auf die Schreckensnachrichten und Hiobsbotschaften und unsere ratlosen Hände und richtungslosen Füße. Erhebt eure Häupter, dass ihr
die anderen Zeichen der Zeit entdeckt. Die Zeichen von Gottes Zeit.
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6. Dezember 2015
Pfarrer Dr. J. Kaiser
Französische Friedrichstadtkirche
Das Textstück, das ich gelesen habe, identifizieren die Theologen als Apokalyptik. Solches
findet sich verstreut an vielen Stellen der beiden Bibelteile, auch in den Evangelien. Apokalypse heißt wörtlich Enthüllung oder Entschleierung. Kalyma ist der Schleier. Seht auf und
erhebt eure Häupter! Blickt unverschleiert nach oben. Die Apokalyptik bettet die Weltläufe
in ein großes kosmisches Theater ein. Der Schleier vor den Augen kommt weg, die Hintergründe werden offenbar, nichts bleibt dann mehr schleierhaft. Der Vorhang öffnet sich und
wir sehen, dass die Welt und ihre Geschichte einem großen göttlichen Plan folgen.
Diese apokalyptischen Texte wollten damals gar nicht Angst und bange machen. Sie wollten
trösten. Wenn es ganz schlimm ist, wenn es ganz dicke kommt, wenn der Kosmos aus den
Fugen gerät, die Natur verrückt spielt und die ganze Völker in Angst und Schrecken leben,
dann ist die Rettung um so näher. Das Ende der Welt ist der Anfang des Reiches Gottes.
Und dann werden sie den Menschensohn kommen sehen auf einer Wolke mit großer Macht
und Herrlichkeit.
Doch dann erzählt Jesus ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle anderen Bäume! Wenn
sie ausschlagen, und ihr seht es, wisst ihr von selbst, dass der Sommer schon nahe ist.
Es gibt auch diese kleinen Zeichen der Hoffnung. Das kleine Grün, der frische Spross. Die
Zeichen des Endes sind immer groß und gewaltig und düster. Die Zeichen eines neuen Anfang aber sind klein und sanft.
An diese kleinen Zeichen will ich mich halten. Ihnen traue ich mehr als den großen Demonstrationen der Macht. Nach allem, was wir Christen glauben, ist damit zu rechnen, dass der
Menschsohn nicht auf einer Wolke kommt, sondern dass er uns auf unseren Wegen entgegenkommt, nicht mit großer Macht, sondern mit großer Barmherzigkeit, aber auch und gerade
darin mit Herrlichkeit.
Die apokalyptischen Texte setzen den Schreckensbildern gewaltige Heilsbilder entgegen.
Dieser Trost funktioniert heute nicht mehr. Trauen wir mehr den kleinen Zeichen, auf die Jesus uns hinweist! Die kleinen Zeichen sind heute verheißungsvoller. Das frische Grün am
Feigenbaum, der Spross aus der Wurzel Isais.
Was kommt jetzt noch? Weihnachten kommt jetzt noch! Auch wenn sich in diesem Advent
anno Domini 2015 die Lust auf Weihnachten nicht recht einstellen mag – ich brauche Weihnachten, ich brauche die Vergewisserung, die von Weihnachten ausgeht, damit die Hoffnung
hält, damit der Himmel hält: Gott kommt klein, schwach, zutiefst menschlich. So und nicht
anders entfaltet er seine Herrlichkeit. Als die Herrlichkeit eines Menschen, dem es gelingt,
menschlich zu bleiben. So kommt Gott zur Welt.
Wenn aber das zu geschehen beginnt, dann steht auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung naht.
Und dann steht er da, dieser Mensch, vor mir und blickt mich an und sagt: „Alles wird
gut“.Und dann geschieht das Wunder: Ich glaube es ihm.
Amen.
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