Die Reduzierung des Schutzniveaus jenseits der Normalarbeit

Die Reduzierung des Schutzniveaus
jenseits der Normalarbeit
Dr. Karina Becker
Technische Universität Darmstadt
Kontakt: [email protected]
Beschäftigte bringen immer schon ihre Gesundheit und nicht
nur ihre Arbeitskraft in den Arbeitsprozess ein.
4 Argumente
1. Historisch lassen sich verschiedene betriebliche
Aushandlungsmuster um die konkreten
Vernutzungsbedingungen der Ware Arbeitskraft und damit auch
der Beschäftigtengesundheit empirisch zeigen.
2. Anders als in der Frühphase des Industriekapitalismus erfolgte
dieser „betriebliche Handel“ mit der Beschäftigtengesundheit
im Fordismus auf einem weitaus höheren Arbeits- und
Gesundheitsschutzniveau.
3. Durch Deregulierungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und
eine Verbetrieblichung im Arbeitsschutz verschwinden „Haltepunkte“,
die aktuell zu einer Verschiebung der betrieblichen Machtverhältnisse
führen, deren Verarbeitung insbesondere zu Lasten der prekär
Beschäftigten geht.
4. Zugleich bietet der Arbeitsschutz verhältnismäßig starke
Rechtsgrundlagen, um den Einsatz von Leiharbeitskräften und
Werkvertragsnehmern zum Gegenstand von Mitbestimmung zu
machen.
Empirische Basis
• BMBF-Projekt „Pargema“
• BMAS-Projekt „GRAziL“: Arbeits- und Gesundheitsschutz in der
Leiharbeit: 35 Entleihbetriebe des Industrie- und
Dienstleistungssektors (darunter Logistikunternehmen und
Abfallentsorgung, Verlage, Krankenhäuser, ambulante
Pflegeeinrichtungen)
• qualitatives und quantitatives Datenmaterial (Interviews mit
Beschäftigten, Interessenvertretern, Management,
Gewerkschaftsfunktionären sowie Beschäftigtenbefragungen
• BiBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2005/2006 sowie 2013
• Belastungsanalysen in verschiedenen Großunternehmen
Betriebliche Umsetzung externer Vorgaben im
Arbeits und Gesundheitsschutz
Differenzen zwischen:
A) Formalen Vorgaben und Umsetzung, z.B.
Gefährdungsbeurteilung
B) Beschäftigtengruppen
Unzufriedenheit mit Entlohnung und immaterieller Gratifikation,
N(LAN) = 267; N(Nicht-LAN)= 3.082
Quelle: Becker/Brinkmann/Engel 2013;
2014
Organisatorische, zeitliche und örtliche Handlungsspielräume von LAN
und STAN
(Anteil der Befragten in %; N(LAN) = 267; N(Nicht-LAN)= 3.082)
Quelle: Becker/Brinkmann/Engel 2013;
2014
Betriebliche Aushandlungen um die
Beschäftigtengesundheit:
Vom fordistischen Handel zum Handel auf
Kosten Dritter
Betriebliche Aushandlungen als Teil des
„fordistischen Versprechens“
Akzeptanz belastender, entfremdender
Arbeitsbedingungen im Tausch gegen wachsende
materielle, i.d.R kollektivvertraglich geregelte Teilhabe
und relative Sicherheiten („Normalarbeitsverhältnis“)
Arbeits- und Gesundheitsschutz: Versicherungsleistungen
bei Berufsunfähigkeit oder Erwerbsminderung; „schonoder leistungsgeminderte“ Arbeitsplätzen (als
betriebliche Lösung)
Keine Aufhebung des betrieblichen Handels mit der
Beschäftigtengesundheit, sondern Formwandel
Beispiele:
- Verschweigen von Beinahe-Unfällen
- Arbeitsschutzakteure griffen nur punktuell auf
Gesetze, wie die Arbeitsstättenverordnung zurück
- Erschwerniszulage
Finanzmarktkapitalismus
• Re-Kommodifizierung von Arbeitskraft
• Unternehmen werden zunehmend anhand von
marktzentrierten Instrumenten gesteuert
• Verlagerung von Kosten und Risiken auf Beschäftigte
• einseitige Aufkündigung der „fordistischen
Aushandlungen“ um die Beschäftigtengesundheit
Deregulierung ANÜ
•
sukzessive Lockerung der gesetzlichen Vorschriften zum Umgang mit Leiharbeit (bis
Einführung d. Mindestlohns)
Normalarbeit
Leiharbeit
Werkvertrag
Crowdsourcing
Entwicklung des institutionellen AGS
Verbetrieblichung im Arbeitsschutz
• AGS-Standards sollen auf die betrieblicher Ebene verhandelt
werden
• Arbeitsstättenverordnung: Ablösung ausdifferenzierter Vorgaben
durch „Kann-Bestimmungen“
• Schwächung überbetrieblicher AGS-Akteure
„Es wird ein Mangel im Betrieb festgestellt, den ich dem Unternehmer
rüberbringe. Nun kann der sagen, 'Ja ich mache das, beseitige diesen
Mangel und dann ist das erledigt.' Oder der sagt, (…) 'Ja, muss ich denn
das?' Da muss ich ihm sagen: 'Sie müssen nicht, Sie können aber, es
wäre schön, wenn Sie würden.' Dann sagt der: 'Aber ich will nicht.‘“
(Vertreter Berufsgenossenschaft, 2007)
Prekäre AGS-Situation von Leiharbeitskräften
(LAN) und Werkvertragsnehmer (WAN)
• gegenseitige Verantwortungszuweisung von Verund Entleiher im Fall von LAN
• „Niemandesverantwortung“ beim Einsatz von
WAN
• Desintegration bei betrieblichen Schutzroutinen
und Unterweisungen bis hin zu
sicherheitstechnischen Standards
Aktuell zeichnet sich eine Tendenz ab, die
betrieblichen Aushandlungen so zu gestalten, dass
sich die verhandelnden Parteien innerhalb eines
Unternehmens Leistungen und Gegenleistungen
nicht selbst abringen müssen, sondern
machtschwachen, organisationsexternen Dritten
aufbürden, die infolge dessen mit zunehmend
problematischen Gesundheitsbedingungen
konfrontiert sind.
„Man merkt, dass man Arbeitnehmer zweiter Klasse ist, vor
allem an der schlechteren Behandlung. Man bekommt auch
andere Arbeitsaufträge zugewiesen, Sachen, die keiner mehr
machen will. Also während die Stammbeschäftigten im Büro den
Speiseplan bearbeiten dürfen, dürfen wir nur draußen kochen
und am Band stehen die ganze Zeit. Die Stammarbeiter freuen
sich natürlich darüber und lassen auch vieles von dem, was sie
nicht machen wollen, für uns liegen. Wenn die dann in den
Feierabend gehen, müssen wir die Dreckarbeit noch weg
machen“ (06LAN03_2011)
„Was auch klar ist, es wird wie gegeben hingenommen, dass
die Leiharbeiter dafür da sind, die Entspannung der
Wochenendarbeit für die Stammbeschäftigten zu
organisieren. Das ist glasklar…. Ja und wenn dann halt mal
einer in der A-Schicht fehlt, dann muss halt ein Leiharbeiter
aus der C-Schicht, der jetzt gerade vier Nachtschichten
hinter sich gebracht hat, noch mal drei Tage Frühschicht ran
hängen, um das irgendwie auszubügeln und dann macht
der – wenn er noch mal gebraucht wird – auch noch mal
einen Tag Spätschicht. Der wird hin und her geschubst. Da
wird überhaupt nicht der freie Tag beachtet.“
(Gewerkschafter, 2012)
• LAN und WAN als „Gesundheitspuffer“
„Offen sagt das natürlich niemand, aber Fakt ist: Die
Stammarbeiter und der Betriebsrat stützen das
Verheizen der Leiharbeiter in der Hoffnung, dass es sie
selbst nicht trifft.“ (Gewerkschaftsfunktionär, 2012)
Entwicklung des institutionellen AGS
Arbeits- und Gesundheitsschutz als
arbeitspolitischer Hebel
• Schlüsselrolle der Interessenvertreter im Entleihunternehmen: AÜG
und ArbSchG als Machtressource
• Mitbestimmungsrechte nach BetrVG beim Einsatz von
Leiharbeitskräften und Werkvertragsnehmern
• Zusammenarbeit mehrerer Arbeitgeber: Auswahl der
Fremdunternehmen, Arbeitsschutzvereinbarung
• Formelle Absicherung: Betriebsvereinbarungen (BV)
Fazit
„Fordistische Dividende“ im AGS
„Prekaritätsdividende“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Literaturhinweise
Becker, Karina: Macht und Gesundheit. Der informelle
Handel um die Vernutzung von Arbeitskraft, in: Berliner
Journal für Soziologie 1-2/2015
Becker, Karina/Engel, Thomas: Reduzierung des
Schutzniveaus jenseits der Normalarbeit, in: WSIMitteilungen 3/2015
Becker, Karina/Engel, T./Brinkmann, U./Satzer, R. (2015):
Handbuch Gesundheit und Beteiligung, 2. erweitere Aufl.