Meeresstille, Gelassenheit und Loslassen – über den Begriff der

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Meeresstille, Gelassenheit und Loslassen –
über den Begriff der geistigen Stille
im Laufe der Kulturgeschichte
SABINE MECK
Soziologin und Psychologin,
Dr. rer. soc. und Dr. phil., Arbeiten
u.a. zu Glück und Gelassenheit, Hochschullehrerin an der
Steinbeis-Hochschule Berlin,
Psychotherapeutin
Kontakt:
[email protected]
www.forschung-sti.de
www.psychotherapie-barnim.de
Die Autorin zeichnet in ihrem Beitrag diverse Auffassungen von geistiger Stille, innerer Ruhe
und Gelassenheit nach, wie sie sich in verschiedenen Epochen und Kulturen entwickelt haben.
Die Traditionslinien verlaufen über spirituelle und philosophische Strömungen Altindiens, des
Buddhismus, der griechisch-römischen Antike und der christlichen Mystik und reichen im Kern
bis zum gegenwärtigen Verständnis von Gelassenheit als aktivem, bewusstem Wahrnehmen und
Loslassen-Können.
Mit innerer, geistiger Ruhe ein im philosophischen und praktischen Sinn gutes Leben zu führen – das ist seit jeher eine grosse Sehnsucht
des Menschen. Wir können sie sogar als anthropologische Konstante bezeichnen, denn sie
offenbart sich seit Jahrtausenden in unzähligen
Überlieferungen aus allen Regionen der Welt. In
unsere moderne, westliche Kultur und Sprache
übersetzt, richtet sich diese Sehnsucht auf eine
souveräne, achtsame Haltung gegenüber unseren Daseinsäusserungen und Beziehungen zu
anderen samt der Meisterung von Problemen
und Krisen. Sie zielt zudem auf die Fähigkeit
sowohl zu (mit-)empfindender Öffnung als auch
zu adäquater Distanzierung. Eine solche Haltung
innerer, geistiger Ruhe – deren Vollendung wir
Gelassenheit nennen – verspricht ein von äusseren Bedingungen unabhängiges, verlässliches
und vor allem lang andauerndes Glück.
«Samadhana»: stilles Versenken
Geistige Ruhe gilt seit Jahrtausenden als eines der
höchsten Ziele spiritueller Meisterschaft. In den
altindischen Schriften bezeichnet im Sanskrit
«Samadhana» zunächst die höchste Konzentration auf Brahman (d.h. den unveränderlichen,
unendlichen und ewigen Urgrund), aber auch
vollkommene geistige Ruhe und Gelassenheit.
Dabei sei die Meisterschaft des Samadhana erst
dann erreicht, wenn ein Schüler sie auf dem
Schlachtfeld inmitten des blutigen Getümmels
ebenso bewahren könne wie bei der Meditation
in einer einsamen Höhle.
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Geistige Ruhe bei antiken Denkern
Die antike Philosophie kennt verschiedene Begriffe für geistige Ruhe sowie unterschiedliche
Wege, wie diese zu erreichen sei. Bei Sokrates ist
es die Sophrosyne, die mehr kognitiv ausgerichtete Besonnenheit, die als geistige Ruhe gewertet
werden kann. Besonnenheit sei demnach überlegte Selbstbeherrschung, auch in schwierigen und
gefährlichen Situationen. Sie stelle die höchste
Tugend dar und führe zur Fähigkeit, das im philosophischen Sinn Gute zu tun.
Für Demokrit ist die Seele der Sitz von Glückseligkeit und Leid, unabhängig von den äusseren Bedingungen. Das höchste Ziel sind somit
für ihn nicht die Erfüllung von sinnlichen Begierden und Bedürfnissen oder das Erlangen
äusserer Glücksgüter, sondern es ist allein die
Vollkommenheit der Seele. Diese zeichnet sich
durch Wohlgemutheit, heitere Gelassenheit
(Euthymia), Wohlbestelltheit (Euestô) und Unerschütterlichkeit (Ataraxia) aus. Diese Seelenruhe wird von Demokrit auch als Meeresstille
beschrieben.
Die Meeresstille der Seele
Ein ähnliches Bild ist von Epikur durch Cicero
überliefert: «Wie man die Ruhe des Meeres daran
erkennt, dass nicht der kleinste Lufthauch die
Fluten bewegt, so sieht man den ruhigen und
friedlichen Zustand der Seele daran, dass keine
Leidenschaft da ist, die ihn zu stören vermag.»
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«So finden wir bei Plutarch die gelassene, nicht nur
kognitiv, sondern auch gefühlvoll anmutende Lebensweisheit: Kein Unglück trifft dein Herz, machst du es
nicht dazu.»
Galene – das ist der altgriechische Begriff für
Stille und Meeresstille und zugleich die Metapher für eine gelassene Seele. Sie wurde dann
im Lateinischen zu «Tranquillitas animi», Gemütsruhe, oder zu «Serenitas», was ursprünglich
eine heitere Wetterlage bezeichnet. Im Mittelalter
beschreibt so der christliche Mystiker Bernhard
von Clairvaux den göttlichen Thron als höchste
Ruhe (summam tranquillitatem), wohlgefälligste
Heiterkeit (placidissimam serenitatem) und als
Frieden, der jedes Verstehen übersteige.
Geistestraining. Dabei stellt die Achtsamkeitsmeditation ein Kernstück der buddhistischen
Meditationspraxis dar, sie wird im SatipatthanaSutta des Pali-Kanons detailliert beschrieben.
Achtsamkeit bezeichnet eine das gesamte Leben
positiv beeinflussende Haltung, welche bewusst
den gegenwärtigen Augenblick wahrnimmt und
annimmt, ohne diesen zu bewerten. Achtsamkeit
schöpft aus der Kraft des Augenblicks und bereitet den Weg zu geistiger Ruhe und Gelassenheit.
Der stoische Wagenlenker
Das Erbe des Christentums bezüglich der geistigen
Ruhe rückt gegenüber dem Buddhismus heute
leider oft in den Hintergrund. Dabei schenken
uns die Schriften christlicher Mystikerinnen und
Mystiker nicht nur ebenso wirksame Anleitungen,
wie man Seelenruhe und Gelassenheit erlangt.
Vielmehr entstammt auch das deutsche Wort «Gelassenheit» selbst der christlichen Mystik.
Das – oft nur bruchstückhaft rezipierte – Erbe
der antiken Stoiker, deren bekanntester Vertreter der Philosoph Seneca sein dürfte, bewirkt
bis heute ein verbreitetes Missverständnis bezüglich der Seelenruhe und insbesondere der
Gelassenheit. Diese wird oft verwechselt mit der
stoischen Haltung des beherrschten, gleichmütigen, vernunftgeleiteten und in seinen Gefühlen
unantastbar erscheinenden Menschen. Dabei
erlaubt im Gegenteil die Gelassenheit ein sehr
viel intensiveres Erleben der Gefühle. Nur ist der
Gelassene seinen Emotionen wie z.B. der Angst
nicht ausgeliefert, sondern kann sie empfinden,
annehmen und sie als «Wagenlenker» steuern.
So finden wir bei Plutarch die gelassene, nicht
nur kognitiv, sondern auch gefühlvoll anmutende
Lebensweisheit: Kein Unglück trifft dein Herz,
machst du es nicht dazu.
Meister Eckharts Gelassenheit
Während die bisher vorgestellten Konzepte zur
geistigen Ruhe auf die Meisterschaft und somit
auf eine Elite zielen, rufen die Gelassenheitslehren des Buddhismus und des Christentums
jeden Menschen auf, an seiner inneren Ruhe zu
arbeiten. Das ersehnte Endziel dieses durchaus
steinigen Weges ist der Seelenzustand der vollkommenen Gelassenheit.
Es war der Dominikanermönch und Mystiker
Meister Eckhart, der zahlreiche deutsche Wortschöpfungen hervorbrachte, und zwar für seine
deutschsprachigen Predigten, die er vor Menschen hielt, die kein Latein verstanden. Er versuchte damit auch, seine Ergriffenheit in der Muttersprache zum Ausdruck zu bringen. In seiner
berühmten Predigt «Qui audit me» (1325) taucht
das mittelhochdeutsche Wort «gelassen» zum
ersten Mal in seiner ganzen spirituellen Bedeutung auf. Allerdings erfährt für Meister Eckhart
Gelassenheit erst in Bezug auf Gott ihre Vollendung. So rät er in seiner Predigt «In omnibus
requiem quaesivi» zwar, sich «aus der Unruhe
der Werke» zurückzuziehen und sich «vor dem
Gestürm innerer Gedanken» als Ursache grosser
Unruhe zu schützen, bezeichnet es aber auch als
grösstmögliche Gabe des Menschen an Gott, ihm
sein «ruhiges Herz» zu schenken.
Buddhistische Achtsamkeitsmeditation
Loslassen als Lebensaufgabe
Dem Buddhismus verdankt dabei unsere moderne
Welt insbesondere verschiedene Meditationsmethoden mit nahezu dezidierten Anleitungen zum
Meister Eckharts Ausführungen treffen indes den
Kern einer modernen Auffassung von Gelassenheit: Der Weg zur geistigen Ruhe führt über das
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Loslassen des eigenen Ichs, d.h. hemmender psychischer «Eigenschaften», wie Eckhart sie nennt.
Das sind z.B. destruktive Anschauungen, Denkund Verhaltensmuster, übersteigerte Emotionen,
vermeintliche Bedürfnisse sowie Begierden und
Süchte. Ruhiger, gelassener werden wir, indem
wir uns von diesen «Eigenschaften» nicht beherrschen lassen, indem wir Menschen und Dingen
nicht mehr so stark anhaften, indem wir uns
trotzdem aufmerksam und mitfühlend anderen
Menschen zuwenden, aber zuweilen auch Ruhe
und Abstand suchen können.
«Die buddhistische Achtsamkeit schöpft aus der Kraft
des Augenblicks und bereitet den Weg zu geistiger Ruhe
und Gelassenheit.»
Das Loslassen gehört zu den ganz grossen Aufgaben in der Lebensbewältigung jedes Einzelnen.
Damit es gelingt, bedarf es der Übung bzw. des
Trainings. Doch ähnlich wie beim Sport tritt die
Belohnung schnell ein. Mit jeder Übungseinheit
und mit jedem Tag spüren wir mehr vom Glück
geistiger Ruhe. n
Quellen:
Anderssen-Reuster, Ulrike: Achtsamkeit. Das Praxisbuch für
mehr Gelassenheit und Mitgefühl, Stuttgart: Trias Verlag, 2013.
Cicero, M. T. (45 vor Chr.): Gespräche in Tusculum, herausgegeben und übersetzt von O. Gigon, Düsseldorf/Zürich: Artemis und
Winkler, 7. Auflage, 2003, hier S. 168.
Manstetten, Reiner: Gelassenheit. Selbstwahrnehmung und
Achtsamkeit bei Meister Eckhart. In: Anderssen-Reuster, Ulrike (Hrsg.): Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik.
Haltung und Methode, Stuttgart: Schattauer, 2., neu bearbeitete
und erweiterte Auflage, 2011, S. 21–46.
Meister Eckhart: Predigt 45 «In omnibus requiem quaesivi», zitiert
nach Quint 1963, hier S. 367.
Plutarch: Von der Ruhe des Gemütes und andere philosophische Schriften, übertragen und eingeleitet von B. Snell, Zürich:
Artemis 1952.
Quint, Josef: Deutsche Predigten und Traktate von Meister Eckhart, herausgegeben und übersetzt von J. Quint, München/Wien:
Hanser Verlag, 1963.
Voigt, Dieter / Meck, Sabine: Über Glück und Gelassenheit. Wege
zu einem erfüllten Leben, Kevelaer: Butzon und Bercker, 2012.
Voigt, Dieter / Meck, Sabine: Gelassenheit. Geschichte und Bedeutung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005 (auch
als Hörbuch: Gelassenheit. Ein Streifzug durch die Philosophie,
Stuttgart: auditorium maximum Hörbuchverlag der WBG, 2010).
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