REISE AUF DEM BERÜCHTIGTEN MANALI-LEH-HIGHWAY NACH LADAKH 8 GLOBETROTTER-MAGAZIN WINTER 2015 NORDINDIEN Die Strasse führt über die höchsten Pässe der Welt und hat einen denkbar schlechten Ruf. Immer wieder gehen Erdrutsche nieder und verschütten die Fahrbahn. Lastwagen bleiben stecken oder stürzen gar in den Abgrund. Auch für die Reisenden Jörg Kersten und seine Partnerin Eva wird die Reise nach Ladakh zu einer Fahrt voller Hindernisse und Überraschungen. Gut, dass die beiden einen entschlossenen Fahrer haben und Ideen, wie sie die unfreiwilligen Wartezeiten überbrücken können. Mit Verspätung kommen sie schliesslich doch noch heil in Leh an. TEXT UND FOTOS: JÖRG KERSTEN 9 S tanzin ist ein guter Fahrer und unglaublich bestimmt, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Stanzin packt die Dinge an, ohne zu zögern. Den Herausforderungen des Manali-Leh-Highways jedenfalls scheint unser Chauffeur gewachsen zu sein. Gleich am Morgen des ersten Tages unserer Tour quer durch den indischen Himalaya lernen wir die Durchsetzungskraft kennen, die in dem jungen Ladakhi steckt. Denn kaum fünfzig Kilometer hinter Manali findet unsere Reise vorerst ein jähes Ende. Kilometer um Kilometer stauen sich indische Lastwagen die Serpentinen zum RohtangPass hinauf. Eine schier unendliche Schlange von schwer beladenen Transportern und Tanklastzügen verstopft die Strasse. Regen und Schnee der vergangenen Tage haben unterhalb der Passhöhe einen Erdrutsch ausgelöst. Der Weg über den Rohtang, den Leichenberg, wie er wegen der vielen Unfälle auch genannt wird, ist blockiert. Wir stöhnen auf. Der Pass, der eine Höhe von 3978 Metern erreicht, ist die einzige Verbindung zwischen den tiefer gelegenen indischen Bundesstaaten im Süden und der Bergregion von Ladakh. Er ist die empfindlichste Stelle des National Highway 21. Zurück ins Tal. Stanzin zögert nicht. Er hupt sich vorbei an den gestrandeten Ungetümen, schiebt sich nur Zentimeter dem Abgrund entlang, fährt Slalom um wartende Menschen und kommentiert deren Protest mit selbstbewusster Stimme. Stanzins nahezu gewaltsames Vorgehen ist uns furchtbar peinlich. Tief in den Sitz gedrückt, tun wir so, als seien wir gar nicht da, und hoffen still, nicht vom aufgebrachten Mob gelyncht zu werden. Unmissverständlich macht Stanzin den nörgelnden und staunenden Indern klar, dass die Bleichgesichter, die er nach Leh zu kutschieren hat, unglaublich wichtig sind. Tatsächlich verstummen diejenigen, die die Drängelei unseres Fahrers meckernd kritisierten, schnell. Selbst die widerspenstigen Naturen unter den Lastwagenfahrern sehen sich auf wundersame Weise genötigt, ins Führerhaus ihrer schweren Karren zu klettern, um den muckenden Dieselmotor anzuwerfen. In einer blauschwarzen Abgaswolke helfen jetzt sogar die Herumstehenden mit viel Geschrei: «Rechts, nein, ein Stück vor, weiter rüber…!» Mithilfe der Anweisungen gelingt es schliesslich, für uns ein paar Zentimeter Strassenbreite mehr zu gewinnen. Natürlich wollen wir von Stanzin wissen, wie er es schafft, selbst die härtesten Kerle unter den Lkw-Fahrern aufzuweichen. Lachend verrät er uns in knappem Englisch sein Geheimnis: «Ich sage denen einfach, dass ihr eine Verabredung zum Tee habt mit dem Premier von Ladakh.» 10 Tatsächlich sind wir in Leh verabredet, aber nicht mit dem Bürgermeister oder Premier, sondern mit Wanchuk. Wanchuk Shali besitzt ein kleines Reisebüro in Leh, organisiert Touren und kümmert sich rührend um all jene, die die Himalayaregion entdecken wollen. Wir kennen den sympathischen Mann schon seit Jahren. Er surft auf unserer Couch, wenn er auf der Touristikmesse in Berlin Werbung für sein kleines Trekkingunternehmen macht. Aus der Bekanntschaft mit ihm ist eine Freundschaft entstanden. «Ist doch klar, dass euch Stanzin in Manali abholen wird», hatte er uns am Telefon gesagt. Für Wanchuk war es geradezu Ehrensache, seinen Neffen Stanzin mit dem Geländewagen nach Manali zu schicken, um uns abzuholen. «In einer Woche dann zum Tee in Leh!», verabschiedeten wir uns scherzend am Telefon, nicht ahnend, dass es mit unserer Verabredung so schnell nichts werden würde, denn jetzt hängen wir zwischen bunt bemalten indischen Brummis fest. Stanzin gibt sich nicht geschlagen. Er setzt sich fünf Kilometer weiter oben an die Spitze der Kolonne. Das, was wir aber von dort aus durch die Nebelfetzen ausmachen können, ist ein Desaster. Der Hang oberhalb der Passstrasse ist abgerutscht. Der Weg ist durch Schlamm und Geröll blockiert. In der Mitte, von riesigen Felsbrocken schwer getroffen, hängt ein Tanklastwagen über dem Abgrund und droht fünfhundert Meter tief hinabzustürzen. Der verantwortliche Leiter der Border Roads Organisation, Mr. Doon, befindet sich an Ort und Stelle. Er klärt uns über die Lage auf. «Wir haben», so sagt er, «schweres Gerät der Armee aus Manali angefordert. Wenn die da sind, ziehen wir den Tanklastzug auf die Strasse. Bis dahin aber wird geschaufelt.» Auf unsere Frage, wie lange es denn dauern wird, den Pass frei zu machen, wackelt er vage indisch mit dem Kopf und meint: «Bis heute Abend.» Skeptisch beobachten wir einen kleinen Trupp von Bauarbeitern, der die heikle Aufgabe hat, trotz drohendem Steinschlag die Gerölllawine von der Strasse zu räumen. «Das schaffen die doch nie bis heute Abend», kommentiere NORDINDIEN ç í ë Zu Fuss unterwegs. Im Kullu-Tal lässt sich gut auf die Räumung der Strasse warten. Fahrer Stanzin. Mutig und entschlossen. Aus dem Tal. Essen für die Gestrandeten. Blockade. Kein Weiterkommen möglich. ich die kläglichen Versuche, mit ein paar krummen Schaufeln und Spitzhacken den Berg aus Schutt und Dreck kleiner zu machen. Unterdessen entwickelt sich ein eigener Wirtschaftszweig. Die Dörfler aus dem Tiefland versorgen die Gestrandeten oben am Pass, indem sie Bohnenbrei und Chapatis (Fladenbrote) anschleppen. Im Nu entstehen, wie aus dem nichts, Garküchen. In grossen Bottichen wird Reis geköchelt. Teewallahs bieten Truckfahrern und Buspassagieren heissen Chai an, der in der kalten Höhenluft köstlich schmeckt. Ein paar Serpentinen weiter unten wird der Weitertransport mit Pferden organisiert. Jan und Helge, zwei Veloreisende aus Holland, nutzen die Gelegenheit und lassen ihre Fahrräder für gutes Geld auf Ponyrücken schnallen. «Wir treffen uns bestimmt unterwegs wieder», rufen sie uns zu, bevor sie sich einreihen in den Treck jener, die den Erdrutsch auf gefährlichen Trampelpfaden umgehen wollen. Es wird Nacht und immer kälter. Da vom angekündigten schweren Räumgerät weit und breit nichts zu sehen ist und uns Höhenkopf- schmerzen plagen, beschliessen wir, Richtung Manali zurück ins Dorf Vashisht zu fahren, um dort zu übernachten. Abwechslungsreiches Warten. Im Hotel Val- ley View finden wir Quartier und im Besitzer Kuldeep Chauhan – so will es die Fügung – einen Mann, der sich seit Jahren für den Ausbau der Passstrasse starkmacht. Als Reporter vor Stanzin hupt sich vorbei an den gestrandeten Ungetümen – nur Zentimeter dem Abgrund entlang. Ort hat er für die «Chandigarh Tribune» schon viele Artikel über den desolaten Zustand der Bergstrasse verfasst. «Stellt euch vor, jeden Tag quälen sich 2000 Fahrzeuge über den RohtangPass. Wenn der zu ist, sind Keylong, Lahaul, Spiti, Ladakh – die ganze Region – vom Rest Indiens abgeschnitten. Und ihr werdet sehen, es wird Tage dauern, bis ihr hier wegkommt.» Mein Foto vom Tanklastzug, der, vom Erdrutsch getroffen, wie ein totes Tier über dem Abgrund hängt, begeistert ihn so sehr, dass er noch am selben Abend ins drei Kilometer entfernte Manali fährt, um es der Redaktion der «Tribune» in Chandigarh zu übermitteln. Kuldeep Chauhan sollte recht behalten. Eine Woche lang müssen wir uns gedulden, bis wir den Himalaya-Highway befahren können. Allerdings hätten wir uns in dieser Lage keine bessere Gegend aussuchen können. Manalis Distrikt gilt unter Indern als Sommerfrische. Wir wandern im Kullu-Tal, bewundern die schmucken Gehöfte mit den geschnitzten Holzbalkonen und geniessen den Ausblick auf die Schneegiganten des Himalaya, die für uns nach wie vor unerreichbar sind. Junge Touristen aus Europa treffen sich im World Peace Café, essen im billigen Shiva Garden Restaurant oder betrachten von der Terrasse des Valley View aus die Landschaft. Viele von ihnen sind allein am Marihuana interessiert, das jetzt in voller Blüte steht. «Wo sonst auf der Welt kannst du das Zeug am Strassenrand einfach ausrupfen und kiffen?» Marian aus Köln ist begeistert. «Die heiligen Kühe müssen ständig stoned sein», meint er versonnen und gibt seinem Joint in Moms Kitchen öffentlich und ganz ungeniert das nötige Feuer. WINTER 2015 GLOBETROTTER-MAGAZIN 11 Während Marian ganz relaxed sein Gras geniesst, brennen wir vor Ungeduld. Erst am sechsten Tag informiert uns Mr. Chauhan darüber, dass der RohtangPass zwar weitgehend geräumt sei, der verunglückte Tanklastwagen aber noch immer die Strasse blockiere. Er fordert mich auf, denen da oben am Pass mal zu sagen, dass es so nicht weitergeht, und wählt die Nummer von Mr. Doon. Dann reicht er mir sein Handy. «Good morning Mr. Doon, this is breiter, matschiger Pfad. Nicht auszudenken, wenn wir auf dem schmierigen Lehm ins Schlittern geraten – zum Abgrund hin hält uns jedenfalls keine Planke. Von oben kullern auch schon wieder Felsbrocken herab. Wir müssen uns beeilen. Stanzin legt den Gang ein und fährt los. Der Geländewagen quält sich, von vier Rädern getrieben, durch den Matsch. Wenn wir hängen bleiben, so denke ich noch, kommen wir aus dem Schlamm nicht mehr raus. Eine gefühlte Ewigkeit schlittern wir dem Abgrund entlang. «Jetzt bloss kein Steinhagel von oben!» Eva neben mir spricht es aus wie ein Stossgebet. Die Erleichterung, als wir den festen Boden drüben erreichen, ist gross. Die Schaulustigen reissen die Arme hoch und kreischen. Ausser sich vor Freude klopfen die Gestrandeten begeistert auf die Motorhaube unseres Wagens und rennen noch ein Stück neben dem Wagen her, um uns zu gratulieren. «So müssen sich die Leute in den Trabis gefühlt haben, als die Mauer fiel!», sage ich zu Eva und bin total erleichtert. Als Kopilot wache ich über das Tun von Stanzin, der in der Dunkelheit nach Wegmarken sucht. Mr. Kersten from Germany!» So stelle ich mich Tanklastwagen ins Tal hinab. Nach sechs Tagen telefonisch dem Kommandeur des Bautrupps ist die Strasse endlich frei. vor. Mit gewichtigem Ausdruck in der Stimme Unser Fahrer will es sich nicht nehmen lasmache ich dem Herrn klar, dass doch nicht eine sen, als Erster den Rohtang zu überqueren. Geganze Region verhungern könne, nur um einen spannt steht das Volk auf beiden Seiten und zerbeulten Lkw zu retten. Ausserdem seien guckt. Eine unglaublich schlammige und glitmeine Frau und ich mit dem Premier von Laschige Piste liegt zwischen uns und denen da drüben. In den Spurrinnen des Baggers stehen dakh zum Tee verabredet und der warte nun Pfützen. Der National Highway Nr. 21 ist im mal nicht gerne. Es folgt ein langes Schweigen. Moment nicht viel mehr als ein kaum fahrzeugDer hat aufgelegt, denke ich, höre dann aber, wie Mr. Doon sich räuspert und hüstelt, bevor er verspricht, uns MA NA LI – LE H noch heute die Durchfahrt zu erLeh möglichen. Thikse-Kloster L A D A Taglang-Pass H (5317 m) Indus Lachalung-Pass (5050 m) INDIEN Sarchu Baralacha-Pass (4890 m) Kunzum-Pass S P I ç KyeKaza Kloster TaboDhankarKloster Kloster Kullu ç Vashisht I ç (3978 m) (4550 m) T Rohtang-Pass ç ç ç Keylong Manali 12 K Erzürnte Götter. Stanzin stürmt den Rohtang-Pass zum zweiten Mal in schon bekannter Weise. Nichts und niemand kann ihn davon abhalten die beträchtlich angewachsene Fahrzeugkolonne zu passieren, um ganz vorne mit dabei zu sein, sobald eine Durchfahrt möglich ist. Wir können es kaum glauben, aber am Mittag schiebt eine Planierraupe den Schnell begreifen wir, dass eine Reise auf dem Himalaya-Highway eine ständige Herausforderung ist. Noch ehe die Sonne hinter den ersten Eisriesen versinkt, erreicht uns die Nachricht, dass die Brücke bei Tandi, eine der wichtigsten Querungen des Lahaul-Tals, durch das Unwetter schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Im Moment, so erfahren wir bei einem Stopp, bildet sich dort der nächste Stau. Die Instandsetzung des Bauwerks kann Tage dauern. Offenbar sind die Götter des Himalaya erzürnt. Sie stellen uns vor die Wahl, entweder über den glitschigen Rohtang-Pass zurück nach Manali zu schlittern oder über hohe Pässe ins ehemalige Königreich Spiti zu fahren, um dort für die nächsten Tage eine Unterkunft zu finden. Wir entscheiden uns für Spiti, denn unvorhergesehene Umwege, CHINA so lehrte uns die Erfahrung, sind oft die besten. Als wir die Abzweigung nach Spiti erreichen, ist Nacht. Was wir dann auf der Weiterfahrt im Kegel der Scheinwerfer von der Strecke sehen können, Reiseroute der Autoren NORDINDIEN ist wenig vertrauenerweckend. Reissendes Schmelzwasser kreuzt die Piste. Offenbar schrauben wir uns in die Höhe, denn irgendwann stehen links und rechts der Strasse Mauern aus Schnee und Eis. Wir ahnen, dass wir uns dem 4550 Meter hohen Kunzum-Pass, dem Zugang nach Spiti, nähern. Stanzin sucht, weit nach vorn gebeugt, nach Wegmarken. Wenn sich die Piste gabelt, fragt er nach unserer Meinung, denn seit Stunden ist keine Menschenseele mehr zu sehen, die man um Auskunft bitten könnte. Und Stanzin selbst war noch nie in der Gegend. Als Kopilot wache ich über das Tun unseres Chauffeurs, bis wir vollkommen übermüdet gegen 4 Uhr morgens endlich Kaza, den Hauptort Spitis, erreichen. Es dauert aber noch seine Zeit, bis wir, von Hofhunden angebellt, Einheimische davon überzeugen können, uns zu dieser Stunde ein Bett zur Verfügung zu stellen. Weltabgeschiedene Klöster. Spiti ist eine Bergwüste, grau und braun in der Farbe, praktisch ohne Vegetation – menschenfeindlich. Die ç ê ë Spektakulär. Terrassierte Felder um Dorf und Kloster Dhankar am Spiti-Fluss. Neugierig. Besucher sind willkommen. Dorfleben in Spiti. Der Abstecher lohnt sich. Buddhistische Nonnen. Freude am Bild. Bauern der weit verstreuten Gehöfte leiten die Schmelzwasser der Gletscher auf ihre schmalen Äcker und bauen Buchweizen, Erbsen und Gerste an – das, was in grosser Höhe auf kargen Böden noch wächst. Das wenige Grün, das uns in Spiti angenehm ins Auge fällt, stammt von Menschenhand. Die Bewohner haben ein paar Pappeln und Weiden um ihre Häuser gepflanzt. Trotz dieser herben Lebensbedingungen wohnen etwa 10 000 Menschen hier. Das ist viel, angesichts der wenigen Oasen, die ein Überleben sichern, und wenig, gemessen an der Fläche des Landes. Spiti hatte bis vor Kurzem noch die höchste Mönchsdichte im ganzen Himalaya. Die Klosterbrüder und Nonnen leben in 21 Gemeinschaften auf 30 Klöster verteilt. Einer der Mönche, die wir kennenlernen, heisst Tashi. Der junge Mann begegnet uns neugierig interessiert, denn die Anzahl der Touristen, die die Klöster Spitis wegen ihrer Kulturschätze besuchen, ist nach wie vor begrenzt. Tashi kam schon als Fünfjähriger ins Kloster Tabo. Nach seiner Ausbildung dort hat er sich entschlossen, als Mönch im Kloster zu bleiben, denn für ihn als jungen Mann gab es sonst nur die Alternative, mit seinem verheirateten Bruder die Frau zu teilen. Tashi führt uns durch die Klosteranlage, die bereits gebaut wurde, als Spiti zu Tibet gehörte. Im 10. Jahrhundert war Spiti ein Teil des tibetischen Königreiches Guge. Damals herrschte der berühmte König WINTER 2015 GLOBETROTTER-MAGAZIN 13 Yeshe-Ö, und der Buddhismus in Westtibet erlebte ein goldenes Zeitalter. Tashi bringt uns in die düsteren Kammern seines Klosters. Mit Taschenlampen leuchten wir kunsthistorische Schätze ab. Die Lehmfiguren und Wandmalereien sind meisterhaft in Gestaltung und Farbe. Mit kühnem Pinselstrich, minutiös, raffiniert und genau, dokumentierten kashmirische Künstler im Auftrag Yeshe-Ös vor tausend Jahren Buddhas Leben und Lehre. Während wir eher aus Neugier hinauf zu den Klöstern steigen, scheint Stanzin während der ganzen Zeit auf Wallfahrt zu sein. In religiöser Hinsicht, so sagt er, könne er in Spiti eine Menge Verdienste sammeln. Tatsächlich umrundet er murmelnd jede Stupa und jeden Lhadho, aus Steinen geschichtete Wohnorte guter Geister und Schutzgötter am Strassenrand. Unser junger Fahrer wirft sich in den Tempelkammern vor den Gottheiten des buddhistischen Pantheons nieder und lauscht demütig, mit seinem Basecap in den Händen, dem Rest der Welt Ade zu sagen. Gut gelaunt packen wir unsere Sachen, denn von Wanchuk erhalten wir die Nachricht, dass im Moment auf dem Manali-LehHighway keine Hindernisse mehr zu erwarten seien. Schraubenschlüssel gesucht. Lastwagenfahrer. Harter und gefährlicher Job. Gegenverkehr. Ausweichmanöver gelingen immer irgendwie. é Strassenküche. Willkommene Pause. éé éé den Legenden und Wundergeschichten, die die Lamas von Klöstern und Heiligen erzählen. Dhankar in 3890 Metern Höhe ist ein Adlernest im Gebirge. Es gibt kaum einen Ort, der weltabgeschiedener ist. Im Kloster gibt es eine Meditationshöhle. In dem dunklen Gewölbe, so sagen uns die Mönche, habe so mancher Ordensbruder über Jahre allein und meditierend die Erleuchtung erlangt. «Möchtest du nicht bleiben? Die Höhle ist gerade frei!» Obwohl die Mönche uns ungeahnte spirituelle Erfahrungen versprechen, steht uns nicht der Sinn danach, für Monate oder gar Jahre 14 Den Kunzum-Pass passieren wir jetzt in umgekehrter Richtung bei Tag. Stanzin steuert den Wagen auf der Passhöhe jubelnd mehrmals im Uhrzeigersinn um die mit Gebetsfahnen geschmückten Stupas, weil das Glück bringen soll. Wir erlauben uns eine Pause in der wärmenden Sonne und geniessen die Szenerie: Vor uns stehen die 7000 Meter hohen Eisgiganten der Bara-Shigri-Bergkette. Die Gebetsfahnen flattern im Wind vor strahlend blauem Himmel. Ein Schäfer hütet seine Herde auf grüner Alm. Er winkt uns noch lange nach, bevor wir ihn aus dem Blick verlieren. Gegen Abend erreichen wir Keylong, das Verwaltungszentrum des Lahaul-Tals. Im Gegensatz zu Spiti ist Lahaul dem Monsun ausgesetzt und präsentiert sich uns daher vergleichsweise grün. In den Tälern entlang der Flüsse Chandra und Bhaga bauen die Bewohner auf terrassierten Feldern Gemüse und Gerste an. Es regnet aus dem Nebel, der den Blick auf die umliegenden Berggipfel verdeckt. Wir schlittern auf feuchten Feldwegen hinein in kleine Dörfer, deren Namen ausserhalb Lahauls keiner kennt. Schnell sind wir umringt von Frauen, Männern und Kindern, die selten das Dorf verlassen und uns als Sensation begreifen. Der natürliche Charme, mit dem sie die Begegnung meistern, macht uns seltsam ungelenk. Sie laden uns ein auf einen Buttertee in die armseligen verschachtelten Häuser, deren Wände aus Lehm und aufgeschichteten Felsbrocken gemauert sind. Für uns wirkt da jener hektische Tourist, der in Keylong ein grosses Geschrei ablässt, weil er im Ort keinen Bankomaten findet, fehl am Platz. Wir folgen der Strasse nach Norden. Das Terrain wird wieder trockener. Trostlose Geröllhalden langweilen das Auge, bis kurz vor Zingzing-Bar auf 3850 Meter zwei Gestalten in der Ferne unsere Aufmerksamkeit erregen. Jan und Helge auf ihren Mountainbikes haben es tatsächlich schon bis hierher geschafft. Die Verfassung der beiden Holländer ist allerdings bedenklich. Sie sind körperlich und psychisch ziemlich am Ende. Jan leidet an Sonnenbrand. Die krebsrote Haut auf Nase und Wangen ist schorfig eitrig. Vier Tage lang lagen sie, dehydriert und von Durchfall geplagt, im Minizelt irgendwo am Strassenrand. «Der Wasserhaushalt stimmt einfach nicht. Aber noch mehr Wasserkanister können wir nicht transportieren.» Helge hat genug vom Staub und Dieselruss der Lkws, die hautnah vorbeirumpeln. «Das Hupen der indischen Truckfahrer ist echt nervig und geht durch Mark und Bein. Vor Schreck haut es dich glatt vom Rad.» Zum Beweis präsentiert uns Helge seine aufgeschürften Knie. Stolz sind sie aber dann doch über ihre bisherige Leistung. Trotz der Strapazen sind die beiden Sportsfreunde zuversichtlich, es bis Leh zu schaffen. Die höchsten Bergpässe liegen noch vor ihnen. Selbst die PS-starken Motoren der Lastwagen husten und stottern in der dünnen Luft. Indische Bauarbeiter schuften in den Sommermonaten unter erbärmlichen Bedingungen an der Strasse. Mit ihrer für Leh und Srinagar bestimmten Fracht schrauben sie sich, eine schwarze Russfahne hinter sich herziehend, zum 4845 Meter hohen Baralacha-Pass hinauf. Wir fahren ständig in der Angst, dass ein liegen gebliebenes Ungetüm die schmale Bergstrasse blockieren könnte. Der Motorschaden eines Lkw könnte uns sogar zur Umkehr zwingen. NORDINDIEN è Farbtupfer. Der Manali-Leh-Highway windet sich durch die Felswüste des Himalaya. Wolliges Verkehrshindernis. Das kann eine Weile dauern. Kurz vor der Passhöhe steht tatsächlich ein Karren mit geplatzten Reifen mitten auf der Strecke. Die beiden Fahrer lümmeln untätig im Führerhaus. Sie haben zwar einen Ersatzreifen dabei, aber keinen Schraubenschlüssel, um den kaputten zu wechseln. Wir füllen die Rinne am Strassenrand mit Steinen auf und fahren mit eingeklappten Aussenspiegeln äusserst knapp am gestrandeten Lkw vorbei. Geschafft! Dutzend andere Lastwagen, die herankeuchen, müssen warten, bis einer kommt, der den passenden Schlüssel mit sich führt. Hartes Leben. Wir überqueren die zentrale Himalayakette, die vor 60 Millionen Jahren beim Zusammenprall von Indien und Nordasien entstand. Wind, Wasser, Eis, Erdrutsche, Lawinen und Beben schufen in der Knautschzone der Erdplatten mit der Zeit tiefe Schluchten und spitze Berge. Wir können uns kaum sattsehen an den skurrilen Formen und Farben der Landschaft. Hinter dem Baralacha-Pass wohnt keiner mehr. Die Landschaft ist hier ohne jede Vegetation, zerklüftet, trocken und rau. Diejenigen, die dennoch da sind, arbeiten auf Zeit am Highway 21, weil ihnen dies die Not diktiert. Indische Bauarbeiter schuften hier in den Sommermonaten unter erbärmlichen Bedingungen. Viele der dunkelhäutigen Arbeiter stammen aus Bihar, einer der ärmsten Regionen Indiens. Sie hausen irgendwo im Nichts am Strassenrand und halten die Strecke, so gut es eben geht, in Schuss. Es gibt kaum Maschinen, die ihnen die Arbeit erleichtern. Die Frauen zertrüm WINTER 2015 GLOBETROTTER-MAGAZIN 15 mern mit dem Hammer den ganzen Tag Felsbrocken, um Kies zu machen. Die Männer hacken, schaufeln und asphaltieren, während ihre Kinder Schutt in Körben auf dem Kopf zum Strassenrand schleppen, um ihn über die Kante hinunter ins Nichts zu kippen – den ganzen Tag. Und immer sind die Bautrupps den Wetterkapriolen des Hochgebirges und dem Dieselruss der vorbeidonnernden Lastwagen ausgesetzt. Angesichts solcher Szenen ist der Luxus in unserem gemieteten Zelt in Sarchu ein Schock. Es gibt ein Bett mit warmen Decken und sogar eine Toilettenschüssel. Sarchu, auf 4130 Metern Höhe gelegen, ist Übernachtungsplatz für alle, die auf dem Manali-Leh-Highway unterwegs sind. Mit Beginn des Sommers werden die Camps vor der Kulisse gezackter Eisriesen aufgebaut. Die Aussicht auf das grandiose Tal des Tsarap-Flusses bei Sonnenuntergang ist gewaltig, die Nacht danach aber schneidend kalt. Wir rücken zum Essen im Versorgungszelt eng zusammen – die indischen Passagiere eines Busses aus Manali, die 16 GLOBETROTTER-MAGAZIN WINTER 2015 Jungs einer Motorradclique aus Delhi und ein Grüppchen Velofahrer aus Österreich, die gesichert von einer Kolonne Begleitfahrzeuge den Himalaya queren. Beim gemeinsamen Essen wird nicht viel gesprochen, denn jeder hat seinen eigenen Film vom Reisetag im Kopf. Vor dem Einschlafen denke ich an die indischen Bauarbeiterfamilien, die jetzt nach einer kargen Mahlzeit unter ihren zugigen Plastikplanen frieren. Doch keiner von ihnen wirkte mürrisch, sie winkten eifrig und lächelten, wenn sie uns sahen. NORDINDIEN Wiedersehen mit Wanchuk. Ladakh bedeutet «Land der hohen Pässe». Einer davon ist der 5317 Meter hohe Taglang-La. Er ist der höchste Pass unserer Route und der zweithöchste befahrbare Pass der Welt. Oben ist es kalt und windig, aber alle halten hier, um einen Blick auf den noch fernen Karakorum zu werfen und ein Foto zu machen. Den Göttern so nah, ordnet Stanzin die Gebetsfahnen, die sich im Sturm verheddert haben. Und sinkt dann drei Mal im Gebet auf die Knie. Zum Dank für die bisher gut verlaufene Reise, sagt er später. Wie Leuchttürme nach langer stürmischer Fahrt erscheinen uns die ersten schneeweissen Chörten, die uns in den Dörfern des oberen Indus empfangen. Das Indus-Tal, anfangs noch zerklüftet und schmal, weitet sich zu einer landwirtschaftlich genutzten Ebene. Ladakh, das indische Tibet! Es scheint, als würden uns die flatternden, bunten Gebetsfahnen auf den flachen Dächern der Häuser willkommen heissen. Stanzin ist kaum zu bremsen. Für unseren Geschmack viel zu schnell rast er auf der jetzt gut ausgebauten Strasse durchs Industal. é Wie Perlen an einer Kette reihen sich die ladakhischen Siedlungen dem Fluss entlang. Schon bald sichten wir die namhaften Klöster Hemis, Stakna, Thikse und Shey – die ersten von unzähligen buddhistischen Anlagen, die in Ladakh zu besichtigen sind. Die Region um die Hauptstadt Leh ist die kulturell reichste im Westhimalaya. Gerade in den Sommermonaten zieht es Reisende aus aller Welt in die Stadt. Alte und neue Hippies, Globetrotter und Reisegruppen bevölkern den Ort. Die zahlreichen Guesthouses, Shops, Internetcafés und Restaurants sind gut besucht. Nach den Eindrücken der letzten Tage wirkt eine solch ungewohnte Ansammlung von Touristen auf uns ziemlich fremd. Schnell aber geniessen auch wir die Vorzüge touristischer Infrastruktur: Wir bummeln Der neun Kilometer lange Tunnel durch den Rohtang soll im Jahr 2017 fertig sein. über die tibetischen Souvenirmärkte und geniessen köstlichen Kuchen im Garten der German Bakery. Trotz des Rummels, den der Fremdenverkehr mit sich bringt, hat die Stadt einen besonderen Charme bewahrt. Besonders am Abend bei Sonnenuntergang ist die Atmosphäre in Leh einzigartig. Es ist die Zeit, in der sich die Gassen der Altstadt füllen. ç í Ziel erreicht. Autor Jörg Kersten beim Königspalast hoch über den Dächern von Leh. Wie in Tibet. Chörten im Industal. Ladakh. Klosteranlage von Thikse. Das Gewimmel verschiedener Volksgruppen erinnert daran, dass Leh ein bedeutender Handelsplatz am Schnittpunkt alter Karawanenwege war. Über der Altstadt thront, von der Abendsonne angestrahlt, der neunstöckige Königspalast, der im Baustil an den Potala von Lhasa erinnert. Das Wiedersehen mit Wanchuk ist herzlich. Wir plaudern beim Tee über das Erlebte und präsentieren ihm gleich die entsprechende Diashow. Stanzin indes lässt sich nicht mehr zu einem Abschiedsessen in einem der Dachrestaurants der Stadt überreden. Für ihn, wie für uns, war die Reise über die Gebirgsketten des Himalaya ungewöhnlich lange. Ihn treibt das Heimweh nach Hause. Seine Frau, so sagt er, habe sich grosse Sorgen gemacht. Zum Abschied versprechen wir, seine Familie in Basgo, das 40 Kilometer entfernt liegt, zu besuchen, wenn wir wieder in der Gegend sind. Am Abend diskutieren wir mit Wanchuk über das Projekt der indischen Regierung, das auf dem Manali-Leh-Highway den Göttern ein Schnippchen schlagen will. Mithilfe eines österreichischen Baukonzerns wird an einem neun Kilometer langen Tunnel durch den Rohtang gebaut. Das Mammutprojekt soll nach Verzögerungen nun im Jahr 2017 fertig sein. Wir sind uns aber einig, dass eine Fahrt von Manali nach Leh auch nach Eröffnung des Tunnels eine abenteuerliche Reise durch den Wohnort der Götter bleiben wird. [email protected] © Globetrotter Club, Bern Nervige Soldaten. Am folgenden Tag überqueren wir die Grenze zu Ladakh. Das Wetter ist gut. So müssen wir keinen Erdrutsch fürchten. Und dennoch bleiben wir für Stunden im Gebirge hängen. Ein Armeekonvoi blockiert den Weg zum 5050 Meter hohen LachalungPass. «Donkeys», stöhnt Stanzin und stellt den Motor ab. Er mag die Soldaten gar nicht, die in Ladakh stationiert sind und ihre Armeefahrzeuge spazieren fahren. «Schaut sie euch an, die parken mitten auf der Strasse!» Stanzin hupt, steigt aus und verhandelt – vergebens. Die Soldaten zeigen sich störrisch. Sie fühlen sich als Herren der Strasse, weil sie im sensitiven Grenzgebiet zu Pakistan und China Wache schieben. Mit all unserem Charme versuchen wir, die Fahrer dazu zu bringen, ihre Mannschaftswagen zur Seite zu rangieren, damit wir passieren können. Aber kaum haben wir einen der Männer im Tarnanzug dazu überredet, ans Lenkrad zu greifen, steht schon das nächste grüne Monstrum vor unserer Motorhaube. Angesichts der Übermacht von etwa dreissig Lastzügen geben wir schliesslich auf und rufen demonstrativ und laut «Hilfe!» ins Tal – natürlich umringt von den Kriegern, die die seltene Gelegenheit nutzen, diese blassen Europäer einmal ganz aus der Nähe zu betrachten. Und siehe da – es hilft. «Nach Leh werden wir es heute nicht mehr schaffen», sagt Stanzin. Dabei hatte er sich schon so gefreut. «Ich verspüre immer Heimweh, wenn ich diese Fahrten mache», sagt er, «aber so lange wie jetzt war ich noch nie von zu Hause weg.» Die Nacht, die wir in einem der Versorgungszelte am Weg verbringen müssen, wird unruhig. Ständig halten Lastwagen mit kreischenden Bremsen an. Bärtige Männer in Pluderhosen aus Kashmir oder dem Punjab fordern auch zu später Stunde noch etwas zu essen oder zu trinken. 17 ZUHAUSE UNTERWEGS BLEIBEN Das Globetrotter-Magazin als Geschenküberraschung zu Weihnachten oder zum Geburtstag! Für 35 Franken pro Jahr liegt die Reisezeitschrift für Weltentdecker alle drei Monate im Briefkasten des Beschenkten. Authentische Reisereportagen, Interviews, Essays, News und Tipps sorgen für Inspiration und viel Lesevergnügen. Ein Geschenk, das vier Mal pro Jahr Freude bereitet. mein Reisemagazin Für 35 Franken pro Kalenderjahr liegt das Magazin mit exklusiven Reisereportagen, Interviews, Essays, News und Tipps alle 3 Monate im Briefkasten. 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