Eröffnungsrede der Ausstellung am 21. November 2015 von Anne

das kornhaus
von hermann bigelmayr
Eröffnungsrede der Ausstellung am 21. November 2015 von Anne Funck
Lieber Hermann, liebe Frau Thieler und liebe Gäste,
Hermann Bigelmayr zeigt seine Arbeiten in den historischen Räumen des Stadtmuseums
in Weilheim – eine sehr passende Verbindung, wie Frau Thieler soeben vorstellte. Das Thema
Ernährung und Weizen, das ihn für den Großteil seiner Arbeiten anregte und noch immer
anregt, passt gut zu der Funktion des Erdgeschosses als ehemalige Ausgabestelle
für Brot, das die Versorgung der Stadt Weilheim sicherstellte.
Als früheres Rathaus war dieses Gebäude vor rund 400 Jahren auch Anlaufpunkt von
Bildhauern, die hier Angelegenheiten regelten und mitunter als Stadträte die Geschicke
Weilheims steuerten. Es sind die Künstler, die bedeutend waren für die Entwicklung des
Frühbarocks in Bayern und heute unter dem Begriff »Weilheimer Schule« zusammengefasst
werden. Sie sind in vielen Gebäuden, Kirchen und Klöstern anzutreffen, und eben auch hier,
im Stadtmuseum füllen sie die Räume mit Kunst, die früher aktuell war und heute
gegenwärtig ist.
Ich freue mich, dass dieser Ort auch 400 Jahre später noch immer ein Anlaufpunkt für
Bildhauer ist. Bildhauer wie Hermann Bigelmayr, der mit seinen Arbeiten die Sammlung bis
zum 10. Januar bereichern wird. Ich freue mich, lieber Hermann, dass du hier bist und wir
deine Arbeiten in diesen Räumen erleben dürfen.
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Das erste Mal, als ich Arbeiten von Hermann Bigelmayr im öffentlichen Raum gesehen habe,
war im Dominikuszentrum im Norden von München. Neben Kirche und Pfarrheim gehört zu
diesem Gebäudekomplex auch ein Kindergarten. Ein wesentliches Gestaltungselement der
Türen für diesen Kindergarten waren Weizenkörner, die Hermann Bigelmayr als Türknäufe
eingesetzt hat – sozusagen vergrößert auf ein »handliches Maß«. Um mit Hermanns Worten
zu sprechen, »war es für mich eine runde Sache«. Die Eltern öffnen mit Hilfe der
Weizenkörner die Tür und geben ihre Kinder, also ihren Weizen (an manchen Tagen auch ihre
Spreu), an einen Ort, an dem sie wachsen und gedeihen.
Der Weizen spielt auch in dieser Ausstellung eine wesentliche Rolle, denn er ist das Wertvollste, das wir haben. Es kommt nicht von ungefähr, dass Hermann Bigelmayr ihn hier
seiner Bedeutung gemäß auf ein – wie er sagt – »menschliches Maß« vergrößert und einen
goldenen Altar baut: als geteiltes Weizenkorn in Form eines Tisches, das Erinnerungen an
christliche Glaubenspraktiken wie »Brot teilen« hervorruft und durch die Vergoldung
zusätzlich erhöht.
1 Die Stücke, die uns Hermann Bigelmayr hier in Weilheim zeigt, sind an mehreren Orten
entstanden, denn er arbeitet in vier Ateliers: In München, seinem Hauptwohnsitz, in seinem
Geburtsort Freihalden bei Günzburg, wo er an großen Werken arbeiten und – ganz wichtig –
sie auch lagern kann, in Eschenlohe mit Bergblick und seit zwei Monaten, sozusagen als
vierter Ort, in Oberammergau, wo er als Lehrer an der Staatlichen Berufsfachschule für
Holzbildhauer unterrichtet. Wenn man ihn besucht und von seinem Wochenplan erfährt,
fragt man sich, wie er die Ortswechsel schafft. Seine Antwort lautet: »Man schläft halt nicht
so viel.«
Diese Schnitzschule, sprich die »Oberammergauer Schule« als vierter Ort, hat für ihn eine
besondere Bedeutung, denn sie ist gleichzeitig der Ort, an dem seine Laufbahn als Bildhauer
begann (er hatte schon als Kind angefangen und sich mit Pilze sammeln das Geld fürs
Werkzeug verdient). Oberammergau ist auch der Ort, an dem er gefördert wurde und an dem
er sich selbst erstmals so richtig entfalten konnte. Als 15-Jähriger hatte er sich dort dem
Direktor vorgestellt – damals Hans Schwaighofer – und ihn mit seinen Arbeiten überzeugt.
Sprich: Morgens war er erstmals nach Oberammergau gekommen, abends war Oberammergau seine Wunschheimat. Denn der Direktor empfing ihn, sah seine Arbeiten und vermittelte
ein Zimmer. Und wenige Tage später stand Hermann Bigelmayr mit seinen erwachsenen
Kommilitonen genau in dem Raum mit der Aussicht auf die Berge, in dem er heute
unterrichtet und aktuell 17 Schüler über drei Jahre hinweg bis zum Abschluss begleitet.
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Wenn Hermann Bigelmayr sich mit Holz beschäftigt, entstehen sehr sinnliche Arbeiten. Mit
viel Ruhe geht er daran, er nimmt sich Zeit. Er sagt von sich: »Ich bin langsam, ich arbeite
langsam.« Oft hat er mehrere Stücke in Arbeit, über Wochen und Monate – momentan
arbeitet er an 15 Spreuschalen gleichzeitig –, nimmt weg, hölt aus und glättet, prüft die
Wandstärke, setzt Risse, wenn ihm ein Akzent fehlt. Er ist dem Holz verbunden, streicht mit
der Handfläche darüber und erspürt, wenn ein Stück fertig ist: Grashalme im Kreislauf der
Natur, sprießend und sich aufrichtend oder absterbend; Rosenblätter von hellen Rottönen bis
Dunkelviolett, Weizen und Spreu, die Lebenskraft verströmen oder abgeknickt und im
Vergänglichkeitsprozess die Natur in ihrer Fragilität zeigen.
Zum Thema Weizen fand er in den 1970er Jahren an der Münchner Kunstakademie. Damals
wurden Fragen wie Ernährung der Weltbevölkerung und Grenzen des Wachstums erforscht
und breit diskutiert, dazu kamen Versuche mit Gentechnik, die dazu anregten, das Verhältnis
von Mensch und Natur zu überdenken. Die zarten und empfindsamen Halme, klein und
unbeachtet, schienen dem Menschen ausgeliefert.
Seither interpretiert Hermann Bigelmayr den Weizen in zahlreichen Varianten und ganz
unterschiedlichen Dimensionen. Seine erste Arbeit, die er im Studium fertigte, war 23 Meter
lang, allein die Ähre maß 1,80 Meter. Er saß auf einem Hocker in der leeren Aula und stellte
sich vor, wie quer durch den Raum ein langer Halm mit einer Ähre verlaufen kann. Er wollte
2 den Halm – wie er sagt – auf ein »menschliches Maß« bringen, das heißt er vergrößerte ihn,
bis er in den Ausmaßen dem Betrachter auf Augenhöhe begegnete, und zeigte seine
Fragilität, indem er ihn als gebrochenen Halm in den Raum legte. Die Endpunkte des
Weizenhalms markierte er links und rechts mit je einer Bildhauerkiste. Mit den Blättern
wiederum formte er Bögen, durch die man hindurchgehen kann – sofern man sich duckt.
Nun hieß es, das umzusetzen, was vor seinem inneren Auge entstanden war. Nach einem
Jahr war er fertig. Wie alle seine folgenden Arbeiten war das Stück geprägt von einer
Fragilität, so zerbrechlich, dass er selbst angespannt war, als es bei der Ausstellung
unmittelbar vor den Füßen der Besucher lag – wie unsere vier Spreuschalen im Treppenhaus,
die ungeschützt am Boden liegen. Die hellste und dünnwandigste unter ihnen, die
gleichzeitig am meisten gefährdet ist, weil sie dem Durchgang am nächsten ist, wird hier
zum ersten Mal ausgestellt. Und das haben wir den Oberammergauer Schülern von Hermann
Bigelmayr zu verdanken, die dafür gestimmt hatten, dass sie fertig ist. Als wir Hermann
Bigelmayr letzte Woche in Oberammergau besuchten, war die Schale noch zum Arbeiten auf
Brusthöhe aufgebockt, Hermann strich durch sie hindurch und war sich gar nicht so sicher,
ob sie fertig ist. Das schlagende Argument lieferte er selbst: Er könne ja nach der Ausstellung
daran weiterarbeiten. Ursprünglich hatte er vor, die Spreuschale von der Decke schweben zu
lassen, doch war das Ensemble am Boden so vollständig. Ich denke, dass es so kommen wird
wie bei seiner ersten Ausstellung: Die Besucher spüren, dass etwas am Boden liegt, und
werden es nicht berühren.
Den Weizen auf ein menschliches Maß zu bringen, war auch in Zukunft sein Anliegen.
Hermann Bigelmayr hatte Französisch gelernt, also ging er nach Paris, um dort Weizen zu
schaffen. Aber er lernte auch Italienisch, also ging er noch nach Florenz und säte dort.
Als der Sturm Wiebke 1990 über Deutschland hinwegfegte, war er wieder zuhause. Nachdem
sich der Orkan gelegt hatte, stand er mit Frau und Kindern im Wald, begutachtete die
Sturmschäden mit dem Förster und fragte, ob er die umgefallenen Eichenstämme haben
könne. Die Antwort war »Ja. Aber du musst sie sofort mitnehmen«. Aus diesen Stämmen
wurde ein Kunstwerk realisiert, das beim Debutantenpreis der Bayerischen Staatsregierung
gewonnen hatte, bisher aber nicht umgesetzt werden konnte, weil es an Holz mangelte.
Sturm Wiebke machte es möglich: Dieses Werk liegt noch heute an Ort und Stelle im
GSF Institut für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg bei München, 30 Meter lang.
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3 Aus diesen Beispielen geht hervor, dass sich Hermann Bigelmayr intensiv mit den Räumen
auseinandersetzt, wie auch in unserer Ausstellung. Bildwerke und Raum bilden eine
Klammer. Eine Klammer der besonderen Art schafft er im Zimmer über uns, im 2. Obergeschoss. Präsent in diesem Raum ist der Zyklus der heiligen Agatha, der aus mehreren
Bildfeldern besteht und das Martyrium der Heiligen und Beschützerin vor Feuersbrunst
abbildet. Vor diesem Zyklus hängen eine Reihe von Blutstropfen, die Hermann Bigelmayr für
eine Ausstellung in Altötting zum Thema Herzblut geschaffen hatte. Hierfür untersuchte er
die unterschiedlichen Zustände von Wassertropfen und übertrug ihre Erscheinungsformen
in das Material Holz.
Eindrucksvoll ist auch der Raum, der sich der Vor- und Frühgeschichte widmet. Er gewinnt
besonders durch die Gegenüberstellung von Hermann Bigelmayrs Werken. Aus dem Umland
von Weilheim stammen die Gefäße, die 2000 v. Chr. für Nahrungsmittel verwendet wurden,
ebenso wie die Messer, deren Klingen mittlerweile brüchig sind. Diesen Funden begegnet
Hermann Bigelmayr mit archaisch anmutenden Spreuschalen, die von der Decke hängen und
sich bewegen, wenn Luftzug entsteht. Schwarz wie Kohlenstoff und mit Rissen durchsetzt
erinnern sie an die Vergänglichkeit. Gemeinsam mit den Urgefäßen, die zum Teil aus
Fragmenten wieder zusammengesetzt sind, drücken sie etwas Existenzielles aus, sie
vergegenwärtigen den flüchtigen Moment unseres Daseins.
Ob Spreu oder Weizen – Hermann Bigelmayr schafft sie in Serien, die in verschiedenen
Größen von klein bis groß anwachsen. Sie symbolisieren ganz augenfällig das Wachstum auf
menschliches Maß und sind eng verknüpft mit der Installation unten im Foyer. Dort bilden
64 Holzblöcke ein Viereck, umgeben von »echten« Weizenkörnern, drei große Körner liegen
oben auf, auch sie in unterschiedlichen Größen. Dahinter verbirgt sich eine Geschichte:
Als am persischen Königshof ein Höfling das Schachspiel erfunden hatte und dem Schah
das Schachbrett übergab, war dieser so erfreut, dass er jenem einen Wunsch freistellte. Er
wünschte sich, der Schah möge ihm auf das erste Feld ein Weizenkorn legen, auf das zweite
Feld zwei Weizenkörner, auf das dritte vier Körner, auf das vierte acht usw. Der Schah war
fassungslos über den Wunsch, weil dieser so einfach klang. Doch er konnte ihn nicht erfüllen.
Denn wenn man das Ganze ausrechnet, wären für das 64. Feld so viele Weizenkörner nötig,
wie fast die doppelte Höhe des Mount Everest an Volumen hat. Und damit wäre die ganze
Weltbevölkerung ernährt. Um diese Fülle, die es so nicht gibt, nachzuvollziehen, hatten wir
heute vor, mit Ihnen gemeinsam den Mount Everest zu besteigen. Es ist aber anders
gekommen. Denn statt der Sauerstoffflaschen, die wir bestellt hatten, wurden uns andere
Flaschen geliefert. Deshalb disponieren wir um und gehen statt in unwegsamem Gelände
durch die wunderbar gestalteten Räume von Hermann Bigelmayr und ein paar Stufen hinab
ins Erdgeschoss, um dort unser Glas zu füllen und anzustoßen auf die Ausstellung, für die ich
dir, lieber Hermann, danke.
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