Mails aus dem Jenseits - Verein der Freunde Schloss Blutenburg eV

Mails aus dem Jenseits
Die Frage: „Was ist dann?“ wird immer noch gestellt. Wir wüssten gern, was uns bevorsteht.
Diese ‚Mails’ räumen mit den Phantasiegebilden auf, die man sich drunten über droben macht
und zeigen, dass das Weltgeschehen aus der Jenseitsperspektive wie eine schlecht gespielte
Posse aussieht.
Liebe Hinterbliebene!
Ich würde Euch gern anders nennen, das Wort ‚Hinterbliebene‘ gefällt mir nicht. Aber weil es
in der himmlischen Sprache dafür keinen zutreffenden Begriff gibt, - hier bleibt ja niemand zurück - muss ich Euch so nennen.
Hoffentlich erschrecke ich Euch nicht mit meinen Mails! Denn Post aus dem Jenseits - das
muss Euch vorkommen, als gehe es nicht mit rechten Dingen zu.
Das, was für Euch das Jenseits ist, ist für uns das Diesseits!
Der mittelalterliche Dichter Alighieri Dante hat zwar schon einmal in seiner ‚Göttlichen
Komödie‘ versucht, das neue Leben im Jenseits zu beschreiben. Wer sich daran macht, das
Jenseits zu beschreiben, solange er noch im Diesseits ist, gleicht einem Embryo, der vom Mutterschoß aus versucht, in einer Sprache, die er noch nicht kennt, die Welt, in die er erst hineingeboren wird, zu beschreiben. So etwas muss misslingen.
Hier spricht man gern und amüsiert von jenem Astronauten, der sich bei Euch rühmte, es sei
ihm gelungen, mit seinem Raumschiff in das Jenseits einzudringen. Er ist inzwischen hier und
auffallend schweigsam. Es ist ihm höchst peinlich, wenn man ihn bezüglich seiner Weltraumerfahrungen anspricht.
Es ist sogar für uns Jenseitige schwer, ja nahezu unmöglich, das Jenseits zu beschreiben. Das
Problem liegt jedoch nicht bei uns Jenseitigen, sondern bei Euch, weil Ihr – ich kann Euch diese
Bemerkung nicht ersparen – dafür zu wenig Verstand besitzt.
Ich konnte mich - solange ich drunten war - nie ganz von der Angst befreien, dass die Ewigkeit mit der Zeit doch einmal langweilig wird.
Der lange Abschied
Liebe Hinterbliebene!
Entschuldigt, dass ich mich nicht gleich nach meinem Ableben bei Euch gemeldet habe. Ich war
in einem mir bisher unbekannten Zustand: noch nicht tot und auch nicht mehr lebendig.
Eine Operation war für mich, wie für so viele andere, die jetzt hier sind, das letzte große Ereignis des Lebens. Obwohl ich leblos dalag, nahm ich doch wahr, dass man mich danach in eine
hässliche Abstell-Kammer schob. Es war auch ausgeschlossen zu erkennen, ob ich noch hier
war oder schon drüben bin. Ich war zwar tot, aber gestorben war ich trotzdem noch nicht. Das
sollte man auseinanderhalten, das sind zwei sehr verschiedene Zustände. Leider sind die meisten längst tot, bevor sie gestorben sind.
Während ich darüber nachdachte, wie man das Diesseits vom Jenseits unterscheiden kann,
wurde ich plötzlich erschreckt als jemand sagte: „So, ein Neuankömmling. Aber die Krankenschwester wäre Dir wohl lieber gewesen.“ Auf diese ironische, ja spöttische Bemerkung war
ich nicht gefasst. Als ich die Augen auftat, sah ich nicht etwa einen Engel, sondern einen wohl
mehrere hundert Jahre alten Mann, der freundlich zu mir sagte: „Ich bin hier der Senior, wir
werden uns noch öfter sehen. Ich scheine Dich erschreckt zu haben. Aber das ergeht allen
Neuzugängen so. Vorgestern kam einer an und rief laut: „Bin ich nicht mehr in der Intensivstation? Ich werde doch nicht im Himmel sein?“ – Ja die Reaktionen der Neuankömmlinge sind
oft recht merkwürdig.“
Als ich stotternd fragte: „Bin ich im Himmel“, lachte er und sagte: „Nein, so schnell geht das
nicht. Im Himmel bist du noch nicht. Hier schaut man sich die Neuzugänge sehr genau an.
Jetzt bist du erst einmal im Jenseits. Wer hier ankommt, sollte froh sein, dass man ihn ins Fegefeuer lässt, wo er Gelegenheit erhält, all das abzustreifen, was an ihm hässlich ist.“
Als ich protestierte: „Fegefeuer, muss das sein?“ gab er mir zur Antwort: Hier kommt - soweit ich das in den vielen Jahren, die ich hier bin, beobachten konnte, vielleicht so alle hundert
Jahre einmal einer ohne Läuterung durch.“
Sobald ich wieder Zeit habe, hört Ihr wieder von mir.
Im Aufnahmebüro
Es ist merkwürdig, auf wie verschiedenen Weise die Leute hier ankommen. Eine UmweltAktivistin zeigte sich überaus zufrieden, dass sie hierher geholt wurde. So sei sie, beteuerte sie,
der nahe bevor-stehenden Klima-Katastrophe entronnen. Auch ein Bankvorstand empfand
Genugtuung darüber, dass man ihn nun drunten nicht mehr für die Milliarden Schulden, für die
man ihn verantwortlich machen wollte, verantwortlich machen kann.
Der Prominenteste unter uns ist sicher Karol Wojtyla, der kürzlich verstorbene polnische
Papst. Er macht einen etwas nervösen und ungeduldigen Eindruck. Er hatte sich wohl wegen
der pausenlosen „Santo-subito-Rufe“, die hier sehr deutlich zu hören waren, Hoffnungen gemacht, man werde ihn schnell und unbemerkt an den Wartenden vorbei zu den Seligen bringen.
Auffallend viele kommen schlecht gelaunt hier an und murren darüber, dass sie nicht länger
drunten bleiben durften.
Ein Neuankömmling von 41 Jahren – ein Jurist - wollte unter allen Umständen, dass man sein
Ableben rückgängig macht. Mit seiner vorzeitigen Abberufung habe man – sagte er - seine ganze Lebensplanung durcheinandergebracht, und ihn gerade jetzt, wo er dabei war, mit seinem
Leben richtig zu beginnen, plötzlich weggeholt.
Den Engeln, die wegen der ungeheuren Zahl der Neuzugänge die Aufnahmestelle in Tag und
Nachtschichten besetzt halten, wird viel abverlangt. Es ist bewundernswert, mit welcher Geduld sie sich die Vorwürfe, sogar von Hundertjährigen anhören: Warum reißt man mich mitten
aus dem Leben? Und warum lässt man mich mein Lebensende nicht selbst bestimmen?“ Aber
die Engel machen stets höflich darauf aufmerksam, dass sie diese Entscheidung, wie lange oder
wie kurz einer drunten sein darf, beziehungsweise sein muss, nicht treffen dürfen. Dies entscheide die oberste Instanz.
Wenn man im Jenseits ist, ist man noch nicht im Himmel. - Es ist erstaunlich, wer hier rein
gelassen wird.
Auf Titel legt man hier keinen Wert. Einem, der sich bei seiner Ankunft mit Doktor vorstellte, gab der Engel im Aufnahmebüro in überaus höflicher Form – mir fällt auf, dass man hier, im
Unterschied zu Euch drunten, nie ein unfreundliches Wort hört – den Rat, diesen Titel künftig
wegzulassen: Schließlich gebe es auch keine promovierten Engel.
Zu meiner Überraschung gab man mir nicht – wie ich erwartet hatte - ein Büßerhemd, sondern vorläufig ein wohl einfaches, aber überaus farbenfrohes Gewand.
Im Wartezimmer
-1-
Hallo, ich bin es wieder!
Ich sitze hier in einem sehr geräumigen Warteraum mit einem herrlichen Ausblick auf das
Weltall, das sehr viel größer ist, als ich mir das bisher vorgestellt hatte. Ihr wollt sicher wissen, wie wir uns unterhalten, welche Sprache hier gesprochen wird, und ob der Zustand vor
der babylonischen Sprachverwirrung herrscht, als es nur eine Sprache gab.
Ich selbst hatte befürchtet, dass wir alle Sprachen, vielleicht auch noch alle Dialekte lernen
müssen, die auf der Erde gesprochen werden. Dann wäre ich wohl einige Jahrhunderte damit
beschäftigt, mir den Wortschatz und die Grammatiken der vielen Sprachen und Dialekte anzueignen, damit ich mich mit denen, die aus anderen Kulturen kommen, unterhalten kann. Jeder
spricht seine Sprache und kann von allen anderen verstanden werden. Wenn ein Chinese chinesisch spricht ist es, als habe er mit mir deutsch gesprochen. Und wenn ich deutsch spreche,
verstehen mich Afrikaner oder Inder, als spräche ich Kisuaheli oder Hindi. Ihr denkt vielleicht,
ich mache Euch etwas vor, so etwas gibt es nicht. So vieles, was Ihr da drunten in Eurer Arroganz für unmöglich haltet, gibt es hier oben wirklich.
Wir alle warten sehr gespannt auf unsere Weiterreise. Unsere Gespräche hier kreisen ausschließlich um das, was uns bevorsteht.
Ihr Lieben!
Eben kam ein schon etwas älter und wie ein Professor aussehender Engel mit einer Schar jüngerer Engel, die wahrscheinlich seine Studenten sind. Er ließ an jeden von uns einen Fragebogen
austeilen und bat uns, die Frage zu beantworten, welche Art von Seligkeit sich jeder von uns
wünscht. Wir kamen dadurch in große Verlegenheit und mussten angestrengt nachdenken, weil
sich bisher kaum einer darüber Gedanken gemacht hatte. Ich rate Euch deshalb, schon jetzt
darüber nachzudenken.
Vielleicht interessiert Euch das Ergebnis. Ich kann Euch wenigstens einige Antworten mitteilen, weil ein Engel seine Fragebogen, die er eingesammelt hatte, mitzunehmen vergaß. Da
schrieb zum Beispiel ein Polizeiobermeister, er mache sich Sorgen, ob er denn seinen Beruf,
noch ausüben dürfe oder ob die Engel im Himmel allein für Sicherheit und Ordnung sorgen. Er
wäre glücklich, wenn man, für ihn weiterhin Verwendung hätte. Ein Talkmaster einer öffentlich-rechtlichen Anstalt brachte zum Ausdruck, dass er sich nichts sehnlicher wünsche als die
erfolgreiche Fortsetzung seiner Fernseharbeit. Es sei doch zu erwarten, dass die Seligen vermutlich weiter auf ihrem Recht beharren, die ganze Wahrheit zu erfahren, und nicht nur das,
was beim Jüngsten Gericht aufkommt. Er werde sich für eine bessere Bildschirmqualität einsetzen, und allen, die das Bedürfnis haben, die Gelegenheit geben, sich vor der ganzen
Menschheit und der Engelwelt mit überraschenden Geständnissen bloßzustellen.
Viele machen sich ernste Sorgen um ein Haustier, das sie so plötzlich zurücklassen mussten
und können sich nicht vorstellen, dass sie ohne Wiedersehen mit dem geliebten Hund, den
Zierfischen oder dem Papagei glücklich werden können. Die Trennung selbst von nahestehenden Menschen – darüber sind sie sich einig – sei ein Schmerz, der zu ertragen ist, oft sei eine
Trennung sogar eine Befreiung. Aber wenn das Band zu einem treuen Tier zerrissen werde, sei
das schlimmer als eine Ehescheidung. Zwischen einem Menschen und einem Tier gäbe es nun
einmal im Laufe des Zusammenlebens Gemeinsamkeiten, wie sie zwischen Menschen nie entstehen können.
Einige Gerüchte
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Ihr lieben Irdischen!
Es geht eigentlich hier zu, wie in allen Wartezimmern der Welt: Jeder spricht von seinen Sorgen und steckt jeden mit seinen Ängsten an. Manche erinnern sich an ihren Religionsunterricht
und fürchten, man werde sie im Fegefeuer foltern und ihnen für jede Sünde eine raffiniert ausgedachte Strafe auferlegen. Am meisten beunruhigt uns ein Gerücht, das sich hartnäckig hält,
dass wir gezwungen werden sollen, Vorträge über Tugend und Moral anzuhören. Aber ich hoffe, dass man nicht so grausam mit uns umgeht.“
Eine Zeugin Jehovas wiederholt immer wieder die Befürchtung, dass sie vielleicht doch nicht
gerettet werden kann, obwohl sie seit ihrem 15. Lebensjahr Zeugin Jehovas ist, weil nur
144.000 gerettet werden und aller Wahrscheinlichkeit nach alle Plätze schon besetzt sind. Ein
Schweizer Calvinist dagegen ist überaus euphorisch und hegt nicht den geringsten Zweifel,
dass er schon zu den Auserwählten gehörte. Er hatte, sagt er sehr stolz, in seinem Leben stets
geschäftlichen Erfolg.
Auch eine Muslimin, die ihr Kopftuch auch hier nicht ablegen will, ist sich sicher, dass Allah
sie auf jeden Fall in das himmlische Paradies aufnimmt, weil sie den Kontakt mit Ungläubigen
immer gemieden habe. Nur fürchtet sie, dass sie dann vielleicht in einem Harem, mit hundert
anderen Frauen, für einen Mann da sein muss, der sich als Märtyrer in die Luft gesprengt und
Anspruch auf eine hohe Belohnung hat. Eine Philosophiestudentin, die über Platon promovieren wollte und bei ihm gelesen hatte, dass Frauen, die tugendhaft lebten, im Jenseits zur Belohnung als Männer weiterleben müssen, ist ratlos, wie sie ihre in vielen Jahren mühsam errungene Emanzipation verteidigen und sich dieser Geschlechtsumwandlung entziehen kann. Und
ein Hindu aus Bombay, der bisher schweigend im Yogasitz in unserer Runde saß, fing plötzlich an heftig zu weinen. „Wenn ich nur wüsste“, schluchzte er, „welches Tier ich nach meiner
Wiedergeburt werde. Hoffentlich bleibt mir das Dasein als Maus oder Ratte erspart. Ich möchte nicht immer davonlaufen oder in Abwässern leben müssen.“
Uns haben die Geistlichen damals, als wir noch drunten waren, immer wieder eingetrichtert,
dass die Tür zum Himmel eng ist, und dass es nur wenigen gelingt, durch diese Tür hindurch
zu kommen. Jetzt erlebe ich das Gegenteil: die Türe ist weit offen!
Liebe Freunde da drunten!
An manchen Tagen kommen Leute, die man erst nach Jahren erwartet hatte und noch gar
nicht auf der Aufnahme-Liste stehen, weil es drunten doch verhältnismäßig häufig vorkommt,
dass da jemand zum Weiterleben einfach keine Lust mehr hat, oder weil die Medizin in letzter
Zeit mit ihren modernen Apparaten oder Ärzte mit Fehldiagnosen alle Planungen hier durcheinander werfen.
Ein während seines irdischen Daseins hoch angesehener Chirurg, dem die Kritik an der Medizin und der Vorwurf einer ärztlichen Fehlbehandlung nicht gefiel, mokierte sich darüber, dass
man sich über ärztliche Kunstfehler, die in seinem Beruf unvermeidbar sind, entrüste, aber andere Kunstfehler schweigend hinnehme. „Was musste ich“ – sagte er – „im Laufe meines Lebens wegen juristischer Fehler oder weil ein Richter die Akten nicht sorgfältig studiert hatte,
nicht alles für Vergleiche zahlen? Auch über die pädagogischen Kunstfehler, die viel schlimmere Nachwirkungen haben, sieht man stets hinweg. Was richten Lehrer mit dem überflüssigen
und falschen Wissen, das sie in die Köpfe wehrloser Kinder stopfen, an Verheerungen bei
Kindern an, ohne dass sie dafür haften müssen! Bei den Kunstfehlern, die uns Ärzten unterlaufen, muss der Betroffene wenigstens nicht lange leiden.“
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Einkleidung
Ihr Lieben!
Heute war ein besonders schöner Tag: Wir wurden eingekleidet! Was sage ich: Ich meine mit
‘Einkleidung‘: jeder von uns bekam einen neuen Leib. Aber was sollt Ihr Euch darunter vorstellen? Lasst es am besten sein, Euch eine Vorstellung davon zu machen. Das bisschen Phantasie, über die Ihr verfügt, reicht dafür nicht aus.
Ich kann es immer noch nicht fassen, dass der neue Leib, den ich erhalten habe, zu mir passt
und dass ich immer noch Ich bin, obwohl nichts mehr an mir so ist, wie es einmal war.
Wenn ich an die vielen muffigen Gesichter denke, die ich drunten Tag für Tag sehen musste,
bin ich darüber glücklich, dass es hier so viele schöne Menschen mit leuchtenden Augen und
strahlenden Gesichtern gibt. Ich konnte hier beim Wiedersehen die Bekannten und Verwandten, die ich noch von früher her in Erinnerung hatte, überhaupt nicht mehr erkennen. Sie sehen
aus, als wären sie von Grund auf neu geschaffen. Ihr werdet sicher auch einmal Mühe haben,
mich wieder zu erkennen.
Die Umstellung von Zeit auf Ewigkeit – wie soll ich Euch das erklären? Es ist alles Gegenwart. Aber das heißt nicht, dass die Vergangenheit ausgelöscht wurde, und dass es keine Zukunft gibt. Es ist einfach alles in der Gegenwart enthalten. Der Satz, den ich einmal - als ich
noch unten war - auf einem Kinoplakat gelesen habe: „Wer früher stirbt, ist länger tot“, ist
vielleicht witzig, aber dumm. Denn es ist genau umgekehrt: Wer früher stirbt, beginnt mit seinem Leben früher!
Zu meinem Nachruf!
Liebe Hinterbliebene!
Gestern - es ist natürlich Unsinn von gestern zu sprechen, weil es hier keine Zeit gibt - entdeckte ich zufällig bei meinen Personalakten im Archiv den Mitschnitt der Ansprache, die der
Pfarrer bei meiner Beerdigung hielt, und die ich mir zum ersten Mal in Ruhe anhören konnte.
Bei seiner eigenen Beerdigung wird man ja von allen möglichen Sorgen und Ängsten belästigt,
sodass man psychisch einfach nicht in der Lage ist, aufmerksam zuzuhören.
Sagt dem Pfarrer: Ich war tief bewegt. Es war eine wunderschöne Rede, die ich ihm gar nicht
zugetraut hätte. Er hätte das alles nicht besser sagen können, wenn er mich gekannt hätte. Der
Hinweis, dass ich ein leidenschaftlich Suchender und von allen geschätzt war, ja aus einem ‚arbeitsreichen und erfüllten‘ Leben so plötzlich herausgerissen wurde, und dass Ihr mich alle
schmerzlich vermisst, zeigt, wie einfühlsam und taktvoll er sein kann. Er fand so schöne Worte! Der für mich so charakteristische Satz: „Die Lücke, die er reißt, wird nicht zu füllen sein“,
hat mich so gerührt, dass ich Tränen vergießen musste, worüber sich jeder hier gewundert hat,
weil es hier keine Anlässe mehr zum Weinen gibt.
Museumsbesuch
Hallo!
Ich habe wieder eine interessante Neuigkeit. Das Fegefeuer enthält ein sehenswertes Museum
mit den verschiedensten irdischen Wertgegenständen, die die Fegefeuer-Insassen vor ihrer Entlassung abgegeben haben, und hier natürlich als Ramsch angesehen werden: Uniformen, Waffen
und Ehrenurkunden, Königs-Kronen, Mitren, Diademe, Orden oder in Schweinsleder gebundene Folianten, Spielfilme von Oscar-Preisträgern, Bestseller, Stöckelschuhe, Sparbücher, Geldscheine, Goldmedaillen, Schmuck und seidene Gewänder, Autoschlüssel, Bilder oder Ringe.
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Für die meisten Berufe hat man hier keine Verwendung. Die Techniker sind enttäuscht,
dass Reparaturen am Weltall überflüssig sind, und die Finanzbeamten können nicht begreifen, dass es Werte gibt, über die man keine Bilanzen erstellen kann. Für die Lehrer ist es ein
Neuheitserlebnis, dass auch sie nur Schüler sind. Und die Theologen trauen sich - in Gottes
Gegenwart - nicht mehr über Gott zu sprechen.
Denn Gott verstehen wollen, ist der Versuch, ihn so klein zu machen, wie das menschliche
Gehirn.
Fegefeuer-Insassen
Ihr Lieben!
Wie ich errechnet habe, war Heinrich VIII. von 1547 bis 1724, also fast 200 Jahre hier, was
mich wegen seiner vielen Ehebrüche nicht wundert. Papst Alexander VI., der sein Amt durch
Bestechung erhalten haben soll und nicht gerade durch eine christliche Lebensweise überzeugte, muss 400 Jahre, von 1503 bis 1949 hier gewesen sein. Und Caroline Leclerc, jene Prostituierte, die sich während der Französischen Revolution als Göttin der Vernunft ausrufen ließ,
hatte großes Glück, meinte unser Führer Simson. Damit sie nicht so lange warten muss, bis sie
vernünftig geworden wäre – das hätte sich viele Jahrhunderte hingezogen – ließ sich ihr
Schutzengel überreden, ihr eine Bestätigung auszustellen, dass sie aufgrund ihres geringen Intelligenzquotienten als unzurechnungsfähig zu betrachten ist.
Einige bedrängten unseren Führer, ihnen zu sagen, wo Hitler und Stalin sich befinden, und
was sie jetzt über ihre Untaten denken. Simson beteuerte, niemand wisse, wo sie sich aufhalten. Er habe nur gesehen, wie Hitler gleich nach seiner Ankunft im April 1945 mit einer Frau,
die den jüdischen Namen Eva hatte, panikartig geflohen sei und sich durch keinen Zuruf aufhalten ließ. Auch Stalin, der gehofft hatte, dass man ihn nicht erkenne, wenn er sich mit Josef
Wissarionowitsch Dschugaschwili, Absolvent eines Tifliser Priesterseminars vorstelle, sei
gleich nach seiner Ankunft 1953 schreiend ins Weltall davon gerannt. Beide hielten sich versteckt und wären nur bereit zurückzukehren, wenn man ihnen garantiere, dass sie keinem der
vielen Millionen, die sie umbringen ließen, begegnen müssen.
Als ich mich nach Heinrich Heine erkundigte, den ich gerne einmal kennengelernt hätte, bekam ich die Auskunft, er sei schon lange nicht mehr hier, worüber ich mich sehr gewundert habe, nachdem er sich doch wie ein Atheist gebärdete. Simson meinte: Heine sei ein sympathischer Heide gewesen. Alle hätten seinen Weggang bedauert, weil er ein witziger Unterhalter
war. Spötter kämen, wenn ihre Ironie witzig und geistreich ist, meist glimpflich davon.
Auf meinen Einwand, er habe doch immerhin manchen Gläubigen unsicher gemacht, gab man
mir zur Antwort: Wenn Gläubige einen so schwachen Glauben haben, müssten sie sich das
selbst zuschreiben, dafür könne man nicht ihn verantwortlich machen.
Eine große Überraschung war für mich, dass ich im Fegefeuer meinen Religionslehrer, Dr.
Sauer, traf, der in allem so korrekt war und so eindrucksvoll von der christlichen Lebensgestaltung zu sprechen verstand, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, christlich zu leben.
Ich musste mich beherrschen, nicht zu zeigen, welche Genugtuung ich empfand, dass es auch
ihn erwischt hat.
Meine neue Aufgabe
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Hallo!
Eben hat mir mein Schutzengel mitgeteilt: Ich soll meine Bußzeit damit verbringen, die Neuankömmlinge in ihre Therapiezentren zu bringen. Ich nehme natürlich gerne an, weil sich damit
die Gelegenheit bietet, alle Abteilungen des Fegefeuers kennenzulernen.
Schreibtherapie
Gestern unterhielt ich mich in der Abteilung für Schreibtherapie lange mit Voltaire. Als ich
ihn fragte, warum er ununterbrochen schreibe, erwiderte er schlecht gelaunt: Ich habe das Bedürfnis, dem ich nicht widerstehen kann, meine Schriften zu verbessern.
Friedrich Nietzsche, der gerade in der Nähe stand und immer noch so düster wie eh und je
dreinblickte – er wird wohl noch lange brauchen, bis er sich die heitere Stimmung aneignen
kann, die hier gefordert wird. Er beteuerte, er wollte mit seiner Gottesleugnung überhaupt
nicht Gott, sondern seinen zur Frömmelei neigenden Vater ärgern, der habe ihn mit seinem Reden über Gott von Gott weggebracht. Dass er in diese Auseinandersetzung mit seinem Vater
Gott hineingezogen habe, tue ihm nachträglich leid.
Die Schriftsteller müssen vor allem wegen der Inhalte ihrer Schriften büßen und die Theologen
dafür, wie sie ihre Texte präsentierten, und dass sie sich so wenig mühten, sie gefällig anzubieten.
Dass hier eine gänzlich andere Logik für die Rechtsprechung gilt, daran muss ich mich noch
gewöhnen. Ich habe noch immer nicht verstanden, warum einer, der die Leute mit atheistischen
Sprüchen so gereizt hat, dass sie anfingen nachzudenken, nicht strenger bestraft wird, ja eigentlich besser abschneidet als einer, der die Menschen mit frommen Sprüchen so langweilt,
dass sie dabei das Nachdenken aufgeben. Geistige Trägheit scheint schwerer zu wiegen.
Meditationstherapie
Hallo!
Zu meiner und zu unser aller Überraschung kam heute Lenin an, obwohl er bereits seit 1924
tot ist. Er war außer sich, dass ihn irgendwelche Idioten unter den Genossen so lange drunten
festgehalten hatten. „Wer kam bloß auf diese Schnapsidee“, so drückte er sich aus, „mich einbalsamiert auf dem Roten Platz in Moskau in einen Sarkophag zu legen und wie eine Schaufensterpuppe auszustellen! Wollte man meine Verwesung verhindern? Lenin konnte sich
nicht beruhigen und wiederholte immer nur: „Seit 1924 lag ich in einem Mausoleum! Alles vergeudete Jahre! - Legen Sie sich mal“ – sagte er zu uns – „70 Jahre regungslos in einen Sarkophag, um sich täglich wie einen Schimpansen begaffen zu lassen. Wer das nicht erlebt hat, hat
keine Ahnung, wie man sich da vorkommt: wie im Zoo. Das Fegefeuer wird für mich eine Erholung sein im Vergleich zum Roten Platz.“
Er war erstaunt, wie gut man hier über die Zustände auf der Welt Bescheid weiß. Unser Geheimdienst – meinte er - hätte sich da ein Beispiel nehmen können. Was waren das für Stümper!
Die zahlreichen Politiker, die entgegen ihrer Überzeugung den Bürgern eine Gesellschaft, die es
niemals geben kann, versprochen hatten, hatten Glück und nie damit gerechnet, dass man ihnen
ihre Lügen nicht anrechnet. Denn ihre Lügen waren nachweislich so groß, dass der Dümmste
hätte merken müssen, dass es Lügen sind. Man sagte ihnen, dafür wolle man nicht sie verantwortlich machen. Die Leute müssten die Konsequenzen für ihre Dummheit selbst tragen. Außerdem trug zur Entlastung der Politiker die Tatsache bei, dass in ihren Reden kein einziger
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Gedanke von ihnen war und sie die Sätze, die ihnen ihre Redenschreiber aufgeschrieben hatten,
so schlecht abgelesen hatten, dass sie unmöglich verstanden werden konnten.
Fast alle Eheleute machen von ihrem Recht Gebrauch, ihre Ehe nach ihrem Tod nicht fortsetzen zu müssen. Nur gelegentlich bittet einmal ein Ehepaar darum, beisammen bleiben und
die himmlische Seligkeit gemeinsam erleben zu dürfen. In der Gesprächstherapie gewinnt man
den Eindruck, dass es drunten kaum einmal eine glückliche Ehe gab. Mir ist bisher in all den
Wochen, in denen ich hier tätig bin, nur ein Ehepaar begegnet, das nicht erst hier Frieden
schließen musste. Dieses Ehepaar wurde gleich in die Abteilung weitergeschickt, in der sich die
Märtyrer befinden. Als die beiden zögerten, weil sie meinten, das sei wohl ein Missverständnis, erklärte ihnen ihr Schutzengel: „Sich ein Leben lang in Treue auszuhalten sei nicht weniger
wert, als sein Blut für den Glauben zu vergießen.“
Leider muss ich unterbrechen. Georg Friedrich Händel, der Euch ja bekannt sein dürfte,
möchte mit uns Neuangekommenen das „Halleluja“ einstudieren. Vorträge sind hier, im Unterschied zum Singen, nicht erlaubt, weil dadurch die Glücksgefühle beeinträchtigt werden könnten. Jeder hat hier das Verlangen, das was er empfindet, nicht in Worten, sondern in Musik
zum Ausdruck zu bringen.
Fitness-Center
Alle müssen, bevor sie entlassen werden, für die Ekstase vorbereitet werden. Sie müssen zu
Gefühlsregungen fähig sein, die man auf Erden nicht kennt. Vor allem müssen sie jubeln und
außer sich geraten können. Diese Übung bereitet vor allem Arthur Schopenhauer die größte
Mühe, der sich – nach Eurer Zeitrechnung - seit 1860 hier befindet. Er beteuert unentwegt, er
werde niemals die Idee aufgeben, dass der Welt ein unvernünftiges Prinzip zugrunde liegt, und
dass sie die schlechteste aller Welten ist. Der Pessimismus gehöre nun einmal untrennbar zu
seinem Lebenswerk. Es fällt ihm auch schwer zu glauben, dass es die beste aller Welten wirklich gibt, nämlich den Himmel.
Zu meiner Überraschung traf ich dort meine Sozialkunde-Lehrerin, die dabei war, das Lachen
einzuüben und sich Frohsinn anzueignen. Ich war versucht, ihr zu sagen, wie angebracht ich es
halte, dass man ihr gerade diese Übung auferlegt. Bis so eine Stunde vorüberging, das war wie
ein Jahrhundert. - Was ich ihr am meisten ankreide ist, dass Sie uns für Prüfungen, aber nicht
fürs Leben vorbereitete.
Das Jüngste Gericht
Ihr lieben Irdischen!
Heute Morgen erschraken wir alle mächtig, als man uns mit Posaunen weckte.
Als wir aufschauten, sahen wir Scharen von Engeln, die ein Buch, trugen, größer als alle Bücher aller Bibliotheken. Wir standen ängstlich da und zitterten. Ein Engel, wohl der oberste der
Engel, schlug das Buch auf und sagte mit einer Stimme, die lauter war als Donnergrollen: „Jetzt
ist die Stunde da!“ Dann kamen von überall her Schutzengel, so zahlreich wie die Sterne am
Himmel. Einer von ihnen trat vor und sagte: „Wir haben Euch täglich begleitet, sonst hättet Ihr
noch größere Dummheiten gemacht. Aber es war schwer, an Euch heranzukommen. Tagsüber
hatten wir nie Erfolg und auch nachts konnten wir Euch im Schlaf nur selten überreden. Man
musste Euch das Gute mehrmals und anhaltend ins Ohr flüstern. Aber wie oft mussten wir
uns von Euch eine Belehrung über Emanzipation und Selbstbestimmung anhören! Es blieb uns
meist nichts anderes übrig, als die Heimreise unverrichteter Dinge wieder anzutreten.“
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Einige von uns erwiderten: „Wenn Ihr Euch zu erkennen gegeben hättet …“ Andere stotterten: „Wenn wir nicht so beschäftigt gewesen wären …“ Wieder andere klagten: „Wenn wir über unsere Zukunft mehr gewusst hätten! …“ Die Engel wiederholten belustigt das „Wenn,
wenn, wenn“, bis wir endlich schwiegen.
Wir waren darauf gefasst, dass der oberste der Engel eine Drohpredigt hält. Er klappte jedoch zu unser aller Überraschung das große Buch zu, schaute uns mit seinen durchdringenden
Augen an und rief: „Es ist genug! Was war, ist vorbei! Schauen wir lieber nicht in dieses Buch
hinein. Schauen wir voraus!“
Da stimmten wir mit einem Male in allen Sprachen, als hätten wir uns abgesprochen, „Großer Gott, wir loben Dich“ an, das einzige Kirchenlied, das alle kannten. Wir tanzten vor Freude und umarmten uns. Und als dann der oberste der Engel rief: „Jetzt ist es so weit! Wenn
meine Mitarbeiter diese große Wolke da, die die Sicht verdeckt, vor Euch weggezogen haben,
dann seht Ihr endlich klar! Dann ist die Sicht auf Gottes Herrlichkeit frei!“
Da konnten wir uns nicht mehr beherrschen und brachen in einen so unbeschreiblichen Jubel
aus und sangen das Alleluja so laut, dass das ganze Weltall dröhnte. Ich zittere noch immer vor
Erregung. Ich kann nicht mehr zurückblicken in die Vergangenheit und mich nicht mehr für die
Erde interessieren. Ich kann unmöglich weiter schreiben, weil ich nur noch nach vorne schauen
kann. Die Spannung steigert sich. Ade Ihr Irdischen! Es ist meine letzte Mail, die ich Euch
schicke. Beeilt Euch und kommt bald nach!
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