Industrie 4.0 sorgt für frischen Wind

WELTWIRTSCHAFTSFORUM
2016 25
Neuö Zürcör Zäitung WELTWIRTSCHAFTSFORUM
Dienstag, 19. Januar 2016
Industrie 4.0 sorgt für frischen Wind
Unternehmen in der verarbeitenden Industrie sind gezwungen, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken – Motto des diesjährigen WEF
Die vier Phasen der industriellen Revolution
Erste speicherprogrammierbare
Steuerung (SPS)
(1969)
DOMINIK FELDGES
Konzept mit deutschen Wurzeln
Der Begriff Industrie 4.0 wurde 2011
vom deutschen Physikprofessor und
ehemaligen Vorstandssprecher des
deutschen Softwarekonzerns SAP, Henning Kagermann, geprägt. Kagermann,
der heute Acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, präsidiert und im Aufsichtsrat unter anderem
des Automobilherstellers BMW sitzt,
hat massgeblich zur Promotion dieses
Konzepts beigetragen. Seit 2012 wird
Industrie 4.0 in Deutschland auch staatlich unterstützt, wobei sich Bund und
Länder die Kosten teilen.
Während die ersten Impulse vor
allem von Deutschland ausgegangen
sind, ruft Industrie 4.0 heute international Fachleute auf den Plan. Die Globalisierung des Themas spiegelt sich darin,
dass sich mit ihm auch das diesjährige
Weltwirtschaftsforum (WEF) schwerpunktmässig auseinandersetzt.
Allerdings debattieren längst nicht
nur internationale Entscheidungsträger,
wie sie in Davos zusammenkommen,
darüber. Gesprochen wird über Industrie 4.0 auch an Veranstaltungen von
nationalen und regionalen Industrieverbänden. Das Thema beschäftigt Grosskonzerne und KMU gleichermassen. In
der Schweiz haben die Branchenorganisationen Asut, Electro Suisse, Swissmem und SwissT.net letztes Jahr unter
der Bezeichnung «Industrie 2025» eine
gemeinsame Initiative gestartet. Sie verfolgt das Ziel, die Mitgliedsfirmen innerhalb von zehn Jahren für die Anforderungen von Industrie 4.0 fit zu machen.
Industrie 4.0 beruht auf einer breiten
Zusammenführung der Prozesse in- und
ausserhalb von industriellen Produktionsstätten. Während heute die Forschung und Entwicklung, die Fertigung,
das Lager, der Kundendienst oder die
Buchhaltung oft noch getrennte Systeme verwenden, sollen künftig sämtliche Einheiten einer Firma eng miteinander vernetzt operieren. Dabei werden
auch Lieferanten, Forschungspartner
oder die fertigen Produkte bei Kunden
eingebunden. Dank dem Internet der
Dinge können beispielsweise einzelne
Maschinen sich gegenseitig steuern und
untereinander oder mit dem Lagersystem Informationen austauschen. Die
Maschine merkt von alleine, wann etwa
neue Komponenten aus dem Lager herbeizuschaffen sind oder wann eine
andere Maschine für den nächsten Produktionsschritt zu aktivieren ist.
All das verspricht, zu einer signifikanten Steigerung der Produktivität beizutragen. Der Reiz von Industrie 4.0
liegt aber nicht nur darin, dass Prozesse
in der industriellen Fertigung besser aufeinander abgestimmt und damit effi-
Erstes Fliessband
(1870)
Grad der Komplexität
Revolutionen werden in aller Regel erst
im Nachhinein als solche erkannt. Beim
Thema Industrie 4.0 sehen die meisten
Branchenbeobachter jedoch schon im
Voraus grundlegende Veränderungen
auf die verarbeitende Industrie zukommen. Industrievertreter, Wirtschaftspolitiker und Dozierende an technischen Hochschulen sind sich weitgehend einig, dass die im Rahmen von
Industrie 4.0 angestrebte komplette Informatisierung der Fertigung eine weitere industrielle Revolution, die vierte,
auslösen wird. Schon länger zurück liegen die mit der Erfindung der Dampfmaschine aufgekommene Mechanisierung, die Elektrifizierung und – als Drittes – die Computerisierung und damit
verbunden die Automatisierung der
Industrieproduktion (vgl. Grafik).
Erster mechanischer
Webstuhl (1784)
Schweizer Industrie ist in Europa am besten auf 4.0 vorbereitet
4. Industrielle
Revolution
Auf Basis von cyberphysischen
Systemen (CPS): softwaretechnische Komponenten im Verbund mit mechanischen und
elektronischen Teilen, die über
Dateninfrastruktur wie das
Internet kommunizieren
Schweiz
Deutschland
5
Grossbritannien
4
Schweden
Finnland
Niederlande
Spitzenreiter
Norwegen
Dänemark
2. Industrielle
Revolution
Durch Einführung
arbeitsteiliger
Massenproduktion
mithilfe von elektrischer Energie
Irland
In den Startlöchern
3. Industrielle
Revolution
Durch Einsatz von
Elektronik und IT
zur weiteren Automatisierung der
Produktion
1. Industrielle
Revolution
Durch Einführung
mechanischer
Produktionsanlagen
mithilfe von Wasserund Dampfkraft
Ende
18. Jahrhundert
Skala: 1 = niedrig, 5 = hoch
Vorbereitungsgrad
Themen wie das Internet der
Dinge und die additive
Fertigung halten Industriefirmen
auf Trab. Auch das WEF 2016
beschäftigt sich damit. Wer nicht
rasch eine Antwort auf Industrie
4.0 findet, droht von neuen
Anbietern verdrängt zu werden.
Belgien
Frankreich
Österreich
3
Tschechien
Zögerer
Spanien
2
Estland
Italien
Traditionalisten
Litauen
Ungarn
Slowenien
Slowakei
Portugal
Lettland
Kroatien
Beginn
20. Jahrhundert
Beginn siebziger-Jahre heute und
20. Jahrhundert
in absehbarer Zukunft
Zeit
Rscannzz-eIVO1
QUELLE: THE BOSTON CONSULTY GROUP
NZZ-Infografik/lea.
zienter gemacht werden. Industrie 4.0
ermöglicht auch eine Reihe von neuen
Geschäftsmodellen. Als Beispiel genannt wird immer wieder die additive
Fertigung. Dabei lassen sich mittels
3-D-Druck auch Teile mit hochkomplexen Formen fertigen, deren Produktion
heutige Werkzeugmaschinen überfordert. Die hochpräzis arbeitenden Systeme sind auch sparsam, was den vermehrten Einsatz kostspieliger Materialien wie Titan in der Fertigung etwa von
Flugzeugteilen erlaubt. Allerdings eignet sich die additive Fertigung erst für
kleine Losgrössen, für die Massenproduktion ist sie noch nicht tauglich.
neues Geschäftsfeld. Damit gemeint ist,
dass eine Maschine oder auch eine Anlage in der Gebäudetechnik selbständig
erkennt, dass sie nächstens überholt
werden muss. Ist dies der Fall, wird sie
den Hersteller oder eine mit der Wartung beauftragte Drittfirma automatisch
benachrichtigen. Die Wartung lässt sich
dadurch besser planen – beispielsweise,
indem Zeitfenster ausserhalb des Produktionsbetriebs gewählt werden, was
kostbare Standzeiten verhindert.
Servicedienste erfreuen sich unter
Industrieunternehmen, die im Neugeschäft oft mit gesättigten Märkten
konfrontiert sind, wachsender Beliebtheit. Sie ermöglichen ihnen, mit Maschinen auch Jahre nach dem Verkauf noch
Einnahmen zu erwirtschaften. Diese
sind zudem wiederkehrend und werfen
vielfach auch höhere Margen ab als das
nicht selten mit substanziellen Rabatten
erkaufte Neugeschäft. Um im Wartungsgeschäft zu reüssieren, benötigen
Chancen im Wartungsgeschäft
Die Propagandisten von Industrie 4.0,
zu denen viele Beratungsfirmen besonders deutscher Provenienz zählen, erwähnen auch gerne die «präventive»
oder «vorausschauende» Wartung als
1
1
2
lution und andere sozioökonomische
und demografische Faktoren werden in
den kommenden Jahren zu starken Veränderungen auf den Arbeitsmärkten
führen. Eine Untersuchung des Weltwirtschaftsforums (WEF) mit dem Titel
«The Future of Jobs», die am Montag in
Cologny veröffentlicht wurde, kommt
zum Schluss, dass die technologischen
und demografischen Veränderungen in
den 15 bedeutendsten Industriestaaten
und Schwellenländern bis zum Jahr 2020
zum Verlust von etwa 5 Mio. Arbeitsplätzen führen werden. Umfragen bei
den wichtigsten Unternehmensführern
und Verantwortlichen für die Personalplanung ergaben, dass wegen der tiefgreifenden technologischen Veränderungen, der Automation und der Flexibilisierung von Arbeitsplätzen in den
betreffenden Ländern mit dem Verlust
von insgesamt 7,1 Mio. und der Schaffung von etwa 2 Mio. neuen Stellen zu
rechnen ist.
Von den Umwälzungen auf den
Arbeitsmärkten sollen gemäss der
WEF-Studie vor allem die Bereiche Gesundheitswesen, Energie und Finanzdienstleistungen negativ betroffen werden. Neue Stellen sollen dagegen in den
Bereichen Computertechnologien, Architektur, Ingenieurwesen, Information,
Kommunikation und in der Kategorie
der sogenannten Professional Services
entstehen. Unter den zu erwartenden
Umwälzungen sollen zudem Frauen
stärker zu leiden haben als Männer. Die
vom WEF befragten Personalverantwortlichen führen dies vor allem auf die
Tatsache zurück, dass Frauen in den
technologischen Berufen, die von den
erwarteten Veränderungen eher positiv
betroffen sein werden, weniger stark
vertreten sind als Männer, gleichzeitig
aber in stark negativ betroffenen Bereichen, beispielsweise dem Gesundheitssektor, relativ stark vertreten sind.
WEF-Gründer Klaus Schwab fordert
angesichts der anstehenden grossen
Herausforderungen zusätzliche Anstrengungen der Regierungsverantwortlichen und der Unternehmensführer,
um sicherzustellen, dass neu auf die
Arbeitsmärkte gelangende Arbeitskräfte über Ausbildungsprofile verfügen, die
den künftigen Markterwartungen entsprechen. Ältere Arbeitnehmer sollen
durch Weiterbildungsprogramme auf
die anstehenden Veränderungen vorbereitet werden. Ohne entsprechende
Massnahmen drohten steigende Arbeitslosenraten, ein Anstieg der Einkommensunterschiede
und
eine
schrumpfende Kaufkraft bei den einheimischen Konsumenten.
Als Hauptursache für den erwarteten
Wandel auf den Arbeitsmärkten wird
die sich verändernde Natur der Arbeit
an und für sich gesehen. Die neuen
Technologien erlauben die Erledigung
der meisten Arbeitsprozesse an einem
3
4
Anteil verarbeitende Industrie, in % des BIP, gemessen am Index
5
Rscannzz-OITQ1
QUELLE: ROLAND BERGER STRATEGY CONSULTANTS
NZZ-Infografik/efl./lea.
Industriefirmen indes ein breites Netzwerk von Servicetechnikern. Diese müssen zudem nach den neusten Erfordernissen ausgerüstet werden, denn auch
sie dürften künftig vollständig mit den
Maschinen oder der Buchhaltung vernetzt sein. Konkret bedeutet das, dass
die Techniker am Einsatzort zum Beispiel via Tabletcomputer sämtliche Daten zu den von ihnen gewarteten Geräten abrufen und ihre Arbeitszeit auch
gleich automatisch abrechnen.
Fertigung vieles noch im Fluss ist, lässt
sich schwer abschätzen, ob etablierte
Industriefirmen oder junge, neue Spezialisten das Rennen machen.
Umstritten ist auch, wie weit die mit
Industrie 4.0 verbundene Automatisierung Hochlohnländern ermöglicht, Terrain im Wettbewerb mit Schwellenländern zurückzugewinnen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, weil
Unternehmen aus Industriestaaten wie
der Schweiz, Deutschland und den USA
über etliche Erfahrung in der Optimierung von Abläufen in der Produktion
oder in der Lagerbewirtschaftung verfügen. Die meisten dieser Firmen sollten
auch kapitalmässig in der Lage sein, die
neue Herausforderung zu bewältigen.
Die Arbeitsplätze in der künftigen
Industrie werden oft aber nicht mehr
dieselben sein (vgl. weiteren Artikel).
Stark gefährdet sind einfache und repetitive Tätigkeiten in der Montage oder in
der Logistik, die sich einfach durch den
vermehrten Einsatz von Robotern oder
durch selbstfahrende Transportfahrzeuge ersetzen lassen. Auch in der Qualitätskontrolle und in der Produktionsplanung dürften viele Stellen wegfallen.
Umso gefragter werden Analytiker sein,
die aus der wachsenden Datenflut die
richtigen Schlüsse darüber zu ziehen
vermögen, wo bei einem Produkt –
beispielsweise wegen sich häufender
Fehler in der Herstellung – Änderungen
vorzunehmen sind. Obschon aus heutiger Sicht noch schwer vorstellbar, ist
auch ein neues Berufsbild beim Einsatz
von Robotern absehbar. Irgendjemand
wird die wachsende Schar von automatischen Helfern in der Produktion überwachen müssen.
Für einen möglichst reibungslosen
Übergang ins Zeitalter der Industrie 4.0
braucht es Strukturen, die gewährleisten, dass sich Beschäftigte die nötigen,
primär IT-basierten Fertigkeiten aneignen können. Manager und deren Mitarbeiter müssen zudem von sich aus bereit sein, neue Wege zu beschreiten.
Die Beratungsfirma Roland Berger
hat untersucht, wie gut die einzelnen
europäischen Länder in dieser Hinsicht
abschneiden. Zudem überprüften die
Berater den bereits bestehenden Automatisierungsgrad in der Industrie, wie
oft Unternehmen das Internet schon
einsetzen und wie gut sie in innovationsfördernde Netzwerke eingebunden sind.
Die Schweiz schaffte es dabei zusammen mit Deutschland, Österreich, Irland, Schweden und Finnland in die
Gruppe der «Spitzenreiter» (vgl. Grafik). Als Gastgeberland auch des
46. WEF steht ihr dies gut an.
«Disruptive» Veränderungen
Firmen, die sich technisch und organisatorisch nicht rechtzeitig auf solche
Neuerungen einstellen, riskieren, von
besser vorbereiteten Konkurrenten
oder neu in den Markt eindringenden
Anbietern verdrängt zu werden. Im Zusammenhang mit Industrie 4.0 ist viel
von «disruptiven» Veränderungen die
Rede. Weil wie etwa in der additiven
Starke Umwälzungen auf den Arbeitsmärkten erwartet
jpk. Genf V Die vierte industrielle Revo-
Polen
beliebigen Ort und zu einer beliebigen
Zeit, was es den Arbeitgebern erlaubt,
Stellen aufzuteilen und die Arbeitsprozesse noch sehr viel stärker zu fragmentieren als bisher, wie in dem Bericht betont wird. Die rasche Ausbreitung des
mobilen Internets und der Cloud-Technologie erlaube zudem eine weitere
Ausbreitung der internetbasierten
Dienstleistungen. Ein nicht unwesentlicher Teil von Arbeitsplätzen wird auch
durch den zunehmenden Einsatz von
Robotern und die weiter voranschreitende Automation verloren gehen.
Der WEF-Bericht zeigt aber nicht
nur auf, dass auf den Arbeitsmärkten
tiefgreifende Veränderungen zu erwarten sind, sondern auch, dass diese je
nach dem Zustand der Wirtschaftsstrukturen und dem Ausbildungsniveau äusserst unterschiedlich ausfallen können.
Mit einem positiven Verlauf wird in den
kommenden Jahren vor allem in den
Asean-Staaten, den USA und in Grossbritannien gerechnet. In den südostasiatischen Staaten ist dies in erster Linie
auf ein relativ hohes Ausbildungsniveau,
dann aber auch auf eine wachsende Mittelschicht zurückzuführen. In den USA
und Grossbritannien vor allem auf die
dynamische Wirtschaftsstruktur und
den flexiblen Arbeitsmarkt. In vielen
andern Industriestaaten und Schwellenländern dürften die Umwälzungen aber
schmerzhafte Folgen für die Arbeitsmärkte zeitigen.