welt-sichten 3

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www.welt-sichten.org
3-2016 März
AGENDA 2030: Schluss mit der Politik der Widersprüche!
ÄTHIOPIEN: Hunger, doch keine Katastrophe
SÜDAFRIKA: Traumatherapie nach eigenem Rezept
Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit
flucht und migration
Dahin, wo es besser ist
DIESMAL IN DER NEUEN ZEOZWEI:
30 JAHRE TSCHERNOBYL
Wendland-Ikone Marianne Fritzen und die anderen Köpfe des Anti-Atom-Widerstands ziehen Bilanz.
Wie geht es weiter?
zeozwei
Das Magazin für KliMa. Kultur. Köpfe.
taz.
zeozwei | Magazin für KliMa. Kultur. Köpfe. | www.zeozwei.de | 02.2016 | € 5,50
So SIEHT WIDERSTAND AUS
30 Jahre Tschernobyl:
Wendland-Ikone
Marianne Fritzen und
die anderen Köpfe des
Anti-Atom-Widerstands
ziehen Bilanz.
Wie geht es weiter?
Die neue
erscheint
am 8. Mär
z
Weitere Themen:
DIE HYSTERISCHE NATION
Wovor haben die Deutschen Angst?
zeozwei-Gespräch mit Juli Zeh
Harald Welzer über Flüchtlinge,
Nationalismus und Scharfmacher
WIE GRÜN IST GRÜN?
Wie grün ist grün?
Die Grünen regieren in sehr vielen
Bundesländern. Was es wirklich
bringt – der Check.
Die hysterische NatioN.
- Wovor hat die Gesellschaft Angst? zeozwei-Gespräch mit Juli Zeh
- Harald Welzer über Flüchtlinge, Nationalismus und Scharfmacher
Die Grünen regieren in neun
Bundesländern. Doch was bringt
das für die grünen Themen?
Der zeozwei-Check
Mit Elke Heidenreich, Erhard Eppler,
Wolfgang Niedecken, Monika Griefahn,
Rainer Baake, Michael Sailer, Claudia
Kemfert, Gerd Rosenkranz, Manfred
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taz.
editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Hanna Pütz
Volontärin
jedes Jahr verlassen Millionen Menschen ihre Heimat. Die meisten hoffen auf ein
besseres Leben – sicherer, freier und ein bisschen wohlhabender. Das ist schon immer so
gewesen, nur war es in Deutschland lange wenig spürbar. Seit dem vergangenen Herbst
ist das anders. Dabei kommen die meisten Flüchtlinge überhaupt nicht nach Europa,
schreibt „welt-sichten“-Chefredakteur Bernd Ludermann: Viele verbreitete Mythen über
Flucht und Migration erweisen sich bei genauerem Hinsehen als falsch.
Flüchtlinge belasten die Nachbarländer der Kriegsschauplätze oft wesentlich stärker. Wie
Tansania damit umgeht, berichtet Prosper Kigwize: Der ostafrikanische Staat hat Hunderttausende Menschen aus Burundi eingebürgert. Auch die Regierung von Dschibuti
nimmt viele Flüchtlinge auf, seit Neuestem vor allem
aus dem Bürgerkriegsland Jemen, schreibt „welt-sichten“-
Wir fragen für Sie!
Redakteurin Gesine Kauffmann. Die meisten möchten
Sie fragen sich, wie in Nepal der Wiederaufbau nach dem
Erdbeben vorankommt? Sie wollen wissen, ob der Klimawandel den Krieg in Syrien verursacht hat oder was die Weltbank
damit meint, dass die Armut sinkt? Ab Mai lassen wir in
solche Fragen unserer Leserinnen und Leser
von Fachleuten in kurzen Interviews beantworten. Beteiligen
Sie sich schon jetzt und schreiben Sie uns, was Sie wissen
wollen (E-Mail: [email protected])!
nach dem Krieg zurückkehren.
Andere träumen von einem dauerhaften Aufenthalt in
einem anderen Land, dürfen aber nicht bleiben – so wie
Misael Contreras, der in die USA geflohen war und dann
nach El Salvador ausgewiesen wurde. Er hat Cecibel
Romero erzählt, warum er in seiner Heimat in Angst
lebt. In Gambia hat Louise Hunt Familien getroffen, die
hoffen, dass ihre Angehörigen in Italien arbeiten und Geld zurücksenden können. Doch
die Chancen auf einen legalen Job stehen schlecht. Dabei braucht Europa Arbeitsmigranten, sagt der Völkerrechtler François Crépeau. Im Gespräch erklärt er, warum es die beste
Migrationspolitik wäre, legale Wege für die Arbeitssuche zu öffnen.
Einer tödlichen Gefahr sind derzeit Millionen Äthiopier ausgesetzt: Das Land wird von
der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren heimgesucht. Die Aussichten sind düster, aber
nicht katastrophal, schreibt Philipp Hedemann: Die Regierung hat gut vorgesorgt. Wie
der Staat in Algerien gegen radikale islamische Strömungen vorgeht, beleuchtet Anouar
Boukhars. Und Birgit Morgenrath hat sich angeschaut, wie südafrikanische Psychologen
eigene Wege des Umgangs mit Traumatisierten suchen.
Eine anregende Lektüre wünscht
| 3-2016
3
inhalt
getty images
4
12
Die griechische Insel Lesbos gilt als
Eintrittspforte nach Europa. Wie
dieses Paar kamen im vergangenen
Jahr eine halbe Million Menschen
auf diesem Weg in die Europäische
Union. Die meisten sind vor den
Kriegen in Syrien, Afghanistan und
dem Irak geflohen – und treffen in
Europa auf große Hilfsbereitschaft,
aber auch auf Ablehnung.
Nicolas Economou/Invision/laif
In Berlin-Kreuzberg wohnen Menschen aus 120 Nationen. Das Zusammenleben und die Suche nach gemeinsamen Werten gelingen
nur, wenn alle Seiten ihre Absolutheitsansprüche aufgeben.
Flucht und Migration
12 Fakten gegen die Panikmache
Europa nimmt mehr Schutzsuchende auf als andere Regionen? Falsch. Es ist Zeit,
mit ein paar Irrtümern aufzuräumen
Bernd Ludermann
18 Auf vermintem Gelände
Ein junger Salvadorianer ist vor der Gewalt in die USA geflohen – bleiben
durfte er nicht
Cecibel Romero
20 Wunderbare Parallelgesellschaften
Die Integration der Flüchtlinge in Deutschland braucht Offenheit und Mut
Hadija Haruna-Oelker
22 „In Europa ist das Führungsversagen katastrophal“
Gespräch mit dem UN-Sonderbeauftragten für die Menschenrechte von Migranten,
François Crépeau, über Grenzzäune und Arbeitsmigration
Kommentieren Sie die
Artikel im Internet:
www.welt-sichten.org
26 „Menschen nicht wie Müll abladen“
Der Menschenrechtler Hadi Marifat erklärt, warum Ausweisungen nach
Afghanistan nicht zu verantworten sind
27 Träume vom gelobten Land
Wer aus Gambia nach Europa geht, muss der Familie seinen Erfolg beweisen
Ein Teil der Auflage enthält Beilagen der
Christlichen Initiative Romero,
des informationszentrums 3. Welt (iz3w),
des „Philosophie Magazins“, der
Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe
.
sowie eine Bestellkarte von
20
Louise Hunt
31 Raum in kleiner Hütte
Dschibuti nimmt viele Flüchtlinge aus dem Jemen auf
Gesine Kauffmann
3-2016 |
Nick Hannes/laif
inhalt
Standpunkte
6 Die Seite Sechs
7 Leitartikel: Von wegen sauber. Elektroautos
verdienen keine Prämie
Gesine Kauffmann
8 Kommentar: Schluss mit der Politik der Widersprüche! Die Nachhaltigkeitsziele stärken die
alte Forderung nach mehr Kohärenz
Claudia Schwegmann
10 Leserbriefe
In Algerien ist der Salafismus im Aufwind. Zwar nehmen nur
­wenige seiner Prediger politisch Stellung. Aber der strenge Glaube
ist Ausdruck einer moralischen Revolte gegen den Staat.
11 Herausgeberkolumne: Barmherzigkeit als
Antrieb. Beim Klimaschutz muss es stärker
als bisher um Gerechtigkeit gehen
39
Pirmin Spiegel
Journal
48 Medien: Jeden Tag eine gute Idee
32 Geflüchteten mit Bildung helfen
Die Palästinenserin Sylvia Haddad bringt syrische Kinder im Libanon
bis zum Abitur
Prosper Kigwize
35 Bücher zum Thema
welt-blicke
36 Äthiopien: Hoffnung trotz Hunger
Auf die schwerste Dürre seit Jahrzehnten ist das Land gut vorbereitet
Anouar Boukhars
43 Südafrika: Das Schweigen brechen
Westliche Konzepte passen oft nicht – Psychologen entwickeln
­eigene Therapien für Gewaltopfer
53 Berlin: Das Entwicklungsministerium entdeckt
die Religion
54 Schweiz: Armutsbekämpfung versus Friedensförderung
55 Brüssel: Keine Einigung bei Konfliktrohstoffen
57 Kirche und Ökumene: Kirchengemeinden am
Persischen Golf wachsen
59 Personalia
Philipp Hedemann
39 Algerien: Der Staat wünscht andere Prediger
Die Regierung will radikale Strömungen des Islam zurückdrängen
50 Flüchtlinge: Berichte aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz
Erhard Brunn
34 Neue Heimat Tansania
Das Land hat Hunderttausende Burunder eingebürgert
49 Studie: Was passiert zwischen Baumwollfeld
und Discounter?
service
60 Filmkritik
60 Rezensionen
64 Impressum
Birgit Morgenrath
46 „In meiner Muttersprache kann ich direkter sein“
Gespräch mit dem kenianisch-amerikanischen Autor Mukoma Wa Ngugi
über Heimat, Krimis und Rassismus
| 3-2016
65 Termine
5
standpunkte die seite sechs
Reife Leistung
Gado, 2015
6
Wer ist’s?
„Diese Gespräche werden
in Vergessenheit geraten
durch Armeestiefel, durch
die Demokratie der
Armeestiefel.“
Der syrische Politologe Hasan Hasan
im syrischen Staatsfernsehen zu den
Friedensgesprächen in Genf.
Sie ist stark, mutig und schön –
ein Vorbild für viele Frauen,
nicht nur in ihrer afrikanischen Heimat. Schon als junges Mädchen rebellierte sie gegen ihr Schicksal. Sie sollte mit
einem alten Mann verheiratet
werden, doch sie lief von zu
Hause weg und kam zunächst
bei Verwandten in der Hauptstadt ihres Heimatlandes unter. Doch das war nicht weit
genug entfernt. Um die Fami­
lien­ehre zu bewahren, musste
sie das Land verlassen und
wurde in den Norden geschickt
– auf einen Weg, den inzwischen viele junge Afrikanerinnen und Afrikaner freiwillig
wählen. Sie musste viel durchmachen, bis sich ihr Schicksal
wendete; zeitweise lebte sie auf
der Straße, zeitweise in einem
Heim. Doch sie war zäh – und
sie hatte Glück. Plötzlich war
sie jemand, sie machte Karriere, wurde berühmt und einflussreich. Diesen Einfluss
nutzt sie auch für ihr soziales
Engagement, ihren Kampf gegen eine Menschenrechtsverletzung, die sie selbst erlitten
hat. Mit über 30 Jahren sprach
sie das erste Mal öffentlich
über dieses Verbrechen – das
sei sehr belastend gewesen,
aber sie habe es nie bereut. Es
sei ihre „Mission“, diese Praxis
auszurotten, betonte sie einmal in einem Interview. Dafür
hat sie Bücher geschrieben, hat
Filme gedreht und ist mehrfach ausgezeichnet worden.
Umso frustrierender müssen
für sie die jüngsten Zahlen der
Vereinten Nationen gewesen
sein, die belegen, dass der
Kampf nicht so leicht zu gewinnen ist. Sie wird ihn sicher
mit vollem Einsatz fortführen.
Wer ist’s?
Auflösung aus Heft 2-2016:
Gesucht war der Milzbrand, der
durch den bacillus anthracis verursacht wird.
Der Muslim kommt, das Schwein
geht. In Finsterdeutschland wird
gerade mal wieder eine neue Sau
durchs Dorf getrieben: Immer
mehr Kindertagestätten streichen Schweinefleisch von ihren
Speiseplänen, von Flensburg bis
Passau, von Stuttgart bis Dresden.
Vor allem aus gesundheitlichen
und geschmacklichen Gründen,
beteuern die meisten Kita-Betreiber. Wer’s glaubt, ist ein Opfer der
Lügenpresse: Der Islam steckt dahinter und eine falsche Toleranz,
wissen die selbst ernannten Retter deutscher Werte und Kultur
– und fordern, es der dänischen
Stadt Randers nachzumachen:
Der Stadtrat dort will sich diese
Schweinerei nicht mehr gefallen
lassen und hat angeordnet, dass
alle öffentlichen Einrichtungen
in ihren Kantinen Kotelett und
Co servieren, auch wenn’s dem
Muslim sauer aufstößt. Es gehe
um die dänische Kultur, einschließlich der Esskultur. Das ist
in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist ein Land, das
seine Kultur mithilfe von Schweinemett und Rostbratwürsten
verteidigen muss, ohnehin dem
Untergang geweiht, ganz ohne islamische Invasion. Zum anderen
weiß jeder Dänemark-Besucher,
dass unsere wackeren Nachbarn
im Norden alles Mögliche haben,
aber bestimmt keine Esskultur.
Andererseits stimmt es ja: Es
kann nicht sein, dass Julian, Charlotte und Paul in der Kita jetzt
auch noch beim Essen Rücksicht
nehmen müssen auf Mustafa,
Ahmed und Fatima. Wir sind ein
freies Land, wo jeder essen darf,
was er will – und nicht nur das,
was irgendein Prophet oder heiliges Buch für bekömmlich halten.
Das gilt dann aber auch für die
Ernährungsratgeber müslimampfender Mittelschichteltern. Sollen
die Kinder doch selbst entscheiden, auch wenn es morgens,
mittags und abends auf Kuchen,
Cola und Cornflakes hinausläuft.
Und auch auf die Gefahr hin, dass
das den Mamas und Papas von
Julian, Charlotte und Paul gehörig
auf den Magen schlägt.
3-2016 |
leitartikel standpunkte
Von wegen sauber
Elektroautos verdienen keine Prämie
Von Gesine Kauffmann
S
ie sind Ladenhüter. Zu teuer, zu geringe Reichweite, zu wenige Stromtankstellen, zu lange Ladezeiten für den Motor: Elektroautos sind bei
deutschen Autofahrern wenig beliebt. Rund 218.000
Fahrzeuge wurden im Januar neu zugelassen, Benziner lagen knapp vor den Dieseln, weit abgeschlagen
folgten Elektromodelle wie Tesla, BMWi3 und Co mit
0,2 Prozent. Insgesamt fahren auf deutschen Straßen bislang rund 19.000 E-Autos – rund eine Million
sollen es bis 2020 sein, auf diesem Ziel beharrt die
Bundesregierung seit Jahren. Doch Beharren alleine
nützt eben nichts. Deshalb soll es jetzt wieder einmal
eine Prämie richten. 5000 Euro pro Auto soll sie
nach dem Willen von Wirtschaftsminister Sigmar
Gabriel (SPD) betragen. Die Unterstützung reicht
von den Grünen bis zur CSU, Finanzminister Wolfgang Schäuble hält allerdings dagegen. Im März will
die Regierung eine gemeinsame Lösung gefunden
haben.
Eine umweltfreundliche Verkehrspolitik
braucht den Mut, auf deutschen Autobahnen
das längst fällige Tempolimit einzuführen.
Gesine Kauffmann
.
ist Redakteurin bei
| 3-2016
Wir erinnern uns: Schon 2009 sollte eine Umweltprämie – als „Abwrackprämie“ zum „Wort des
Jahres“ gekürt – dafür sorgen, dass alte Spritfresser
gegen abgasärmere Modelle getauscht werden. Automobilindustrie und Umwelt sollten davon gleichermaßen profitieren. Doch die ökologische und
die ökonomische Bilanz waren bestenfalls gemischt,
langfristige Effekte suchten Wissenschaftler vergebens. All das scheint vergessen – oder der Blick nach
China ist zu verführerisch. Peking sieht in der Elektromobilität einen wichtigen Weg, um der Umweltund Gesundheitsbelastung durch Smog in den chinesischen Großstädten zu Leibe zu rücken. Chinas
Führung hat deshalb mit Hilfe von Steuererleichterungen den Absatz von E-Autos angekurbelt. Im vergangenen Jahr wurden rund eine Viertel Million
Elektroautos in der Volksrepublik verkauft, mehr als
doppelt so viele wie 2014, und erstmals mehr als in
den USA.
Doch das taugt nicht als Vorbild. Keine Frage: Im
Verkehr müssen Emissionen eingespart werden –
ebenso wie in vielen anderen Bereichen, wenn
Deutschland seine Klimaziele erreichen will. Doch
die Elektromobilität kann dazu beim derzeitigen
Stand der Technik keinen Beitrag leisten: Die Ökobi-
lanz der E-Autos ist zu schlecht. Ihre Produktion setzt
laut einer Studie des Fraunhofer-Institutes fast zwei
Drittel mehr Kohlendioxid frei als die von Autos mit
Verbrennungsmotor, besonders energieintensiv ist
die Herstellung der Akkus und der aus Aluminium
gefertigten Karosserien. Bis dieser Nachteil in der
Gesamtbilanz ausgeglichen ist, muss man 20.000
Kilometer fahren – und auch das reicht nur, wenn
man Strom aus Sonne und Wind tankt. Mit dem gegenwärtigen Strommix müssen je nach Berechnung
zwischen 60.000 und 100.000 Kilometer zurückgelegt werden, damit ein E-Auto eine bessere Klimabilanz aufweist als ein Benziner.
Eine Kaufprämie für Elektroautos ist verschwendetes Geld. Sie ist ein Geschenk an die Autoindustrie
und alle diejenigen, die sich ohnehin ein solches
Fahrzeug für mehrere zehntausend Euro leisten können und die Prämie gerne mitnehmen, vielleicht für
ihren Zweit- oder Drittwagen. Sie heizt den Individualverkehr an und setzt damit die falschen Anreize –
denn es muss um einen Ausbau des öffentlichen
Nahverkehrs gehen. Wenn schon eine staatliche Förderung, dann sollte sie der Elektrifizierung von
Stadtbussen – und damit der Allgemeinheit – zu
Gute kommen. Auf den festgelegten Bustouren ließen sich Nutzung und Aufladen gut organisieren,
den smoggeplagten Innenstädten würde die sauberere Luft besonders guttun.
Die umstrittene Kaufprämie lenkt die Diskussion über eine umwelt- und gesundheitsfreundliche
Verkehrspolitik auf ein Nebengleis. Denn dafür ist
mehr nötig, als den Absatz von E-Autos anzukurbeln.
Zum Beispiel der Mut, auf deutschen Autobahnen
das längst fällige Tempolimit von 120 Stundenkilometern einzuführen. Es ist ein Armutszeugnis, dass
eine solch einfache Maßnahme, die nachweislich
Emissionen einspart und die Verkehrssicherheit erhöht, noch immer nicht durchgesetzt wird. Das hieße natürlich, den freien deutschen Bürgern ihre freie
Fahrt zu nehmen – und da will sich kein Politiker die
Finger verbrennen. Bei der Durchsetzung der gesetzlich vorgesehenen Abgas- und Verbrauchswerte von
Autos mit Diesel- und Benzinmotoren ist der politische Wille ebenfalls nicht besonders ausgeprägt.
Auch in den Ausbau der Fahrradwege sollte mehr
Geld investiert werden, um den Umstieg auf eine andere Form von Elektromobilität zu fördern: E-Bikes.
Sie erfreuen sich nicht nur bei Freizeitradlern wachsender Beliebtheit. Kurze bis mittlere Entfernungen
lassen sich damit ohne weiteres zurücklegen, ohne
allzu sehr ins Schwitzen zu geraten – auch auf dem
Weg ins Büro. 7
8
standpunkte kommentar
Schluss mit der Politik der Widersprüche!
Die Nachhaltigkeitsziele stärken die alte Forderung nach mehr Kohärenz
Von Claudia Schwegmann
Billigfleischexporte nach Westafrika, Waffenexporte in Krisenregionen – oft konterkarieren wirtschaftliche Interessen die Bemühungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Um das zu
ändern, müssen sich zivilgesellschaftliche Entwicklungsorganisationen jetzt in die Debatte über
eine neue Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland einschalten.
Die im vergangenen Herbst verabschiedeten Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) bieten
eine Chance, der Forderung nach
Kohärenz neuen Auftrieb zu geben. Entwicklungsförderndes Regierungshandeln ist selbst eines
der Nachhaltigkeitsziele. Außerdem betreffen die SDGs etliche
entwicklungspolitisch relevante
Politikbereiche wie die Handelsoder die Sicherheitspolitik. Und
schließlich liegt die Umsetzung
der SDGs in der Verantwortung
der gesamten Bundesregierung
und erfordert, dass sich die Ressorts untereinander abstimmen.
Bis kommenden Juni werden in Deutschland wichtige
Weichen zur Verwirklichung der
2030-Agenda gestellt. Gegenwärtig erarbeitet die Bundesregierung unter Federführung des
Zivilgesellschaftliche Organisationen
sollten eigene Indikatoren für
die Nachhaltigkeitsziele vorschlagen.
Kanzleramtes einen nationalen
Umsetzungsplan der Agenda; der
Plan ist Teil der neuen nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie, die im
Herbst verabschiedet werden soll.
Die Zivilgesellschaft sollte diese
Chance nutzen und sich aktiv in
diese Arbeit einbringen, um ihr
Anliegen nach entwicklungspolitischer Kohärenz voranzutreiben.
Wichtig für ambitionierte
Nachhaltigkeitsziele und für die
Kontrolle, ob sie erreicht werden,
ist die Definition von angemessenen Indikatoren, denn nur was
gemessen wird, wird auch erle-
digt. Es muss verhindert werden,
dass die in harten Verhandlungen
erreichten Kompromisse bei den
Zielen durch die Indikatoren wieder aufgeweicht werden. Jetzt ist
der richtige Zeitpunkt, um diese
Diskussion von zivilgesellschaftlicher Seite mitzugestalten.
Im Gegensatz zu den langwierigen Verhandlungen über
die Nachhaltigkeitsziele stand die
Definition der Indikatoren bisher kaum im entwicklungspolitischen Rampenlicht. Auf internationaler Ebene ist die Suche bereits weitgehend abgeschlossen.
Eine kleine internationale Expertengruppe, die Inter-Agency and
Expert Group on the SDG Indicators, hat nur vier Monate nach der
Verabschiedung der 2030-Agenda
einen Vorschlag von 229 Indikatoren an die UN-Kommission für
Statistik übermittelt, von denen
80 noch weiter diskutiert werden
sollen.
In Deutschland hingegen stehen wichtige Entscheidungen zu
den Indikatoren auf nationaler
Ebene noch an. Bislang haben alle
Ministerien Indikatoren für die
anstehende Nachhaltigkeitsstrategie vorgeschlagen. Die Zivilgesellschaft soll sich in einer öffentlichen Konsultation einbringen
können, allerdings ohne die Vorschläge der Ministerien zu kennen, da diese nicht öffentlich sind.
Sowohl die offiziellen Vorschläge
als auch die Ergebnisse der Konsultation sollen im Sommer in
eine Endfassung fließen, die dann
im Oktober verabschiedet wird.
Ob die Beteiligung der Öffentlichkeit großen Einfluss auf das Endergebnis haben wird, darf bezweifelt werden. Unter der Hand signalisieren Vertreter von Ministe-
rien und Bundestagsabgeordnete,
dass nach der Veröffentlichung
des ersten Entwurfs für die Nachhaltigkeitsstrategie im Mai wesentliche Änderungen schwierig
sein werden.
Bisher haben nichtstaatliche
Organisationen verschiedene Positionspapiere zur 2030-Agenda
und zur deutschen Umsetzung
veröffentlicht. Das ist sinnvoll,
reicht jedoch nicht. Das Kernstück
der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sind die Indikatoren. Der
Rechenschaftsbericht, den die
Bundesregierung alle zwei Jahre zur Nachhaltigkeitsstrategie
veröffentlicht, heißt nicht ohne
Grund „Indikatorenbericht“. Die
Ministerien senden dem Kanzleramt gegenwärtig nicht irgendwelche Positionspapiere, sondern
Vorschläge für maßgebliche Indikatoren. Sie sind das Herzstück einer ambitionierten 2030-Agenda.
Und sie sind entscheidend dafür,
die Regierung an ihren Zielen zu
messen. Die Fachleute in den zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen sich deshalb in diese
Debatte einbringen.
Gute Vorschläge für Indikatoren für die nächste deutsche
Nachhaltigkeitsstrategie sind deshalb dringend nötig, weil der von
der internationalen Expertengruppe vorgelegte Katalog völlig
unzureichend ist. Knapp 30 der
229 Indikatoren beziehen sich auf
Unterziele, die für Deutschland
gar nicht relevant sind, beispielsweise der Indikator zur Anzahl
der Bankautomaten pro 100.000
Erwachsene. Andere Indikatoren
wiederum sind nicht sinnvoll auf
nationaler Ebene, weil sie sich nur
auf die internationale Ebene beziehen wie zum Beispiel der Indi-
3-2016 |
9
Wolfgang Ammer
kommentar standpunkte
Claudia Schwegmann
ist Vorstandsmitglied der Open
Knowledge Foundation Deutschland
und leitet das Projekt 2030-Watch.de
zum Monitoring der 2030-Agenda in
Deutschland.
| 3-2016
kator zur Anzahl der Länder mit
Aktionsplänen zu nachhaltigem
Konsum.
Besonders problematisch ist,
dass mehr als die Hälfte der Indikatoren die vereinbarten Unterziele nur teilweise abdeckt. So hat
zum Beispiel Unterziel 16.4 zu illegalen Finanzströmen, zum Waffenhandel, zur Rückgabe gestohlener Vermögenswerte und zum
organisiertem Verbrechen nur
Indikatoren zu zwei dieser vier
Punkte. Zahlreiche Indikatoren
spiegeln zudem nicht die besondere Verantwortung von Industriestaaten wie Deutschland für
die Erreichung der entsprechenden Ziele wider. Genau da, wo
entwicklungspolitische Kohärenz
anfängt, hören diese Indikatoren
auf. Ein gutes Beispiel dafür ist
das Unterziel 3.3 zur Bekämpfung
tropischer Krankheiten. Die dazu
vorgeschlagenen Indikatoren der
internationalen
Expertengruppe messen Gesundheitsdaten
wie die Anzahl der Malariafälle
auf 1000 Einwohner. Die Verantwortung von Industriestaaten,
ärmeren Ländern Zugang zu erschwinglichen Medikamenten zu
ermöglichen, findet hingegen keine Erwähnung.
Zivilgesellschaftliche
Organisationen sollten deshalb eigene, anspruchsvollere Indikatoren
vorschlagen. Drei Punkte sollten
sie dabei beachten: Ersten sollten die Indikatoren so konkret
wie möglich sein und Schwellenwerte enthalten, wann ein Wert
als gut und wann als schlecht zu
bezeichnen ist. Zweitens sollte
die Zivilgesellschaft dem Ansinnen der Bundesregierung entgegentreten, die Zahl der Indikatoren für Deutschland möglichst
klein zu halten. Die 2030-Agenda ist hoch komplex, die 17 Nachhaltigkeitsziele haben 169 Unterziele. Themen, die nicht in Indikatoren abgebildet werden, riskieren unter den Tisch zu fal-
len. Drittens sollte die Zivilgesellschaft darauf drängen, dass auch
von ihr erhobene Daten zur Kontrolle der 2030-Agenda berücksichtigt werden. Entwicklungspolitische Organisationen sammeln
über ihre Projekte seit Jahren Daten, um Fortschritte in bestimmten Politikfeldern zu messen. Im
Sinne der vielbeschworenen Multistakeholder Partnerschaft und
der Effizienz ist es sinnvoll, auch
solche Daten für die Kontrolle der
2030-Agenda heranzuziehen.
Über Indikatoren zu streiten,
ist nicht besonders sexy. Aber angesichts der mageren Fortschritte
in den vergangenen Jahren, entwicklungspolitisch
kohärentes
Regierungshandeln voranzubringen, und angesichts der großen
Chance, die die Nachhaltigkeitsziele genau dafür bieten, muss
sich die entwicklungspolitische
Zivilgesellschaft jetzt in die Diskussion einmischen. In wenigen
Monaten ist es zu spät.
10
standpunkte leserbriefe
leserbriefe
Die Mörder sind
Muslime
Zum Kommentar „Neuer Terror, alte
Dummheiten“, welt-sichten 12/20151/2016
Man muss den Scharfsinn von
Frau Kaldor bewundern. Es ist in
der Tat schon ein Unterschied, ob
ich von Akademikern aus der Mittelschicht umgebracht werde oder
von ungebildeten, arbeitslosen
Amateuren aus den Problemzonen der großen Städte. Wie die
meisten Artikel zum Thema vermeidet auch dieser den scharfen
Blick auf eine unübersehbare Tatsache: Die Mörder sind Muslime.
Willkürlich angefangen bei Lockerbie über 9/11 über unzählige
Anschläge auf Moscheen von Sunniten/Schiiten, wobei die eigenen
Glaubensbrüder zerfetzt werden,
bis zum aktuellen Verbrechen:
Die Mörder sind Muslime. Es ist
daher suboptimal, auf Entscheidungen von Hollande, Assad oder
Putin zu warten. Die Vorbereitungen zu allen Attentaten beginnen
in unserer Nachbarschaft. Daher
ermöglichen erst Schweigen und
Wegschauen Untaten wie diese.
Zu viele Mitbürger wollten Multikulti, jetzt wird manch einer zu
Besinnung kommen. Gleichgesinnte töten sich nicht.
Es ist nicht zu erwarten, dass
Ihre Postille meine Meinung veröffentlicht, die Schere höre ich
schon klappern. Gespannt darf
man sein, was „welt-sichten“
schreibt, wenn demnächst Deutsche in großer Zahl von Moslems
ermordet werden.
Georg Lohmann, welt-sichten.org
Herrn Drescher. Ich habe auch volles Verständnis dafür, dass er extrem zurückhaltend sein muss mit
öffentlichen Äußerungen, um seine nordkoreanischen Partner und
die Zukunft seiner Arbeit nicht zu
gefährden. Aber wenn man ein
Interview voller diplomatischer
Floskeln und ohne Bezug zur Realität vorliegen hat, dann sollte
eine kritische Zeitschrift auf den
Abdruck verzichten.
Albrecht Benzing, Zimmern
Diplomatische
Floskeln
Zum Interview „Die Wiedervereinigung
ist weiter weg denn je“, welt-sichten
12/2015-1/2016
Dieses Interview ist grotesk. Stellenweise weiß man nicht, ob hier
ein Vertreter einer deutschen Missionsgesellschaft oder ein Sprecher von Kim Jong Un interviewt
wird. Es verschlägt einem die
Sprache, wenn Lutz Drescher sagt,
man dürfe Nordkorea nicht auf
die Frage der Menschenrechte reduzieren. Oder wenn er sagt, man
müsse vorsichtig sein mit Aussagen zur Verfolgung von Christen
in dem Land, darüber wisse man
zu wenig. Ich habe keine Zweifel
an der Wichtigkeit der Arbeit von
Keine Alternative zur
„grünen Revolution“
Zum Artikel „Mit Knoblauch gegen
Heuschrecken, welt-sichten 12/20151/2016
Gegen Bio-Anbau ist nichts einzuwenden, auch nicht in Indien.
Aber der Bio-Anbau ist überall auf
der Welt eine Nische, die nur
dann signifikant höhere Preise
für den Produzenten sichert,
wenn er eine Nische bleibt und
nicht alle auf den Zug aufspringen. Als Vermarktungsstrategie
eine feine Sache, aber ob sich damit die vielfältigen Probleme der
indischen Landwirtschaft lösen
lassen, darf bezweifelt werden.
Nur eine Intensivierung der Produktion kann Ressourcenschonung und steigenden Bedarf an
Nahrungsmitteln unter einen
Hut bringen. Genau das hat die
„Grüne Revolution“ bewirkt: die
Versorgung einer rasant wachsenden Bevölkerung ohne Ausdehnung des Anbaus in ökologisch
fragile Gebiete. Dieser Spagat
funktioniert nur durch steigende
Hektarerträge, und das ist sicher
nicht die Kernkompetenz des BioAnbaus.
Ohne die „grüne Revolution“
wäre das Wachstum der Bevölkerung gar nicht möglich gewesen,
die sich in Indien seit den 1950er
Jahren etwa vervierfacht hat. Es
gab keine Alternative zur schnellen Modernisierung der Landwirtschaft, nachdem die Nahrungsmittelversorgung in den
1960er Jahren – als der sozusagen
„vorrevolutionäre
Bio-Anbau“
noch Standard war – extrem angespannt war und viele Menschen in Indien verhungerten.
Das sollte nicht vergessen werden.
Martin Benninger, welt-sichten.org
Die Redaktion freut sich über Leser­
briefe, behält sich aber vor, sie zu
kürzen.
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3-2016 |
herausgeberKolumne standpunkte
Barmherzigkeit als Antrieb
Beim Klimaschutz muss es stärker als bisher um Gerechtigkeit gehen
Die Beschlüsse der Klimakonferenz von Paris weisen in die richtige Richtung.
Für die Umsetzung müssen sich die Lebens- und Konsumgewohnheiten vor allem in den
reichen Ländern tiefgreifend ändern. Voraussetzung ist eine Haltung, der das eigene wie
das fremde Leiden nicht gleichgültig ist.
Von Pirmin Spiegel
„Mit einem kleinen Hammer kann
man große Dinge erreichen.“ Mit
diesen Worten besiegelte der französische Außenminister Laurent
Fabius am 12. Dezember 2015
überraschend eilig das Klimaabkommen von Paris. Bis zuletzt
hatten 195 Staaten um den Vertragstext gerungen. Fabius, so
schien es, wollte jede weitere Verzögerung vermeiden. Nun müssen die Unterzeichnerstaaten alle
weiteren Schritte im Kampf gegen
den Klimawandel einleiten beziehungsweise weiter auf den Weg
bringen.
Es geht beim Klimaschutz um
nicht weniger als den Horizont einer
weltweiten Solidarität.
Pirmin Spiegel
ist Hauptgeschäftsführer des
katholischen Hilfswerks Misereor.
| 3-2016
Denn die Ziele für die Verminderung von Treibhausgasemissionen (INDCs), die die Regierungen
2015 für ihre Länder jeweils festgelegt haben, reichen in der Summe
bei weitem nicht aus, um die in
Paris gesteckten Ziele zu erreichen. Gerade wenn die Weltgemeinschaft eine Obergrenze von
deutlich unter zwei Grad für die
Erderwärmung anstrebt, müssen
alle bisherigen Maßnahmen zum
Klimaschutz sofort intensiviert
werden. Vor allem um der Armen
und Verletzlichsten willen, deren
Lebensgrundlagen bereits jetzt
von den Auswirkungen des Klimawandels bedroht sind.
Dass die Weltgemeinschaft
nach jahrelangem und oftmals erfolglosem Ringen gemeinsam zu
einem vielversprechenden Ergeb-
nis gefunden hat, ist ein großer
Erfolg. Es kann als Ausdruck der
Einsicht gewertet werden, dass die
Sorge um die Erde als „unser gemeinsames Haus“, wie sie Papst
Franziskus in seiner Enzyklika
„Laudato Si‘“ bezeichnet, eine Aufgabe ist, die nur gemeinsam bewältigt werden kann.
Der Geist von „Laudato Si‘“ war
in Paris präsent: in den Reden der
Staats- und Regierungschefs, inklusive hoher Vertreter des Vatikans, aber auch in den Botschaften vieler kirchlicher und nichtkirchlicher Organisationen. Die
Vorschusslorbeeren der Öffentlichkeit müssen den Regierungen
– insbesondere den Industrieländern als Hauptverursachern des
Klimawandels – Antrieb sein, nun
tatsächlich ein Mehr an Gerechtigkeit in die Klimafrage zu bringen.
„Das Recht ströme wie Wasser;
die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ ist das Motto der
diesjährigen Fastenaktion von
Misereor. Die Klage des Propheten
Amos (5,24) gegen Unrecht und
die Sehnsucht nach Gerechtigkeit
entspringen einer Haltung, der
das eigene wie das fremde Leiden
nicht gleichgültig ist: der Barmherzigkeit. Dies ist die Grundhaltung Gottes gegenüber allen Menschen, besonders gegenüber den
Armen, den Benachteiligten, den
Verletzlichen und gegenüber allen, deren Leben bedroht ist und
die um ihre Rechte gebracht werden. Auch für die Umsetzung der
Ergebnisse von Paris ist die Haltung der Barmherzigkeit eine entscheidende Triebfeder. Im Kontext der Klimafrage bedeutet sie,
dass uns die Menschen in den ver-
letzlichen Regionen nicht gleichgültig sind. Es geht dabei um nicht
weniger als den Horizont einer
weltweiten Solidarität.
Mit der Anerkennung klimabedingter Verluste und Schäden
(loss and damage) im Pariser Abkommen ist ein weiterer wichtiger
Schritt in diese Richtung getan.
Auch das ambitionierte Temperaturziel ist Ausdruck des Bestrebens, weitere Risiken und Schäden als Folge des Klimawandels
möglichst klein zu halten. Damit
all dies keine bloßen Lippenbekenntnisse sind, müssen die Industriestaaten deutlich vorangehen – auch wenn sich in Paris alle
Staaten zu mehr Klimaschutz verpflichtet haben.
Ein Schlüssel hierzu liegt im
Energiesektor, auch in Deutschland. Übereinstimmend mit den
Beschlüssen der G7 auf dem Gipfel in Elmau forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Paris eine
„weitgehende Dekarbonisierung“
und die „grundlegende Transformation aller Sektoren unseres
Wirtschaftens“.
Klimagerechtigkeit steht auch in unmittelbarem
Zusammenhang mit dem Abbau
von Kohle und ihrer Verstromung
in Deutschland und Europa. Auch
die Konsumgewohnheiten wachsender Mittelschichten und globalisierte Produktionsweisen –
die sogenannten Schwellenländer
eingeschlossen – stehen einem
Mehr an Gerechtigkeit in der Klimafrage entgegen.
Deutlich wird: Es geht um tiefgreifende Veränderungen in allen
Bereichen unserer Gesellschaft.
Daher muss auch die Umsetzung
der globalen Ziele für nachhaltige
Entwicklung (SDGs) im Rahmen
der Agenda 2030 konsequent mit
den Pariser Beschlüssen zum Klimaschutz zusammen gedacht
werden. Dies zu erkennen und
umzusteuern, anders zu leben sowie gerechte und nachhaltige Regeln für unser Zusammenleben
zu finden – dazu ist die Haltung
der Barmherzigkeit ein Antrieb.
11
12
schwerpunkt flucht und migration
Fakten gegen die
Neue Heimat: Die Familien von
Ahmad und Ali Ghazni aus
Afghanistan in der Aufnahmestelle
für Flüchtlinge in Halberstadt in
Sachsen-Anhalt.
matthias Bein/dpa/picture alliance
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
Panikmache
Rund eine Million Menschen sind 2015 über das Mittelmeer
nach Europa gekommen, die meisten von der Türkei aus.
Nun warnen viele, der Alte Kontinent stehe im Brennpunkt
eines Ansturms von Flüchtlingen und Armutsmigranten. Das
ist einer von vielen verbreiteten Irrtümern über Migration.
Von Bernd Ludermann
S
chlichte Rezepte haben Konjunktur: Populisten
in Europa verlangen, die Landesgrenzen dicht
zu machen. Manche Regierungen sprechen
vornehmer von der Sicherung der Außengrenzen. Ergänzend oder als Alternative heißt es, man müsse
den Migrationsdruck verringern. Dazu solle man in
armen Ländern Entwicklung fördern, besonders in
Afrika mit seiner jungen und stark wachsenden Bevölkerung, sagt etwa der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller. In der Debatte treten Annahmen
über Migration zutage, die näherer Überprüfung
nicht standhalten.
Kommen die meisten Flüchtlinge nach Europa?
Keineswegs. Richtig ist, dass mehr
Menschen infolge von Kriegen von
ihrem Wohnort vertrieben worden
sind als je zuvor: Laut dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat die Zahl 2015 die Grenze von
60 Millionen überschritten. Schätzungsweise 38 Millionen leben aber
weiter im eigenen Staat – also in Ländern wie Syrien, dem Südsudan und
Zentralafrika, von denen die meisten
arm sind, von Kämpfen zerrissen
oder beides. Ins Ausland geflüchtet waren Mitte 2015
etwa 20 Millionen Menschen, manche bereits vor
langer Zeit – so die Palästinenser, die im Zuge der
Gründung Israels geflohen sind und mit ihren Nachkommen nun fünf Millionen zählen. Die meisten
Flüchtlinge haben in Nachbarländern der Kriegsschauplätze Aufnahme gefunden. Die sind dadurch
wesentlich mehr belastet als die Staaten Europas, zumal im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl und
ihrem Wohlstand (siehe Grafik Seite 24). Und ein Teil
dieser Flüchtlinge zieht, da die Lebensverhältnisse
im Gastland desolat sind, nach Europa weiter.
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14
schwerpunkt flucht und migration
Suchen immer mehr Menschen ihr Glück in Auswanderung?
Nein. Zwar hat die Zahl der Migranten – definiert als
Menschen, die mindestens ein Jahr außerhalb ihres
Geburtslandes leben – laut Schätzungen der Vereinten Nationen zugenommen: Von etwa 92 Millionen
1960 auf 172 Millionen 2000 und 244 Millionen 2015.
Flüchtlinge sind davon heute grob ein Zehntel. Es gehören auch im Ausland Studierende dazu oder Fachkräfte, die Konzerne ins Ausland schicken. Aber nicht
nur die Zahl der Migranten wächst, sondern auch die
Bevölkerung. Der Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung liegt heute ungefähr so hoch wie 1960: bei
3,3 Prozent. Bis 1990 ist er leicht gesunken, dann wieder gestiegen. Ein Teil des Anstiegs
hat nicht mit der Bewegung von
Menschen über Grenzen zu tun,
sondern mit der Schaffung neuer
Grenzen: Die Aufteilung der UdSSR
machte Sowjetbürger, die zum Beispiel in Kasachstan oder Litauen
geboren waren und in Russland
blieben, und umgekehrt Russen, die
in den neuen Staaten blieben, zu
Migranten. In geringerem Ausmaß
geschah das Gleiche bei der Teilung
Jugoslawiens und zuletzt des Sudan.
Der Anteil der Weltbevölkerung, der sich ins Ausland
aufmacht, ist überschaubar und wächst kaum.
Aber im Norden leben doch mehr Migranten als
früher?
Das stimmt. Denn die Muster der weltweiten Wanderungsbewegungen haben sich verändert. Fünf große
Trends hat das von Hein de Haas geleitete Projekt
über Bestimmungsfaktoren der Migration an der
Universität Oxford aufgezeigt: Erstens ist Westeuro-
pa, von wo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
noch viele nach Amerika oder Australien ausgewandert waren, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Einwanderungsregion geworden. Im Zuge der Dekolonisierung kamen Menschen aus den früheren Kolonien
in Nordafrika, Südasien und Indonesien in die „Mutterländer“ Frankreich, Großbritannien beziehungsweise Niederlande. Deutschland holte im Zuge des
Wirtschaftswunders „Gastarbeiter“ aus Südeuropa
und der Türkei. Auf den Fall des Eisernen Vorhangs
folgte ab den 1990er Jahren eine starke Wanderung
von Ost- nach Westeuropa.
Zweitens wandelte sich Lateinamerika von einer
Einwanderungs- zu einer Abwanderungsregion. Ein
Grund ist, dass der Subkontinent
bis in die 1990er Jahre ökonomisch
wieder gegenüber dem Norden zurückgefallen ist. Drittens blieben
Nordamerika und Australien klassische Zuwanderungsregionen, doch
die Migranten kommen nun aus
Lateinamerika sowie aus Süd- und
Südostasien. Viertens traten Länder
wie die Philippinen, Marokko oder
Indien als neue Quellen von Migranten auf. Und fünftens sind die
reichen Ölstaaten am Persischen
Golf seit den 1990er Jahren zu einem der größten
Anziehungspunkte für Migranten geworden, vor allem aus Asien.
So kommen Migranten heute aus mehr Ländern
des Südens als früher und gehen in weniger Aufnahmeländer, vorzugsweise reiche. Dort ist der Anteil
von Migranten an der Bevölkerung höher als in armen und er steigt. Im Schnitt liegt der Anteil jetzt bei
13 Prozent mit großen Unterschieden von Land zu
Land (siehe Grafik). Nach Europa kommen aus mehr
Herkunftsregionen jeweils kleinere Gruppen.
Kommen vor allem die Armen zu uns?
Nein. Außer im Fall der früheren Kolonialmächte stammt die
Mehrheit der Zugewanderten in Europa aus anderen Ländern
dieses Kontinents. Und die Mehrheit der überregionalen Migranten weltweit kommt aus Ländern mit mittlerem Einkommen. Wie viele sich wo neu auf den Weg gemacht haben, hat
das Wittgenstein Center in Wien aus Daten über den Bestand
an Migranten in jedem Land errechnet. Danach ist seit 1990
die Abwanderung aus Afrika viel langsamer gewachsen als aus
Südasien. In den fünf Jahren von 2005 bis 2010 haben Afrika
rund 3,3 Millionen Migranten verlassen; aus Lateinamerika,
wo halb so viele Menschen leben, waren es 5,4 Millionen und
8,5 Millionen aus Südasien, das anderthalb Mal so viele Einwohner hat wie Afrika. Die größten überregionalen Migrationsströme gehen heute von Südasien in die Golfstaaten und
von Mittelamerika in die USA. Grob die Hälfte der Afrikaner,
die ins Ausland gehen, bleibt auf dem Kontinent – viel mehr
als bei Lateinamerika und Südasien.
Zudem kommen Migranten aus dem Süden in aller Regel
nicht aus armen Schichten ihres Heimatlandes. Wer hungert
oder im Elend lebt, hat kaum
Chancen, nach Europa zu gelangen. In den Norden gehen
die, die dazu die nötigen Mittel haben: Geld und eine gewisse Bildung. Wichtig ist
auch ein Netzwerk von
Landsleuten oder Verwandten im Zielland, das beim Start hilft. Viele Migranten gehen in
Länder und Städte, wo bereits Landsleute sind.
Werden das Bevölkerungswachstum und Umweltkrisen
mehr Süd-Nord-Wanderung bringen?
Nicht unbedingt. Experten rechnen damit, dass in Zukunft
mehr Menschen infolge von Umweltkrisen ihre Lebensgrundlage verlieren. Ein großer Teil der Opfer dürfte jedoch im eigenen Land oder in Nachbarländern bleiben. Bei Naturkatastrophen ist das bisher die Regel – schon weil den Betroffenen die
Mittel für den Weg in reiche Länder fehlen. Auch schleichende
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flucht und migration schwerpunkt
Kann man Migration mit Grenzzäunen aufhalten?
Das können demokratische und wirtschaftlich offene
Staaten nur sehr begrenzt. Zum einen wacht die Justiz
über Schutzrechte von Flüchtlingen oder das Recht
auf Familiennachzug. Zum anderen behindern
Grenzkontrollen den Außenhandel, weshalb mächtige Lobby-Gruppen aus der Wirtschaft dagegen arbeiten. Das Ergebnis ist eine widersprüchliche Politik.
Das von Hein de Haas geleitete Projekt hat statistisch
untersucht, wie viele Änderungen von Zuwanderungsregeln in europäischen und anderen Zielländern liberal oder restriktiv waren. Ergebnis: Die Regeln für Einreise, Aufenthalt und Integration sind
ständig gelockert worden – besonders für Studierende und qualifizierte Migranten. Gleichzeitig wurden
die Grenzkontrollen verschärft, um unerwünschte
Gäste auszufiltern. Seit den 1990er Jahren wurden zudem die Regeln für Ausweisungen schärfer.
Grenzkontrollen in Demokratien können Zuwanderung erschweren, aber nicht verhindern. Migranten finden dann andere Wege – notfalls mit Schleusern. Und der gegenwärtige Ansturm von Flüchtlingen lenkt davon ab, dass irreguläre Migranten meist
legal einreisen: Laut einer Untersuchung der Internationalen Organisation für Migration von Mitte 2015
waren neun von zehn afrikanischen Migranten in
Spanien mit Visum eingereist und dann abgetaucht
– genauso wie Mitte der 1990er Jahre die große Mehrheit der „irregulären“ Mexikaner in den USA. Da sind
Grenzkontrollen nutzlos. Sie können sogar kontraproduktiv sein: Wer befürchten muss, nach einer
Ausreise nicht zurück zu dürfen, bleibt im Gastland
und holt seine Familie nach, statt sie im Heimatland
zu besuchen. Dieser Effekt hatten zum Beispiel der
Anwerbestopp für türkische Gastarbeiter in Deutschland und die Befestigung der US-Grenze zu Mexiko.
Grenzbarrieren sind oft, wie der Politologe Peter Andreas in den 1990er Jahren für die USA feststellte, innenpolitisches Theater: Sie besänftigen fremden-
Katastrophen infolge des Klimawandels dürften in erster Linie
Wanderung im Land oder der Region auslösen, etwa von Bangladesch nach Indien. Das Bevölkerungswachstum wiederum
bestimmt, wie viele junge Menschen aus einem Gebiet abwandern können, aber es sagt allein nichts darüber, wo sie das tun.
Entscheidend dafür sind politische Stabilität und wirtschaftliche und soziale Entwicklung. „Aus den Golfstaaten, wo die Bevölkerung stark wächst, wandert niemand ab, wohl aber aus
Osteuropa, wo sie schrumpft“, sagt Hein de Haas, der nun Professor in Amsterdam ist.
Lässt sich Abwanderung mit Entwicklung bremsen?
Nur langfristig. Kurz- und mittelfristig kann man auf Fluchtursachen einwirken, indem man Kriege beendet und Geflohene
unterstützt. Aber die Arbeitsmigration nimmt zunächst zu,
wenn sich sehr arme Länder entwickeln: Auf dem Land werden
Arbeitskräfte freigesetzt, die Verstädterung wird beschleunigt,
die Gesellschaft mobiler. Menschen verlieren alte Lebensgrundlagen, haben aber neue Chancen, bessere zu finden. Mit
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feindliche Strömungen und nähren Schleuser, ohne
die Zahl der Migranten erheblich zu verringern.
Soll man die Schleuser bekämpfen?
Das ist Unfug – selbst wenn man davon absieht, dass
die meisten Migranten legal einreisen. Schleuser zu
bekämpfen, macht informelle Einreisen schwieriger
und teurer und damit das Schleusen lukrativer. Das
wird aber Migranten nicht aufhalten, die längst sogar Lebensgefahr in Kauf nehmen, um ihre Chance
im Norden zu suchen. Es ändert nichts an den Gründen der Arbeitsmigration – etwa der Nachfrage nach
billiger Schwarzarbeit im Norden. Und erst recht ändert es nichts an Fluchtursachen. Wer sollte unter
dem Bombardement in Aleppo ausharren, weil in
der Ägäis Schleuser bekämpft werden?
Schrecken Einschränkungen der Sozialleistungen
und des Asylrechts Migranten ab?
Das ist unwahrscheinlich. Ob Flüchtlinge zurückgehen, hängt davon ab, ob der Krieg in ihrer Heimat endet; so ist die Mehrheit der Bosnier, die nach Westeuropa geflohen waren, nach dem Frieden von Dayton
1995 zurückgekehrt. Aber Frieden ist in Syrien, dem
Irak und Afghanistan nicht in Sicht, Flüchtlinge von
dort können nicht zurück. Ihnen Hilfen zu kürzen
und den Zugang zu Asyl zu erschweren, führt vor allem dazu, dass EU-Staaten um die schärfsten Regeln
wetteifern und sich Flüchtlinge gegenseitig zuschieben. Auch gegen Migration hilft Knauserigkeit wenig.
Migranten suchen sich ihre Ziele nach Jobchancen
und den Netzwerken aus, auf die sie zurückgreifen
können. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Sozialleistungen ein Kriterium sind, erklärt
de Haas. Sonst würden nicht so viele in die USA und
nach Großbritannien gehen, wo die Sozialsicherung
schlecht ist.
der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, dem Bildungsniveau und den Einkommen verbessern sich die Möglichkeiten, ins Ausland zu gehen oder einen Familienangehörigen zur Arbeit in den Norden zu schicken. Wenn später der
Wohlstand weiter zunimmt, sinkt die Abwanderung wieder
und wandelt sich in Zuwanderung. Diesen sogenannten Migrationsübergang haben Südeuropa und dann Osteuropa nach
der Aufnahme in die Europäische Union durchlaufen und inzwischen auch die Türkei: Dort wandern nun mehr Menschen
zu als ab, erklärt de Haas – Flüchtlinge nicht mitgerechnet.
Wenn Subsahara-Afrika sich schneller entwickelt, dürfte
also die Abwanderung zunächst wachsen. Man muss aber deshalb keinen Ansturm auf Europa fürchten. Die Zuwanderung
aus anderen Regionen dürfte sinken. „Vermutlich wird sich
nicht die Zahl, sondern die Herkunft der Migranten in Westeuropa ändern: vielleicht weniger Türken und Osteuropäer und
mehr Afrikaner“, sagt de Haas. Zudem dürften neue Länder
zum Ziel von Migranten werden – etwa China, wenn es politisch und wirtschaftlich stabil bleibt. Schon heute gehen Migranten aus Asien und selbst Afrika dorthin.
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schwerpunkt flucht und migration
Wie viele Einwohner sind Migranten?
Länder mit niedrigem 2000
Pro-Kopf-Einkommen 2015
1,8 %
1,4 %
Länder mit mittlerem 2000
Pro-Kopf-Einkommen 2015
1,1 %
1,2 %
Anteil an der Bevölkerung
Länder mit hohem 2000
Pro-Kopf-Einkommen 2015
9,2 %
Deutschland 2000
2015
Teil der Migranten, der aus einer anderen Großregion
stammt.
Zugrunde liegen die sechs Großregionen Europa, Afrika,
Nordamerika, Lateinamerika und Karibik, Asien, Ozeanien.
12,5 %
11,0 %
14,9 %
Schweiz 2000
2015
21,9 %
Österreich 2000
2015
12,4 %
Frankreich 2000
2015
17,5 %
10,6 %
12,1 %
Großbritannien 2000
2015
8,0 %
USA 2000
2015
29,4 %
Teil der Migranten, der nicht aus Europa stammt.
Teil der Migranten, der nicht aus Nordamerika stammt.
13,2 %
12,3 %
Teil der Migranten, der nicht aus Asien stammt.
14,5 %
Saudi-Arabien 2000
2015
24,6 %
0
5
10
15
20
25
Quelle: UN Population Division (www.unpopulation.org), Stand 2015
32,3 %
30
35
Prozent
40
©
Gefährdet zu viel Zuwanderung den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie?
Die Frage ist offen. Die Antwort wird sich unter anderem daran ablesen lassen, ob der Aufschwung
von Populismus und Fremdenfeindschaft anhält. Eine intelligente Verteidigung der These liefert
der niederländische Soziologe und
Journalist Paul Scheffer. Er betont,
dass Migration einen doppelten
Verlust bedeutet: Zuwanderer lassen ihre gewohnte Lebenswelt zurück und verändern unwiderruflich die der Eingesessenen. Man
müsse nun neue staatsbürgerliche
Gemeinschaften unter Einschluss
der Zuwanderer aufbauen und die
damit verbundenen Konflikte und kulturellen
Spannungen austragen. Doch kann das nur gelin-
gen, wenn man die Zuwanderung bremst und Grenzen schließt? Dagegen spricht: Der Verlust an Gemeinsinn und demokratischer Mitbestimmung in
Europa, den Scheffer beklagt, geht nicht in erster
Linie auf Zuwanderung zurück.
Größeren Einfluss haben Fehlentwicklungen wie wachsende soziale Ungleichheit, die Ausweitung
prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die Privatisierung und
Verödung öffentlicher Räume. Sie
begünstigen auch irreguläre Zuwanderung und erschweren es,
Migranten zu integrieren. Wer
aber gegen diese Fehlentwicklungen angehen will, muss sich mit
einflussreichen Teilen der eigenen Bevölkerung anlegen. Zäune zu bauen, erscheint erst einmal leichter. ZUM WEITERLESEN
Bernd Ludermann
.
ist Chefredakteur von
Mathias Czaika und Hein de Haas
The Globalization of Migration: Has
the World Become More Migratory?
International Migration Review vol. 28
no. 2 (2014), http://onlinelibrary.wiley.
com/doi/10.1111/imre.12095/epdf
Paul Scheffer
Die Eingewanderten
Toleranz in einer grenzenlosen
Welt
Carl Hanser Verlag, München 2016
(Neuausgabe), 536 S., 22,90 Euro
UN-Daten zum Bestand an Migranten
weltweit: www.unmigration.org
Daten des Wittgenstein Center über
Wanderungsbewegungen:
http://www.global-migration.info/
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
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schwerpunkt flucht und migration
Auf vermintem Gelände
Ein junger Salvadorianer ist in die USA geflohen – nun ist er wieder zurück
El Salvador gilt als gefährlichstes Land in Amerika: Die Gewalt der Jugendbanden ist außer
Kontrolle geraten. Misael Contreras hat versucht, ihr zu entkommen.
Text und Foto: Cecibel Romero
M
isael Contreras blickt
ständig um sich: nach
links, nach rechts, über
die Schulter. Er sitzt am Tisch eines kleinen Cafés in einer lauten
Shopping Mall, Menschen mit
vollen Plastiktüten gehen vorüber. Contreras ist in ständiger
Alarmbereitschaft. Auch wenn er
im Stadtbus unterwegs ist. „Du
weißt nie, wann und von woher
etwas kommt“, sagt er. Seit vier
Monaten lebt er wieder in El Salvador, seitdem steht er unter
Hochspannung. Vorher war er
acht Jahre lang in den USA – illegal. Und doch war er dort viel ruhiger.
Mit knapp 18 Jahren schickte
ihn seine Familie in den Norden.
Die Risiken auf dem Weg – Überfälle, Entführungen, Tod – spielten keine Rolle angesichts der
Gefahr, die ihm zu Hause drohte:
dem Zwang, sich einer Mara anzuschließen, einer jener gefährlichen Jugendbanden, die in Zentralamerika ganze Stadtteile kontrollieren und jeden jungen Mann
mit dem Tod bedrohen, der nicht
mitmachen will. Im Vergleich
dazu kam ihm der lange Weg in
den Norden fast schon wie eine
Abenteuerreise vor. 6500 USDollar hat seine Familie dem „Coyoten“ bezahlt, dem Schlepper,
der ihn über die Grenze brachte.
Einen Monat war Misael unterwegs.
Heute kassieren die „Coyoten“
12.000 Dollar für solche Dienste,
ihre Arbeit tun sie seit Jahrzehnten. Die Massenauswanderung
von Salvadorianern in die USA begann in den 1980er Jahren, eine
Folge des bis 1992 dauernden
zwölfjährigen Bürgerkriegs. Mehr
als zwei Millionen Salvadorianer
– rund ein Drittel der Bevölkerung – leben heute nach Schätzungen der Regierung in den Vereinigten Staaten. Der Krieg ist
längst vorbei, doch die Gewalt hat
in den vergangenen Jahren stetig
zugenommen. Heute sterben in
El Salvador so viele Menschen eines gewaltsamen Tods wie zu Zeiten des Bürgerkriegs: Damals
wurden im Durchschnitt 6600
Menschen pro Jahr getötet, so viele wie im vergangenen Jahr. Das
treibt viele Salvadorianer in die
Flucht. In Guatemala hat sich die
Zahl der Asylanträge zwischen
2013 und 2014 nahezu verdoppelt, in Mexiko verdreifacht und
in den USA sogar vervierfacht.
Ilopango, ein Vorort der
Hauptstadt San Salvador, gilt als
besonders gefährlich. Dort wohnt
Misael bei seinen Großeltern. Verantwortlich für die Gewalt sind
vor allem die Jugendbanden. Die
größte, die mehrere zehntausend
Mitglieder zählende „Mara Salvatrucha“, haben Kinder von Flüchtlingen in den 1980er Jahren in Los
Angeles gegründet. Nach dem
Ende des Krieges wurden die kriminellen Jugendlichen nach El
Salvador abgeschoben und errichteten dort ihre Herrschaft aus
Angst und Erpressung. Mit anderen Banden liefern sie sich blutige
Gefechte um Einflussgebiete, sie
handeln mit Drogen und erpressen Schutzgeld.
Aus diesem Hexenkessel ist
Misael geflohen. Er wollte eigentlich bleiben und den Hauptschulabschluss nachholen. Aber an den
Schulen versuchten die Maras,
neue Mitglieder anzuwerben, erst
freundlich und dann mit Gewalt.
Er wurde überfallen, es kam zu einer Schlägerei. „Aber ich hatte
Glück“, erzählt er. „Ein Straßenköter in der Nähe hat sich so aufgeregt, dass er einen der Angreifer
gebissen hat. Da haben sie aufgehört.“ Fortan aber war es für ihn
noch gefährlicher in Ilopango.
Der Stadtpark, die Bushaltestellen, alle öffentlichen Orte wurden
schon damals und werden noch
immer von Maras kontrolliert. Er
sah keine andere Möglichkeit
mehr, als seiner Mutter zu folgen.
Die war schon drei Jahre zuvor illegal in die USA ausgewandert.
A
n einem frühen Morgen
des Jahres 2008 stieg Misael an einer Tankstelle im
US-Bundesstaat Maryland aus
dem Bus. Seine Mutter wartete
dort auf ihn. „Ich war im Land der
unbegrenzten Möglichkeiten“, erzählt er. „Ich war entspannt. Ich
wusste, dass ich hier irgendetwas
arbeiten konnte und niemand
mich daran hindern würde.“ In
seinem ersten Job arbeitete er als
Gärtner. Er verdiente 9,50 US-Dollar in der Stunde. Später schuftete
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
Misael Contreras lebt in einem
Vorort von San Salvador, der als
besonders gefährlich gilt. Die USRegierung hat ihn dorthin zurückgeschickt.
Cecibel Romero
ist freie Journalistin in San Salvador.
Sie schreibt unter anderem für die
„tageszeitung“ und betreibt mit
einem Kollegen das Journalismus-Büro
Latinomedia.
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er auf dem Bau und bekam zwischen 600 und 700 Dollar in der
Woche. Viel Geld, denn in El Salvador verdienen Arbeiter den Mindestlohn von gerade mal 242 Dollar im Monat. Doch dann kam die
Banken- und Immobilienkrise
und er wurde entlassen. Später
lieferte er für einen Großhändler
Lebensmittel aus, stürzte dabei
aber schwer und verlor am Tag
darauf seine Arbeit. Immerhin
hat ihm ein Anwalt eine Abfindung erstritten.
Contreras tat sich dann mit
einem salvadorianischen Freund
zusammen, der als selbstständiger Mechaniker Autos reparierte.
„Ich hatte keine Ahnung“, sagt er
und lacht. „Ich konnte nicht einmal einen Reifen wechseln.“ Er
lernte durch Zuschauen und
Nachmachen und bald florierte
das Geschäft. Misael kaufte sich
ein Motorrad, obwohl er keinen
Führerschein hat. Weil er immer
wieder von der Polizei angehalten
wurde, sammelte er ein paar
Strafzettel. Zuletzt erwischte man
ihn, als er den Wagen eines Kunden Probe fuhr. Er kam als Wie-
derholungstäter vor Gericht und
wurde zu zehn Tagen Arrest verurteilt. Damit hatten die Behörden seine Adresse. Und am frühen Morgen des 13. März 2015
wurde er von Beamten der Einwanderungsbehörde geweckt.
D
ie Gefahr war ihm eigentlich bekannt. „Seit 2015
kann jeder Illegale, der mit
dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, verhaftet werden – selbst
dann, wenn es sich um eine Bagatelle handelt“, weiß Misael. Sieben
Monate war er im Gefängnis, weil
er kein Geld für die Kaution hatte.
Sein Anwalt kämpfte vergeblich
gegen eine drohende Abschiebung. Das Gericht argumentierte,
er habe schließlich in den USA
keine Familie zu ernähren.
Contreras beantragte Asyl mit
dem Argument, er wohne in El
Salvador in einer von Banden
kontrollierten Gegend, als junger
Mann sei dort sein Leben in Gefahr. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen sieht
das genauso: In den Ländern El
Salvador, Guatemala und Hondu-
ras herrsche auf Grund der weit
verbreiteten Gewalt eine Flüchtlingskrise. Doch der Asylantrag
wurde abgelehnt. Contreras wurde abgeschoben - als einer von
gut drei Millionen Menschen aus
Zentralamerika, die in der bisherigen Regierungszeit von Präsident Barack Obama deportiert
wurden. Lateinamerikaner in den
USA nennen Obama deshalb den
„Deportador en Jefe“, den „Chefabschieber“.
Als Misael Contreras am 27.
Oktober vergangenen Jahres in El
Salvador landete, holte ihn sein
Großvater vom Flughafen ab. Ilopango am Rande von San Salvador hat sich stark verändert. „Es
ist nicht mehr so, wie es war, als
ich gegangen bin“, sagt er. „Das ist
heute richtig vermintes Gelände.“
An jeder Ecke stehen schwer bewaffnete private Wachmänner,
viele Straßen sind mit hohen Toren für den Durchgangsverkehr
gesperrt. Seit er zurück ist, schläft
Misael jede Nacht nur für wenige
unruhige Stunden. 2008, als er
ging, gab es in El Salvador 55 Morde pro 100.000 Einwohner. 2015
waren es 104 – der weltweit höchste Wert aller Länder außerhalb
von Kriegsgebieten.
Contreras traut sich kaum auf
die Straße. Chancen auf einen Job
hat er nicht. „Wenn der Arbeitgeber meine Adresse sieht, heißt es
gleich: Ach so, du bist von dort,
wo
die
Mara
Salvatrucha
herrscht“, erzählt er. Zehn Jahre
lang darf er nicht mehr in die USA
einreisen. Das kümmert ihn
nicht. Er will wieder weg, sobald
er das Geld für einen „Coyoten“
aufgetrieben hat. Es hat ja schon
einmal geklappt. 19
20
schwerpunkt flucht und migration
Wunderbare
Parallelgesellschaften
Die Flüchtlinge werden Deutschland verändern. Das ist
anstrengend und erfordert Mut und Offenheit. Beides ist das
beste Rezept gegen die um sich greifende Angst.
Von Hadija Haruna-Oelker
D
eutschland Anfang 2016 ist in drei Lager geteilt: die Optimisten, die Hasserfüllten und
die Skeptiker. Wochenlang war über die ersten
beiden Gruppen geschrieben, über ein helles und ein
dunkles Deutschland sinniert worden. Inzwischen
ist klar, dass es dazwischen noch eine Gruppe gibt:
jene, die nie zu einer Pegida-Demonstration gehen
würden, sich aber sorgen, dass Angela Merkel sich
verhoben hat. Wir schaffen das! Schaffen wir das
wirklich?
Integration bedeutet,
Absolutheitsansprüche aufzugeben,
für alle gesellschaftlichen Gruppen.
Nach dem Sommer der Hilfsbereitschaft befindet sich das Land im Gefühlskater. Die Jubelrufe an
den Bahnhöfen sind verhallt. Dort warten inzwischen mehr und mehr Bundespolizisten auf die Geflüchteten. Der Stimmungsumschwung hat auch
mit der paternalistischen Haltung zu tun, die in der
Helferstimmung lag. Wer viel erwartet und enttäuscht wird, verbittert irgendwann. Wie die Migrationsströme steuern und die Außengrenzen schützen
– das sind die Fragen, die jetzt bewegen. Kein Wunder. Wo von „Strömen“ geredet wird, ist ein Denken
in Begriffen wie „Eindämmen“ nicht weit. Und die
Flüchtlingslager brennen wieder, in steigender Zahl.
Erinnerungen an die 1990er Jahre werden wach.
Inzwischen hat auch das Thema „unsere Werte“
wieder Hochkonjunktur. Ich frage mich, von welchen Werten genau, von welchem „uns“ gesprochen
wird. Die Sorge um „unsere Werte“ ist für mich Ausdruck eines Hilferufs in einer komplexer werdenden
Welt – ob es nun darum geht, sich mit der Fremdheit
der Geflüchteten oder mit vermeintlichen Parallelgesellschaften auseinanderzusetzen oder seit der
Silvesternacht von Köln patriarchalische Frauenbilder abzuwehren. Persönlich ist mein wichtigster
Wert die Freiheit. Im Extremfall verstoßen Extremisten dagegen – im Alltag mein Gegenüber durch rassistisches Verhalten oder Denken, etwa durch die
pauschale Be- oder Verurteilung bestimmter Gruppen. Auch die Fähigkeit zu differenzieren ist ein
wichtiger Wert. Er ist die Grundlage des Rechtsstaats.
Viel wird derzeit über Integration geredet. Über
die Idee der CSU zum Beispiel, die Flüchtlinge auf die
„deutsche Leitkultur“ verpflichten will. Früher bezog
sich diese Debatte hauptsächlich auf Zuwanderer
und ihre Nachkommen, etwa aus der Türkei oder Italien, auf die sogenannten Gastarbeiter. Jetzt geht es
um die Neuankömmlinge aus Syrien, Afghanistan
oder um die Eritreer der nächsten Generation. Der
Tenor ist gleich geblieben. Wer will und Deutsch
lernt, wer sich anstrengt und anpasst, soll eine faire
Chance in Deutschland bekommen. Oder besser gesagt: kann dafür kämpfen, eine solche Chance zu bekommen. Denn genau das bedeutet es für viele Einwandererkinder.
Viele von ihnen leben eine „hybride Kultur“, wie
es in der Sozialwissenschaft heißt: Sie fühlen sich
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
für die der Verlust deutscher Werte kein Ende zu nehmen scheint, sich in die Enge gedrängt fühlen.
E
Hier in Berlin-Kreuzberg wohnen
Menschen aus 120 Nationen.
Die Gesellschaft ist vielfältiger, als
viele Deutsche wahrhaben wollen.
getty images
Hadija Haruna-Oelker,
Jahrgang 1980, lebt und arbeitet als
Autorin, Redakteurin und Moderatorin
in Frankfurt am Main. Ihre Schwerpunkte sind Jugend und Soziales,
Migration und Rassismusforschung.
| 3-2016
mehreren kulturellen Räumen zugehörig. Und sie
zählen zu einer Generation, die sich selbstbestimmte Namen gibt. Sie sind die Schwarzen, die Neuen
Deutschen, die People of Colour Generation, und sie
fordern Verständnis dafür, dass noch nie alle Deutschen weiß waren und dass „unsere Werte“ neu überdacht werden müssen. Auch mein Werteverständnis
wurde geprägt von der Erziehung einer christlichdeutschen Mutter und eines muslimisch-ghanaischen Vaters. Mein Wertekanon ist vielfältig. Das ist
ein Gewinn. Ihn anderen zu vermitteln, kostet allerdings nicht selten Kraft.
Nicht ohne Grund haben sich deshalb die Kinder
meiner Generation zusammengetan. Sie schreiben,
performen oder bloggen über unser gesellschaftliches Verständnis, um unseren Wertevorstellungen
in „unserer“ Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Es
geht um die Kopftuch-Frage, um das vermeintliche
Integrationsdefizit, die Nationalhymne bei der WM
nicht mitzusingen, um rassistische Wörter in Kinderbüchern, diskriminierende Polizeikontrollen
oder die Frage nach den Grenzen von Satire. Diese
Kinder „mit Migrationshintergrund“, die nicht länger so genannt werden wollen, verhandeln jetzt mit.
Sie sind Deutschlands Kinder und Zukunft: aufgewachsen mit oder ohne deutschen Pass, als binationale und „Optionskinder“, die sich mit spätestens 23
Jahren für oder gegen die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden müssen, als Langzeitgeduldete
oder irgendwann als die Nachkommen der jetzt neu
dazukommenden Geflüchteten. Kein Wunder, dass
diejenigen, die die Political Correctness hassen oder
s ist Zeit, anzuerkennen, dass „wir“ noch um einiges heterogener in Deutschland sind, als vielen
bewusst ist. Wir sind religiös und atheistisch. Wir
sind arm und reich, ohne Schulabschluss oder mit
Hochschulbildung. Wir sind deutsch – mit und ohne
Zuwanderungsgeschichte. Wir sind Ausländer. Wir
entsprechen körperlich oder geistig der gesellschaftlichen Norm oder nicht. Wir leben heterosexuell und
gleichgeschlechtlich, leben zweigeschlechtlich oder
transsexuell. All das sind wir. Wir sind nicht einheitlich, wir leben verschiedene Leben in unterschiedlichen Milieus – in vielen Parallelgesellschaften.
Für mich ist deshalb die Grundlage der Integration die Pluralität. Integration ist nicht nur ein Vorgang, bei dem die Neuen zu den Alteingesessenen
hinzukommen. Integration bedeutet, Absolutheitsansprüche aufzugeben, für alle gesellschaftlichen
Gruppen. Drehen wir die Perspektive um: Was muss
eine Gesellschaft leisten, um integrieren zu können?
Sie muss verstehen, dass sich dazu alle Seiten anstrengen müssen. Dass es Engagement und Bereitschaft braucht, Menschen offen zu begegnen, ihre
Geschichten zu akzeptieren und dabei die eigene
nicht zu vergessen.
Eine solche Gesellschaft versteht diesen Vorgang
nicht als Einbahnstraße. Sie ist offen und erklärt, sie
gibt allen Seiten Zeit, zu verstehen. Sie verordnet
nicht und fordert auch keine Assimilation, also die
einseitige Anpassung der Minderheiten an die Mehrheit. Sie ist bereit, sich mit ihnen zu verändern, und
wagt es, den Bedürfnissen aller Rechnung zu tragen
– in allen Lebensbereichen: in den Schulen, auf dem
Arbeitsmarkt, in der Politik. Dazu muss eine integrierende Gesellschaft bereit sein, sich von Idealvorstellungen zu verabschieden und „die Widersprüche der
Wirklichkeit auszuhalten und mit dem eigenen Unvermögen konfrontiert zu bleiben“, wie Bundespräsident Gustav Heinemann das Grundproblem „der
Deutschen“ einst beschrieb. Das auszuhandeln, geht
nicht ohne Konflikte und Frustrationen. Doch haben
wir jahrelange Erfahrung mit Zuwanderung gemacht.
So braucht unsere Gesellschaft auch den Glauben an ihre eigene Kraft und den Mut, Fehler zu machen. Es braucht mehr Empathie und muss nicht
immer gleich alles glatt laufen. Oder wie die Journalistin Dunja Hayali es in ihrer Dankesrede bei der
Verleihung der Goldenen Kamera in der Kategorie
„Beste Information“ Anfang Februar ausdrückte:
„Wahrheit braucht einfach Zeit.“ Wie sinnvoll wäre es,
endlich an gemeinsamen Werten zu arbeiten und
sich dabei zu fragen, in welcher Welt wir gemeinsam
in Deutschland leben wollen. Beginnen wir mit dem
Verbindenden – ohne Angst, denn die „fressen bekanntlich Seele auf“. Denn sollten die erstarkenden
Ressentiments gegen muslimisches Leben weiter
wachsen, dann wird uns das nachhaltig schaden.
Dann hätten wir aus unserer Geschichte so gar
nichts gelernt.
21
22
schwerpunkt flucht und migration
„In Europa ist
das Führungsversagen katastrophal“
Wer Flüchtlinge und Arbeitsmigranten an den Grenzen stoppen will, muss auf sie schießen lassen
Gespräch mit François Crépeau
Dass reiche Länder ihre Grenzen
abschotten, ist sinnlos und unmenschlich, sagt der Völkerrechtler
François Crépeau. Als UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten hat er sich
besonders mit Grenzpolitik in Europa und mit der Ausbeutung von
Arbeitsmigranten weltweit befasst.
Europa will den Zustrom von
Flüchtlingen und Migranten verringern. Ist die Schließung der nationalen oder europäischen Grenzen
eine Option?
Das hat in den vergangenen
50 Jahren noch nie funktioniert.
Die meisten Grenzen auf der Welt
sind durchlässig – eine Ausnahme
ist Nordkorea. Man kann Grenzen
schließen, indem man alle zehn
Meter einen Soldaten mit Schießbefehl hinstellt. Aber so funktionieren Demokratien nicht. Und
hier wird territoriale Souveränität
falsch verstanden, als bedeute sie,
niemanden auf das eigene Territorium zu lassen, den man dort
nicht haben will. Aber sie bedeutet, dass man wissen sollte, wer
über die Grenze kommt. Mit der
Verbotspolitik drängen wir viele
Migranten in die Hände von
Schleuserringen. Die helfen ihnen
„An vielen Grenzen weltweit
wird Gewalt angewendet. Wir sind bereit,
dabei Verluste hinzunehmen.“
über die Grenze, ohne dass Behörden davon erfahren. Der Versuch,
Grenzkontrollen zu verschärfen,
hat dafür gesorgt, dass Staaten die
Kontrolle über ihre Grenzen verlieren. Wir schießen uns ins eigene Knie.
Geht es nur darum, zu wissen wer
kommt – nicht auch auszuwählen,
wer kommen darf?
Die Idee, auszuwählen, wer
kommen darf, ist erst zwei Jahrhunderte alt. Hier kann man zwischen Flüchtlingen und anderen
Migranten unterscheiden. Flücht-
linge müssen ihr Land verlassen
und können nicht legal zurückgeschickt werden – im Unterschied
zu Überlebensmigranten, die ihre
Familie in der Heimat nicht ernähren können. Beide werden
aber weiter kommen, ob wir wollen oder nicht; außer wenn wir
auf sie schießen. Und dann würden wir in den meisten europäischen Ländern große Probleme
mit den Gerichten bekommen.
Deshalb wollen wir, dass das außerhalb unserer Grenzen passiert.
Wollen Sie sagen, wir bitten zum
Beispiel die Türkei oder Marokko,
auf Flüchtlinge zu schießen?
Wir wollen, dass sie Flüchtlinge mit allen Mitteln stoppen, so
lange es diskret geschieht. Genau
das passiert bereits. In Marokko
wurden Tausende Menschen festgenommen, und Hunderte wurden in der Wüste nahe der algerischen Grenze abgeladen. Viele
sind verdurstet. Europa hat das
zurückhaltend kritisiert, aber zynisch gesagt wird es als gute Abschreckung angesehen. An vielen
Grenzen weltweit wird Gewalt angewendet. Wir sind bereit, dabei
Verluste hinzunehmen. Wenn es
für Asylsuchende eine Fähre zwischen der Türkei und Lesbos gäbe,
würde dort niemand sterben.
Wenn wir den Hunderttausenden
syrischen Flüchtlingen der vergangenen drei Jahren ein Visum
für 200 Euro angeboten hätten,
hätten die meisten bezahlt und
den europäischen Staaten damit
Millionen Euro eingebracht. Und
die Flüchtlinge hätten Schutz bekommen. Stattdessen nehmen
wir es hin, dass Schleuser sie herbringen und Menschen ihr Leben
verlieren.
Ist es eine Lösung, Flüchtlingslager
außerhalb von Europa zu schaffen,
etwa in Nordafrika?
Wenn Flüchtlinge dort wirklich beschützt werden, ist das eine
gute Sache. Wenn sie aber eher
wie ein Gefangenenlager sind, das
die Abschiebung zurück nach
Hause oder in ein anderes Land
vorbereitet, sind sie Teil des Problems, nicht der Lösung. Weder
Flüchtlinge noch Migranten werden sich einsperren lassen. Wer
seine Familie vor Gewalt oder Armut schützen will, der überwindet die meisten Hindernisse.
Die Motive von Flüchtlingen und
Arbeitsmigranten scheinen sich zu
vermischen. Müssen wir die Unterscheidung zwischen beiden Gruppen überdenken?
Nein. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das Protokoll von 1967 bieten einen guten Schutzmechanismus insbesondere für Flüchtlinge, trotz aller
Mängel. Würden wir die Konvention neu aushandeln, dann würden
die Staaten sich auf ein niedrigeres Schutzniveau einigen. Allerdings: Die Menschenrechte schützen alle, auch Flüchtlinge – und
oft besser als die Flüchtlingskonvention. Laut der sollen Flüchtlinge zum Beispiel wie Staatsangehörige Zugang zu Grundschulen
haben, aber das gilt nicht für weiterführende Schulen. Dagegen
hat unter der UN-Kinderrechtskonvention jedes Kind das Recht
auf Bildung; in manchen Ländern
gilt das bis zum 16. oder 18. Lebensjahr.
Die Genfer Konvention definiert
Flüchtlinge als Personen, die wegen ihrer Rasse, Religion, Natio-
3-2016 |
UN-Photo
flucht und migration schwerpunkt
François Crépeau
ist Professor für Völkerrecht an
der McGill-Universität in Montreal
(Kanada) und seit 2011 Sonderberichterstatter der Vereinten
Nationen zu den Menschenrechten
von Migranten.
„Europa sollte über sechs Jahre jährlich eine halbe
Million syrische Flüchtlinge aus den Transitländern
aufnehmen. Das wäre leicht zu bewältigen.“
nalität, politischen Überzeugung
oder der Zugehörigkeit zu einer
sozialen Gruppe verfolgt werden.
Fallen darunter alle Zivilisten, die
vor Krieg fliehen?
Im Krieg gehört jeder für irgendwen zur falschen Gruppe,
deshalb fliehen die Menschen.
Das ist die weite Auslegung, die
Kanada und sehr häufig auch die
Wo leben die meisten Flüchtlinge
und woher kommen sie?
Die Zahlen beruhen auf den jeweils
jüngsten Schätzungen des UNHCR.
Die Zahlen für Deutschland sind die
Einreisen 2015 bis Januar 2016.
Deutschland
1.091.894
39 %
aus Syrien
Türkei
1.889.780
Iran
90 %
Libanon
982.120
aus Syrien
97 %
1.846.150
Jordanien aus Afghanistan
1.000.630
Pakistan
99 %
Sudan
Tschad
457.130
78 %
1.485.180
94 %
aus Syrien
295.410
42 %
aus Syrien
821.700
aus Eritrea
aus Sudan
Uganda
99 %
Äthiopien
aus Afghanistan
43 %
aus Südsudan
642.210
Kenia
42 %
aus Südsudan
642.850
69 %
aus Somalia
Quellen: UNHCR/Bundesregierung
| 3-2016
©
USA vertreten haben. In Europa
wurde das eher eingeschränkt gedeutet. In Deutschland und
Frankreich galten Zivilisten in einem Bürgerkrieg nicht als Verfolgte. Das hat sich nach Prozessen am Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte geändert. Es
ist nun allgemein anerkannt, dass
die breite Auslegung dem Schutzzweck der Konvention besser entspricht.
Europäische Politiker argumentieren, dass Flüchtlinge aus Syrien in
Jordanien oder der Türkei sicher
sind und deshalb, wenn sie nach
Europa kommen, Wirtschaftsmigranten sind.
Was heißt „sicher” in einem
Land, in dem du die Sprache nicht
sprichst, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt hast und deine Kinder
nicht zur Schule gehen können?
Wie können sie sich und ihren
Kindern eine Zukunft sichern?
Das gilt auch für viele Menschen
außerhalb von Kriegen. Macht es
Syrer, die aus der Türkei zu uns
kommen, zu Flüchtlingen?
Sie sind immer noch syrische
Flüchtlinge – ob in der Türkei oder
in Deutschland. Man kann sie nur
in die Türkei zurückschicken, wenn
die sie wieder aufnimmt, was selten passiert. Und die Türkei hat 1,5
Millionen Flüchtlinge aufgenommen, ohne die internationale Gemeinschaft um Unterstützung zu
bitten. Sie hat hier mit wenig Mitteln viel mehr getan als die meisten europäischen Länder. Außerdem wären die Kosten, um Hunderttausende Migranten zurückzusenden, kaum bezahlbar und es
wäre ein logistischer Albtraum.
Praktisch ist das keine Option.
Wie würden menschlichere und
sinnvollere Regeln aussehen?
Für Flüchtlinge brauchen wir
Umsiedlungen: Gemeinsam mit
dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR wird festgestellt, wo
Menschen nicht bleiben können.
In Syrien wurden zum Beispiel
sieben oder acht Millionen Menschen im eigenen Land oder in
die Nachbarländer vertrieben.
Insgesamt fast vier Millionen Syrer sind in der Türkei, im Libanon
oder in Jordanien. Das wissen wir
schon seit fast fünf Jahren. Aber
Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland haben wenig
unternommen. Also dachten die
Syrer irgendwann: Wenn uns niemand hilft, finden wir eben unseren eigenen Weg. Stattdessen
könnte Europa anbieten, über
sechs Jahre jährlich eine halbe
Million syrische Flüchtlinge aus
den Transitländern aufzunehmen. Das hört sich viel an, ist es
aber nicht, wenn man die Zahl
durch 28 europäische Länder
mit 500 Millionen Einwohnern
teilt. Für Deutschland wären das
80.000 Flüchtlinge pro Jahr, für
die Schweiz 7000. Das könnten
diese Länder leicht bewältigen.
Für die Bootsflüchtlinge aus Vietnam haben wir es in den 1980er
Jahren so gemacht. Wenn das
Programm vorher angekündigt
wird, werden viele Flüchtlinge nicht länger 25.000 Euro an
Schleuser zahlen und ihr Leben
sowie das ihrer Kinder aufs Spiel
setzen. Europa könnte ihnen Visa
ausstellen und Sicherheitschecks
über mehrere Monate in der Türkei, Jordanien oder im Libanon
durchführen statt wie jetzt an
einem überfüllten Strand in Griechenland.
23
24
schwerpunkt flucht und migration
Welche Aufnahmeländer tragen die größte Last?
Flüchtlinge pro 1 US-Dollar Prokopf-Einkommen (Kaufkraftparitäten)
Äthiopien
Pakistan
Uganda
DR Kongo
Tschad
Kenia
Südsudan
Afghanistan
Kamerun
Türkei
Sudan
Niger
Libanon
Ruanda
Burundi
Flüchtlinge pro 1000 Einwohner
469,4
322,5
215,5
207,6
193,1
186,3
134,8
117,4
101,5
94,1
87,5
87,1
80,8
79,7
69,7
0
100
200
300
400
Libanon
Jordanien
Nauru
Tschad
Türkei
Südsudan
Mauretanien
Dschibuti
Schweden
Malta
DR Kongo
Kamerun
Deutschland
Iran
Kenia
Ruanda
Österreich
Schweiz
500
50,6
89,6
31
23,7
22,3
19,4
16,9
14,7
14,6
13,7
13,3
5,9 Asylanträge / 13,3 Einreisen
12,5
12,3
11,7
10,6 Asylanträge
4,9 Asylanträge
0
50
100
Quelle: UNHCR/UN/Bundesregierung/Schweizerische Eidgenossenschaft/Republik Österreich
Die Zahlen beruhen auf UNHCR-Schätzungen von Mitte 2015. Die Zahlen für Deutschland, Österreich und die Schweiz sind von Dezember 2015.
Aber die Europäische Union (EU)
scheint unfähig, sich darauf zu einigen. Sind nationale Maßnahmen
die einzige verbleibende Möglichkeit?
Das ist in der Tat ein Problem.
Mit solchen Maßnahmen kann
man den Zustrom eine Weile verringern, aber es werden weiter
Menschen kommen. Wenn das Leben im Herkunftsland derart
schlecht ist, scheint alles, was auf
dem Weg nach Europa oder in die
USA passieren kann, besser. Die
Flüchtlingskrise in Europa ist kei-
„Migranten kommen nach Europa, weil
Tausende Arbeitgeber Schwarzarbeiter
suchen, die sie ausbeuten können.“
ne der Kapazität, sondern der politischen Führung. Deutschland
und Schweden haben einen Weg
gewiesen, doch leider ist ihnen
niemand gefolgt. Jetzt sind beide
überfordert und die anderen Länder leisten ihren Anteil nicht. Das
Führungsversagen in Europa ist
absolut katastrophal. Politiker
ohne langfristige Vision sorgen
sich nur um die nächsten Wahlen,
und nationalistische und populistische Bewegungen treiben eine
Anti-Einwanderungspolitik vor-
an. Die ist in der Tat eine Form der
Abschreckung: Es werden weniger
Migranten in ein Land kommen,
das ihre Rechte verletzt – sie werden sich andere Länder aussuchen. Ich will keine Untergangsstimmung verbreiten, aber da es
keinen gemeinsamen Willen in
Europa gibt, wird man künftig
mehr nationalistische Wahlsiege,
mehr Schleuserringe und mehr
Tote im Mittelmeer erleben.
Macht es den Umgang mit Flüchtlingen schwieriger, dass gleichzeitig Arbeitsmigranten nach Europa
kommen?
Europa braucht Migranten.
Im April 2015 haben die Volkswagen- und die Siemens-Stiftung gefunden, dass Deutschland
schnellstens Hunderttausende
Migranten braucht, um den Fachkräftemangel zu beheben. Das
hat Angela Merkels Entscheidung
beeinflusst.
In Südeuropa herrscht aber hohe
Arbeitslosigkeit.
Auf dem formalen Arbeitsmarkt. Daneben haben wir im
globalen Norden Untergrund-Arbeitsmärkte akzeptiert, besonders
in Wirtschaftszweigen mit niedrigen Gewinnraten: Landwirtschaft,
Bauwesen, Gastgewerbe und
Pflege. Auf den Tomatenfeldern
in Süditalien zum Beispiel sind
alle Arbeiter Migranten. Sie kommen, weil Tausende Arbeitgeber
Schwarzarbeiter suchen, die sie
ausbeuten können. Die Tomatenpflücker bekommen 20 Euro
für einen Zehn-Stunden-Tag und
haben keine Sozialversicherung.
Aber von diesen 20 Euro können
sie zwei oder drei an ihre Familien zu Hause schicken. Dafür akzeptieren sie die Bedingungen.
Solange der Preis für Tomaten
zu niedrig ist, um den Pflückern
menschenwürdige Löhne zu zahlen, müssen wir akzeptieren, dass
es dort illegale Migranten gibt.
Wie könnte man Arbeitsmigration
besser regeln?
Indem man den illegalen Arbeitsmarkt beseitigt und jedem
erlaubt zu kommen, um Arbeit zu
suchen. Wer eine Stelle findet,
wird offiziell angestellt und erhält
eine Arbeitserlaubnis. Wer nichts
findet, wird woanders hingehen.
Migranten gehen nirgends hin,
wo es keine Arbeitsplätze gibt. Ich
spreche hier nicht von ungeprüften utopischen Modellen: In den
1950er und 1960er Jahren ist Europa genauso verfahren. Damals
kamen Millionen von Nordafrikanern und Türken, alle mit Papieren. Sie suchten einen Job, und
wenn sie einen gefunden hatten,
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flucht und migration schwerpunkt
änderten sie ihr Visum in eine Arbeitserlaubnis. Das ist ein viel effizienteres System als das, was wir
jetzt haben.
208,9
150
200
©
Wird dadurch die Zuwanderung
nicht noch steigen?
Nur am Anfang, langfristig jedoch nicht. Man kann intelligente
Visa für Menschen auf Arbeitssuche entwickeln. Man lässt sie zum
Beispiel über fünf Jahre für drei
Monate pro Jahr nach Europa.
Wenn sie keinen Job finden, ziehen sie entweder weiter oder gehen zurück nach Hause – sonst
können sie nicht legal wiederkommen. Ähnlich war es jahrzehntelang zwischen Mexiko und
den Vereinigten Staaten: Wenn es
Arbeitsplätze in den USA gab, kamen Mexikaner; in einer Rezession gingen sie nach Hause zurück.
Nur wenn man an der Grenze Barrieren baut, bleiben Menschen
auch während einer Krise aus
Angst, später nicht wieder zurückkehren zu können.
Müsste man auch Arbeitgeber, die
Menschen schwarz beschäftigen,
strenger kontrollieren und bestrafen?
Ja. Leider will kein Politiker
Schaden in den Wirtschaftssektoren anrichten, die auf Migranten
angewiesen sind. Die Richtlinie
über Arbeitgebersanktionen wird
in keinem EU-Land angewendet.
Wenn sich Migranten beschweren, ruft der Arbeitgeber die Migrationsbehörde an, und sie werden ausgewiesen. Deshalb sollte
die Arbeitsaufsicht nichts mit der
Einwanderungskontrolle zu tun
haben. Statt die Ausbeutung illegaler Migranten zu akzeptieren,
müssen wir ernsthaft darüber reden, wie wir Wirtschaftszweige
mit niedrigen Gewinnmargen
stützen können, damit sie auch
ohne Ausbeutung wettbewerbsfähig werden. Wir subventionieren
die Luftfahrt oder die Pharmakologie, aber nicht Branchen, in denen Menschen ausgebeutet werden. Der Grund ist: Migranten be-
schweren sich nicht. Sie haben
Angst, in die Heimat zurückgeschickt zu werden.
Ist das Grundproblem, dass Migranten im Gastland keine politischen Rechte haben?
Auf lange Sicht ist es das größte Problem, dass Migranten keine
Stimme auf der politischen Bühne haben. Die meisten benachteiligten Gruppen haben ihre Rechte
dank ihrer politischen Stimme erkämpft. Frauen haben ihr Stimmrecht durchgesetzt und es dann
genutzt, damit diskriminierende
Gesetze geändert wurden. Auf
lange Sicht müssen wir die Verknüpfung zwischen Staatsbürgerschaft und Wahlrecht überdenken
und Stimmrechte mit dem Aufenthaltsort verknüpfen. In Europa
wollte man Migranten ein Stimmrecht auf kommunaler Ebene geben. Das liegt derzeit auf Eis. Aber
es ist der Weg der Zukunft.
Das Gespräch führte
Bernd Ludermann.
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schwerpunkt flucht und migration
„Menschen nicht wie Müll abladen“
Menschenrechtler lehnt Rückführungen nach Afghanistan ab
Gespräch mit Hadi Marifat
Die Bundesregierung will Flüchtlinge aus Afghanistan zurückschicken. Der Menschenrechtler Hadi
Marifat erklärt, warum das verantwortungslos ist – und warum gerade jetzt so viele Menschen sein
Land verlassen.
Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière hält manche Gegenden Afghanistans für sicher
genug, um Flüchtlinge dorthin abzuschieben. Sehen Sie das auch so?
Als der deutsche Minister vor
einigen Tagen nach Kabul kam,
trug er dort einen Schutzhelm.
Und während er beim Mittagessen saß, gab es in der Stadt einen
Selbstmordanschlag mit mehreren Toten. De Maizière sollte es
also eigentlich besser wissen.
Der Anschlag richtete sich gegen
eine Polizeistation in der Hauptstadt. Gibt es nicht Regionen, die
wesentlich sicherer sind?
Im Zentrum des Landes gibt
es einzelne Orte, die man als sicher bezeichnen könnte. Die Taliban sind auch nicht in jedem kleinen Dorf präsent. Aber kein
Mensch kann sich die ganze Zeit
an einem Ort aufhalten. Leute
müssen zum Arzt, in größere
Städte zum Einkaufen. Und unterwegs ist es gefährlich. Im Vorjahr wurden allein auf der Straße
zwischen Kabul und Kandahar
über 50 Menschen entführt, viele
kamen nie zurück. Ein anderer
Punkt ist, dass Afghanistan entlang ethnischer Gruppen geteilt
ist. Man kann einen Paschtunen
nicht einfach nach Zentralafghanistan schicken, wo hauptsächlich Hasaren leben, oder andersrum einen Hasaren in den Süden
des Landes. Das Problem sind
nicht nur die Taliban, sondern
dass der Rechtsstaat viel zu
schwach ist, um Minderheiten zu
schützen.
Ist es moralisch zu verantworten,
Menschen nach Afghanistan abzuschieben?
Nein. Man zerstört die Hoffnung der Menschen, die auf ihrer
Reise oft sehr viel riskiert haben.
Das ist auch psychologisch belastend. Ich kenne einige Afghanen,
die abgeschoben wurden und sich
dann umgebracht haben. Oder sie
wurden von den Taliban aufgegriffen. Man kann die Leute nicht
einfach wie Müll abladen.
Blutet denn das Land nicht noch
weiter aus, wenn immer mehr junge Menschen fliehen?
Es wäre gut für das Land, wenn
sie blieben. Viele haben studiert.
Aber es gibt keine Jobs und keine
Perspektiven. Ich bin 34 Jahre alt,
meine Generation ist im Krieg
geboren und aufgewachsen – und
jetzt ist der Krieg immer noch
da. Aber es gehen ja nicht nur die
Jungen, sondern auch ältere und
ärmere Menschen verlassen das
Land.
Während früherer Kriege sind deutlich weniger Afghanen nach Europa
geflohen. Warum sind es jetzt so
viele?
Als die internationale Koalition in Afghanistan eingriff, hatten viele die Hoffnung, dass es
besser wird. Aber nach 15 Jahren
ist fast nichts besser. 2015 sind
noch mehr Zivilisten getötet oder
verletzt worden als in den Jahren
zuvor. Die Enttäuschung und der
Frust sind einfach riesig, daran
haben auch die ersten demokratischen Wahlen wenig geändert.
Auch der Rückzug der internationalen Truppen ist ein Grund.
Zehntausende Afghanen haben
dadurch ihre Jobs verloren. Viele,
die früher für die internationalen
Truppen gearbeitet haben, wissen
nicht wohin und werden teilweise
sogar bedroht.
Hat die deutsche Flüchtlingspolitik einen Einfluss auf die Entscheidung der Flüchtlinge?
Ich glaube nicht, dass diese Politik der offenen Tür so eine starke
Rolle spielt. Wichtiger ist, dass die
Flucht heute nicht mehr so teuer
ist wie noch vor einigen Jahren.
Vor allem für die Strecke von der
Türkei nach Deutschland oder
Skandinavien müssen Flüchtlinge
manchmal nur noch einige Hundert Euro ausgeben. Durch die
vielen Kriegsflüchtlinge ist die Infrastruktur besser geworden.
Haben die Leute ein idealisiertes
Bild vom Westen?
Europa wird schon als Ideal
wahrgenommen und von den
westlichen Medien auch so dargestellt. Aber es stimmt ja auch: Hier
können die Menschen normal leben, was in Afghanistan derzeit
nicht möglich ist.
Die deutsche Regierung hat vor
einigen Monaten eine Kampagne
gestartet, um die Menschen vor
der Flucht zu warnen – warum
funktioniert das nicht?
Die australische Regierung
macht das schon viel länger und
auch sehr viel drastischer. Gebracht hat es wenig, die Menschen
fliehen trotzdem, weil sie verzweifelt sind. Viele Afghanen hängen
jetzt in Indonesien fest und hoffen darauf, irgendwie nach Australien zu kommen. Die Deutschen
haben einfach ein paar Plakate
mit einem Link zu einer FacebookSeite aufgehängt, dabei nutzen
viele Afghanen gar kein Facebook.
Hadi Marifat ist Mitbegründer der
Afghanistan Human Rights and
Democracy Organization (AHRDO),
die sich mit künstlerischen und
kulturellen Mitteln für die Demokratisierung in Afghanistan einsetzt.
Sebastian Drescher
Was müsste der Westen denn tun,
um die Situation zu verbessern?
Das wichtigste ist die Sicherheit. Die afghanischen Truppen
müssen besser ausgerüstet werden. Und sie brauchen mehr
Unterstützung: Ein Großteil der
ausländischen Truppen im Land
kümmert sich mehr um die eigene Sicherheit, statt die afghanischen Truppen zu unterstützen.
Auch der Einbruch bei der Entwicklungshilfe ist ein Problem.
Wir brauchen mehr Geld, das
aber an bestimmte Konditionen
gebunden ist, etwa den Kampf
gegen die Korruption. Und es
müssen Jobs her, zum Beispiel im
Bergbau.
Trotz allem sind Sie immer noch in
Afghanistan. Warum?
Ich war selbst Flüchtling, meine Familie ging nach Pakistan, als
ich noch ein Kind war. Nach dem
Fall der Taliban bin ich 2003 zurück, meine Familie kam später
nach. Ich hatte das Gefühl, etwas
beitragen und verändern zu können. Seitdem arbeite ich als Menschenrechtler und Aktivist. Aber
natürlich habe ich ständig Zweifel.
Wenn ich morgens zur Arbeit fahre, verabschiede ich mich immer
von meiner Mutter, ohne zu wissen, ob ich abends zurückkommen. Aber wenn es mich erwischt,
dann war es wenigstens nicht umsonst.
Das Gespräch führte
Sebastian Drescher.
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
Träume
vom gelobten Land
Junge Männer fischen am
Gambia-Fluss. Ihre Familie
können sie damit nicht ernähren.
Viele machen sich deshalb auf
den Weg in den Norden.
Wer aus Gambia nach Europa geht, steht unter starkem Erfolgsdruck.
Viele Familien bringen große Opfer, damit ihre Söhne im Norden ihr Glück
machen und Geld zurücksenden.
Text und Fotos: Louise Hunt
E
rleichtert betrachtet Nene Sanneh ein Foto ihres
Sohnes. Es ist kurz nach seiner Rettung aus dem
Mittelmeer entstanden, im Juli 2015. Einen Monat zuvor hatte seine Familie das letzte Mal von Lamin Ceesay gehört – aus Libyen, wo er an Bord eines
Schlepperboots gehen und die gefährliche Überfahrt
nach Italien wagen wollte. „Ich bin so froh zu sehen,
dass es ihm gut geht“, sagt Nene Sanneh. „Wir haben
uns solche Sorgen um ihn gemacht. Ich konnte weder
essen noch schlafen.“
Lamin Ceesay wurde von der nichtstaatlichen Organisation Migrant Offshore Aid Station (MOAS) aus
einem überfüllten Fischerboot gerettet, das ohne
| 3-2016
Treibstoff vor der libyschen Küste trieb. Der einzige
persönliche Gegenstand, den der 26-Jährige bei sich
hatte, war ein Zigarettenpapier mit einem muslimischen Gebet und den Telefonnummern von Verwandten und einem Freund. Er gehört zu den 8500
Gambiern, die es im vergangenen Jahr von Libyen
aus über das Mittelmeer nach Italien geschafft haben.
Warum hat er sein Leben riskiert, um nach Europa zu gelangen? „ Es ist vor allem die Armut. In Gambia funktioniert gar nichts“, erklärt Ceesay in einem
Video-Interview mit MOAS, als er sicher an Bord des
Rettungsschiffs ist. „Dort vergeudet man seine Zeit
mit Nichtstun.“ Seine Freunde hätten ihm gesagt, in
Europa könne er Arbeit finden.
Gambia ist das kleinste Land Afrikas: ein schmaler Streifen entlang des Flusses, der ihm seinen Namen gegeben hat, mit einer Bevölkerung von zwei
Millionen Menschen. Dennoch gehört die westafrikanische Republik laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zu den sechs Nationen, aus
27
schwerpunkt flucht und migration
denen sich in den vergangenen Jahren die meisten
Menschen auf den Weg in den Norden gemacht haben.
Das Land ist zwar politisch relativ stabil, doch es
zählt zu den ärmsten Staaten der Welt. Beim Index
für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen lag es 2014 auf Platz 175 von 188. Seine Wirtschaft
schrumpfte 2014 um 0,7 Prozent: Die Ebola-Angst
bremste den Tourismus, fehlende Niederschläge
schadeten der Landwirtschaft. Die Inflation und die
Lebenshaltungskosten sind gestiegen, das erschwert
vielen Gambiern das Leben, die oft gering qualifiziert
sind und schlecht bezahlte Jobs haben.
L
amin Ceesays Familie lebt in einem Dorf am
Rand des riesigen Ballungsraums von Brikama
an der Atlantikküste. Im Zentrum drängen sich
Marktstände und Händler, an den mit Schlaglöchern
übersäten Straßen reihen sich Eisenwaren- und Reifenhandlungen, unzählige Frauen verkaufen am
Straßenrand Früchte. In den vergangenen zehn Jahren ist die Stadt explosionsartig gewachsen; viele
Menschen aus armen ländlichen Regionen sind zugezogen, um Arbeit zu finden. Aber auch hier sind
Unruhe und Unzufriedenheit spürbar.
Buba Jallow, ein Freund aus Kindertagen, versteht, warum Lamin Ceesay gegangen ist. „Die Familie glaubt, man ist ein gemachter Mann, wenn man in
der Stadt lebt. Aber es gibt einfach keine guten Jobs.
Deshalb machen sich die Leute auf den Weg. Sie spüren den Druck, ihre Familien zu ernähren“, sagt Buba,
der am Strand Ausritte für Touristen organisiert.
„Lamin wollte gehen, um es besser zu haben“, sagt
sein älterer Bruder Pa. In der Dreizimmerwohnung
der Familie leben elf Menschen. Die Wände aus Rigips
bröckeln, der Betonboden ist bis auf ein paar Stücke
abgetretenes Linoleum nackt. Ein ramponierter hölzerner Kleiderschrank ist im Wohnbereich das einzige Möbelstück.
Pa ist der Haupternährer und arbeitet seit zwanzig Jahren als Schneider. „Aber ich verdiene immer
noch nicht genug Geld, um unser Haus instand zu
setzen.“ Sein Vater Mamoud baut Cashewnüsse und
Mais für den Eigenbedarf der Familie an. Die Preise
für Nahrungsmittel schnellten in die Höhe, klagt Pa.
Ein Sack Reis koste mehr als 1000 Dalasi (23 Euro).
„Die meisten Leute verdienen aber nur 1500 bis 2000
Dalasi im Monat. Hier muss man immer kämpfen.“
Familien mit Verwandten in Europa sind nach allgemeiner Auffassung wohlhabender. „Wenn Sie hier
bessere Häuser sehen, wissen Sie, dass die Leute ein
Familienmitglied in Europa haben“, sagt Pa. „Manche
Häuser haben zwei Stockwerke und Sonnenkollektoren auf dem Dach.“
Gambier sind von jeher ausgewandert, um ihr
Glück zu suchen. Sie haben sich überall in Westafrika
und in Schweden, Großbritannien und den USA niedergelassen. Überweisungen aus dem Ausland trugen 2014 laut Weltbank ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Aber die Zeiten, in denen legale
Auswanderer beträchtliche Summen nach Hause
schickten, neigen sich dem Ende zu. Die Migranten,
Gambia
©
SENEGAL
AFRIKA
Dakar
MALI
11.295 km2
Einwohner gesamt:
1,97 Mio.
Einwohner in Banjul:
504.000
Fläche:
Atlantik
28
40 km
Banjul
Brikama
GAMBIA
Georgetown
GUINEA-BISSAU
Lebenserwartung:
64,6 Jahre
Bruttoinlandsprodukt
pro Kopf:
427 US-$
Quelle: CIA World Factbook, 2015 /
Auswärtiges Amt, 2014
die in den vergangenen Monaten Europa erreicht haben, dürften weit weniger verdienen. Dennoch: Wenn
ein Euro 40 Dalasi wert ist und schon die kleinste
Überweisung den Wohlstand einer Familie merklich
steigert, spricht immer noch genug dafür, sich auf
den Weg zu machen.
Lamin Ceesay hatte einen Job, als er Gambia verließ. Er hatte erst als Gärtner für ein großes Hotel
nahe der Hauptstadt Banjul gearbeitet, dann als
Steinmetz im benachbarten Senegal. Doch dann soll-
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
Links: In Gedanken sind sie oft bei
Lamin Ceesay: Bruder Pa, Mutter
Nene Sanneh, Bruder Bambu und
der Freund Buba Jallow (von links
nach rechts).
Unten: Bakary Manneh in Greater
Brikama bringt seine Familie mit
dem Verkauf von Kochtöpfen über
die Runden. Sohn Demba sucht in
Europa sein Glück.
| 3-2016
te er Vater werden – und auswandern schien ihm der
einzige Weg, aus der Armut auszubrechen. Wie er entfernt sich die jüngere Generation zunehmend von
der traditionellen Lebensweise, auf dem Land zu bleiben und auf der Familienfarm mitzuarbeiten. Allzu
oft aber findet die Jugend aufgrund ihrer geringen
Qualifikation auch in den städtischen Ballungszentren an der Küste nur schlecht bezahlte oder gar keine
Arbeit.
Obwohl die meisten Kinder die Sekundarschule
abschließen, liegt die Alphabetisierungsrate nur bei
42 Prozent. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen war
laut dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP 2014 arbeitslos. Selbst die, die ein Studium abgeschlossen
haben, müssen feststellen, dass es nur wenige sichere, ordentlich bezahlte Stellen gibt. Mamadou etwa
muss sich glücklich schätzen, dass er nach dreijähriger Suche eine Arbeit als Wachmann in einer Wohnanlage gefunden hat. Allerdings ist das trostlose Herumsitzen vor deren Eingang weit von der Karriere in
der EDV-Branche entfernt, die er sich nach seinem
IT-Diplom vorgestellt hatte. „Ich habe mich auf so
viele Stellen beworben. Aber einen guten Job bekommt man hier nur, wenn man jemanden kennt,
der einem hilft“, sagt der 30-Jährige resigniert.
Seine beiden älteren Brüder haben sich auf den
sogenannten „back way“ gemacht: Sie sind im vergangenen Jahr nach Italien gegangen. Um die Reise
zu bezahlen, hat die Familie ihr gesamtes Vieh verkauft. „Sie suchen in Europa nach grüneren Weiden,
damit sie unsere Familie versorgen können“, sagt Mamadou. „Es ist ein Risiko, aber so, wie wir leben, haben
wir sowieso keine Wahl.“ Das Gefühl der Verzweiflung
und der Wertlosigkeit ist unter jungen Männern weit
verbreitet. Der Bürgerkrieg in Libyen hat die Grenzen
durchlässiger gemacht, und es ist eine regelrechte
Schleuserindustrie entstanden. Das hat die Zahl der
Migranten stark in die Höhe getrieben. Sich auf den
„back way“ zu begeben ist zu einer Art nationaler Obsession geworden: Es scheint, je mehr Menschen
weggehen, desto mehr fühlen sich verpflichtet, sich
ihnen anzuschließen.
D
ie sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle.
Sie verbreiten einen Erfolgsmythos unter denen, die sich bereits in Europa befinden. Aus
Stolz oder weil sie ihre Familien nicht enttäuschen
wollen, möchten sie einen positiven Eindruck von
ihrem neuen Leben vermitteln. Auf Facebook etwa
posten gerade erst angekommene Flüchtlinge Selfies, auf denen sie zumeist geliehene oder getauschte neue Kleider und Schmuck tragen. In Wirklichkeit
leben sie noch in Aufnahmelagern oder Wohnheimen. Andere schicken das geringe Taschengeld nach
Hause, das sie während der Bearbeitung ihres Asylantrags wöchentlich erhalten, um den Eindruck zu
erwecken, dass sie schon Geld verdienen.
In seinem Video-Interview spricht Lamin über
den hohen Erwartungsdruck seitens seiner Familie.
„Sie stellen sich vor, dass ich ihnen Geld schicke. Auf
den Gedanken, dass es schwierig sein könnte, Arbeit
zu finden, kommen sie gar nicht.“ Dabei wollen die
meisten Familien nicht, dass ihre Kinder ihr Leben
riskieren – seine Absicht, das Mittelmeer zu überqueren, offenbarte Lamin erst, als er in Libyen angekommen war. Er wusste, dass seine Eltern versuchen würden, ihn davon abzubringen.
Am Ende steuerte Familie Ceesay 45.000 Dalasi
(1012 Euro) zu Lamins Überfahrt bei. „Wir halbierten
sämtliche Ausgaben, auch die für Lebensmittel, damit wir einen Beitrag leisten konnten“, sagt Pa. „Es
war ein großes Opfer. Aber alle haben das Gefühl,
wenn man sein Land aufgibt und das Familienmitglied es bis nach Europa schaffen kann, dann ist es
das Opfer wert.“
Während diese Familien sorgenvoll auf die Nachricht ihrer Söhne warten, dass ihnen ein Aufenthaltstitel zum Arbeiten in Europa gewährt wird, wird ihr
eigenes Leben durch den Einkommensverlust oft
noch schwieriger. Mit seinem ältesten Sohn Demba
habe die Familie den Haupternährer verloren, sagt
Bakary Manneh, der auf dem blanken Betonboden
einer Zwei-Zimmer-Baracke sitzt. Der hatte seinen Eltern erzählt, er ziehe ins Nachbardorf. Im vergangenen Mai wurde er von MOAS aus dem Mittelmeer
gerettet.
„Als Demba noch hier war, arbeitete er auf dem
Bau. Aber das Geld reichte vorne und hinten nicht,
und ich werde langsam zu alt, um auf dem Feld zu
arbeiten“, sagt Bakary, der sich und seine Familie mit
der Herstellung und dem Verkauf von Kochtöpfen
gerade eben über die Runden bringt. „Er kannte ande-
29
30
schwerpunkt flucht und migration
Louise Hunt
ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Soziales, Nachhaltigkeit und
Entwicklungszusammenarbeit in
London.
re Familien hier, die ein besseres Leben führen, weil
ihre Söhne aus Europa Geld schicken. Deshalb dachte
er, er müsste das auch tun.“ Bakary hebt seinen sorgenvollen Blick von dem kleinen Häufchen Dreck,
das er mit den Händen auf dem Boden zusammengewischt hat. „Wenn ein Junge wie Demba den back way
nimmt und eine ganze Generation junger Männer
dasselbe tut, hat das sehr schlimme Folgen für uns.“
Lamin und Demba warten in Gemeinschaftsunterkünften in Italien auf ihre Asylbescheide. Da man
sie wahrscheinlich als Wirtschaftsflüchtlinge einstufen wird, haben sie nur wenige Chancen, in Europa zu
bleiben – vor allem, wenn die Strategie der Europäischen Union (EU) nach Plan verläuft, abgelehnte
Asylbewerber beschleunigt abzuschieben. Auf dem
EU-Afrika-Gipfel in Valletta im vergangenen November wurde ein Aktionsplan gegen illegale Migration
aus Afrika verabschiedet, in dem die EU die Herkunftsländer auffordert, ihre Grenzen effektiver zu
schützen und Flüchtlinge zurückzunehmen. Auf die
Frage, was passiert, wenn Lamin abgeschoben wird,
verstummen alle. Schließlich antwortet Pa. „Wenn
das passiert, ist es wohl unser Schicksal.“
Allerdings könnten junge Menschen in Gambia
bald von verbesserten Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten profitieren: Die EU-Kommission richtete
eilends einen „Treuhand-Fonds für Nothilfe in Afrika“
mit 1,8 Milliarden Euro ein. Von anderen Gebern er-
hofft sie sich Zuschüsse in gleicher Höhe. Mit dem
Geld sollen Maßnahmen finanziert werden, um die
Zuwanderung aus Afrika einzudämmen. Dazu gehören Berufsausbildungsprogramme ebenso wie Mikrokredite für Sozialunternehmen und Projekte zur
Grundversorgung. Im Senegal wurden im Januar Anträge für verschiedene Programme der Ernährungssicherung bewilligt.
Doch diese Politik ist umstritten. Mehr Entwicklungshilfe ist zwar willkommen, doch Migrationsexperten halten es für fraglich, ob sie an die Kontrolle
der Migration gebunden werden sollte. Sie bezweifeln, dass es mit dieser „Sofortstrategie“ tatsächlich
gelingen wird, Anforderungen zu bewältigen, die unter anderem mit ungerechten Wirtschafts- und Handelssystemen zu tun haben, und Wanderungsbewegungen zu verringern. Sara Tesorieri, Oxfam-Expertin
für EU-Migrationspolitik, glaubt, dass sie sogar den
gegenteiligen Effekt haben könnte. „Die Anzeichen
sprechen dafür, dass Entwicklungsförderung in den
ärmsten Ländern kurzfristig die Mobilität erhöht –
und zwar hinaus wie hinein.“ Das sei an sich kein Problem. Doch wenn Europa hoffe, die Migration zu verlangsamen, indem es die Lebensumstände vor Ort
verbessert, „dann ist das die falsche Voraussetzung“.
Die Namen der Gambier wurden zu ihrem Schutz geändert.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
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3-2016 |
Freitag – Sonntag 10 bis 18 Uhr
flucht und migration schwerpunkt
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Oualid Khelifi/UNHCR
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Auf Krücken, aber am Leben: Seif Zeid Abdullah hofft in
Dschibuti auf eine bessere medizinische Versorgung.
s
te
D
ie Regierung von Dschibuti
zeige sich sehr offen gegenüber den Neuankömmlingen aus dem Bürgerkriegsland
Jemen, erklärt UNHCR-Sprecherin
Amira Abd El-Khalek. Sie würden
ohne weitere Nachweise als
Flüchtlinge registriert, erhielten
im Lager Markazi ein Zelt, Decken, Kochgeschirr und Lebensmittel. Sie werden dort auch medizinisch versorgt, schwierigere
Fälle werden an die Klinik in
Obock überwiesen. Die jüngeren
Kinder besuchen eine nahegelegene Grundschule außerhalb des
Lagers, die älteren werden im
Camp unterrichtet, zum Teil von
AFRIKA
JEMEN
A
Hälfte der jemenitischen Flüchtlinge lebt in einem eigens für sie
errichteten Lager, dem Camp
Markazi, vier Kilometer von
Obock entfernt. Seine Aufnahmekapazität ist laut UNHCR inzwischen erreicht.
Auch Seif Zeid Abdullah ist
hier untergekommen. Der 27-Jährige hat die 30 Kilometer lange
Überfahrt im vergangenen Oktober gewagt. Bei einem Luftangriff
wurde sein linkes Bein zerschmettert. Seif Zeid Abdullah wusste, er
würde eine langwierige Behandlung und Rehabilitation brauchen. Schon vor dem Krieg war
die gesundheitliche Versorgung
in seiner Heimat schlecht. Und da
immer mehr staatliche Krankenhäuser zerstört und private Kliniken unerschwinglich sind, entschloss er sich zur Flucht, wie er
UNHCR-Mitarbeitern erzählte.
„Ich habe viele Kinder, Frauen und Männer getroffen, deren
Kriegswunden nicht behandelt
werden konnten. Ich bin froh,
dass einige von ihnen es ebenfalls
bis hierher geschafft haben“, sagt
Seif Zeid Abdullah. Nicht nur
Kranke sind froh, den Bombardierungen, dem Hunger und dem
Elend im Jemen entronnen zu
sein. Für Nasr Mohsen Mohamed
wurde, wie für viele andere, ein
besonders grausamer Angriff
zum Aufbruchsignal: Im vergangenen September bombardierte
Saudi-Arabien in der Stadt Mokka
eine Hochzeitsfeier, mindestens
130 Zivilisten starben. „Das war
weniger als drei Kilometer entfernt von dem Ort, an dem wir
lebten“, sagt der 47-Jährige. „Das
gab endgültig den Ausschlag,
nach Dschibuti zu fliehen.“
RE
| 3-2016
ASIEN
IT
E
ingeklemmt zwischen Eritrea, Äthiopien und Somalia
liegt Dschibuti an der Meerenge Bab al-Mandab. Die Heimat
von knapp einer Million Menschen ist kaum größer als Mecklenburg-Vorpommern und eines
der ärmsten Länder der Erde:
Beim Index für menschliche Entwicklung rangierte es im Jahr
2014 auf Platz 168; 20 Punkte vor
dem Schlusslicht Niger. Dschibuti
besitzt wenig natürliche Ressourcen und wird immer wieder von
Dürren heimgesucht. Doch es gilt
als politisch stabil. Das nutzen die
ehemalige Kolonialmacht Frankreich, Deutschland und die USA
für ihre Militärbasen in der Region.
Dschibuti
ist
außerdem
Durchgangs- und Endstation für
Flüchtlinge: Rund 22.300 lebten laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ende Januar im
Land. Die große Mehrzahl von ihnen stammt aus Somalia. Sie sind
zum Teil bereits mehr als zwei
Jahrzehnte in Dschibuti und leben in den Lagern Ali Addeh und
Holl Holl. Seit April 2015 schultert das kleine Land eine zusätzliche Last: Immer mehr Jemeniten
fliehen vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land über das Rote Meer und
landen in der Hafenstadt Obock.
Rund 6.650 Kinder, Frauen
und Männer hat der UNHCR bis
Ende Januar gezählt – und rechnet mit weiteren 500 bis 700
Flüchtlingen im Monat, solange
die Kämpfe andauern. Dschibuti
ist eines der wenigen Länder in
der Region, das sie aufnimmt.
Und eine Lösung in dem Konflikt
zwischen der Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi
und schiitischen Huthi-Rebellen,
an dem auch eine ausländische
Militärkoalition unter Führung
von Saudi-Arabien beteiligt ist, ist
derzeit nicht in Sicht. Etwa die
Dschibuti & Jemen
©
ER
Dschibuti ist nicht gerade mit Wohlstand
gesegnet. Trotzdem nimmt das Land am Horn
von Afrika seit Jahren stetig Flüchtlinge auf – seit
neuestem aus dem Jemen.
31
DSCHIBUTI
Obock
Golf von
Aden
Dschibuti
Abbé-See
50 km
ÄTHIOPIEN
SOMALIA
Eltern, die als ehrenamtliche Lehrer fungieren.
Einige Jemeniten sind in
Obock oder Dschibuti-Stadt in
Gastfamilien untergekommen.
„Bislang sind die Beziehungen
zwischen Einheimischen und
Flüchtlingen sehr gut, die Gastfamilien sind großzügig“, berichtet
Amira Abd El-Khalek. Spannungen könnten jedoch jederzeit ausbrechen, denn in Dschibuti sind
vor allem Land und Wasser knapp.
Die begrenzten Ressourcen müssten für immer mehr Menschen
reichen, sagt Abd El-Khalek. Berufliche Perspektiven gebe es
nicht für die Flüchtlinge, doch der
UNHCR kümmere sich. Viele Jemeniten seien erfahrene Fischer.
Zwar hätten sie bislang noch
nicht die nötige Erlaubnis, in den
Gewässern von Dschibuti zu fischen, aber darüber werde derzeit
mit den Behörden verhandelt.
Außerdem gäben sie ihr Wissen an Einheimische weiter und
verstärkten so die Kontakte zu ihnen. Eine Gruppe von Flüchtlingen habe zudem kürzlich ein Restaurant eröffnet. „Es läuft gut“,
sagt Abd El-Khalek. Trotzdem
wollten die meisten von ihnen
zurückkehren, sobald der Bürgerkrieg im Jemen beendet ist. Sie
werden Geduld brauchen – die
vorerst jüngsten Friedensverhandlungen waren im vergangenen Dezember nach wenigen Tagen ohne Ergebnis beendet worden. Ein neuer Termin steht noch
nicht fest.
Gesine Kauffmann
Ade
32
schwerpunkt flucht und migration
Geflüchteten mit Bildung helfen
Eine christliche Hilfsorganisation im Libanon bringt syrische Kinder zum Abitur
Für die Palästinenserin Sylvia Haddad ist die Arbeit mit Flüchtlingen eine Berufung.
Denn sie ist selbst fern der Heimat aufgewachsen.
Von Erhard Brunn
E
s ist fast zwanzig Jahre her.
Doch Sylvia Haddad kann
sich noch genau an ihre erste Aufgabe als Generalsekretärin
des Gemeinsamen Christlichen
Komitees für Soziale Dienste im
Libanon (JCC) erinnern: Sie sollte
ein Familienzentrum im palästinensischen
Flüchtlingslager
Schatila in Beirut schließen. „Ich
saß am Schreibtisch und plötzlich stand eine Delegation von
Männern vor der Tür“, erzählt sie
bei einem Gespräch im vergangenen November. Ihr Anführer hatte eine Petition mit 150 Unterschriften in der Hand und redete
auf sie ein: Was ihr das Recht
gebe, die Einrichtung zu schließen, die ihren Kindern, Müttern
Hilfe mit Tradition
Das Gemeinsame Christliche Kommittee für Soziale Dienste im
Libanon (JCC) ist eine der ältesten nichtstaatlichen Organisationen im Libanon, die mit palästinensischen Flüchtlingen arbeiten.
Es ist Teil der Abteilung für Service für die palästinensischen
Flüchtlinge (DPSR) im Ökumenischen Rat der Kirchen, die seit
1950 besteht. Außer im Libanon ist das DPSR mit Projekten im
Westjordanland, in Gaza, im Norden Israels (Galiläa) und in Jordanien vertreten. Koordiniert wird die Arbeit in Jerusalem. Das JCC
hat für die Flüchtlinge zunächst Nothilfe geleistet und dann immer mehr Schul- und Berufsbildung. Angeboten wird heute eine
breite Palette – Frauen lernen schneidern, das Friseurhandwerk,
Sekretariatsarbeiten und besuchen Computerkurse. Männer werden unter anderem als Elektriker ausgebildet, in der Landwirtschaft oder in der Wartung von Computern. (eb)
und Schwestern so lange Zeit geholfen habe? Haddad ließ sich
überzeugen und schaffte es, das
Projekt zu retten.
Sylvia Haddad ist selbst 1948
mit ihren Eltern aus Palästina in
den Libanon geflohen, nachdem
Israel seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Doch die Welt der
Flüchtlingslager lernte sie erst
durch ihre jetzige Arbeit kennen.
Sie studierte Erziehungswissenschaften in Beirut, lebte mit ihrem Mann, einem libanesischen
Arzt, und ihren drei Töchtern
eine Zeit lang in den USA, bis sie
nach dem Ende des Bürgerkriegs
im Libanon 1990 nach Beirut zurückkehrte. Dort lehrte sie zunächst an der Amerikanischen
Universität, bis ihr sieben Jahre
später der JCC ein Angebot machte. Es sei ihr nicht leicht gefallen,
ihre Arbeit an der Uni aufzugeben, sagt Haddad. Aber: „In dem
Moment fühlte ich mich gerufen.
Ich konnte nicht ablehnen.“
Haddad leitet die Flüchtlingsarbeit beim JCC Libanon, mit Projekten in vielen Teilen des Landes. Die meisten von ihnen drehen sich um Schul- oder Berufsbildung. „Wir glauben an Hilfe
zur Selbsthilfe. Wir möchten den
Palästinensern helfen, ihre eigenen Fähigkeiten zu entfalten, damit sie ihre Familie ernähren
können und ihre palästinensische Identität, die Kultur und das
Wissen über die eigenen Wurzeln
erhalten können.“ Die gut ausgestatteten Schulen der ersten Jahre seien allerdings längst geschlossen worden. „Sie waren von
europäischen Kirchen finanziert,
als man noch glaubte, der Konflikt sei in wenigen Jahren beendet und die Palästinenser könnten nach Hause zurückkehren“,
sagt sie.
Der JCC will vor allem den
jungen Flüchtlingen eine Perspektive für die Zukunft eröffnen.
Und die kommen zunehmend
aus Syrien – manche aus palästinensischen Familien, die 1948
aus Palästina nach Syrien geflohen waren. Oder aus einer noch
älteren Flüchtlingsgruppe: den
Christen, die es 1915 noch schafften, vor dem Völkermord aus
dem Gebiet des Osmanischen
Reiches in den Norden Syriens zu
fliehen beziehungsweise dorthin
deportiert wurden.
„Und jetzt wollen sie weiter
nach Deutschland“, sagt eine
wohl etwas irritierte Sylvia Haddad. Denn von den Worten „Wir
schaffen das“ der Bundeskanzlerin fühlten sich teils Menschen
angesprochen, die Angela Merkel
sicher nicht gemeint habe. „Wir
sehen hier Leute, die sich seit
langem gut etabliert haben, etwa
Handwerker, alles verkaufen und
sich auf den gefährlichen Weg
über das Meer nach Deutschland
aufmachen.“ Es gehe von Ohr zu
Ohr, dass man in Deutschland
gut leben könne, ohne zu arbeiten, weil man sich erst eingewöhnen muss. „Und die vielen MafiaGruppen, die es plötzlich gab, reden den Leuten zu, ins neue Eden
aufzubrechen, das Deutschland
heißt“, sagt Haddad.
3-2016 |
JCC
flucht und migration schwerpunkt
Lernen kann nicht früh genug
beginnen: Sylvia Haddad mit
Kindern aus einem JCC-Bildungsprojekt.
Z
Erhard Brunn
ist Historiker und Berater in
interkultureller Kooperation.
| 3-2016
ugleich beobachtet Sylvia
Haddad, dass mehr und
mehr Menschen nach Syrien zurückkehren. Und sie ermutigt sie, vor allem die gut Ausgebildeten. „Geht, ihr habt ein Heimatland, das ihr wieder aufbauen
könnt, anders als wir Palästinenser“, sagt sie ihnen. Der JCC hilft,
mit Bildung die Basis zu schaffen.
Das ist nicht einfach, denn das libanesische und das syrische
Schulsystem unterscheiden sich
grundlegend. In Syrien wird auf
Arabisch unterrichtet, im Libanon auf Französisch oder Englisch. Doch es sind nicht nur die
Schülerinnen und Schüler aus Syrien geflohen, sondern auch die
Lehrer. Die syrischen Lehrpläne
sind deshalb bekannt, Schulbücher wurden kopiert. Der JCC unterrichtet Hunderte syrischer
Mädchen und Jungen. Das ist
auch belastend – für alle. „Wenn
wir früher schon volle Klassenräume hatten und jetzt noch syrische Flüchtlingskinder dazu tun
müssen – das ist hart“, sagt Sylvia
Haddad.
Zu den Prüfungen machen
sich viele ihrer Schüler auf die gefährliche Reise nach Damaskus.
Sie bleiben dort drei Wochen in
Begleitung ihrer Lehrer, bis alle
Examen abgeschlossen sind. Die
jüngeren von ihnen sind zwischen 14 und 15, sie machen eine
Art Realschulabschluss, die älteren legen mit 18, 19 Jahren das Abitur ab. Besonders heikel sei es,
ihre Rückkehr zu organisieren.
Dafür müssten die passenden Papiere besorgt werden, um zu beweisen, dass die Jungen und Mädchen bereits im Libanon leben,
berichtet Haddad. „Die Regierung
hier will nicht noch mehr Flüchtlinge.“
Haddad lobt die gute Organisation in Kooperation mit dem
syrischen Erziehungsministerium. Sogar Blinde könnten eine
spezielle Prüfung ablegen und
würden sehr gut betreut. „Wenn
unsere Schüler studieren wollen,
möchten sie erst recht nach Syrien“, ergänzt Haddad. Die libanesischen Universitäten seien teuer,
die syrischen umsonst. 15 ihrer
früheren Schüler studierten nun
an der Universität in Damaskus.
„Einer wollte sogar nach Aleppo.
Wir fragten ihn: Was willst Du da?
Da herrscht doch Krieg. Die Stadt
liegt in Trümmern. Da gibt es niemanden, der Dir helfen kann.“ Die
Schüler antworteten dann: Helft
uns dorthin zu kommen, mit Essen und Schulmaterial, den Rest
organisieren wir schon selbst. Sie
wüssten sehr genau, wie wichtig
formelle Berufsabschlüsse sind
und dass man das Dokument in
den Händen halten muss, um es
eines Tages vorzeigen zu können.
Haddad: „Und dafür sind viele
von ihnen bereit, viel zu riskieren.“
Stört es die muslimische
Mehrheit unter den Flüchtlingen
nicht, dass die Hilfe von Christen
kommt? Nein, sie nähmen in dieser Lage sicher die Hilfe von jedem an, meint Haddad. „Ich habe
mein Leben lang unter Muslimen
gelebt. Die Syrer sind sehr fleißige
Leute. Ich beschäftige sie gerne in
meinen Projekten.“ Missioniert
werde ohnehin nicht mehr: „Wir
beweisen unseren Glauben durch
unsere Arbeit.“ Haddad macht
sich ganz andere Sorgen: Die syrischen Flüchtlinge seien Menschen, die in ihrem Glauben gefestigt sind. „Sie werden ihre eigenen religiösen Strukturen in
Deutschland aufbauen und das
Land verändern.“ Der JCC hänge
mit seiner Arbeit von der Unterstützung des Nordens ab – und
der sei bislang christlich geprägt.
„Darauf konnten wir uns verlassen. Doch was passiert mit uns,
wenn sich Deutschland verändert?“
Sylvia Haddad sieht sich im
Guten wie im Schlechten eingebunden in das dramatische
Schicksal der Region seit 1945. Sie
ist stolz auf ihre Herkunft: „Ich
bin ein Mädchen aus Jerusalem“,
sagt sie. Daran richtet sie sich innerlich auf, um sich weiter den
Problemen zu stellen. 33
34
schwerpunkt flucht und migration
Neue Heimat Tansania
Die tansanische Regierung hat Hunderttausende
Flüchtlinge aus Burundi eingebürgert. Die Einheimischen waren zunächst wenig begeistert.
E
s war ein großer Augenblick
für die Neubürger: Im vergangenen Jahr durften sie
zum ersten Mal bei der Wahl des
Staatspräsidenten von Tansania
abstimmen – des Landes, in dem
viele von ihnen seit Jahrzehnten
leben. Am 14. Oktober 2014, dem
15. Todestag von Staatsgründer Julius Nyerere, hatten die ersten von
rund 162.000 burundischen
Flüchtlinge in einer feierlichen
Zeremonie ihre Staatsbürgerschaftsurkunden erhalten.
Insgesamt will die tansanische
Regierung 200.000 Burunder einbürgern, darunter die Kinder derjenigen, die 1972 vor den blutigen
ethnischen Unruhen in ihrer Heimat geflohen waren. Es ist die
größte Gruppe von Flüchtlingen
in der Geschichte des UN-Flüchtlingshilfswerkes, der nach Jahrzehnten im Exil die Einbürgerung
angeboten wurde. UNHCR-Repräsentantin Joyce Mend-Cole, lobte
Tansania anlässlich der Zeremonie als Vorbild bei der Suche nach
Lösungen für den Umgang mit
Flüchtlingen und als Land, in der
die Institution des Asyls bewahrt
und respektiert wird.
Bereits 1982 hatte das ostafrikanische Land rund 32.000 ruandische Flüchtlinge eingebürgert
sowie 2014 rund 3000 Somalier,
die 1991 aus ihrer Heimat geflohen
waren. Derzeit beherbergt es außerdem rund 70.000 Kongolesen
und mehr als 150.000 neue Flüchtlinge aus Burundi, die sich zwischen April und Dezember 2015
vor dem dortigen politischen Chaos in Sicherheit gebracht haben.
Burundi ist ein kleines, dicht
bevölkertes Land, das seit seiner
Unabhängigkeit von Belgien 1962
immer wieder von Unruhen erschüttert wird. 1972 wurden rund
200.000 Menschen während ethnischer
Auseinandersetzungen
getötet, die als erster Genozid in
der Region der Großen Seen gel-
ten. Rund 500.000 Kinder, Frauen
und Männer flohen, die meisten
in das Nachbarland Tansania. Dort
wurden sie in Katumba, Mishamo
und Ulynkulu angesiedelt, Siedlungen, die noch heute bestehen.
Nimbona Shartiel ist einer der
wenigen Burunder, die die Geschichte seines Landes noch ken-
Bereits 1978 hatte der UNHCR
seine Unterstützung für die Burunder eingestellt, sie mussten
selbst für ihren Lebensunterhalt
sorgen. Neben Subsistenzlandwirtschaft produzierten sie in
Tansania Tabak und Kaffee für
den Export. Mit ihren Geschäften
trugen sie zur wirtschaftlichen
Entwicklung des Landes bei und
zahlten Steuern. Nach langen Verhandlungen mit der burundischen Regierung und dem UNHCR kündigte Tansanias Regierung
Gekommen, um zu bleiben: Die Burunderin Francine
Mukamana hat 2009 in einem Flüchtlingscamp im Westen
von Tansania Zuflucht gefunden.
Peter Marlow/Magnum Photos/Agentur Focus
nen. Der heute 58-Jährige floh
1972 vor den ethnischen Verfolgungen gegen Hutu, damals war
er ein Teenager. „Wir leben hier
seit mehr als 42 Jahren, wir haben
Kinder und Enkel. Wir können
nicht zurück nach Burundi. Dort
haben wir keine Familie mehr
und auch kein Land“, sagt Shartiel,
der einer Gemeinschaft in Katumba vorsteht. Die Mehrheit in den
alten Flüchtlingssiedlungen sei in
Tansania geboren, meint er. Sie
nach Burundi zurückzuschicken,
würde sie erneut zu Flüchtlingen
machen.
2007 schließlich an, den Flüchtlingen die Einbürgerung anzubieten.
Ein schwieriger Prozess, wie
Athuman Igwe weiß, der in der Region Katavi für die Flüchtlingssiedlung Katumba zuständig ist.
Viele Tansanier hätten Vorbehalte
gegenüber den Neubürgern geäußert – die Flüchtlinge arbeiteten
zwar hart in der Landwirtschaft,
doch mit ihrer Geschichte von
Konflikt- und Gewalterfahrung
seien sie vielen Einheimischen als
Bedrohung erschienen. Die Tansanier hätten die fremden kulturel-
len Einflüsse und eine Zunahme
der Kriminalität befürchtet.
Der frühere Commissioner
von Katavi, Rajabu Rutengwe, hat
den Einbürgerungsprozess eng
begleitet. Er berichtet, man habe
wegen der Ängste eine Schulung
für die Flüchtlinge konzipiert, um
sie für die Kultur und die Traditionen ihrer neuen Heimat zu sensibilisieren. Frei nach dem Motto
„Gehst Du nach Rom, benimm
Dich wie ein Römer“.
Aufgrund der Sicherheitsbedenken in der Bevölkerung entschied die Regierung 2011, die eingebürgerten Burunder in 16 verschiedenen Provinzen anzusiedeln, damit sie sich dort integrieren und ein neues Leben beginnen konnten. Dagegen wehrten sich jedoch die Neubürger: Sie
warfen der Regierung vor, sie von
ihren Freunden und Verwandten
zu trennen und zudem gegen die
Verfassung zu verstoßen, laut der
jeder Tansanier das Recht hat, sich
seinen Wohnort auszusuchen.
Damit kam die bereits begonnene
Einbürgerung ins Stocken – viele
Flüchtlinge stoppten ihre Investitionen in die Landwirtschaft und
meldeten ihre Kinder nicht für
weiterführende Schulen an, weil
sie nicht wussten, ob sie in ihren
Siedlungen bleiben durften oder
nicht.
Erst 2014 gab die tansanische
Regierung bekannt, dass die Neubürger in den Siedlungen bleiben
dürfen – oder in einen anderen
Teil des Landes ziehen können,
wenn sie das möchten. Damit war
der Weg für die Einbürgerung frei,
die von vielen ehemaligen Flüchtlingen mit großer Dankbarkeit begrüßt wurde. „Wir sind so glücklich, dass wir nun Tansanier sind.
Denn wir kennen keine andere
Heimat mehr“, so war die übereinstimmende Reaktion in den Siedlungen von Katumba, Mishamo
und Ulyankulu.
Prosper Kigwize ist freier Journalist
in Kigoma, Tansania.
Aus dem Englischen von Gesine
Kauffmann.
3-2016 |
flucht und migration schwerpunkt
bücher zum Thema
Die Anti-Mobilitäts-Maschine
Europa schottet sich ab mit Hilfe der Staaten, aus denen oder durch die Zuwanderer kommen. Der britische
Ethnologe Ruben Andersson untersucht präzise und
mit einem originellen Zugang, wer an diesem Unternehmen mitwirkt und daran verdient.
Ruben Andersson
Illegality, Inc.
Clandestine Migration and the Business of Bordering People
University of California Press
Oakland 2014, 338 Seiten, ca. 26 Euro
Andersson konzentriert sich darauf, wie seit 2006
unter Spaniens Führung der westliche Weg über das
Mittelmeer geschlossen wurde. Dazu, so seine These,
wurde eine „Illegalitäts-Industrie“ geschaffen. Die
spanische und senegalesische Polizei und die europäische Grenzagentur Frontex wirken daran mit,
aber auch Firmen, die zum Beispiel Überwachungstechnik verkaufen, Forschungseinrichtungen, Hilfsorganisationen und Journalisten – und natürlich
Schleuser sowie Migranten. Sie alle kommen in dem
Buch zu Wort. Das vermittelt ein anschauliches Bild,
nicht zuletzt von der Absurdität des Unterfangens.
Besonders wertvoll sind die Einblicke in Denkund Arbeitsweisen der Sicherheitskräfte. Spanien
habe die Polizei des Senegal gekauft und dazu die
Schleuser überbieten müssen, schildert Andersson.
Um ihren Einsatz gegen die Migration nachzuwei-
sen, inszenierten afrikanische Polizisten ihn nun.
Und da es auf der Westroute weniger Migranten gibt,
werde die Definition ausgeweitet, um die Erfolgszahlen zu erhöhen. Im Ergebnis verlagere Europa seine
Grenzen nach Süden und schaffe dort „Grenzräume“,
in denen die Unterschiede zwischen legal und illegal
verwischen und wachsende Zahlen von Menschen
„Schattenexistenzen“ führen.
Das folgt laut Andersson keinem großen Plan.
Sondern die Beteiligten – Firmen, Behörden, Forschungseinrichtungen – folgten eigenen Interessen
und ihrer institutionellen Logik. Ihr Zusammenwirken lasse eine „Anti-Mobilitäts-Maschine“ entstehen, die Migranten zum Sicherheitsrisiko stilisiere.
Sie erzeuge Illegalität und lebe davon. Aber die Zuwanderung nach Europa werde so nicht verringert,
sondern nur auf neue Routen verlagert, argumentiert Andersson.
Das Buch ist streckenweise fesselnd, an anderen
Stellen etwas langatmig; die analytischen Passagen
sind nicht immer leicht verdaulich. Aber es ist wichtig und macht überzeugend deutlich, was Europa in
seiner Nachbarschaft anrichtet.
Bernd Ludermann
Europa auf der Anklagebank
Der Dokumentarfilmer Michael Richter präsentiert
Skizzen, Porträts und Berichte zum Thema Asyl und
Einwanderung. Und er fordert eine humane Flüchtlingspolitik.
Michael Richter
Fluchtpunkt Europa
Unsere humanitäre Verantwortung
edition Körber-Stiftung
Hamburg 2015, 242 Seiten, 16 Euro
| 3-2016
Am 15. April 2015 ertranken vor der Küste Libyens
über 400, am 18. April 700 Flüchtlinge, deren alte
Kutter sie nicht mehr sicher über das Meer brachten.
Die italienische Küstenwache konnte nur wenige
von ihnen retten. Eineinhalb Jahre zuvor war das
Schiff eines heute in der Pfalz lebenden Syrers gesunken, der mit seiner Familie von Misurata nach
Italien gelangen wollte. Auch hier hatte die italienische Küstenwache erst eingegriffen, als das Schiff bereits sank. 150 Menschen starben, darunter zwei seiner Söhne. Nun will der Arzt gegen die Küstenwache
klagen, „die viele syrische Familien und meine Söhne auf dem Gewissen hat“.
Michael Richters Buch greift die Geschichte auf
und klagt die Europäische Union (EU) an. Ihr fehlten
einheitliche Standards in der Asylpolitik, und auch
die 2011 festgelegten sozialen und medizinischen
Standards würden beispielsweise in Bulgarien oder
Italien nicht eingehalten. Stattdessen schielten vor
allem westeuropäische Regierungen auf den sich
ausbreitenden Rechtspopulismus und machten mit
Angst und Ressentiments Politik. Ihre Abschottungspolitik werde von der EU-Agentur Frontex und ihren
Polizeikräften gnadenlos umgesetzt. Der Autor fordert legale, sichere Wege, auf denen Flüchtlinge nach
Europa reisen können – mit Hilfe von Seenotrettungsprogrammen, humanitären Visa in großem
Stil und von Resettlement-Programmen des Flüchtlingshilfswerkes UNHCR. Die EU müsse endgültig
das Dublin-Prinzip aufgeben, demzufolge Flüchtlinge in dem Land ein Asylverfahren durchlaufen, wo
sie die EU-Außengrenze überschreiten. Zum Ausgleich sollten die Aufnahmeländer Transferzahlungen erhalten. Frontex müsse den klaren Auftrag bekommen, Flüchtende zu versorgen und nicht abzuschrecken.
Um die Lage in den Herkunftsländern der Flüchtlinge langfristig zu verbessern, plädiert Richter dafür, Hilfsgelder von der Achtung der Menschenrechte und demokratischer Standards abhängig zu machen. EU-subventionierte Agrarexporte wie von Reis
oder Milch prangert er als kontraproduktiv an, da sie
die Binnenmärkte der Herkunftsländer schwächten
und Bauern ihrer Lebensgrundlage beraubten. Die
größte Aufgabe sieht er freilich in einem Einwanderungsgesetz, das Menschen, die hier arbeiten und
leben wollen, eine Perspektive bietet – nicht zuletzt,
um in einer alternden Gesellschaft die Sozialsysteme
zu stützen. Das Buch ist ein lesenswertes und engagiertes Plädoyer für eine humane EU-Flüchtlingspolitik.
Klaus Jetz
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36
welt-blicke xxx
Hoffnung trotz Hunger
Äthiopien wird von der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten
heimgesucht. Aber das Land ist heute besser vorbereitet als
während früherer Hungersnöte.
Von Philipp Hedemann
M
orgendämmerung. Als die Sonne auf einer
Ebene außerhalb von Korem die beißende
Kälte der Nacht durchbricht, bringt sie eine
biblische Hungersnot ans Licht. Jetzt, im 20. Jahrhundert. ,Dieser Ort‘, sagen die Helfer hier, ,ist der
Ort auf Erden, der der Hölle am nächsten kommt.‘
Tausende von ausgemergelten Gestalten kommen
auf der Suche nach Hilfe hierher. Viele finden nur
den Tod. Alle zwanzig Minuten stirbt ein Kind oder
ein Erwachsener.“
Mit diesen Worten leitete BBC-Reporter Michael
Buerk am 23. Oktober 1984 seinen Bericht über die
Hungersnot in Äthiopien ein. Während der Journalist mit getragener Stimme spricht, zeigt die Kamera
ein sterbendes Baby.
Der kaum zu ertragende Film brachte den Tod in
Äthiopien zunächst direkt in britische Wohnzimmer,
rüttelte später Menschen auf der ganzen Welt wach
und inspirierte Rockstar Bob Geldof 1985 zum Live-
Aid-Konzert. Eineinhalb Milliarden Menschen sahen
und hörten die weltweit übertragenen Konzerte,
rund zweihundert Millionen Mark an Spenden kamen zusammen. Doch für viele kam die Hilfe zu
spät, bis zu eine Million Menschen starben.
Heute, mehr als 31 Jahre später, hat es im Land am
Horn von Afrika wiederum seit Monaten kaum geregnet. „Äthiopien wird gerade von der schlimmsten
Dürre seit 50 Jahren heimgesucht“, stellte der zuständige Ländermanager der Hilfsorganisation Save the
Children im vergangenen Dezember fest. Zuvor waren im Frühling die sogenannten „Belg“-Niederschläge komplett ausgeblieben. Im Sommer führte laut
Fachleuten das Wetterphänomen El Niño dazu, dass
auch die normalerweise ertragreichere „Kiremt“-Regenzeit in einigen Regionen im Osten des Landes fast
ganz ausfiel. El Niño tritt alle sieben bis acht Jahre auf,
wenn der Pazifische Ozean in großem Umfang Wärme an die Atmosphäre abgibt.
3-2016 |
äthiopien welt-blicke
Die Ernten fielen im vergangenen Jahr in diesen
Regionen um 50 bis 90 Prozent geringer aus als üblich. Als Folge der Dürre könnten nach Prognosen der
Vereinten Nationen und der äthiopischen Regierung
in diesem Jahr rund zwei Millionen Menschen zu wenig zu essen und zu trinken haben. 800.000 Menschen könnten gezwungen werden, vor der Dürre in
andere Landesteile zu fliehen.
Bereits im vergangenen Jahr waren nach Schätzungen rund 200.000 Kühe, Schafe, Ziegen und Kamele verendet, in diesem Jahr könnten 450.000 hinzukommen. Viele Viehbesitzer versuchen ihre ausgemergelten Tiere noch schnell zu verkaufen, bevor
sie verhungern oder verdursten. Die Viehpreise sanken deshalb nach Angaben des äthiopischen Landwirtschaftsministeriums zwischen August 2014 und
August 2015 um bis zu 80 Prozent. Gleichzeitig wurden Lebensmittel viel teurer. So stieg beispielsweise
der Preis für Linsen nach Angaben des Ethiopian Humanitarian Country Teams im gleichen Zeitraum
um 73 Prozent an. Viele Bauern können sich und ihre
Familien aus eigener Kraft nicht mehr ernähren.
Derzeit sind gut zehn Millionen Äthiopier von
Lebensmittellieferungen abhängig, hinzu kommen
acht Millionen Äthiopier, die regelmäßig staatliche
Unterstützung erhalten, weil ihre Ernährungssitua-
genen Jahr rund 380 Millionen US-Dollar in die Bekämpfung der Krise gesteckt. Internationale Geber
hatten bis Mitte Februar rund 550 Millionen Dollar
bereitgestellt. Doch nach Schätzungen der Vereinten
Nationen sind insgesamt fast 1,5 Milliarden Dollar
notwendig.
Ä
thiopien hatte zunächst versucht, die Auswirkungen der Dürre kleinzureden, korrigierte
die Zahl der Betroffenen nur zögerlich nach
oben und bat die internationale Gemeinschaft erst
im Oktober 2015 um Hilfe. Das Land wollte nicht wieder mit Hunger in die Schlagzeilen kommen. In den
vergangenen 20 Jahren hat sich Äthiopien von der
Weltöffentlichkeit weitestgehend unbemerkt zum
Afrikanischen Löwen gemausert und ist zur fünftgrößten Volkswirtschaft in Subsahara-Afrika aufgestiegen. Zwischen 2004 und 2014 wuchs die Wirtschaft nach offiziellen Angaben jedes Jahr durchschnittlich um 10,9 Prozent. Das ist afrikanischer
Rekord. Auch wenn manche Kritiker die offiziellen
Wachstumsraten für geschönt halten: Der Aufschwung ist kräftig und lang anhaltend. Und er hat
dazu beigetragen, dass Wetterextreme wie die aktuelle Dürre nicht mehr so schnell wie früher zu schweren Hungersnöten führen.
Äthiopien hat viel mehr Geld in die Landwirtschaft
gesteckt als andere afrikanische Staaten
und etwa das Straßennetz stark ausgebaut.
Das Land ächzt unter der Dürre:
In der Somali-Region Äthiopiens
stehen im Januar Frauen an,
um Wasser zu holen.
Tiksa negeri/reuters
| 3-2016
tion chronisch unsicher ist. Damit ist fast ein Fünftel
der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen. Und die äthiopische Regierung, die Vereinten Nationen und
Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Krise
sich bis zum Einsetzen der Sommerregenzeit weiter
verschärfen könnte. „Der Ausblick auf 2016 ist sehr
düster“, sagte Amadou Allahoury, Äthiopien-Repräsentant der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), im Januar.
Düster, aber nicht katastrophal. 2016 wird es
höchstwahrscheinlich keine Bilder von verhungerten Frauen, Kindern und Männern geben, schon gar
nicht in dem Ausmaß wie vor 31 Jahren. Denn die
Dürre trifft Äthiopien nicht unvorbereitet. 2013 verabschiedete der Staat eine Strategie für das Katastrophenmanagement, die unter anderem die Frühwarnsysteme gestärkt und die Verfügbarkeit von Lebensmittelvorräten in allen Landesteilen verbessert
hat. Koordiniert von einer staatlichen Kommission
arbeiten derzeit mehr als 60 humanitäre Organisationen in Äthiopien, darunter zehn UN-Agenturen.
David Del Conte, stellvertretender Leiter des UNAmtes für Humanitäre Hilfe (OCHA) in Äthiopien,
sagt: „Es wird definitiv keine Hungersnot geben. Die
Regierung, ihre UN-Partner und die NGOs sind in der
Lage, das zu verhindern. Vorausgesetzt es sind genug
finanzielle Mittel vorhanden.“ Doch die fehlen teilweise noch: Äthiopien hat in diesem und im vergan-
2002 legte die Regierung ein neues Entwicklungsprogramm auf und erklärte die Armutsbekämpfung zum obersten Ziel ihres Handelns. Äthiopien erreichte bis 2015 sechs der acht MillenniumEntwicklungsziele, und auch bei den beiden verbleibenden Zielen (Gleichstellung der Geschlechter und
Verbesserung der Gesundheitsvorsorge für Mütter)
wurden große Fortschritte erzielt. Das renommierte
britische Overseas Development Institute stellt in
einem Bericht aus dem vergangenen Jahr fest, Äthiopien zähle bei der Armutsbekämpfung in den vergangenen Jahren weltweit zu den erfolgreichsten
Staaten. Das gilt auch für die Bildungspolitik: Während 1992 noch rund vier von fünf Kindern im
Grundschulalter nicht zur Schule gingen, ist es heute nur noch ein Fünftel. Kein anderer Staat in Afrika
kann einen so hohen Zuwachs bei den Einschulungsraten aufweisen.
In der Hauptstadt Addis Abeba ist der Aufschwung sichtbar: Überall schießen moderne
Hochhäuser aus dem Boden, auf den Straßen rollen
immer mehr Autos. Als Ende vergangenen Jahres
die in nur drei Jahren aus dem Boden gestampfte
500 Millionen US-Dollar teure und zu 85 Prozent
mit chinesischem Geld finanzierte Stadtbahn in Betrieb genommen wurde, berichteten Medien aus
aller Welt. Unter anderem mit Unterstützung Chinas und der Vereinten Nationen hat die Regierung
37
38
welt-blicke äthiopien
Hunger in Afrika
Äthiopien
10,2 Mio.
10,3%
DRC.
Auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen (absolut und in Prozent)
6,6 Mio. +2,4%
Veränderung der Getreideproduktion zwischen 2014 und 2015
8,3%
Malawi
2,8 Mio.
1,25 Mio.
6,4%
Sambia
-15%
800.000
5,3%
-17%
Simbabwe
Namibia
1,5 Mio.
370.316
17%
-26%
15,6%
Angola
10.5%
-43%
Mosambik
Madagaskar
801.755
459.319
+13%
-7,2%
1,9%
3,2%
-50%
Swasiland
200.100
Südafrika
14 Mio.
26%
13,9%
Lesotho
-31%
463.936
-26%
23,8%
-27%
Quelle: SADC/WFP/CIA – The World Factbook 2015
©
in der Nähe der Hauptstadt mehrere Industrieparks
errichtet. Die Regierung will internationale Unternehmen anlocken, ausländische Direktinvestitionen fördern, Know-how importieren und dringend
erforderliche Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft schaffen.
U
Philipp Hedemann
ist freier Journalist in Berlin. Von
2010 bis 2013 berichtete er als
Afrika-Korrespondent für verschiedene
Zeitschriften und Zeitungen aus der
äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
Sein Äthiopien-Buch „Der Mann, der
den Tod auslacht“ ist 2013 im DuMontVerlag erschienen.
nd der Aufschwung findet nicht nur in der
Hauptstadt statt. Vor allem auf dem Land
wurde stark in Infrastruktur investiert, denn
in Äthiopien leben mehr als drei Viertel der Bevölkerung von der Landwirtschaft. In den vergangen zehn
Jahren ist das Straßennetz auf das Doppelte ausgebaut worden. In guten Zeiten können die Bauern
ihre Waren auf dem Markt anbieten. In schlechten
Zeiten erreichen Staat und Hilfsorganisationen mit
Hilfslieferungen auch abgelegene Regionen.
Der Staat hat in den vergangenen zehn Jahren
nach Angaben des Overseas Development Institute
jährlich mehr als 15 Prozent seines Haushaltes in die
Landwirtschaft investiert. Zum Vergleich: In den anderen afrikanischen Staaten waren es im Jahr 2013 im
Durchschnitt nur knapp drei Prozent. In Äthiopien
wurden unter anderem Tausende Landwirtschaftsexperten ausgebildet, Felder terrassiert, um der Erosion
Einhalt zu gebieten, Bewässerungskanäle gebaut und
instand gesetzt und Wälder aufgeforstet.
Seit rund fünf Jahren versucht die äthiopische
Regierung die Produktivität der Landwirtschaft zu-
dem durch die Verpachtung riesiger Flächen an
meist ausländische Investoren zu steigern. Zwar ist
die erwünschte Wirkung der umstrittenen Projekte
bislang weitgehend ausgeblieben. Dennoch konnte
die landwirtschaftliche Produktion nach Angaben
des Finanzministeriums seit 2010 jährlich um
durchschnittlich 6,6 Prozent gesteigert werden. Eine
Weltbank-Studie aus dem vergangenen Jahr geht davon aus, dass die Produktivitätssteigerungen zwischen 2005 und 2011 dazu beigetragen haben, die
Armut um sieben Prozent zu senken. Und es ist noch
viel Luft nach oben. Denn noch immer werden rund
90 Prozent der Ernten auf unbewässerten Flächen
erzielt.
Z
udem hat Äthiopien mit dem Productive Safety
Net Programme 2005 das größte SozialhilfeProgramm in Afrika aufgelegt. In Zeiten
schlechter Ernten versorgt das weitgehend von Gebern finanzierte Projekt Bedürftige mit Geld oder Lebensmittellieferungen. Als Gegenleistung arbeiten
die Nutznießer an Gemeinschaftsprojekten wie dem
Bau von Straßen oder Bewässerungskanälen mit.
Derzeit nehmen rund acht Millionen Menschen an
dem Programm teil.
Die Regierung befindet sich jedoch mit ihren Anstrengungen gegen Armut und Hunger im Wettlauf
mit dem zwar sinkenden, aber immer noch hohen
Bevölkerungswachstum. Zur Zeit der großen Hungersnot 1984/85 lebten 40 Millionen Menschen im
Land am Horn von Afrika, heute sind es fast zweieinhalb Mal so viele: 97 Millionen. Menschenrechtler
bemängeln zudem, dass die Erfolge bei der Bekämpfung der Armut teilweise auf Kosten der Freiheit gehen. Nach dem Motto: So wenig Demokratie wie nötig, so viel Staatskapitalismus wie möglich, orientiert
Äthiopien sich in den vergangenen Jahren immer
stärker an China. Seit den Wahlen 2015 sitzt im 547
Abgeordnete zählenden Parlament kein einziger Oppositioneller mehr, die Regierungspartei „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“
ist mittlerweile seit fast 25 Jahren an der Macht.
Während dieser Zeit hat sie reichlich Erfahrung
im Management von Naturkatastrophen gesammelt. Bereits während der schweren Dürre am Horn
von Afrika vor knapp fünf Jahren konnte die Regierung verhindern, dass es Tote zu beklagen gab. Während im Bürgerkriegsstaat Somalia die Hungernden
kaum versorgt werden konnten und Tausende Menschen starben, verhungerte 2011 nach offiziellen Angaben kein einziger Äthiopier. Lediglich Somalier,
die die Flüchtlingslager im Nachbarland zu spät erreichten, starben damals auf äthiopischem Boden.
In Zukunft wird die Fähigkeit der äthiopischen
Regierung, auf solche Wetterextreme zu reagieren,
wahrscheinlich häufiger auf die Probe gestellt. Denn
Experten gehen davon aus, dass die Erderwärmung
in Äthiopien öfter zu Dürren und Überflutungen
führen wird. Zusammen mit seinen internationalen
Partnern wappnet das Land sich schon jetzt für den
Klimawandel, den es kaum verursacht, unter dem es
aber besonders stark zu leiden hat.
3-2016 |
algerien welt-blicke
Der Staat wünscht
andere Prediger
In Algerien erstarken erneut intolerante Strömungen des Islam. So lange sie
unpolitisch waren, hat das Regime sie als nützlich betrachtet. Nun will es die
traditionellen Geistlichen wieder stärken.
Von Anouar Boukhars
D
reiundzwanzig Jahre sind seit Ausbruch des
Bürgerkriegs in Algerien vergangen, der
200.000 Menschen das Leben gekostet hat
und als „Schwarzes Jahrzehnt“ in die Geschichte des
Landes eingegangen ist. Heute ist der Islamismus erneut Ursache von gesellschaftlichen und politischen
Kontroversen. Zwar sind der politische Islam und gewaltbereite militante Gruppen in Algerien noch geschwächt. Aber immer lauter greifen Salafisten islamische Traditionen und Lebensweisen im Land an,
die nicht der strengen, wortgetreuen Auslegung des
Korans entsprechen, wie sie Salafisten propagieren.
| 3-2016
Hassprediger wie Abdelfatah Hamadache – hier auf einer ­Kundgebung
gegen Israel 2010 – sind den
­Behörden ein Dorn im Auge.
zohra bensemra/reuters
Dass sie sich im Aufwind befinden, hat eine Reihe
von Gründen. Algerien leidet wie viele Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas unter wirtschaftlichen
Problemen, politischer Lähmung und Veränderungen
in der Altersstruktur der Gesellschaft. Der Zulauf für
die Salafisten ist Ausdruck einer moralischen Rebellion gegen den Staat und seine Institutionen. Mit strikten Moralvorschriften und dem Versprechen, gegen
soziale Missstände vorzugehen, bietet der friedfertige
Salafismus unzufriedenen Jugendlichen eine Alternative zu den vorherrschenden staatstreuen Strömungen des Islam, deren staatsnahe Institutionen im Niedergang sind. Und paradoxerweise hat auch der Staat
den Salafismus gestärkt, indem er die Bewegung als
ideologisches Gegengewicht zum politischen Islam
und zu revolutionären Gruppen nutzte.
Der algerische Salafismus ist ganz am konservativen Rand des theologischen und politischen Spektrums angesiedelt, und er ist keineswegs homogen.
Salafisten haben teilweise sehr unterschiedliche An-
39
40
welt-blicke algerien
Links: Erziehungsministerin Nouria
Benghabrit will die Lehrpläne an
einem toleranten Islam ausrichten.
getty images
Mitte: Ein Jugendlicher am Strand
von Annaba zeigt einen ­Koran.
Salafisten stehen heute für die
­moralische Revolte gegen den Staat.
Nick Hannes/laif
Rechts: Sittsam und doch farbenfroh
– auf einem Markt in Algier werden
Schleier angeboten.
Nick Hannes/laif
sichten, beispielsweise zum Abfall vom Islam oder
zum politischen Engagement. Die größte und prominenteste Gruppe sind die sogenannten quietistischen
Salafisten. Sie halten sich aus der Politik heraus, lehnen Gewalt ab und werben dafür, die Gesellschaft an
ihrer streng konservativen Theologie auszurichten.
Sie engagieren sich in Wohltätigkeitsorganisationen
und Gruppen der Zivilgesellschaft ebenso wie im informellen Markt- und Straßenhandel. Die politische,
revolutionäre Variante des Salafismus bleibt in Algerien eine Minderheit.
D
er Salafismus kam mit der Wende zum 20.
Jahrhundert nach Algerien. Er war eine transnational ausgerichtete Reformbewegung und
betonte die Vereinbarkeit des Islam mit der Moderne. Doch in einer Gesellschaft, die sich noch im Würgegriff des Kolonialismus befand, konnten sich moderne Ideen nicht entfalten. So machte die Idee, dass
auch der Islam sich entwickelt, allmählich kompromissloseren Strömungen Platz, darunter ultrakonservativen, die jede Form von Modernität und Säkularismus strikt ablehnten. Ihre ideologische Extremform ist der Wahhabismus, der seit Anfang der
1960er Jahre auch in Algerien von Saudi-Arabien
unterstützt wird. Viele Algerier haben in Saudi-Arabien studiert, vor allem an der Islamischen Universität Medina.
Nach dem Bürgerkrieg zwischen der Regierung
und verschiedenen islamistischen Gruppen in den
1990er Jahren hatten die Algerier für gewaltbereite
Ideologien wenig übrig. Die Salafisten begannen jedoch, das Satellitenfernsehen und das Internet zu
nutzen, um ihr Image aufzupolieren, sich von Gewalt
zu distanzieren und verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Es gelang ihnen, sich sowohl auf der politischen als auch auf der religiösen Bühne als glaubwürdige, apolitische Alternative zu den in Verruf geratenen islamistischen Parteien und den staatlich
gestützten religiösen Institutionen darzustellen. Vielen vom Bürgerkrieg traumatisierten Algeriern
schien der Salafismus einen neuen Weg zu eröffnen.
Da sich die Salafisten aus der Politik heraushielten und eine neutrale Haltung zum algerischen Regime einnahmen, durften sie eigene Schulen gründen, Geschäftsnetzwerke aufbauen und ihre traditionellen weißen Gewänder und Vollbärte tragen. Vor
allem bei der Jugend, die vom maroden Zustand der
algerischen Gesellschaft frustriert ist, finden die einfach zugänglichen salafistischen Netzwerke Anklang.
Auch das algerische Regime profitiert vom Aufstieg
dieser Bewegung: Sie trägt dazu bei, labile Jugendliche sowohl von Politik als auch von gewaltbereitem
Extremismus fern zu halten.
Der Staat hat auch versucht, den Sufismus als
Bollwerk gegen die radikalislamistischen Ideologien
zu fördern, aber das hat kaum Früchte getragen. Sufis
sind eine mystische Strömung im Islam, die oft unter
anderem Heilige verehren. Eine im Jahr 2011 publizierte Meinungsumfrage der Universität von Algier
und der amerikanischen Binghamton University ergab, dass die Mehrheit in Algerien im Sufismus zwar
eine friedliche und tolerante Lehre sieht. Aber sie findet, dass einige ihrer religiösen Praktiken nicht der
akzeptierten islamischen Lehre entsprechen. Die
meisten beurteilten zudem die Bemühungen der Regierung, den Sufismus zu stützen, als politisch motiviert.
Während die Salafisten an Einfluss gewinnen, verlieren ihre islamistischen Rivalen an Boden. Anders
als in Tunesien und Marokko, wo zur Hauptströmung
gehörende islamistische Parteien zu einflussreichen
intellektuellen und politischen Kräften herangewachsen sind, scheinen die algerischen Islamisten in intellektuelle Lethargie verfallen. Sie haben den Kontakt
zu ihren Wählern verloren und können sich auf die
neue Lage nach den jüngsten Umbrüchen einstellen.
Ihre Nähe zum Staatsapparat und ihre auf materielle
3-2016 |
algerien welt-blicke
Vorteile ausgerichtete Hierarchie schrecken die islamistische Basis davon ab, sich politisch zu engagieren.
Umso besser können sich die von Moral und Gleichheit redenden Salafisten als Gegengewicht etablieren.
Der Aufschwung der quietistischen Salafisten
bringt einige Vorteile für das Regime. Zum einen können sie besser als der Staat den Dschihadisten in deren eigener Sprache Kontra geben. Zum anderen beunruhigt ihre Weltsicht gleichermaßen Säkularisten
wie Liberale und vertieft damit die ideologischen
Gräben in der Gesellschaft. Dem Regime nützen solche Spaltungen, stellt es sich doch gern als ultimativer Schiedsrichter solcher Konflikte dar. Gleichzeitig
sind sich die Regierenden aber unsicher, wie sie mit
den politisch aktiven Salafisten umgehen sollen.
Die Mehrheit der algerischen Salafisten hält sich
aus der Politik heraus. Doch die Stimmen ihrer
wenigen politischen Vertreter sind die lautesten.
Einige Beobachter glauben, dass das algerische
Regime am Ende dem marokkanischen Modell folgen wird: Hardliner-Salafisten werden politisch eingebunden, sofern sie öffentlich der Gewalt und Unterwanderung des Staats abschwören. Die marokkanische Monarchie hat radikale Salafisten in Netzwerke und Parteien geholt, die sich gut zum Königshaus
stellen; damit wollte sie zeigen, dass es immer eine
Chance auf Rehabilitierung gibt. Gleichzeitig wollte
sie damit die konservative Wählerschaft spalten und
die Welle von Wahlerfolgen der moderat islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung aufhalten.
Zwar missbilligt die Mehrheit der algerischen
Salafisten Gewalt und hält sich aus der Politik heraus.
Aber die Stimmen der wenigen politischen Salafisten
| 3-2016
sind in Algerien die lautesten. Selbsternannte Aufwiegler-Prediger treten in jüngster Zeit entschlossener und selbstbewusster auf. Ihre ideologische Offensive für den „wahren“ islamischen Glauben und Lebenswandel führen sie in Moscheen, sozialen Medien und privaten Fernsehkanälen. Sie stellen die
Autorität lokaler Imame infrage, verunglimpfen populäre religiöse Praktiken wie mystische Rituale und
erlassen Rechtsgutachten – Fatwas –, die Kulturveranstaltungen, Kunstausstelllungen, Bankkredite und
anderes als unislamisch verurteilen.
Das Verhältnis des algerischen Staats zu diesen
Hasspredigern ist zwiespältig und kompliziert. Ein
Beispiel war im Juni 2014 die Beratung zwischen Ahmed Ouayahia, dem Stabschef des Staatspräsdenten,
und Madani Mezrag, einem ehemaligen islamistischen Guerillakämpfer, über Fragen einer Verfassungsänderung. Mezrag wird als Persönlichkeit von
nationaler Bedeutung behandelt. Er hat Zugang zu
den Medien, er darf frei predigen und Veranstaltungen organisieren. Nachdem er allerdings im Oktober
2015 Präsident Bouteflika im privaten Fernsehsender
El Watan kritisiert hatte, weil der seiner neu gegründeten Partei „Algerische Wiederversöhnungs- und
Heilsfront“ die juristische Anerkennung vorenthielt,
legten die Behörden den Sender mit der Begründung
still, er sei „informell und illegal“ betrieben worden.
Mezrag persönlich blieb aber unbehelligt.
Ein weiterer prominenter Aufwiegler ist Abdel­
fatah Hamadache. Er ist mit scharfen Predigten gegen algerische Muslime hervorgetreten, die ihren
Glauben nicht praktizieren. Im Oktober 2014 startete
er eine Kampagne der „Säuberung“ gegen Bars und
Orte angeblicher Ausschweifung und Prostitution in
Algeriens Küstengebieten. Im Dezember 2014 rief er
dazu auf, den Schriftstellers Kamel Daoud wegen Verunglimpfung des Islam zu ermorden. Seine Forderung, diplomatische Beziehungen zum Islamischen
Staat aufzunehmen, hat Aufruhr sogar unter islamis-
41
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welt-blicke algerien
tischen Hardlinern erzeugt, die ihn verdächtigen, mit
den Sicherheitsorganen zusammenzuarbeiten.
Die Rückkehr radikaler Strömungen hat zu heftigen Debatten über die Krise der staatlich kontrollierten religiösen Institutionen geführt. Für viele Algerier haben diese ihre Funktion als Quelle von Inspiration und Orientierung verloren. Örtliche Imame, die
einst die Weltsicht einfacher Algerier entscheidend
prägten, werden zunehmend von selbsternannten
Salafisten-Predigern übertönt, die einen Mangel an
religiöser Bildung mit raffinierten Predigten und geschicktem Einsatz der sozialen Medien ausgleichen.
Das Regime fördert gezielt tolerante Richtungen
des Islam. Das birgt die Gefahr, dass die als
Sprachrohr des Staates in Verruf kommen.
Anouar Boukhars
lehrt Internationale Beziehungen am
McDaniel College in Westminster (Maryland). Der Artikel ist zuerst auf der
Website des Instituts FRIDE erschienen.
Die Regierung hat mehrfach versucht, traditionelle religiöse Institutionen zu wieder zu stärken, radikale salafistische Ideen zurückzudrängen und angesichts der Unzahl von Online-Fatwas für Ordnung
zu sorgen. Mohamed Aïssa, seit 2014 Minister für religiöse Angelegenheiten, sieht es als vordringliche
Aufgabe an, Imamen die weltoffene und harmonische Seite des Islam zu vermitteln, die der algerischen Tradition entspricht. Diese ist vom „goldenen
Zeitalter“ der islamischen Herrschaft in Andalusien
geprägt, wo im Mittelalter muslimische Geistliche
Garanten für Toleranz und Innovation waren. Nur
durch Rückbesinnung auf dieses Erbe könnten algerische Imame und Moscheen ein Bollwerk bilden gegen die Lehren der wahhabitisch beeinflussten,
selbsternannten Kleriker.
Aïssa will auch den Religionsunterricht grundlegend reformieren. Zusammen mit Bildungsminister
in Nouria Benghabrit dringt er darauf, die Lehrpläne
an toleranten und weltoffenen Lehren des Islam auszurichten. Zudem wird überlegt, einen Bachelor-Abschluss für Imame einzuführen, der auf einer gemäßigten Variante der islamischen Rechtsprechung und
dem Einsatz moderner Kommunikationsmittel fußt.
D
as algerische Regime will zudem Gremien
stärken, welche Moscheen und den religiösen
Diskurs überwachen. Im März 2013 hat es den
Imamen erlaubt, einen eigenen Interessenverband
zu gründen – unter anderem um sich gegen das verteidigen zu können, was sie „unalgerische“ Formen
des Islam nennen. Nach Schätzungen der Regierung
fehlen für die etwa 22.000 Moscheen des Landes
mindestens 7000 Imame. Schlimmer noch: Den Behörden mangelt es an Informationen über die Ausbildung und Finanzierung der salafistischen Imame,
deren Predigten laut dem Religionsminister „irrational“ sind und sich auf die Flut von Online-Fatwas
und über Twitter verbreitete religiöse Entscheide beziehen.
Vor dem Hintergrund dieser „Fatwa-Anarchie“
hat die Regierung 2015 einen Nationalen Wissenschaftsrats geschaffen, der mit der Herausgabe „offizieller“ Fatwas betraut ist. Seine Mitglieder werden
von der ägyptischen Al-Azhar-Universität unterstützt, die unter islamischen Rechtsgelehrten hohes
Ansehen genießt. Der Rat hat bereits religiöse Erlasse
herausgegeben. Sie erlauben zum Beispiel die Aufnahme von Bankkrediten zum Kauf staatlich geförderter Wohnungen, setzen Grenzen für die Organtransplantation und verbieten anonyme Eizellenund Spermaspenden.
Der Versuch, den toleranten Geist der Tradition
wiederzubeleben, kann ein wichtiges Mittel in der
geistigen Auseinandersetzung mit dem absoluten
Wahrheitsanspruch von Ideologien sein. Und doch
muss der Staat bei der Erneuerung der religiösen Institutionen vorsichtig sein. Eine bestimmte Richtung im Islam zu fördern birgt das Risiko, sie als
Sprachrohr des Regimes in Verruf zu bringen. Und
auch glaubwürdige Theologen können nicht die Ursachen der Militanz beseitigen, die hauptsächlich
politischer Natur sind. In einem Klima wirtschaftlicher Stagnation und politischer Lähmung, in dem es
der Bevölkerung in Algerien an Perspektiven fehlt,
wird es immer enttäuschte Jugendliche geben, die
sich von radikalen Ideen und Gewalt angesprochen
fühlen.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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16. und 17. April 2016
7. und 8.3-2016
Mai| 2016
südafrika welt-blicke
Das Schweigen brechen
Mit Gesang und
Tanz beginnen
und enden die
Sitzungen bei
der Khulumani
Support Group.
Hildegard Scheu
Viele in Südafrika leiden unter Traumata, oft seit der Zeit der Apartheid.
Westliche Therapien sind den Lebensumständen häufig nicht angemessen.
Südafrikanische Psychologen entwickeln ihre eigenen Konzepte.
Von Birgit Morgenrath
Z
wei Frauen und 25 Männer
singen und tanzen in einer
Garage in der Township Thokoza bei Johannesburg. Es ist der
Beginn ihrer Gruppensitzung. Im
Halbdunkel sieht man Transparente an den Wänden: „Wir fordern Wiedergutmachung für die
Verbrechen gegen die Menschheit“ steht dort und „Mission und
Vision: Die Würde der Männer
wiederherstellen“. Das Männerforum ist Teil der Khulumani Support Group, einer nichtstaatlichen
Organisation, die sich seit fast 20
Jahren für die Entschädigung von
Opfern der Apartheid einsetzt.
Khulumani (auf Zulu: Sprich es
aus!) hat 100.000 Mitglieder.
| 3-2016
„Wir sind auch heute noch
nicht frei“, erklärt die Leiterin der
Gruppe, Nomarussia Bonase, zur
Begrüßung. „Wir leben noch nicht
in einer Demokratie, wir kämpfen
noch für unsere Menschenrechte.“ Und dann wählt sie einen Vergleich, den jeder hier versteht:
„Wir sind wie Autos nach einem
Unfall, schwer beschädigt. Jetzt
brauchen wir eine Reparatur.“
Den meisten Männern in dieser Selbsthilfe-Gruppe wurde
während der Zeit der Rassentrennung, der Apartheid, schwere Gewalt angetan. Auch Tsietsi Motlokloa: Er geriet Anfang der 1990er
Jahre in die ethnisch-politischen
Auseinandersetzungen zwischen
dem von Nelson Mandela angeführten Afrikanischen Nationalkongress (ANC) und der rivalisierenden Inkatha-Partei in den
Townships rund um Johannesburg. Das weiße Regime hatte diese gewaltsamen Exzesse gezielt
geschürt, um den Übergang zu
einer Regierung der schwarzen
Mehrheit zu verhindern.
„Ich wurde von Inkatha-Leuten angeschossen“, erzählt Motlokloa, „die kamen aus den Wohnheimen für Wanderarbeiter.“ Die
Kugel durchschlug die linke
Schulter. Bis heute hat der Vater
von drei Kindern kaum Kraft in
seinem linken Arm. Der Mittvierziger ist arbeitslos und hatte lange auf die staatliche Entschädigung von rund 2000 Euro gehofft. Damit wollte er seine Schulausbildung beenden. Aber er
wurde nicht als Apartheidopfer
anerkannt. Die Enttäuschung war
enorm: „Ich empfand größeren
Schmerz als bei meiner Armver-
43
44
welt-blicke südafrika
letzung. Es brach mir das Herz.“
Die Gleichgültigkeit der Regierung sei sein Trauma, sagt er.
Ständig stehe er unter Anspannung, „weil ich meinen Kindern
keine gute Bildung für ihre Zukunft finanzieren kann“.
In der Terminologie westlicher Psychologen leidet Tsietsi
Motlokloa unter einer posttraumatischen
Belastungsstörung,
PTBS. Die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt traumatische Erlebnisse als „Gewalterfahrungen – Überfall, Vergewaltigung, Misshandlung oder deren
Versuch – aber auch Entführung,
Naturkatastrophen oder Kriegsteilnahme“. Menschen, die an
PTBS leiden, haben schwere
Angstzustände und Alpträume,
sie werden von Erinnerungen an
das traumatische Ereignis gequält, manche sind reizbar und
werden schnell wütend.
Laut dieser Definition, die auf
Untersuchungen von Kriegsopfern und Ex-Soldaten Ende des 19.
Jahrhunderts basiert, sind den
Opfern ein oder mehrere zeitlich
begrenzte traumatische Ereignisse zugestoßen. Sie haben das bis
dahin stabile Leben stark erschüttert. Nach Überzeugung westlicher Psychologen kann die seelische Störung erfolgreich therapiert werden und der Traumatisierte kehrt danach in seinen
normalen Alltag zurück. Die Auswirkungen des Traumas können
in einer begrenzten Zeit bearbeitet und bewältigt werden.
Professor Ashraf Kagee von
der Universität Stellenbosch und
viele seiner Kollegen in Afrika
und Asien stellen diese Auffassung in Frage. Psychologen aus
den Industrieländern hätten ihr
Trauma-Konzept blind auf Opfer
in Ländern des Südens übertragen, kritisieren sie. Bereits Anfang der 1990er Jahre hat der in
Simbabwe geborene und in London lehrende Psychiater Derek
Summerfield darauf aufmerksam
gemacht. Er beschreibt Traumata
als „soziale Konstruktionen“. Eine
„Trauma-Industrie“ aus westlichen Ländern finanziere Psychologen in NGOs, die die Lebensbedingungen der Menschen und die
Realitäten vor Ort ignorierten.
Dass er keine Entschädigung
bekam, hat den ANC-Veteranen
Tsietsi Motlokloa mehr
geschmerzt als der Schuss
in den Arm.
Hildegard Scheu
Summerfield moniert, dass
ausländische Helfer mit ihren
standardisierten
Massen-Tests
die brutalen Lebensverhältnisse
wie Armut, gewaltsame Konflikte,
lähmende Schulden, Umweltzerstörung und Mangel an Bildung,
Gesundheit und Fürsorge außer
Acht lassen. Millionen Menschen
„sitzen im Sumpf schieren Überlebens fest“, schreibt Summerfield. Es stelle sich die Frage, was
„geistige Gesundheit“ in einem
kaputten sozialen Umfeld bedeute. Die Seele habe ihre Wurzeln
auch außerhalb des Körpers, in
der Art und Weise, wie die Menschen leben. Millionen Arme in
den Slums der Welt befinden sich
danach in einer Art Dauertrauma.
Die Narben der kolonialen
Vergangenheit schmerzen noch
Diese Ansicht vertritt auch die Direktorin des Trauma-Zentrums
für Überlebende von Gewalt und
Folter in Kapstadt, die Psychologin Valdi van Reenen-Le Roux. Sie
betont überdies die fortgesetzte
Gewalt im Gegensatz zur westlichen Annahme eines singulären,
vergangenen traumatischen Ereignisses. Die „Narben der kolonialen Vergangenheit“, und dazu
gehört
die
Apartheidzeit,
schmerzten noch, sagt sie. „ Diese
Traumata bahnen sich ihren Weg
in die Gegenwart.“ Das zeige sich
bei vielen nach dem Ende der
Apartheid Geborenen, an ihren
Depressionen und Suizidversuchen. Sie erlebten Verzweiflung
und erlitten häusliche Gewalt angesichts einer „nicht lebenswerten Zukunft“.
Oder sie werden selbst gewalttätig: Das zeigt sich an den jüngsten Übergriffen auf Hunderte
Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten. Bereits im Jahr 2008 hatten
fremdenfeindliche Attacken das
Land erschüttert. „Ich glaube, die
noch immer unmenschliche Lebenssituation in den meisten
Townships ist für die junge Generation nur sehr schwer zu verstehen“, sagt Valdi van Reenen-Le
Roux.
Auch die Fremden, denen viele Südafrikaner mit Misstrauen
und Hass begegnen, haben eine
Leidensgeschichte. Einige von ih-
3-2016 |
südafrika welt-blicke
Oben: Pause für die Frauen­
gruppe in der Johannesburger
Township Sophiatown.
Links: Plakat im Gruppenraum
der Frauen.
Birgit morgenrath (2)
nen kommen seit vier Monaten
regelmäßig zum Psychologischen
Dienst in der Johannesburger
Township Sophiatown. Rund 20
Kongolesinnen sitzen im Warteraum, trinken Tee und unterhalten sich leise, jede mit einer beklemmenden Geschichte im seelischen Gepäck. Im Gruppenraum
erklärt die Psychologin und Gründerin der Organisation, Johanna
Kistner, heute gehe es um die
Wohnsituation – also um Sorgen
des täglichen Lebens.
Anny, mit Kopf- und Hüfttuch
wie eine Frau vom Land gekleidet,
erzählt: „Zuerst haben wir in
Hillbrow gewohnt, konnten aber
viele Monate nicht die Miete zahlen.“ Sie seien an die Luft gesetzt
worden und hätten an einer Tankstelle im Freien übernachten
müssen. Jetzt seien sie und ihr
Mann im Wohnzimmer einer anderen Wohnung untergekommen, zusammen mit neun weiteren Personen. Die beiden Kinder
schliefen im Esszimmer. „Die Vermieterin zwängt die Leute zusammen wie Kühe!“
Die Not des Alltags überlagert
das seelische Leid
Birgit Morgenrath
ist Autorin für Hörfunk und Fachzeitschriften insbesondere zum südlichen
Afrika.
| 3-2016
Alle Frauen berichten von der unerträglichen Enge in den nur
durch Vorhänge voneinander getrennten Behausungen; dass diese bis zu 100 Euro monatlich kosteten und meist das Geld dafür
fehle, dass sie manchmal hungern
müssten und Medikamente gegen den Stress nehmen. Diane
klagt, ihr Mann sei krank und arbeitslos. Die vierköpfige Familie
lebe in der Mitte eines Raumes.
„Andere Mieter müssen nachts
durch unseren Abschnitt laufen,
um zur Toilette zu gehen. Dieses
Leben ist nicht gut für die Kinder.“
Sie beginnt lautlos zu weinen und
auch die anderen können ihre
Tränen nicht mehr zurückhalten.
Keinerlei Privatsphäre beim Umkleiden vor den Kindern, während
der Menstruation, bei der Liebe
mit ihren Partnern – auch das
kommt zur Sprache an diesem geschützten Ort. Nach anderthalb
Stunden sind alle erschöpft.
Johanna Kistner und ihre Mitarbeiter leisten anfangs viel praktische Lebenshilfe für diese Frau-
en – Orientierung in der neuen
Umgebung und in der neuen
Sprache. Erst später werde über
seelische Belastungen gesprochen: „Alle Frauen in dieser Gruppe sind traumatisiert. Sie leiden
unter Depressionen, Angstzuständen, Stress. In manchen westlichen Ländern würde man sie in
eine Klinik einweisen“, erklärt Johanna Kistner. Die Alltagsnöte
seien oft derart bedrängend, dass
sie den vergangenen Traumata
neue hinzufügen könnten: Mietrückstände,
Obdachlosigkeit,
Hunger, das andauernde Bitten
und Betteln.
„Mir scheint, unser Modell
von Trauma und Traumatherapie
beruht auf der These, dass guten
Menschen manchmal Böses widerfährt. In Gesellschaften, die
von Gewalt verwüstet sind, widerfährt guten Menschen fortwährend Böses“, schrieb die streitbare
Psychologin 2014 in einem Aufsatz. Darum benutzen die Therapeuten vom Psychologischen
Dienst den von Kollegen in Simbabwe geprägten Begriff: „landscape of suffering“. Die Opfer geraten in einer Landschaft des Leidens von einer Horror-Erfahrung
in die nächste. Die Entwicklung
ihrer Identität und ihre sozialen
Netzwerke werden ständig gesprengt. Sichere Rückzugsorte für
emotionales Auftanken existieren nicht.
Die Therapeutinnen begeben
sich mit ihren Klientinnen auf
eine lange Reise durch die Landschaften des Schreckens – ohne
vorzugeben, sie könnten sie heilen. „Wir versuchen, Brücken zu
bauen zwischen der gegenwärtig
sehr negativen Identität und vergangenen Identitäten“, erklärt Johanna Kistner. So bleibe das Opfer Teil seiner Familie, auch wenn
diese nicht mehr existiere. Auch
die Heimat bleibe Teil der Person,
obwohl sie nicht mehr dort lebt.
Die Helfer in Sophiatown verstehen sich als zuverlässige Begleiterinnen auf dem Weg der Traumatisierten an beängstigende Orte,
als Zeugen der Hilflosigkeit.
„Das ist eine Zeugenschaft,
die nicht notwendigerweise rettet.“ Und die lange dauert. „Es gibt
kein Ende der Behandlung, wir
schließen keine Akte, als wäre jemand gestorben“, sagt Johanna
Kistner entschieden. Und selbst
wenn jemand gestorben sei, lebten die Kinder weiter. „Die haben
wir auch integriert.“ Einige Kinder
der Kongolesinnen erhielten Erziehungshilfe, andere beschäftigten sich in einer Gruppe für Neuankömmlinge mit Anpassungsproblemen und Schulbesuch.
„Wir wollen die Würde der
­Männer wiederherstellen“
Im Laufe der Zeit lernen sich die
Frauen einer Gruppe untereinander so gut kennen, dass sie eine
Selbsthilfegruppe werden, ohne
diesen Begriff zu kennen. So wie
das Men’s Forum unter der Leitung von Nomarussia Bonase in
Thokoza. „Wir haben uns selbst
behandelt“, sagt sie lächelnd, „wir
verstehen den Schmerz. Wir kennen die Wege, um das Schweigen
zu brechen. Weil der stille
Schmerz der schlimmste ist.“ Die
Anerkennung der Wahrheit sei
der Beginn der Heilung. Die Regierenden dürften Opfer nicht
nur als Abhängige sehen, sondern
als Teil der aktiven Bürger, die das
Land voranbringen wollen.
Mit Hilfe von Khulumani vertrauen sich Männer einander an
und erkennen, dass sie als Folge
ihrer traumatischen Erfahrungen
zu Gewalttätern werden können,
die vergewaltigen und Kinder
missbrauchen. „Wir wollen die
Würde der Männer wiederherstellen“, sagt Nomarussia und Tsietsi
Motlokloa fügt hinzu: „Wir lernen
voneinander, was für ein Typ
Mann wir sein wollen. Wir wollen
sorgende Väter sein, die von ihrer
Familie geliebt werden. Ich möchte, dass meine Kinder sich freuen,
wenn ich nach Hause komme.
Und ich möchte, dass sie glücklich sind.“
Auch in Deutschland werden
unterdessen die kritischen Stimmen aus Afrika und Asien an den
westlichen
Trauma-Konzepten
gehört. Laut der Hilfsorganisation medico international holen
sich psychosoziale Zentren für
Flüchtlinge Anregungen bei Projekten wie Khulumani oder dem
Psychologischen Dienst von Sophiatown. 45
46
welt-blicke literatur
„In meiner Muttersprache
kann ich direkter sein“
Der kenianisch-amerikanische Autor Mukoma Wa Ngugi fühlt sich an vielen Orten zu Hause
Mukoma Wa Ngugi stammt aus einer Schriftstellerfamilie. Er ist Literaturprofessor, Journalist
und Krimiautor. Im Interview erzählt er von seinem großen Vorbild und dem Leben zwischen
zwei Welten.
Gespräch mit Mukoma Wa Ngugi
Warum schreiben Sie als Journalist
politische Krimis?
Wenn ich etwas kommentiere
und meine Meinung verbreite,
dann werfe ich den Lesern eine
Antwort hin. Mit Literatur kann
ich sie zum Nachdenken bringen
und gleichzeitig über sehr persönliche Stimmungen schreiben.
Warum ein Mensch plötzlich ein
Killer wird und seinen Nachbarn
umbringt, ist keine journalistische Frage. Außerdem erreiche
ich mit Literatur auch Menschen,
die sich weniger für politische
Fragen interessieren.
„Es war seltsam, die Bücher meines Vaters
in der Schule zu lesen. Alle haben mich
angeschaut, als sei ich der Experte.“
Ihr Vater Ngugi Wa Thiong’o gilt als
einer der bedeutendsten Schriftsteller Ostafrikas. Was haben Sie
von ihm gelernt?
Mein Vater hat mir viel über
kenianische Literatur beigebracht
und mir vorgelebt, die Dinge zu
hinterfragen. Es hat mir vor allem
geholfen, einfach zu sehen, wie er
arbeitet: Wie er zwischen Papierstapeln in seinem Arbeitszimmer
saß, umgeben von einer Menge
von Büchern. Ich hatte immer
den Traum zu schreiben. Solch
ein Vorbild zu haben war ein großes Geschenk.
Fühlen Sie sich nie, als würden Sie
in seinem Schatten stehen?
Nein, das ist für mich ein normaler Zustand. Wir reden viel über
das Schreiben und unsere Texte.
Wir sind auch nicht die einzigen
Autoren in der Familie. Meine
Schwester und zwei meiner Brüder schreiben auch. Wir fühlen
uns wie eine Schriftstellergemeinschaft. Es war nur seltsam, die Bücher meines Vaters in der Schule
zu lesen. Alle haben mich angeschaut, als sei ich der Experte.
Sie haben einmal gesagt, Sie
schreiben Krimis, weil es das einzige Genre ist, das Ihr Vater nicht
bedient. Ist da etwas Wahres dran?
Oh nein, so ist das nicht. Mein
Vater hat zwar versucht, einen
Krimi zu schreiben und daraus ist
nichts geworden. Bei mir war das
eher unabsichtlich. Wenn ich
nicht zufällig auf meine Geschichte gestoßen wäre, wäre mir
das wahrscheinlich auch nicht gelungen.
Welche Geschichte war das?
Es war in Madison, Wisconsin.
Ich war auf dem Heimweg, da sah
ich plötzlich ein Mädchen in
Cheerleader-Uniform ohnmächtig auf einer Treppe liegen. Am
Abend hatte ein Baseball-Spiel
stattgefunden, da wurde wahrscheinlich viel getrunken. Ich rief
also die Polizei und einen Krankenwagen. Der Polizist war ein Afroamerikaner. Irgendwann habe
ich einfach auf die Szene geschaut: Da stand dieser schwarze
Polizist, und auf den Treppen lag
diese weiße Frau. Das wurde der
Einstieg in meinen ersten Krimi,
der ebenfalls damit beginnt, dass
eine blonde Frau tot auf einer Veranda in Madison liegt.
Der afroamerikanische Detective
Ishmael ist eine der beiden Hauptfiguren in Ihren Krimis. Der Kenianer ist in den USA aufgewachsen
und zieht später in seine Heimat
zurück, fühlt sich aber nirgends
richtig zu Hause. Wie viel von Ihnen steckt in dieser Figur?
Ich habe früher mehr um
meine Identität gerungen, da war
er mir ähnlich, aber das ist schon
eine Weile her. Als ich mit 19 zurück in die USA ging, hatte das
einzig den Grund, dass ich dort
studieren wollte. Bis dahin hatte
ich mich ausschließlich als Kenianer gefühlt, und mir war klar,
dass ich nach dem Studium dorthin zurückgehen würde. Doch
jetzt bin ich in den USA verheiratet und habe eine Tochter, ein
Haus und einen Job. Das hat zwischendurch schon ein paar Fragen bei mir aufgeworfen. Aber irgendwann habe ich entschieden,
sowohl Kenia als auch die USA als
mein Zuhause zu bezeichnen.
Waren Sie in jüngster Zeit in Kenia?
Ja, im Dezember. Ich habe
meine Familie besucht, mich mit
Kollegen getroffen und an einem
3-2016 |
literatur welt-blicke
„In den USA werde ich ständig daran erinnert,
dass ich schwarz bin. Manchmal fühle ich mich
geradezu überwacht.“
Transit-Verlag-
Wenn Mukoma Wa Ngugi ein Buch
schreibt, ist er selbst gespannt, wie
die Geschichte ausgeht.
Treffen für den Mabati Cornell
Kiswahili Prize for African Literature teilgenommen. Das ist ein
Preis für besonders gelungene
Übersetzungen aus und in afrikanische Sprachen, den ich mitgegründet habe. Übersetzungen interessieren mich sehr.
setzen, und in andere afrikanische Sprachen. Ich bin sehr gespannt, wie sich das anhört. Inwiefern Sprache einen verändert,
ist auch eine interessante Frage.
Ich könnte mir vorstellen, dass
ich in meiner Muttersprache direkter bin.
Sie selbst schreiben auf Englisch,
obwohl Ihre Muttersprache das in
Kenia verbreitete Kikuyu ist. Welche Rolle spielt die Sprache für Sie
beim Schreiben?
Ich bewege mich derzeit weg
vom Englischen und will demnächst ein Buch auf Kikuyu
schreiben. Es wird interessant,
das dann ins Englische zu über-
Ändert sich etwas an Ihrem Verhalten, wenn Sie in Kenia ankommen?
Ich bleibe schon derselbe,
aber in Kenia bin ich entspannter.
Es ist immer noch vertrauter und
ich habe dort mehr Erinnerungen: Da ist mein altes Kinderzimmer, da bin ich zur Schule gegangen. Das habe ich zunehmend
auch in den USA. Aber da werde
ich einfach ständig daran erinnert, dass ich schwarz bin. Manchmal fühle ich mich geradezu
überwacht. Du gehst in einen Laden und wirst schräg angeschaut,
Du wirst angehalten, wenn Du
Auto fährst.
Mukoma Wa Ngugi
Mukoma Wa Ngugi wurde in
den USA geboren, ist in Kenia
aufgewachsen und ging zum
Studium wieder zurück. Er hat
bisher einen Gedichtband und
drei Romane veröffentlicht. In
Deutschland ist er vor allem für
seine beiden Krimis „Nairobi
Heat“ und „Black Star Nairobi“
bekannt. Im Mittelpunkt stehen darin die Detectives Ishmael und O. In „Nairobi Heat“
wird eine weiße Frau vor dem
Haus eines schwarzen Professors gefunden. Die Spur führt
schnell nach Kenia und Ruanda, wo sie auf Geldwäschegeschäfte einer Hilfsorganisation
stoßen. „Black Star Nairobi“ beginnt mit einer Leiche in einem
kenianischen Wald, führt die
Ermittler aber zu einer Terror-
| 3-2016
organisation. Doch nicht Terroristen, sondern hohe Politiker
und Geschäftsmänner stecken
hinter der Gewalt – durch gezielte Morde an afrikanischen
Politikern sollen Korruption
und Armut auf dem Kontinent
bekämpft werden.
Nairobi Heat
Transit Buchverlag,
Berlin 2014
176 Seiten, 19,80 Euro
Black Star Nairobi
Transit Buchverlag,
256 Seiten, 19,80 Euro
Mehr Infos:
www.mukomawangugi.com
Rassismus ist auch ein Thema in
Ihren Büchern. Wie nehmen Sie
das in den USA wahr?
Die USA sind sehr rassistisch.
Der Rassismus hat sich aber verändert. In den fünfziger und sechziger Jahren ging er eher von der
politischen Macht aus. Seit dem
11. September 2001 ist Rassismus
vor allem angstgesteuert. Viele
weiße Amerikaner haben Angst,
eine Minderheit im eigenen Land
zu werden. Wirtschaftlich geht es
den USA eigentlich gut, aber es
gibt auch viele Weiße, die arm
sind. 44 Millionen Menschen leben dort unter der Armutsgrenze,
das sind ganz schön viele – so viele, wie in ganz Kenia leben. Weder
die Republikaner noch die Demokraten reden darüber. Jemand wie
Donald Trump kann diese Fakten
zu seinen Gunsten auslegen: Indem er Feindbilder verschärft
und andere für die Armut verantwortlich macht.
Wie schreiben Sie Ihre Bücher?
Früher habe ich gerne in Jazzclubs geschrieben. Das kann ich
nicht mehr so gut. Auch nachts
schreiben geht nicht mehr. Klingt
trist, aber ich schreibe meist in
meinem Büro. Das Schöne am
Schreiben ist nach wie vor, dass
man nie weiß, wo man ankommt.
Bei meinen beiden Krimis wusste
ich auch erst einmal nicht, wer
der Mörder war, es gab nur die Leichen und die beiden Detectives.
Arbeiten Sie gerade an einem neuen Buch?
Ich habe vor kurzem eine Geschichte über Musiker fertiggeschrieben, sie spielt in Nairobi
und Äthiopien. Außerdem arbeite
ich gerade an einem Buch über
afrikanische Literatur.
Und wie geht es weiter mit den Detectives aus Ihren Krimis, Ishmael
und seinem Kollegen O?
Ach, ich mache mir Sorgen
um sie. Sie sind echt am Ende.
Vielleicht muss ich sie ein bisschen schonen. Sie haben viele
Traumata. Am Ende von meinem
zweiten Krimi „Black Star Nairobi“ stehen sie zum Beispiel vor
der Entscheidung, ob sie Terrorismus im Namen des Guten decken
oder bekämpfen sollen. Das hat
sie hart getroffen, ich leide wirklich mit ihnen. Das Gespräch führte Hanna Pütz.
47
48
journal
medien
Jeden Tag eine gute Idee
Initiative will „konstruktiven Journalismus“ fördern
Überall nur Probleme, die keiner
lösen kann. Stimmt nicht, glauben
junge Wissenschaftler – und wollen anders berichten. Ganz ausgereift ist das Vorhaben noch nicht.
Kriege, Krisen, Klimawandel: Die
Welt ist grausam. Den Eindruck gewinnt, wer die Zeitung aufschlägt
oder sich durchs Internet klickt.
Viele schlechte Nachrichten drücken die Stimmung und lähmen,
meint Maren Urner. Die Mitgründerin der Plattform „Perspective
Daily“, hat sich einer neuen Form
der Berichterstattung verschrieben. „Wir wollen den Menschen
das Gefühl geben, dass man die
Dinge verändern kann“, sagte sie
bei einer Veranstaltung im Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn.
Die neuen Medienmacher
wollen nicht nur über Probleme,
sondern auch über Lösungen
berichten. Gleichzeitig sollen Ereignisse ins Weltgeschehen eingeordnet und ihre Hintergründe erklärt werden. Konstruktiver Journalismus nennt sich das. Die Neurowissenschaftlerin geht davon
aus, dass die meisten Menschen
das Weltgeschehen schlechter
einschätzen, als es tatsächlich ist.
Viele Nachrichtenkonsumenten
fühlten sich schlicht überfordert.
Das belegen auch Studien, auf die
Urner sich beruft: Medienwissenschaftler der Universität Southampton etwa haben gezeigt, dass
zu viele schlechte Meldungen die
Leser hoffnungslos und ängstlich
machen. Je stärker diese Gefühle
seien, desto unwahrscheinlicher
werde es, dass sie spenden, die
Umwelt schützen oder sich mit
anderen austauschen. Werden
hingegen Lösungswege aufgezeigt, erhöhe sich die Bereitschaft,
Probleme zu bearbeiten.
Für die entwicklungspolitische Berichterstattung sei der
konstruktive Journalismus ein
guter Ansatz, sagte der Direktor
des DIE, Dirk Messner, der künftig als Gastautor für „Perspective
Daily“ schreiben soll. Gerade in
diesem Politikfeld würden einerseits viele Probleme unterschätzt,
andererseits Fortschritte häufig
nicht wahrgenommen. Das gelte
für die Flüchtlingskrise ebenso
wie für die Europapolitik oder
den klimafreundlichen Städtebau.
Das seien alles große Aufgaben,
die gelöst werden könnten – aber
Lösungswege statt Skandale: Die Medienmacher Maren
Urner, Han Langeslag und Bernhard Eickenberg werben
für ihr Projekt.
Oliver krato/picture alliance
wie genau, werde zu wenig in den
Medien diskutiert.
Mit guten Ideen neue Leser
gewinnen?
Das bestätigte auch die stellvertretende Direktorin der Deutsche
Welle Akademie, Ute Schaeffer.
Es sei zwar häufig über die Verhandlungen zu den Nachhaltigen
Entwicklungsziele (SDG) berichtet worden. Doch es werde kaum
Geschützter Raum ohne Hetze
Der konstruktive Journalismus hat bereits
Vorbilder in anderen Ländern. Eines der erfolgreichsten ist das Online-Format „De
Correspondent“ aus den Niederlanden mit
rund 45.000 zahlenden Lesern. Auch einige deutsche Medien haben die Idee aufgegriffen, etwa die Wochenzeitung „Die Zeit“
in einem Artikel mit dem Titel „Wie
Deutschland Verteilungskämpfe zwischen
Flüchtlingen und Einheimischen vermeiden kann“.
Das Team von „Perspective Daily“ will
seinen Lesern auf der Internet-Plattform
zugleich einen lösungsorientierten Austausch möglich machen – im geschützten
Raum und ohne Internet-Hetze, hieß es auf
der Veranstaltung im DIE. Einzelne Beiträge
sollen für Nichtmitglieder freigeschaltet
werden, aber mitdiskutieren dürfen auch
bei diesen nur die zahlenden Mitglieder.
Pro Tag soll ein ausführlicher Beitrag
erscheinen, der gemeinsam mit Gastautoren erstellt wird, etwa mit Fachleuten aus
Forschungseinrichtungen oder auch entwicklungspolitischen Organisationen. Deren eigene politische Zielsetzung soll außen vor bleiben. Das Gründer-Trio aus den
Neurowissenschaftlern Maren Urner und
Han Langeslag und dem Physikochemiker
Bernhard Eickenberg hat selbst keine journalistische Ausbildung, lässt sich aber von
Medienexperten beraten. (hap)
erläutert, was auf lokaler Ebene
getan werden könne, um sie umzusetzen.
Ob es Aufgabe von Journalisten ist, dem Leser Lösungen
aufzuzeigen und damit zu politischem Handeln aufzufordern,
ist umstritten – zumal das Misstrauen gegenüber Zeitungen und
Radio derzeit groß ist und viele
über die vermeintliche „Lügenpresse“ schimpfen. Die Grenzen
zur Schönfärberei seien fließend,
hieß es jüngst auch beim Medienportal Meedia zum konstruktiven Journalismus. Maren Urner betont jedoch, es gehe nicht
darum, nur Gutes zu berichten
oder Missstände auszublenden.
„Wir wollen Probleme nicht wegschließen, sondern sie verstehen.“
Wie das bei „Perspective Daily“
schlussendlich aussehen wird, ist
offen. Beispieltexte gibt es bisher
nicht. Das Team ist noch damit
beschäftigt, über das Internet Beiträge für das Projekt zu sammeln.
12.000 zahlende Mitglieder sind
das Ziel, bis Mitte Februar waren es gut 5000. Wahrscheinlich
wird die Frist um vier Wochen bis
Mitte März verlängert. Bis dahin
werde es genug Teilnehmer geben,
glaubt Urner.
Hanna Pütz
3-2016 |
studien journal
studien
Was unser Konsum
anrichtet
In Deutschland ist vieles für wenig Geld zu haben. Eine Studie
von Brot für die Welt zeigt, wie
die niedrigen Preise zustande
kommen und was auf dem langen Weg zwischen Baumwollfeld und Discounter passiert. Die
Hilfsorganisation beleuchtet, wie
sich globale Wertschöpfungsketten auf Mensch und Umwelt auswirken. Dafür haben die Verfasser der Studie „Mein Auto, mein
Kleid, mein Hähnchen – Wer zahlt
den Preis für unseren grenzenlosen Konsum“ Daten in mehr als
20 Ländern erhoben.
Sie zeichnen beispielsweise
die Wertschöpfungskette von Autos nach, die mit der Förderung
von Eisen oder Kupfer beginnt.
Die wirkt sich auf die Gesundheit
der Minenarbeiter aus: So habe
das peruanische Gesundheitsministerium im Umfeld einer Mine
erhöhte Bleiwerte im Blut von 83
Prozent der dort lebenden Kinder
festgestellt.
Manche Unternehmen versprächen viel, hielten jedoch wenig, kritisieren die Herausgeber
weiter. Als wohlklingende, aber irreführende Werbebotschaft nennen sie eine Kampagne des H&MKonzerns, die mit fairer Mode
wirbt. Die schlechten Arbeitsbedingungen in einigen kambodschanischen Zulieferbetrieben zeugten aber vom Gegenteil,
ebenso die Arbeitsbedingungen
auf vielen Baumwollfeldern.
Ein weiteres Beispiel in der
Studie ist die Fleischproduktion. Weil der Konsum steigt, werden gegenwärtig über 100 Millionen Tonnen Geflügelfleisch pro
Jahr hergestellt. Darunter leiden
auch Kleinbauern in Paraguay.
Sie werden von ihren Feldern vertrieben, damit dort Soja für deutsche Hähnchenmastbetriebe angebaut werden kann.
Die Autoren richten Vorschläge an Politik und Wirtschaft. So
müssten die Hersteller dafür sorgen, dass unabhängige Kontrolleure Zugang zu allen Stufen der
| 3-2016
Wertschöpfungskette
bekommen. Freiwillige Standards reichten dafür nicht aus. Die Präsidentin von Brot für die Welt, Cornelia
Füllkrug-Weitzel, erklärte: „Es ist
an der Zeit, dass der Gesetzgeber
in Deutschland ansässige Unternehmen dazu verpflichtet, menschenrechtliche Sorgfaltspflichten entlang ihrer gesamten Lieferkette einzuhalten.“ Darüber
hinaus sollten Unternehmen gesetzlich verpflichtet werden, Umweltschäden zu beheben und
transparent darüber zu berichten.
Hintergrund der Studie ist
der Nationale Aktionsplan der
Bundesregierung, über den in
den kommenden Wochen entschieden wird. Er soll verbindliche Regeln für Unternehmen in
Deutschland schaffen, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen
und die Zerstörung der Umwelt
in Entwicklungs- und Schwellenländern zu stoppen. Die beteiligten Ministerien halten sich aber
bisher noch bedeckt, wie weit sie
mit der Verbindlichkeit zu gehen
bereit sind.
(hap)
Brot für die Welt
Mein Auto, mein Kleid, mein Hähnchen
Wer zahlt den Preis für unseren grenzenlosen Konsum?
Brot für die Welt, Analyse 55, Berlin
2016, 52 Seiten
www.brot-fuer-die-welt.de
Globale
Weggemeinschaften
Ökumene ist ein Muss. Und Mission und Entwicklung gehören zusammen. Zu diesen Kernaussagen
kommen zwei Grundlagentexte,
welche die Kammer für weltweite
Ökumene im Auftrag des Rats der
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) herausgegeben hat.
„Ökumene im 21. Jahrhundert“
(EKD-Text 124) ist zum einen eine
Hymne auf die Chancen kirchlicher Zusammenarbeit in einer
globalisierten Welt. Zum anderen
stellt der Text unmissverständlich
klar, dass Ökumene kein optionales Handlungsfeld ist, sondern ein
Muss für jede Kirche. Keine Kirche
könne auf Ökumene verzichten,
weil keine für sich allein den Anspruch erheben könne, die ganze
Christenheit zu repräsentieren.
Die Autoren empfehlen deswegen,
die Gemeinschaft mit anderen
Kirchen „in versöhnter Verschiedenheit“ zu suchen. „Alle kirchlichen Arbeitsfelder sind daraufhin
zu überprüfen, inwiefern sie die
ökumenische Dimension mit reflektieren und gestalten“, schreibt
der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich
Bedford-Strohm im Vorwort. Das
gelte für die Aus- und Fortbildung
von Mitarbeitenden, die Seelsorge,
die Verkündigung und auch dafür,
wie sich Kirche ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stelle.
Das Christentum sei heute
wesentlich stärker von den Kirchen des Südens geprägt. Auch
komme dem Dialog und der Kooperation mit anderen Religionen
in einer globalisierten Welt eine
zunehmend wichtige Rolle zu.
Dies habe Auswirkungen auf die
Auswahl möglicher Partner und
der Themen, an denen gearbeitet
werden müsse; so nennt der Text
die Folgen der Globalisierung,
den Klimawandel oder globale
Epidemien. Besonders betonen
die Autorinnen und Autoren, dass
„Globalisierung nicht länger den
Export europäischer Denktraditionen in alle Welt bedeuten darf“.
„Kirche sein in einer globalisierten Welt“ (EKD-Text 125) ist
auf einem ähnlichen Hintergrund
geschrieben, geht allerdings dezidiert auf den deutschen Kontext und die Kooperation der
Organisationen und Werke in der
kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit und in der Mission
ein. Deutlich wird in dem Text der
politische Wille beider Seiten – in
der Kammer sitzen sowohl Vertreter der Missions- als auch der
Hilfswerke – zum Ausbau dieser
Zusammenarbeit. Das ist bemerkenswert, weil sich in der Vergangenheit Entwicklung und Mission
organisatorisch und inhaltlich
eher voneinander abzugrenzen
versuchten. Immer wieder betont
der Text die „Weggemeinschaft
von Mission und Entwicklung“,
benennt die gemeinsame Zielgruppe – nämlich die von der Globalisierung an den Rand gedrängten Menschen – und spricht von
einer gemeinsamen Hoffnung,
dass eine andere Welt möglich ist.
Katja Dorothea Buck
Evangelische Kirche in Deutschland
Ökumene im 21. Jahrhundert
Bedingungen – theologische Grundlegungen – Perspektiven
EKD-Texte 124, Hannover 2015, 96
Seiten
Evangelische Kirche in Deutschland
Kirche sein in einer globalisierten Welt
Zur Weggemeinschaft in Mission und
Entwicklung
EKD-Texte 125, Hannover 2015, 73
Seiten
www.ekd.de/EKD-Texte
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journal flüchtlinge
flüchtlinge – Berlin
Flüchtlinge treiben die Entwicklungshilfe nach oben
Berlin streitet über die Anrechnung von Kosten für Asylbewerber
Die Bundesregierung denkt darüber nach, die Kosten der Flüchtlingsaufnahme stärker als staatliche Entwicklungshilfe (ODA) anzurechnen. „Deutschland überprüft
derzeit seine Meldemethode“, sagt
eine Sprecherin des Entwicklungsministeriums auf Anfrage. Genaueres sei erst Ende März zu erfahren,
wenn die vorläufigen Ausgaben für
2015 an den Entwicklungsausschuss (DAC) der OECD gemeldet
werden.
Die Frage ist angesichts der anhaltend hohen Zahl von Flüchtlingen
brisant, da Deutschlands Leistung an Entwicklungsländer an
der ODA-Zielmarke von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) gemessen wird. Großbritannien und einige andere
Länder haben sie schon erreicht.
Deutschland ist über 0,4 Prozent
nie hinausgekommen. Die Opposition befürchtet, dass die Zahlen
nun durch die enormen Kosten
aufgebläht werden – vermutlich
deutlich über 0,4 Prozent.
Aus Sicht der Grünen würde das ein völlig falsches Bild
vom tatsächlichen Engagement
für Entwicklungsländer geben
– nämlich einen fragwürdigen
„Scheinaufwuchs“, kritisiert der
Abgeordnete Uwe Kekeritz. Auch
Niema Movassat von der Linkspartei teilt die Sorge und fürchtet, dass dann weniger für arme
Länder ausgegeben wird, was die
BMZ-Sprecherin indes verneinte.
Die Union riskiert allerdings
auch Krach mit dem Koalitionspartner, sollte sie heimische Aufwendungen für Flüchtlinge mit
Entwicklungshilfe in einen Topf
werfen. Die gehören nach Meinung der sozialdemokratischen
Entwicklungspolitiker da nicht
hin. Dies widerspreche dem Kerngedanken der Entwicklungszusammenarbeit, menschenwürdige Lebensumstände und Perspektiven in den Partnerländern zu
schaffen. Der SPD-Abgeordnete
Sascha Raabe geht davon aus,
dass sich für die Anrechnung 2015
noch nichts ändern wird.
Bereits bei der Vorlage des OECDPrüfberichts zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit
im
November hatte Staatssekretär
Friedrich Kitschelt jedoch betont,
die bisher angerechneten Kosten
für anerkannte Asylbewerber aus
Entwicklungsländern seien „minimal“. Deutschland könne viel
mehr anrechnen.
Im Bundestag wagte Volkmar
Klein (CDU), im Haushaltsausschuss für Entwicklungspolitik
zuständig, die Prognose, dass die
Quote „nächstes Jahr“ 0,7 Prozent
sogar deutlich übertreffen werde
– „weil sämtliche Kosten, die im
Inland für Flüchtlinge anfallen,
für die ersten zwölf Monate mitgerechnet werden“.
Nach den OECD-Regeln ist das
gestattet. Vor allem nordische
Länder nutzen den Spielraum
und melden Kosten für Transport
und Unterhalt im ersten Jahr, zu
dem Unterbringung, Versorgung
und Ausgaben für Grundbildung
gehören. Deutschland meldete
im Berichtsjahr 2014 ODA-anrechenbare Kosten von rund 130
Millionen für Flüchtlinge, denen
2013 Asyl- oder Flüchtlingsschutz
gewährt wurde. Dies entsprach
etwa einem Prozent der gesamten deutschen ODA 2014. Die
Kampagnenorganisation
ONE
hat ausgerechnet, dass gemeldete Kosten europäischer Länder in
diesem Jahr auf zehn Milliarden
US-Dollar steigen könnten; das
entspräche elf Prozent der gesamten EU-Entwicklungshilfe 2014.
Die OECD bemüht sich um
Einheitlichkeit, aber eher im einschränkenden Sinn. In einem
Interview plädierte der DACVorsitzende Erich Solheim dafür,
den Umfang der als ODA zu verbuchenden Kosten für die Flüchtlingsaufnahme eng zu fassen. Auf
einem sogenannten High-level
Meeting im Februar beschlossen
die DAC-Mitglieder, die Anrechnung der Flüchtlingskosten zu
vereinheitlichen. Marina Zapf
das ist kaum mehr als ein Tropfen
auf den heißen Stein. So fällt die
bisherige Bilanz des vor knapp einem Jahr gestarteten Pilotprojekts des Bauernverbandes ( siehe
welt-sichten 7/2015) ernüchternd
aus. Nur rund ein Dutzend Flüchtlinge fand bislang einen Arbeitsplatz auf einem Bauernhof. Besser sieht es in der Gastro- und
Hotelbranche aus. Diese bietet
bereits seit mehreren Jahren einen eigenen Lehrgang für Flüchtlinge an. Die meisten Absolventen finden anschließend einen
Job.
Künftig soll die Zahl der Lehrstellen für Flüchtlinge stark erhöht werden – und zwar in allen
Branchen. Dafür will die Regierung bis zu 54 Millionen Franken
(knapp 49 Millionen Euro) investieren. Im Gegenzug spart allein
der Bund für jeden Flüchtling, der
ein Jahr früher eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, rund 18.000 Franken (gut 16.000 Euro) an Sozialhilfebeiträgen. Die Hürden für
die Anstellung von Flüchtlingen
sollen ebenfalls gesenkt werden.
Bislang brauchten Arbeitgeber
dazu eine Bewilligung, was bisher
Die OECD gestattet die
­ nrechnung der Kosten
A
flüchtlinge – Schweiz
Ausbilden statt ausweisen
Die Schweiz will Flüchtlinge in Lohn und Brot bringen
Ab 2018 sollen in der Schweiz jährlich etwa tausend Flüchtlinge eine
sogenannte Vorlehre absolvieren,
um Anschluss an den Arbeitsmarkt
zu finden. Allerdings ist noch fraglich, ob Unternehmen dafür genügend freie Stellen schaffen können.
Schweizer Unternehmen holen
jedes Jahr Zehntausende Arbeitskräfte aus dem Ausland, obwohl
in der Schweiz Tausende erwerbsfähige Flüchtlinge Sozialhilfe beziehen. Justizministerin Simonetta Sommaruga findet das absurd:
„Oder will da wirklich jemand
ernsthaft behaupten, dass es unter den Flüchtlingen keine entsprechenden Arbeitskräfte gegeben hätte?“, fragte die Bundesrätin der Sozialdemokratischen
Partei der Schweiz (SP) im Januar
beim Asylsymposium in Bern. In
der Tourismusbranche etwa wurden 2014 rund 32.000, für die
Landwirtschaft rund 9000 Arbeitskräfte im Ausland rekrutiert.
Hier brauche es ein Umdenken,
erklärte Sommaruga.
Beide Branchen engagieren
sich zwar bereits in Integrationsprojekten für Flüchtlinge, doch
3-2016 |
flüchtlinge journal
mit einem abschreckenden Behördenmarathon verbunden war.
Deshalb holten viele Schweizer
Firmen lieber Personal aus Ländern wie Portugal oder Deutschland. Auch mussten die Flüchtlinge zehn Prozent ihres meist ohnehin schon niedrigen Lohns als
Sondersteuer abgeben, was die
Motivation bremste, überhaupt
einen Job zu suchen. Beide Auflagen sollen nun wegfallen.
Neun von zehn „vorläufig
­ ufgenommenen“ bleiben länger
A
2014 hatte nur jeder fünfte anerkannte Flüchtling (Ausweis B) einen gemeldeten Job. Bei „vorläufig Aufgenommenen“ (Ausweis F)
lag die Erwerbsquote mit 30 Prozent etwas höher. Ihre Situation
auf dem Arbeitsmarkt ist besonders prekär: Anders als ihr Status
vermuten lässt, bleiben 90 Prozent von ihnen langfristig in der
Schweiz. Die „vorläufig Aufgenommenen“ machen mit 33.000
Personen etwa die Hälfte der Asylbewerber aus. Ihnen wird kein
Asyl gewährt, sie können aber
nicht ausgewiesen werden, etwa
Obergrenzen fordern sie nicht:
Bürgermeister aus zehn Ländern bei
der Konferenz in Wien.
Ralf Leonhard
| 3-2016
weil sie unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen.
Der Knackpunkt für das Vorhaben liegt in der Beteiligung der
Wirtschaft, denn ohne genügend
Lehrstellen und Praktikumsplätze
kann es nicht funktionieren. Der
Arbeitgeberverband signalisiert
Unterstützung, will aber einen direkten Nutzen sehen. Potenzial
sieht der Verband im Bausektor,
in Teilen der Industrie, im Gastgewerbe, in der Gesundheitsbranche oder im Reinigungsdienst.
Die Gewerkschaften begrüßen die
Integration von Flüchtlingen,
fürchten aber, dass das Projekt die
Löhne nach unten drückt. Immerhin: Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative sind
die in der Schweiz lebenden
Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt
gefragter denn je. Denn rein technisch gelten sie jetzt nicht mehr
als Ausländer, sondern als Teil des
„inländischen Fachkräftepotenzials“, das zunächst ausgeschöpft
werden muss, bevor Unternehmen im Ausland Arbeitskräfte rekrutieren.
Theodora Peter
flüchtlinge – Österreich
Hass und Hilfsbereitschaft
Wie Bürgermeister versuchen, die Flüchtlingskrise zu meistern
Zu einem Austausch über Erfahrungen beim Umgang mit
Flüchtlingen kamen Ende Januar in Wien Bürgermeister
von Kommunen aus zehn Ländern in Europa und Nahost
zusammen. Ziel war es, die Gemeinden aus den Nachbarländern Syriens, den Transitländern und den Aufnahmeländern besser miteinander zu vernetzen.
Andreas Babler, der Bürgermeister von Traiskirchen bei
Wien, wo das größte Erstaufnahmelager steht, und der
Künstler André Heller hatten die Konferenz gemeinsam
organisiert. „Wir werden Zeugen und Mitwirkende einer
machtvollen Polarität zwischen zynischer Grausamkeit
und tatkräftiger Herzensbildung, zwischen Hass und unermüdlicher Hilfsbereitschaft Zehntausender Mitglieder der Zivilgesellschaft“, sagte Heller zu Beginn der Veranstaltung. In allen Etagen der unterschiedlichen Lager
herrschten Überforderung sowie erschreckende Wis-
sensdefizite. Dem sollte die Konferenz entgegentreten.
Gemessen an der Einwohnerzahl muss niemand mehr Schutzsuchende aufnehmen als Spyros
Galinos, der Bürgermeister von
Mitilini auf der griechischen Insel
Lesbos. Er beklagt sich nicht über
Überforderung, appelliert aber an
die eigene Regierung und die europäischen Partner: „Wir wollen
ordentliche Bedingungen für die
Flüchtlinge schaffen.“ Jürgen
Dupper, Bürgermeister von Passau, lebt lieber in einem Land, „in
das Menschen in Millionen strömen als in einem, aus dem Menschen zu Millionen herausströmen“. Seine bayerische Grenzstadt, die nur 50.000 Einwohner
zählt, musste im vergangenen
halben Jahr 30.000 Menschen
vorübergehend
unterbringen.
Zwar müsse viel investiert werden, zugleich biete aber auch der
Arbeitsmarkt „enorme Perspektiven“.
Dieter Posch, der der kleinen
burgenländischen
Gemeinde
Neudörfl vorsteht, ist überzeugt,
dass man sich vor der eigenen Bevölkerung nicht fürchten müsse,
wenn man sie entsprechend informiere und einbinde. Sieben
ehemalige Flüchtlinge seien bereits in der Gemeindeverwaltung
angestellt. Wenn sich alle Gemeinden beteiligten, gebe es kein
Kapazitätsproblem, betonte er.
Im Burgenland hätten erst 83 von
171 Gemeinden Flüchtlinge aufgenommen.
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52
journal flüchtlinge
Auch Ali Mattar, Bürgermeister der libanesischen Stadt Sahel
El Zahrani, rückte die Relationen
zurecht. In seinem Land seien
zwei von fünf Menschen Flüchtlinge aus Syrien: „Es wird für unser Land immer schwieriger, damit umzugehen“. Dennoch rief
keiner der Gemeindechefs nach
Obergrenzen. Vielmehr sorgten
sie sich um die Kinder, die seit
Jahren keine richtige Schule besuchen und auch sonst unterversorgt seien.
Die internationale Hilfe sei
zwischen 2011 und 2015 um zwei
Drittel gekürzt worden, beklagte
Mohammed Ali Kilani von der
jordanischen Charity Organization for Relief and Development
(JHCO).
Die Konferenz fand nicht wie
üblich in protzigem Ambiente,
sondern in einer Montagehalle
der Österreichischen Bundesbah-
nen (ÖBB) statt. Die ÖBB hatten
seit September Flüchtlinge kostenlos zur deutschen Grenze
transportiert. Die Entwicklungs-
agentur ADA und andere Bundeseinrichtungen hatten sich nicht
an der privat finanzierten Veranstaltung beteiligt. Ralf Leonhard
Durchgriffsrecht und Asylquote
Seit Oktober 2015 hat der Bund in Österreich ein Durchgriffsrecht, falls ein Bundesland
die ihm zugewiesene Quote von Flüchtlingen nicht unterbringt. Die Länder haben sich
verpflichtet, eine Zahl von Asylbewerbern aufzunehmen, die 1,5 Prozent ihrer Bevölkerung entspricht. Sie können diese dann auf die einzelnen Gemeinden verteilen. Bisher
erfüllen lediglich Wien und Niederösterreich diese Vorgabe. Die übrigen sieben Bundesländer verfehlen die Quote in unterschiedlichem Maß. Es ist vorgesehen, dass die
Schutzsuchenden vorrangig Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern zuzuweisen
sind. In einem Quartier sollen nicht mehr als 450 Personen untergebracht werden. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat bereits wiederholt von ihrem Durchgriffsrecht Gebrauch gemacht und Flüchtlinge in Kasernen und anderen Einrichtungen
des Bundes einquartiert. Im vergangenen Januar hatten nur 40 Prozent der österreichischen Gemeinden Flüchtlinge aufgenommen.
(rld)
flüchtlinge – global lokal
Neue Allianz für Syrien-Flüchtlinge
Erstmals tut sich ein Bundesland mit einer Kurden-Provinz zusammen
Millionen Syrer sind vor dem Krieg
in die Nachbarländer geflohen. Das
Land Baden-Württemberg und viele Kommunen wollen ihre Not vor
Ort lindern und damit eine weitere
Flucht nach Europa verhindern.
Baden-Württemberg betritt bei
seiner Zusammenarbeit mit der
Provinz Dohuk im Nordirak Neuland. Das Bundesland will dort
helfen, die humanitäre Situation
zu verbessern und für syrische
Flüchtlinge sowie Einheimische
neue Perspektiven zu schaffen.
Die vier Provinzen der autonomen Kurdengebiete im Nordirak
grenzen an Syrien, Iran und die
Türkei. Die Provinz Dohuk mit
rund 1,5 Millionen Einwohnern
hat im vergangenen Jahr rund
900.000 Syrer aufgenommen.
Im Dezember 2015 haben Vertreter von Dohuk und BadenWürttemberg ihre Zusammenarbeit besiegelt. Die Schwaben wollen Generatoren und Entsorgungsfahrzeuge liefern und mit
einer Berufsschule in der Stadt
Erbil zusammenarbeiten. Junge
Menschen sollen dort zum KFZ-
Mechaniker, Mechatroniker oder
Abfallmanager ausgebildet werden. Der Autokonzern Daimler
hat zugesagt, die einheimischen
Ausbilder mit Kurzzeittrainings
in Stuttgart zu schulen.
Für die Hilfe in Dohuk hat
die Landesregierung in diesem
und im kommenden Jahr rund
2,5 Millionen Euro im Haushalt
eingestellt. Damit wäre auch eine
neue Landesregierung an die Zusagen gebunden, falls es bei den
Landtagswahlen im März in Stuttgart zu einem Regierungswechsel
kommt.
Kommunen aus Baden-Württemberg wollen zudem die Türkei
bei der Schulbildung für syrische
Flüchtlingskinder unterstützen.
Deren staatliche Schulen sind
überlastet und können längst
nicht mehr alle syrischen Kinder
aufnehmen. Aalen etwa will seine
Partnerkommune Antakya im Osten der Türkei mit dem Bau einer
Schule für tausend syrische
Flüchtlingskinder unterstützen.
Ähnliche Initiativen planen
Freiberg am Neckar, Stuttgart
und Karlsruhe, die ebenfalls auf
langjährige Beziehungen zu türkischen Städten blicken können.
„Diese Partnerschaften, die zum
Teil etwas eingeschlafen waren,
können wir jetzt nutzen, um
Fluchtursachen zu bekämpfen“,
sagt Kristine Döll vom Staatsministerium in Stuttgart. Die Landesregierung stocke die von den
Kommunen aufgebrachten öffentlichen Mittel und privaten
Spenden auf. Für jeden Euro aus
den Kommunen legt sie nochmal
das Gleiche drauf.
Hilfe beim Wiederaufbau
von Kobane
„Wenn syrische Flüchtlinge in der
Türkei und im Nordirak klare Signale bekämen, dass man ihnen
helfen will, würden nicht so viele
nach Europa fliehen“, meint Vedat Akter von der Initiative „Kölner helfen“. Seine Organisation
wurde nach einem Hilferuf aus
der türkischen Stadt Diyarbakir
im September 2014 gegründet,
die mit den vielen Zuflucht Suchenden überfordert war. In dem
Verein sind zahlreiche Migranten mit kurdischem Hintergrund
aktiv, aber auch Türken, Araber
und Deutsche. Sie sammelten
zunächst Spenden und kauften
Hilfsgüter für Diyarbakir. Seit 2015
konzentrieren sie sich auf den
Wiederaufbau der syrischen Stadt
Kobane an der türkischen Grenze.
Kobane wurde 2015 zum Symbol des Widerstands gegen den
sogenannten Islamischen Staat,
als es gelang, die Terrortruppe
von dort zu vertreiben. Große Teile der Stadt sind zerstört, doch
seien bereits bis zu einem Drittel
der ursprünglich 300.000 Einwohner zurückgekehrt, sagt Vedat
Akter. „Beim Wiederaufbau wird
Kobane weitgehend alleine gelassen.“ Lediglich einige kleinere
Hilfsorganisationen seien dort tätig. Der Verein „Kölner helfen“
sammelt derzeit Spenden für den
Bau einer Grundschule in Kobane.
Von der Stadt Köln wünschen sich
die Engagierten mehr Unterstützung. Bisher erhielten sie eine
einmalige Spende von 10.000
Euro. Eine mündliche Zusage des
Oberbürgermeisters über weitere
Zuwendungen wurde wieder zurückgenommen. Claudia Mende
3-2016 |
berlin journal
berlin
Deutschland will in Afrika digital Flagge zeigen
Eine Initiative des Entwicklungsministeriums kommt nur langsam in Gang
Neun Monate nach dem Start
trommelt die Bundesregierung für
ihre Strategische Partnerschaft
„Digitales Afrika“. Mit der Privatwirtschaft will das Entwicklungsministerium (BMZ) die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in Afrika fördern.
Mehr als hundert Unternehmen
zeigen Interesse – aber mehr bislang auch nicht
Der Initiative angeschlossen haben sich etwa der in Afrika erfahrene Softwarekonzern SAP und
der Branchenverband Bitcom.
Um förderwürdige Projektvorschläge wirbt nun der Kanzlerbeauftragte Günter Nooke beim Afrika-Verein der Deutschen Wirtschaft. Bei der Technologiemesse
Cebit Mitte März in Hannover soll
an Ständen und in Workshops die
Werbetrommel gerührt werden.
Ähnliche Partnerschaften gibt es
bereits mit der Gesundheitswirtschaft. Die German Food Partnership für die Landwirtschaft wurde 2015 beendet. Sie hatte herbe
Kritik angezogen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sahen
darin Entwicklungshilfe für die
beteiligten Konzerne.
Womöglich auch deswegen
herrscht in der Wirtschaft eine gewisse Zurückhaltung. Unternehmen scheuen offenbar, sich an
feste Plattformen oder ausführende Organisationen wie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zu binden.
Daraus will das BMZ nun lernen:
Die digitale Partnerschaft versteht sich stärker als Netzwerk
Gleichgesinnter, deren Austausch
es erleichtern soll, in neue Märkte
einzutreten – sei es Äthiopien, Kenia oder Kamerun. IKT-Firmen
aus Asien und den USA haben
den Kontinent längst entdeckt.
„Indem man sich strategisch aufstellt, macht man eine Ansage“,
sagt Nooke.
In den Ländern Afrikas soll
deutsches
Firmenengagement
| 3-2016
dazu beitragen, neue wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen:
Ausbildung, gute Jobs und eine
starke Privatwirtschaft, heißt es
offiziell. Unklar ist, wie das Ministerium die deutschen Firmen begleiten will. Möglich sind Studien,
Versicherungen, Exportgarantien.
„Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit“ sollen verantwortungsvolles
Unternehmertum „wirkungsvoll flankieren“,
heißt es. Ein eigener Geldtopf
steht nicht bereit.
Auch die Weltbank drängt,
die digitale Kluft zu schließen
Eingebettet ist die Partnerschaft
in die Digitale Agenda der Bundesregierung, die anregt, Digitali-
sierung als wichtigen Baustein
der Entwicklungszusammenarbeit zu nutzen. Auch die Weltbank
drängt, die „digitale Kluft“ zu
schließen und den Zugang zum
Internet bezahlbar zu machen sowie IT-Kenntnisse für den Arbeitsmarkt aufzubauen.
Nach den Worten von Staatssekretär Thomas Silberhorn zählt
Deutschland mit weltweit 258
IKT-Projekten, einigen davon in
Afrika, schon heute zu den größten Gebern in dem Sektor. „In
2016 wollen wir 53 Millionen Euro
allein für IKT-Vorhaben in Afrika
investieren“, sagte Silberhorn
Ende Januar. Im vergangenen Jahr
seien es gerade einmal zwei Millionen gewesen.
Die Strategische Partnerschaft mit der Wirtschaft läuft parallel dazu. Als erstes haben die
interessierten
Unternehmen
Branchenarbeitsgruppen für Gesundheit und Logistik gebildet.
Weitere sollen folgen. Brücken
nach Afrika schlägt das GIZ-Programm „Lab for tomorrow“, das
Teil der Partnerschaft ist: So ruft
der Verband der Maschinenbauer
VDMA zu einem Workshop über
Ernteverluste. Mit kenianischen
Fachleuten und möglichen Kunden aus Produktion, Transport,
Verarbeitung und Export soll dabei in drei Tagen eine profitable
Geschäftsidee mit marktfähigen
Lösungsideen entwickelt werden.
Marina Zapf
Berlin
Die Kraft des Glaubens nutzen
Das Entwicklungsministerium entdeckt die Religion
Bundesminister Gerd Müller will die Religionen stärker in
der Entwicklungszusammenarbeit nutzen. Glaubensführer und religiöse Netzwerke sollen als Partner für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung sowie die Bewahrung der
Schöpfung gewonnen werden.
„Zu lange wurde der Einfluss der
Religion auf die internationale
Zusammenarbeit vernachlässigt“,
heißt es in der neuen Strategie,
die Müller Mitte Februar in Berlin
vorstellte. Erstmals in der mehr
als 50-jährigen Geschichte des
Ministeriums lud Müller dazu zu
einer internationalen Konferenz
„Religion und Entwicklung“ ein.
Unter den mehr als 200 Teilnehmern waren alle Glaubensrichtungen vertreten; prominente
Gäste waren unter anderen der
Großmufti des Libanon, Scheich
Abdul Latif Derian, und der Erzbischof aus dem pakistanischen Lahore, Sebastian Francis Shaw.
Minister Gerd Müller erklärt, warum
Entwicklungspolitiker die Religion
stärker beachten sollen.
giz
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journal berlin | schweiz
Als das Ministerium 2015
Konsultationen zur Erstellung der
neuen Strategie begann, hagelte
es viel Kritik. Gegner befürchteten, der CSU-Politiker wolle vor
allem das christliche „C“ seiner
Parteienfamilie größer schreiben.
Andere warnten davor, ohne Not
die traditionell weltliche Ausrichtung der Zusammenarbeit aufs
Spiel zu setzen.
Auffallend ist nun, dass Zuordnungen wie „christlich“ oder
„islamisch“ in dem Strategiepapier sorgfältig vermieden werden.
„Unsere Politik ist weltanschaulich
neutral, aber wir stehen für Werte“, betonte Müller am Vorabend
der Konferenz. „Wir bevorzugen
keine Religionsgemeinschaft und
grenzen niemanden aus.“ Universelle menschenrechtliche Standards seien die Basis der neuen
Strategie und für die Annährung
an religiöse Mitstreiter, die sich
als moderate Glaubensführer zu
den Menschenrechten bekennen
und gegen extremistische Angriffe verteidigen wollten.
Religionen können Konflikte
anheizen – und entschärfen
Ziel sei es, Trennendes zu schwächen und Verbindendes zu stärken, sagte Müller. Damit erkennt
die Strategie an, dass Religionen
Krisen und Konflikte ebenso anheizen wie entschärfen können.
Versöhnung und Frieden könnten nur in Zusammenarbeit mit
religiösen Akteuren gelingen,
gleiches gelte für die Umsetzung
der nachhaltigen Entwicklungsziele.
Als verbindende Elemente
unterschiedlicher Religionen zu
einer gemeinsamen Wertebasis
nannte Müller Toleranz und Respekt, Gleichberechtigung und
Frieden. Das „große Bekenntnis
zur Mitmenschlichkeit, der Einsatz für den Nächsten“ verbinde
staatliche
Entwicklungszusammenarbeit mit Religion. Als ge-
plante Maßnahmen werden in
dem Papier unter anderem die
Förderung interreligiöser Dialoge,
lokaler religiöser Hilfsorganisationen oder der Einsatz für Religionsfreiheit genannt.
Die Lösung der heutigen Krisen dürfe nicht allein Politikern
überlassen werden, sagte Müller.
Deutschland gründet deshalb
mit anderen Gebern die „International Partnership on Religion
and Sustainable Development“
(PaRD), in die sich neben führenden Glaubensvertretern auch
Organisationen wie die Weltbank
und die Vereinten Nationen einreihen.
Marina Zapf
schweiz
Armutsbekämpfung versus Friedensförderung
In der Schweizer Entwicklungshilfe herrscht zunehmend Konkurrenz
Die Schweiz will sich stärker entwicklungspolitisch in fragilen
Staaten engagieren. Aber gibt es
dafür überhaupt Geld?
Menschen in diesem Jahr eine der
Prioritäten der DEZA.
„Im laufenden Jahr wollen wir unsere Kernaufgabe der Armutsbekämpfung dort verstärken, wo
staatliche Strukturen wegen Konflikten geschwächt sind oder fehlen“, sagte der Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), Manuel Sager,
Ende Januar bei der Jahresmedienkonferenz in Bern. Die Ursachen von Armut führten oft auch
zu Radikalisierung, Extremismus
und Gewalt und bewegten Millionen von Menschen zur Flucht aus
ihrer Heimat. Dazu gehören laut
Sager fehlende Zukunftsperspektiven für Jugendliche, soziale Ungleichheit, die Marginalisierung
von Minderheiten oder auch
Menschenrechtsverletzungen.
In der Welt gelten über 40
Staaten mit einer Gesamtbevölkerung von rund 1,5 Milliarden
Menschen als fragil oder von Gewaltkonflikten betroffen. Bald
werde die Mehrheit der Armen
weltweit in solchen fragilen Kontexten leben, sagte Sager. Deshalb
bilde die Unterstützung dieser
Doch das Vorhaben steht im Widerspruch zu den verfügbaren
Mitteln. Für dieses Jahr hat das
Parlament im Vergleich zum letzten Jahr die Entwicklungshilfe
um fast 100 Millionen Franken
auf 2,473 Milliarden Franken gekürzt, und in den kommenden
Jahren soll weiter gespart werden.
Erschwert wird die langfristig
angelegte Armutsbekämpfung in
fragilen Staaten außerdem dadurch, dass der Mittelbedarf zur
In den kommenden Jahren soll
weiter gespart werden
Bewältigung der humanitären
Krisen weltweit wächst, vor allem
in Syrien. Und schließlich steht
die Armutsbekämpfung bei der
Mittelverteilung neuerdings in
Konkurrenz mit der zivilen Friedensförderung: Diese hat bisher
eine eigene Kreditlinie, doch ab
2017 wird sie neu ins Kreditverfahren der „Internationalen Zusammenarbeit“ aufgenommen.
Weil friedenspolitische Organisationen dafür mehr Mittel als bislang fordern, ist bei einem insgesamt sinkenden Budget der Verteilungskampf programmiert.
Wo also soll das Geld für den
von DEZA-Chef Manuel Sager an-
gekündigten neuen Schwerpunkt
herkommen? Der stellvertretende Leiter für die regionale Zusammenarbeit bei der DEZA, JeanFrançois Cuénod, hat klargemacht, wo gespart wird: Zum einen laufen Programme in einigen
Ländern wie Vietnam aus, das
nun zu den Ländern mit mittlerem Einkommen gehört. Zum anderen werden geplante Mittelerhöhungen wie in Myanmar gestreckt und Einsparungen bei
Globalprogrammen wie die für
Wasser, Landwirtschaft und Ernährungssicherheit, Klimawandel und Migration beschleunigt.
Rebecca Vermot
schweiz – kurz notiert
Ökumenische Kampagne 2016 fordert: Gold
soll sauber werden. Unter dem Motto „Verantwortung tragen – Gerechtigkeit stärken“ zeigen Brot für alle und Fastenopfer am Beispiel
von Burkina Faso, dass nicht alles Gold ist,
was glänzt. Zwar erlebt das Land seit 2005 einen wahren Goldboom. Doch wo nach dem
Edelmetall geschürft wird, bleiben Menschenrechte und Umweltschutz oft auf der
Strecke. Umsiedlungen und die Zerstörung
der Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung verursachen großes Leid. Vom Geschäft
mit dem Edelmetall profitieren vor allem
multinationale Konzerne. Die beiden christlichen Entwicklungsorganisationen zeigen
auch die Rolle der Schweiz im Gold-Geschäft:
So wurden in den vergangenen Jahren 90
Prozent des Goldes aus Burkina Faso hier verarbeitet. Zudem ist die Schweiz weltweit der
größte Handelsplatz für Gold. Der Weg von
der Goldmine zum Schmuckstück sei oft
schwer überblickbar, sagt Bernard DuPasquier, Geschäftsleiter von Brot für alle. Es
brauche weltweit verbindliche Regeln. (kam)
3-2016 |
brüssel journal
brüssel
Rote und blaue Linien für TISA
Das EU-Parlament schaltet sich in die Verhandlungen über den Handel mit Dienstleistungen ein
Seit drei Jahren verhandelt die EUKommission im Geheimen mit 23
Staaten über ein Abkommen zur
Liberalisierung des Dienstleistungshandels (TISA). Jetzt hat das
EU-Parlament klargestellt, unter
welchen Bedingungen es den Vertrag annehmen würde.
Der EU-Ministerrat hatte die Kommission schon 2012 zu den Verhandlungen ermächtigt, aber erst
nachdem WikiLeaks einige der
Texte veröffentlicht hatte, wurde
das TISA-Mandat vor einem Jahr
bekanntgegeben. Bis heute haben
die Abgeordneten des EU-Parlaments nur beschränkten Zugang
zu den Verhandlungstexten, die
in zwölf Hauptbereiche mit 160
Unterpunkten gegliedert sind.
Selbst der gemeinhin unternehmensfreundliche
Handelsausschuss des EU-Parlaments hatte im Januar in seiner Stellungnahme deutliche Kritik geäußert,
die anderen Fachausschüsse fügten weitere Punkte hinzu. Am 3.
Februar nahm das Plenum dann
eine Entschließung an, die einige
„rote Linien“ definiert, die im fertigen Abkommen nicht überschritten werden dürften. Dazu gehört,
dass öffentliche Dienste wie die
Wasserversorgung von einer unbeschränkten Öffnung für den
Wettbewerb und einer möglichen
Übernahme durch ausländische
Privatfirmen ausgeschlossen bleiben und dass die Kompetenzen
von nationalen wie lokalen Instanzen wie den Parlamenten der
EU-Mitgliedsstaaten zur Regelung
politischer Angelegenheiten nicht
beschnitten werden.
Eine weitere rote Linie ist, dass
die Privatisierung öffentlicher
Dienste wieder rückgängig gemacht werden darf. Diese Bedingung richtet sich gegen die sogenannte „Stillhalte-“ und „Rücknahmesperre“ (ratchet clause), die
in den TISA-Texten bereits enthalten ist, wie Außenhandelskommissarin Cecilia Malmström vor
| 3-2016
dem Parlament einräumte. Im
Entwurf der Berichterstatterin des
Handelsausschusses, Viviane Reding, war sie noch nicht als rote
Linie enthalten gewesen, doch die
anderen Fachausschüsse hatten
sie gefordert; im Plenum wurde
sie dann mit knapper Mehrheit
eingefügt. Einig war sich das Parlament hingegen über eine weitere „rote Linie“, nach der ausländische
Dienstleistungsunternehmen in der EU nur hoch ausgebildete Arbeitskräfte aus dem
Ausland beschäftigen dürfen, und
das auch nur für einen streng begrenzten Zeitraum.
Ganz im Sinne des Verhandlungsmandats des Ministerrats
und der um Liberalisierung bemühten EU-Kommission ist die
„blaue Linie“ des Parlaments für
die Ziele, die mit TISA erreicht
werden sollten: gegenseitige
Marktöffnung, insbesondere für
öffentliche Beschaffung, Telekommunikation, Transport, Finanzdienstleistungen und digitale
Dienste. Praktiken, mit denen
Staaten die Tätigkeit ausländi-
scher Dienstleister behindern,
etwa indem sie eine einheimische
Mehrheitsbeteiligung an Filialen
fordern, sollen nach dem Willen
des Parlaments mit TISA überwunden werden. Der Entwicklungsausschuss des Parlaments
wollte diese blaue Linie zugunsten von Entwicklungsländern relativieren und ausländische Konzerne wie große Einzelhandelsketten auf eine umwelt- und sozialverträgliche
Geschäftspraxis
verpflichten. Das Plenum lehnte
das jedoch ab.
Heimo Classen
brüssel
Kein Konsens zu Konfliktrohstoffen
EU-Parlament will schärfere Regelung als Ministerrat und Kommission
Anfang Februar verhandelten Vertreter des EU-Parlaments,
des Ministerrats und der EU-Kommission über die Kontrolle von Rohstoffimporten aus Konfliktgebieten. Das Treffen
verlief laut einer Teilnehmerin „stürmisch“.
Die EU-Kommission hatte bereits 2014 eine Vorlage auf
den Weg gebracht, nach der Schmelzereien und Raffinerien freiwillig prüfen sollen, ob sie die vier Erze und Metalle
Im Osten des Kongo suchen diese Männer in der Nähe einer
Mine nach Zinnerz (Kassiterit). Oft feuern die Erlöse aus dem
Rohstoffabbau Konflikte an.
junior d. kannah/afp/getty images
Zinn, Tantal, Tungsten und Gold
aus konfliktfreien Gebieten beziehen. Auf diesem Weg wollte die
Kommission die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
vereinbarte Sorgfaltspflicht erfüllen, Importe von Rohstoffen zu
vermeiden, mit denen sich Kriegsund Konfliktparteien finanzieren.
Die US-Regierung hatte 2010 als
erste mit dem Dodd-Frank-Gesetz
in den USA tätige Firmen zum
Nachweis der Herkunft von importierten Rohstoffen und Vorprodukten verpflichtet.
Das EU-Parlament hatte im
Mai vorigen Jahres in erster Lesung die vom Ministerrat noch
einmal abgeschwächte Fassung
der Kommissionsvorlage abgelehnt und gefordert, die Schmelzereien und Raffinerien sollten
verpflichtet werden, die Herkunft
nachzuweisen. Zudem sollten
auch weiterverarbeitende Unternehmen diesen Nachweis einsehen können, um den Käufern ihrer Produkte zusichern zu können, dass Mobiltelefone, Laptops,
55
56
journal brüssel
Flugzeuge oder Atomreaktoren
keine Rohstoffe enthalten, die
beispielsweise von Milizen im
Kongo verschoben wurden.
Das erste Treffen im sogenannten Trilog aus EU-Parlament,
Ministerrat und Kommission sei
jedoch dermaßen strittig und
„stürmisch“ verlaufen, wie die fürs
Parlament verhandelnde Berichterstatterin Marie Arena von der
Sozialdemokratischen Fraktion
befand, dass eine Einigung „blockiert“ sei. Der Ministerrat habe
darauf bestanden, dass die Importeure ihre Rohstoffe selbst zertifizieren dürfen – was, so Marie Arena, nachweislich nicht funktioniere: Gerade mal ein Fünftel der
rund 400 EU-Importeure von metallischen Rohstoffen habe bisher
die Empfehlung der OECD zur
freiwilligen Kontrolle der Herkunft befolgt. Zudem sei die vom
Ministerrat vorgelegte Fassung
noch schwächer als die ursprüngliche Kommissionsvorlage, die
weiterverarbeitenden Unternehmen immerhin das Recht einräumte, von Zulieferern Auskunft
über die Herkunft zu verlangen.
Die nächste Verhandlung im
Trilog findet wahrscheinlich im
März statt. Wenn dann keine Einigung erzielt wird, müsste das Parlament über die vom Ministerrat
vorgelegte Vorlage abstimmen.
Angesichts der bisherigen Diskussion im Parlament ist schwer zu
sagen, wie das ausgehen würde.
Schon bei der ursprünglichen
Stellungnahme im vorigen Mai
war nur eine knappe Mehrheit dagegen gewesen.
Heimo Claasen
brüssel
Eritreas langer Arm
Das Regime verfolgt Kritiker und Flüchtlinge bis nach Europa
Die Vereinten Nationen zählen Eritrea in einem Bericht vom Juni
2015 zu den Staaten mit der
schlimmsten Menschenrechtsbilanz weltweit. Wie das Regime in
der Hauptstadt Asmara seine Kritiker auch im Ausland drangsaliert,
macht ein Fall in den Niederlanden
deutlich.
Mirjam van Reisen ist Professorin
für Internationale Beziehungen
an der Universität Tilburg und
hat am Expertenbericht zu Menschenrechten in Eritrea mitgearbeitet, der vergangenen Oktober
im UN-Sicherheitsrat besprochen
wurde. Für ihr entschiedenes Auftreten gegen die eritreische Diktatur habe sie drohende Botschaften über Twitter erhalten; jüngst
sei sie auf dem Weg vom Flughafen nach Hause im südlichen Holland von einem Auto verfolgt
worden, berichtet sie.
Ende Januar musste sich Van
Reisen vor Gericht gegen eine
Verleumdungsklage verteidigen,
die Meseret Bahlbi, aktives Mitglied der Partei von Diktator Isaias Afewerki und bis voriges Jahr
Vorsitzender der Jugendorganisation (YPFDJ) dieser Partei in den
Niederlanden, gegen sie angestrengt hatte. Van Reisen hatte in
Rundfunkinterviews voriges Jahr
darauf hingewiesen, dass zwei
Geschwister von Bahlbi als Dolmetscher für die niederländische
Einwanderungsbehörde arbeiteten, was laut Medienberichten
gegen niederländisches Recht
verstößt. Ohne Bahlbis Namen zu
nennen, erklärte van Reisen, dass
der Bruder dieser beiden Mitarbeiter „als Angelpunkt des Nachrichtendienstes von Eritrea“ in
den Niederlanden fungiere. Bahlbi zeigte van Reisen daraufhin
wegen Verleumdung an.
Am 10. Februar wies das Gericht in Amsterdam die Klage und
Bahlbis Forderung auf 25.000
Euro Schadenersatz ab. Im Urteil
heißt es, es sei erwiesen, dass die
YPFDJ als „langer Arm“ des Regimes von Eritrea diene, dass Bahlbi dort aktives Mitglied sei und
dass diese Organisation für das
Regime nachrichtendienstlich in
den Niederlanden tätig sei.
Arbeitet das Regime mit
Schleusern zusammen?
Van Reisen hat mit ihren Hinweisen auf die Infiltration der eritreischen Diaspora durch Anhänger
des Regimes in Eritreas Hauptstadt Asmara und ihre möglichen
Verbindungen zu Mitarbeitern
von niederländischen Behörden
und Einrichtungen der Flüchtlingsversorgung einen wunden
Punkt berührt. In mehreren Berichten und einem 2012 erschienenen Buch über Flüchtlinge aus
Eritrea, Äthiopien und Sudan beschreibt sie die Zusammenarbeit
des eritreischen Regimes mit
Schlepperbanden, die mit der Erpressung von Flüchtlingen „eine
wichtige Einkommensquelle“ der
Exileritreer demonstrieren im Februar 2013 gegen die
Regierung von Präsident Isaias Afewerki.
justin tallis/afp/getty images
klammen Diktatur sei. Eritrea
nehme „mit dem Verkauf seiner
Bürger“ Hunderte Millionen Dollar ein. Mafiose Banden in Sudan,
Ägypten und in Westeuropa, auch
in der Disapora in den Niederlanden und Deutschland, setzten geflüchtete Eritreer mit Drohungen
gegen zurückgebliebene Familienangehörige unter Druck.
Das niederländische Justizministerium teilte unterdessen mit,
es werde geprüft, wie gegen derartige Vorgänge vorgegangen
werden könnte. Eine Schwierigkeit ist dabei laut van Reisen, dass
in der eritreischen Diaspora wie
im Land selbst eine Angstkultur
herrsche, weshalb die Betroffenen
nicht zu sprechen wagten.
Zudem erpresse das Regime
von Exileritreern über seine Botschaften eine Art „Diaspora-Steuer“ in Höhe von zwei Prozent des
Einkommens. Wer nicht zahlt,
müsse mit Maßnahmen gegen Familienangehörige zu Hause rechnen. Der frühere Botschafter Eritreas in den Niederlanden, Andebrhan Giorgis, der jetzt selbst als
Flüchtling in den Niederlanden
wohnt, bestätigt diese Angaben
von van Reisen und der niederländischen Journalistin Sanne Terlingen. Van Reisen hatte deshalb in
einem TV-Interview im vorigen
September dafür plädiert, dass
alle EU-Länder die Botschaften
und Konsulate Eritreas schließen.
Heimo Claasen
3-2016 |
kirche und ökumene journal
kirche und ökumene
„Die vermutlich größte katholische Pfarrei der Welt“
Die Kirchen in den Staaten am Persischen Golf wachsen
In manchen Ländern am Persischen Golf stellen Christen 15 Prozent und mehr der Bevölkerung.
Die Gemeinden rekrutieren ihre
Mitglieder aus den Millionen Migranten, die in den Golfmonarchien
arbeiten. Der Bamberger Erzbischof und Vorsitzende der Kommission Weltkirche in der Deutschen Bischofskonferenz Ludwig
Schick hat Anfang Februar die Kirchen in Katar, Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten und in
Oman besucht.
Wer kommt in den Kirchen am Golf
zusammen?
Die vielen Arbeitsmigranten
kommen vor allem aus Indien,
den Philippinen, Sri Lanka, aber
auch aus Lateinamerika und den
nördlichen arabischen Staaten
wie dem Libanon oder Syrien. Die
Gottesdienste werden auf Englisch gehalten. Es gibt aber auch
Priester aus den Herkunftsländern der Migranten, die in den je-
weiligen Muttersprachen die
Messe feiern. In der Kathedrale
von Abu Dhabi zum Beispiel finden jedes Wochenende 35 Gottesdienste in zwölf verschiedenen
Sprachen statt. In Dubai ist die
vermutlich größte katholische
Pfarrei der Welt; die Schätzungen
variieren von 100.000 bis
300.000 Katholiken.
Inwiefern hängen die Kirchen von
den jeweiligen Regierungen ab?
Kirchliches Leben kann in der
Regel nur auf einem eigens dafür reservierten Gelände stattfinden, meist hinter hohen Mauern.
Auf solchen Compounds befinden
sich oft Kirchen verschiedener Denominationen, manchmal auch
ein Sikh-Tempel. Den Grund und
Boden stellt die jeweilige Regierung zur Verfügung. Aber nichts
darf darauf hindeuten, dass sich
hier Christen regelmäßig treffen.
Es gibt zum Beispiel keine Kreuze oder Glockentürme. Solange
die Christen ihren Glauben auf
diesem Gelände leben, ist alles in
Ordnung. Missionieren dürfen sie
nicht.
Sind die Kirchen Sprachrohr für die
Interessen und Rechte der Arbeitsmigranten?
Eine zivilgesellschaftliche Rolle können die Kirchen nicht spielen. Die Regierungen geben ihnen
ihren Spielraum sehr genau vor.
Als Netzwerk für die Gemeindeglieder sind die Kirchen aber sehr
wichtig. Arbeitsmigranten leben
oft isoliert in sehr prekären Situationen. Oft werden ihre Rechte
verletzt und sie werden ausgebeutet. In den Kirchen teilen die
Menschen Freud und Leid, sprechen über Kindererziehung, Familie und ihre Arbeitsstellen und
tauschen Erfahrungen im Umgang mit Behörden aus. Eindrücklich ist auch, wie viele Ehrenamtliche sich im kirchlichen Leben
engagieren, sei es als Lektoren, sei
Muslime rufen zum Schutz religiöser Minderheiten auf
Uneingeschränkte Religionsfreiheit fordern 250 sunnitische und schiitische Theologen, Richter, Politiker und Intellektuelle
aus 120 Ländern. In der Marrakesch-Erklärung, die Ende Januar in Marokko veröffentlicht wurde, verurteilen sie die Verletzung der Rechte religiöser Minderheiten
im Namen des Islam; die Unterzeichner
machen deutlich, dass sie die Feindseligkeiten bekämpfen wollen. Die Konferenz sei
nötig „angesichts der Lage der Minderheiten, die in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens Unterwerfung, Entwurzelung
und andere Gräueltaten erleiden müssen
und an denen Massaker verübt werden“.
Die islamischen Rechtsgelehrten und
Intellektuellen werden in der Erklärung
aufgefordert, eine islamische Gesetzgebung nach den Prinzipien der Staatsbürgerschaft zu entwerfen, die alle religiösen
und ethnischen Gruppen einbezieht. Die
Aufgabe von Politikern und Entschei-
| 3-2016
dungsträgern sei es, diese Gesetzgebung
dann anzuwenden.
Lehrer und Professoren sollten „mutig
die Lehrpläne und Schulbücher in islamischen Ländern revidieren und alle Stellen
streichen, die zu Aggression und Hass gegenüber Nicht-Muslimen aufrufen und zu
Krieg und Chaos führen“. Die gesamte Zivilgesellschaft sei zur Zusammenarbeit
aufgerufen, um das Bewusstsein für die
Rechte religiöser Minderheiten in islamischen Ländern zu schärfen. Die Erklärung
endet mit der Aussage, dass Religion nicht
dazu missbraucht werden dürfe, religiöse
Minderheiten ihrer Rechte zu berauben.
Zu der dreitägigen Konferenz hatte das
marokkanische Ministerium für islamische Angelegenheiten eingeladen. Durchgeführt wurde sie vom Forum für Frieden
in der muslimischen Gesellschaft, einer
nichtstaatlichen Organisation mit Sitz in
den Vereinigten Arabischen Emiraten. (kb)
Ludwig Schick ist Erzbischof von
Bamberg und Vorsitzender der Kommission Weltkirche in der Deutschen
Bischofskonferenz.
sonja krebs
es als Katecheten. Es gibt auch katholische Schulen. In der Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf die Erstkommunion
oder die Firmung sind oft Hunderte Männer und Frauen tätig.
Die gegenseitige Hilfe findet auf
ganz individueller Ebene statt,
von Mensch zu Mensch.
Wie geht die muslimische Mehrheitsgesellschaft damit um, dass die
christliche Gemeinschaft wächst?
Sehr pragmatisch. Sie weiß,
dass sich ihr Wohlstand ohne die
Arbeitsmigranten nicht halten
lässt. Deswegen stehen viele auf
dem Standpunkt, dass die Migranten gut sind und bleiben sollen, solange sie gebraucht werden.
Gibt es einen interreligiösen Dialog?
Vor allem auf akademischer
Ebene unter Theologen; der Dialog geht aber nicht sehr tief. Die
Regierungen kontrollieren auch
diesen Bereich. Im täglichen Leben soll es interreligiöse Begegnungen von Mensch zu Mensch
nicht geben aus Angst, die Christen könnten dabei Werbung für
den eigenen Glauben machen.
Ist die europäische Flüchtlingskrise
ein Thema am Golf? Immer wieder
57
58
journal kirche und ökumene
wird ja gefordert, dass auch die
Golfstaaten sich Flüchtlingen aus
Syrien und dem Irak öffnen.
Es ist eine Frage der Identität
und der Erhaltung der politischen
Strukturen. In Oman sind die
Muslime zum Beispiel Ibaditen
und die Regierung ist in der Hand
einer Familie. Sie sehen sich und
ihre Art, den Islam zu leben, bedroht, sollten etwa zu viele Sunniten ins Land kommen. Auch die
anderen Golfstaaten fürchten um
das gesellschaftliche Gleichgewicht und öffnen deswegen ihre
Grenzen nicht für Flüchtlinge aus
anderen islamischen Ländern.
Die Fragen stellte Katja Dorothea Buck.
kirche und ökumene – kurz notiert
Eine internationale Jury aus 150 Fachleuten
hat vier von der Christoffel-Blindenmission
(CBM) geförderte Inklusionsprojekte als besonders innovativ und effektiv ausgezeichnet.
Mehr als 3000 Projekte waren bei der ZeroProject-Konferenz in Wien nominiert worden, 86 wurden prämiert, darunter die CBMBildungsprojekte in Nicaragua, Simbabwe,
Kambodscha und Indien.
In Nicaragua kümmert sich der Projektpartner ASOPIECAD um Kinder mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen, unter
anderem mit Familienseminaren. In Simbabwe unterstützt die CBM Gemeinden, ihre
Schulen in inklusive Lern-Zentren zu verwandeln. Im Projekt in Kambodscha stehen
Kinder mit Seh- oder Hörbehinderung im
Mittelpunkt. Das Projekt hat die Brailleschrift
in der Landessprache eingeführt und entwickelt die lokale Gebärdensprache weiter. Der
CBM-Projektpartner in Indien setzt sich für
die Verbreitung von barrierefreiem Lehrund Lernmaterial ein.
Das Zero Project ist eine Initiative der
Essl-Stiftung, die sich global für die Rechte
von Menschen mit Behinderungen einsetzt.
Das Projekt wird unterstützt von den Vereinten Nationen und bietet eine Plattform, auf
der innovative und erfolgreiche Lösungen
für Inklusion präsentiert werden. Schwerpunkt der diesjährigen Konferenz war inklusive Bildung.
(kb)
kirche und ökumene
Geistliche kippen das Religionsgesetz
Kenias Regierung scheitert vorerst bei der Regulierung religiöser Sekten
Nach Kritik von Religionsführern in
Kenia hat Präsident Uhuru Kenyatta Ende Januar ein Gesetz zur Regelung des religiösen Lebens kurz
vor Inkrafttreten zurückgenommen. Es hätte der Regierung weitreichende Befugnisse zur Kontrolle
von Religionsgemeinschaften gegeben.
Mit dem Gesetz wollte die Regierung den Wildwuchs im religiösen Sektor unterbinden. 2014 hatte es einen Skandal um einen
Pfarrer gegeben, der Mitgliedern
seiner Kirche gegen Geld Heilung
versprochen hatte (siehe weltsichten 5/2015). Daraufhin waren
insbesondere Gemeinden in den
Blick der Öffentlichkeit geraten,
bei denen der Verdacht nahelag,
dass sie nur zur Bereicherung der
Führungsebene dienen. In Kenia
sind mehr als vier Fünftel der Bevölkerung Christen; 14 Prozent
davon gehören weder der katholischen noch der evangelischen
Kirche an. Allein 2014 hatten
7000 neue Gemeinden eine offizielle Registrierung beantragt,
aber nicht bekommen.
Anfang dieses Jahres war der
genaue Gesetzestext bekannt geworden. Demnach müssen füh-
Papst Franziskus besucht im November 2015 Kenia.
In dem Land schießen neue Kirchen und Gemeinden wie
Pilze aus dem Boden.
anadolu agency/getty images
rende Geistliche studiert haben
und ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Jede Gemeinschaft muss genaue Mitgliederlisten führen, eine Verfassung mit
klaren Angaben zu Auftrag und
Struktur sowie einen Rechenschaftsbericht über alle Tätigkeiten und Finanzen vorlegen. Alle
Würdenträger müssen die Ver-
wandtschaftsverhältnisse zu Angestellten in ihrer Gemeinde offenlegen. Und schließlich sieht
das Gesetz vor, dass alle Kirchen
und Gemeinden in Dachverbänden organisiert sein müssen, die
dann als Ansprechpartner für die
Regierung dienen und die Einhaltung gewisser Standards in der
jeweiligen Religionsgemeinschaft
sorgen. Das Gesetz hätte für alle
in Kenia vertretenen Religionen
gegolten.
Kurz nach Veröffentlichung
des Gesetzestextes hatte bereits
die kenianische Bischofskonferenz vehement dagegen protestiert. Das Gesetz verletze die kenianische Verfassung, die die Trennung von Staat und Religion festlegt, sagte Bischof Philip Anyolo,
der Vorsitzende der Bischofskonferenz. Die Verfassung garantiere
außerdem die Freiheit des Gottesdienstes. Das Gesetz werde „direkte und negative Auswirkungen
auf das kirchliche Leben in Kenia
haben“, sagte Anyolo. Allein die
geforderte Registrierung aller
Mitglieder sei aus logistischen
Gründen nicht realistisch: „Wenn
die Kirchen damit beauftragt
werden, Listen über ihre Mitglieder zu führen, dann reduziert das
das Christentum auf ein reines
Zahlenspiel.“
Bischof Anyolo kritisierte zudem, dass sich die Regierung
nicht mit den Religionsführern
beraten habe. Genau das will sich
Präsident Kenyatta bei der Neuformulierung des Gesetzes nun
zu Herzen nehmen.
Katja Dorothea Buck
3-2016 |
personalia journal
59
personalia
Asiatische InfrastrukturInvestitionsbank (AIIB)
Der deutsche
Ökonom
Joachim von
Amsberg wird
einer von fünf
Vizepräsidenten
der neu gegründeten AIIB. Er soll dort für Politik
und Strategie zuständig sein. Von
Amsberg ist derzeit noch Vizepräsident bei der Weltbank mit Zuständigkeit für die Entwicklungsfinanzierung. Zuvor war er für
die Weltbank unter anderem auf
den Philippinen und in Indonesien tätig, wo er für den Wiederaufbau von Aceh nach dem Tsunami
im Jahr 2004 zuständig war.
Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)
Der bisherige Teamleiter Lateinamerika in der KAS-Zentrale in
Berlin, Olaf Jacob, ist seit Januar
KAS-Repräsentant in Buenos
Aires, Argentinien. Ebenfalls seit
Januar leitet Kristin Wesemann
das Stiftungsbüro in Montevideo,
Uruguay. Sie war bisher Auslandsmitarbeiterin in Argentinien.
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)
Neue Leiterin des Büros der
FES in Dhaka, Bangladesch, ist
seit Februar Franziska Korn. Ihr
Vorgänger Henrik Maihak wird
voraussichtlich demnächst in
den Südsudan wechseln. KlausPeter Treydte hat zum gleichen
Zeitpunkt das Büro in Cotonou,
Benin, übernommen. Sein Vorgänger Constantin Grund ist jetzt
im Inland bei der Stiftung tätig.
Auch in Addis Abeba, Äthiopien,
gibt es einen neuen Stiftungsvertreter: Peter Oesterdiekhoff hat
Friedrich Kramme-Stermose
abgelöst, der in den Ruhestand gegangen ist.
Vereinte Evangelische Mission
(VEM)
Der deutsche
Theologe
Volker Martin
Dally ist seit
Februar neuer
Generalsekre-
tär der VEM in Wuppertal. Er
folgt auf Fidon Mwombeki, der
zum Lutherischen Weltbund
nach Genf gewechselt ist. Der
54-jährige Dally hatte vorher
das Evangelisch-Lutherische
Missionswerk Leipzig geleitet.
Auswärtiges Amt (AA)
Der deutsche
Vertreter bei
den Vereinten
Nationen in
Genf, Joachim
Rücker, wird
Sonderbeauftragter der Bundesregierung für
den Mittleren Osten. Auf diesem
Posten soll er sich um die Stabilisierung im Irak und in Syrien bemühen und die Folgen der Krisen
für die Türkei, Jordanien und den
Libanon in den Blick nehmen.
lungspolitik (DIE), der dieses Amt
bereits seit der Gründung des
Netzwerks im Jahr 2014 innehat.
Das SDSN steht unter der Schirmherrschaft von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und bündelt
Expertise aus Wissenschaft,
Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft, um weltweit nachhaltige
Entwicklung mit innovativen
und praktischen Strategien voranzutreiben. Geschäftsführender
Direktor des deutschen Zweigs
ist der frühere Abteilungsleiter
im Bundesentwicklungsministerium, Adolf Kloke-Lesch.
EUROSOLAR
Neuer Geschäftsführer der Europäischen Vereinigung für Erneuerbare Energien EUROSOLAR ist
seit Januar Tobias Jaletzky. Er folgt
auf Irm Scheer-Pontenagel, die
seit dem Tod ihres Mannes und
EUROSOLAR-Gründers Hermann
Scheer im Jahr 2010 die Organisation geleitet hatte. Der Verein
setzt sich dafür ein, atomare und
fossile Energie durch erneuerbare
Energie zu ersetzen. Der jährliche
Europäische Solarpreis geht an
Initiativen, die sich für dieses Ziel
einsetzen.
Anzeige
Renovabis
Christian Hartl
ist zum neuen
Geschäftsführer
der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den
Menschen in Mittel- und Osteuropa, Renovabis, berufen worden.
Der 51-Jährige folgt im Oktober
auf Gerhard Albert, der das Amt
seit Juni 2015 innehat. Hartl
ist derzeit noch Spiritual des
Interdiözesanen Priesterseminars St. Lambert in Lantershofen.
Sustainable Development Solutions Network Germany (SDSN)
Die ehemalige
Präsidentin der
Europa-Universität Viadrina,
Gesine Schwan,
wurde bereits
im vergangenen November als eine von zwei
Vorständen des SDSN gewählt. Sie
folgt auf den früheren Bundesumweltminister und Chef des
UN-Entwicklungsprogramms
UNDP, Klaus Töpfer. Die Doppelspitze wird vervollständigt durch
Dirk Messner, den Direktor des
Deutschen Instituts für Entwick-
EntwicklungszusammEnarbEit:
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Sie haben relevante Berufserfahrung. Christliche Werte sind Teil Ihrer
Motivation und Sie verstehen Ihr Tun als solidarischen Dienst.Gemeinsam
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60
service filmkritik | rezensionen
filmkritik
Ein Konzert für die Freiheit
Nach dem Atomvertrag von Wien ist der Iran auf die
Weltbühne zurückgekehrt. Wie das Regime noch immer die Menschenrechte beschränkt und wie repressiv
es vor allem gegen Frauen vorgeht, zeigt der iranische
Filmemacher Ayat Najafi in seinem Dokumentarfilm
„No Land’s Song“.
No Land‘s Song
Frankreich/Deutschland/Iran 2014
92 Minuten
Regie: Ayat Najafi
Kinostart: 10. März
Bereits in seiner ersten langen Dokumentation
„Football Under Cover“ hat sich der 1976 in Teheran
geborene Theater- und Filmregisseur nachdrücklich
für die unterdrückten Frauen in seinem Heimatland eingesetzt. Damals hielt er das erste öffentliche
Frauenfußballspiel in einem iranischen Stadion seit
der sogenannten Islamischen Revolution von 1979
fest. In seinem neuen Werk begleitet er nun seine
Schwester Sara über zweieinhalb Jahre bei ihren Anstrengungen, in Teheran ein Konzert mit Solo-Sängerinnen auf die Beine zu stellen. Seit 1979 ist es
Frauen im Iran verboten, öffentlich Solo zu singen,
zumindest vor männlichen Zuhörern. Denn die
weibliche Stimme könnte die Männer ja sexuell erregen.
Sara, die erste Frau, die im Iran ein Diplom in
Komposition erhielt, findet sich mit dem Verbot
nicht ab. Sie tut sich mit den Sängerinnen Parvin Namazi und Sayeh Sodeyfi zusammen und spricht
beim zuständigen Ministerium für Kultur und islamische Führung vor. Doch bei den heimlich aufgezeichneten Gesprächen, die im Film über schwarzen
Bildern zu hören sind, handelt sie sich nur Absagen
ein. Die gewiefte Musikerin findet einen Ausweg, indem sie die französischen Sängerinnen Elise Caron
und Jeanne Cherhal sowie deren tunesische Kollegin
Emel Mathlouthi für einen kulturellen Brückenschlag zwischen Paris und Teheran gewinnt. Viele
Hindernisse und Rückschläge gilt es zu überwinden,
bis die Aktivistinnen die bürokratischen und ideologischen Widerstände überwunden haben und mit
Instrumentalisten aus beiden Ländern am 19. Sep-
tember 2013 endlich in Teheran auftreten dürfen –
unter großem Beifall.
„Wir wollen die weibliche Stimme wieder beleben“, verkündet Sara Najafi gleich zu Beginn des
Films auf der Bühne, so dass die Zuschauer von Anfang an wissen, dass der Kampf siegreich ausgeht.
Gleichwohl wird der Film nie langweilig, dafür sorgt
schon die schier unerschöpfliche Energie der leidenschaftlichen Protagonistin. Und die vielen kraftvoll
vorgetragenen Lieder und Melodien, die iranische
Künstler zwischen den zwanziger Jahren und der Gegenwart komponiert haben.
Die Regie protokolliert nicht nur die Stationen
des langwierigen Kulturprojekts, sondern macht
auch die Hintergründe der Zensur im Iran anschaulich, schildert das Engagement der Sängerinnen und
Musiker, für die das öffentliche Vortragen ihrer
Kunst eine Art Lebenselixier darstellt.
In gelegentlichen Exkursen erläutert Najafi, der
heute in Berlin lebt, die Geschichte der iranischen
Musik vor 1979. Alte Schwarzweiß-Filmsequenzen
und Fotos lassen die legendären Auftritte der Sängerinnen Qamar, die 1924 mit einem öffentlichen Konzert in einem Teheraner Hotel Pionierarbeit leistete,
und Delkash, die 1960 sogar vom Alkoholtrinken
und der Lust sang, Revue passieren. Die Kamera begleitet Sara zeitweise zu den Schauplätzen der damaligen Konzerte, die heute als Kabellager dienen oder
völlig verfallen sind.
Insgesamt ein packender Film über die Macht
der Musik, der Mut macht, die Stimme zu erheben,
auch wenn das verboten ist. Auf seiner langen Festivaltournee hat das Werk etliche Preise gewonnen,
darunter den Publikumspreis und den Preis für den
besten Dokumentarfilm auf dem Montréal World
Film Festival, den Preis der Jugendjury auf dem Dok
Leipzig und den Nestor Almendros Preis auf dem
Human Rights Watch Film Festival in New York. Reinhard Kleber
rezensionen
Krieg als Normalzustand
Atef Abu Saif hat ein bedrückendes Tagebuch über den
Gaza-Krieg im vergangenen Jahr geschrieben. Dabei
nimmt er konsequent die Perspektive der zivilen Opfer
ein und verzichtet auf Schuldzuweisungen. Zumindest
fast.
Atef Abu Saif
Frühstück mit der Drohne
Tagebuch aus Gaza
Unionsverlag, Zürich 2015,
252 Seiten, 19,95 Euro
„Papa, wann kommt der nächste Krieg?“, wird Atef
Abu Saif von seinem Sohn Mustafa gefragt. Der Knabe ist elf Jahre alt, als der 51 Tage dauernde Angriff
Israels auf Gaza im Sommer 2014 endet. Es ist der
dritte Krieg, den Mustafa erlebt hat. „Nun bereitet er
sich auf den vierten vor“, schreibt Abu Saif am Ende
seines Buches. Auf den 240 Seiten davor hat uns der
palästinensische Schriftsteller eindrucksvoll eine
Ahnung davon vermittelt, was es heißt, mit Frau und
fünf Kindern in einer dicht besiedelten Stadt zu leben, die sieben Wochen lang von einer übermächtigen Militärmaschine aus der Luft, von Land und von
See aus mit Raketen, Bomben und Granaten beschossen wird.
3-2016 |
rezensionen service
Solche Geschichten gab es bestimmt auch aus
der tschetschenischen Hauptstadt Grosny oder gäbe
es aktuell auch aus Aleppo zu erzählen. Das Besondere an Gaza ist, dass die Leute vor dem Beschuss
nicht fliehen können: Sie sitzen buchstäblich in der
Falle. Atef Abu Saif schildert die 51 Kriegstage aus
Sicht der palästinensischen Zivilbevölkerung als permanenten Ausnahmezustand. Fast täglich sterben
bekannte oder verwandte Männer, Frauen und Kinder, jeder fragt sich, ob sein Haus als nächstes getroffen und dem Erdboden gleichgemacht wird. Mit der
Zeit wird der Krieg allerdings mehr und mehr zum
Normalzustand: Man arrangiert sich, beschäftigt irgendwie die Kinder, solange die nicht auf die Straße
dürfen, verlegt das Schlafzimmer ins Treppenhaus,
weil das der sicherste Ort im Haus ist, und trifft sich
abends mit Freunden, um darüber zu diskutieren,
wie lange die neue Feuerpause wohl dauern wird.
Dann aber folgt der Horror: Während eines israelischen Luftangriffs hetzen wir mit Abu Saif durch
die Straßen des Flüchtlingslagers Jabalia in Gaza und
spüren geradezu, wie beim Einschlag der Rakete und
der folgenden Explosion der Boden bebt. In nüchter-
ner Sprache schildert Abu Saif, wie er nach dem Angriff mit anderen Helfern Teile der zerfetzten Leichen einsammelt, sie auf Laken bettet und in Autos
packt, die sie ins Krankenhaus bringen.
Atef Abu Saids Buch handelt vom Krieg, aber
nicht vom Nahostkonflikt zwischen Israel und den
Palästinensern. Wer welche Schuld an der Eskalation
im Sommer 2014 trägt, spielt bei ihm keine Rolle. Das
Buch handelt nicht von politischen Hintergründen
und militärischen Strategien, es geht nicht um
Kämpfer, sondern allein um die Opfer in Gaza.
Nur an einigen wenigen Stellen macht sich Abu
Saif Gedanken über die israelischen Soldaten in den
vorrückenden Panzern oder F-16-Kampfjets. Sie erscheinen ihm als im besten Falle gedankenlose, im
schlimmsten Fall sadistische Roboter, die ohne mit
der Wimper zu zucken töten, was sich ihnen in den
Weg stellt. Das ist aus seiner Sicht gut nachvollziehbar. Beim Leser aber verursacht das einen schalen
Nachgeschmack, denn es fehlt etwas: Die in Gaza
herrschende Hamas, die diesen Krieg wenn nicht angezettelt, so doch wie ein Lebenselixier gebraucht
hat, kommt in dem Buch nicht vor. Tillmann Elliesen
Wege der Radikalisierung
Der jordanische Politikwissenschaftler Mohammed
Abu Rumman hat mit Salafisten gesprochen, um herauszufinden, was junge Menschen in der arabischen
Welt in die Hände der Radikalen treibt. Das ist ihm
nicht ganz gelungen.
Mohammed Abu Rumann
Ich bin Salafist
Selbstbild und Identität radikaler
Muslime im Nahen Osten
Dietz Verlag, Bonn 2015
240 Seiten, 19,90 Euro
| 3-2016
Salafismus ist zwar in aller Munde, doch darüber,
wie sich Salafisten selber sehen, ist wenig bekannt.
Der Islamismus-Experte Mohammed Abu Rumman vom Center for Strategic Studies der Universität
von Jordanien in Amman hat für die Friedrich-EbertStiftung den Versuch unternommen, anhand der
wachsenden salafistischen Szene in Jordanien salafistische Gemeinschaften von innen zu beschreiben.
Sie existieren in Jordanien vor allem in den armen
östlichen Stadtteilen der Hauptstadt und in der angrenzenden Provinz Zarqa. War das Phänomen zunächst vor allem unter palästinensischen Jordaniern
verbreitet, gehören heute immer mehr „ursprüngliche“ Jordanier zur Bewegung dazu.
Es war schwierig für Abu Rumman, überhaupt
Gesprächspartner zu finden, die zu den Interviews
bereit waren. Immerhin 33 Salafisten konnte er ausführlich befragen, warum und wie sie sich der Bewegung angeschlossen haben. Aus den Antworten liest
er Grundzüge eines „salafistischen Charakters“ heraus. Dazu benutzt er das Werkzeug der Identitätssoziologie, indem er das Phänomen Salafismus als eine
Selbst- und Identitätssuche inmitten von Krisen und
ungelösten Fragen deutet, vor denen arabische Gesellschaften stehen.
Salafismus interpretiert Abu Rumman so als
Verteidigung einer schwachen Identität gegen die
Herausforderungen der Moderne und den Druck einer globalisierten Kultur, die in traditionellen Gesellschaften starke Verunsicherung hervorruft.
Mit Hilfe einer Vielzahl von Namen und Details
vermittelt er einen guten, manchmal etwas trocken
zu lesenden Überblick über die breite Palette salafistischer Strömungen, die alles andere als homogen
sind. Drei Hauptströmungen macht der Politikwissenschaftler innerhalb des Salafismus aus, die allerdings nicht scharf voneinander abgegrenzt sind:
Traditionalisten, die jede politische Mitwirkung ablehnen; Dschihadisten, die die säkularen arabischen
Regime als „gottlos“ ablehnen und bekämpfen; und
Aktionisten, die zwischen den beiden ersten Lagern
schwanken und in ihren Positionen oft am schwierigsten zu bestimmen sind. Die Übergänge sind
häufig fließend. Neben beliebten Scheichs als Führungsfiguren spielen dabei auch das Internet und
religiöse Fernsehsender eine wichtige Rolle. Die Bewegung ist ständig im Fluss, Allianzen entstehen
und zerbrechen schnell. In vielen Einzelfragen sind
sich Salafisten uneins, zum Beispiel ob man christliche Freunde haben darf, ob Schachspiel oder Fußball zulässig sind oder wie es sich mit den Körperstrafen verhält.
Die Porträts überzeugen jedoch nicht immer.
Abu Rumman beschreibt zwar die einzelnen Stationen im Werdegang seiner Gesprächspartner minutiös, trotzdem bleibt der Mensch oft wenig greifbar.
Die entscheidenden Bruchlinien im Leben werden
nicht sichtbar. Die Frage, warum ein junger Mensch
zum Salafisten wird, kann Abu Rumann im Einzelfall
nicht überzeugend beantworten. Claudia Mende
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service rezensionen
Die Allgegenwart des Todes in Syrien
Wer wirklich verstehen will, was in Syrien geschieht,
sollte dieses Buch lesen. Samar Yazbek berichtet darin
eindringlich vom Krieg – vor allem darüber, was er im
Inneren der Gesellschaft anrichtet.
Samar Yazbek
Die gestohlene Revolution
Reise in mein zerstörtes Syrien
Nagel & Kimche, München 2015,
286 Seiten, 19,90 Euro
Konferenzen und politische Verhandlungen, Luftanschläge und belagerte Städte: Damit sind Berichte
über Syrien derzeit untrennbar verknüpft. In Samar
Yazbeks Buch geht es um Menschen in dem Kriegsland. Die Autorin befasst sich mit den Schicksalen
derer, die in Syrien leben, und mit der Allgegenwart
des Todes in einem Land, das in Gewalt versinkt.
Die Lektüre wirkt ähnlich wie Kriegsfotografie:
Sie führt so dicht an den Konflikt heran, dass es sich
manchmal fast voyeuristisch anfühlt; als sei man
versehentlich zu nah an etwas derart Privates wie
das Sterben anderer Menschen herangerückt. Die
Autorin beschreibt Leichen auf der Ladefläche eines
Lasters, unter ihnen ein Junge, dessen „honigfarbenes Haar blutgetränkt“ ist, ebenso wie staubige Kellerräume, die unter der Wucht von Fassbomben und
Granaten erzittern. Doch sie sieht sich nicht als Krisenreporterin, sondern als Schicksalsverbündete.
Samar Yazbeck stammt selbst aus Syrien. Als dort
2011 die Revolution begann, protokollierte die Journalistin die Proteste. Sie befragte Demonstranten,
aus der Haft entlassene Rebellen, Polizisten und Soldaten. Wenig später wurde sie selbst verfolgt und
floh ins Ausland. Seitdem ist sie mehrmals unter falschem Namen in ihre Heimat zurückgekehrt. Wie sie
selbst erklärt, will sie über die Toten der syrischen
Revolution berichten und zeigen, dass die Welt ihr
Land im Stich gelassen hat.
Dabei geht es in dem Buch vor allem um die Lebenden, die sie dort getroffen hat. Darunter sind
Frauen, deren Männer im Kampf gegen das Regime
Baschar al-Assads gestorben sind, aber auch Dschihadisten sowie Freunde, mit denen sie früher ge-
meinsam gegen das politische System protestierte.
Für ihre Aufzeichnungen hat sie gefährliche Wege
auf sich genommen, etwa in die Stadt Maarat al-Numan, in der Rebellen und Regierungstruppen heftige
Gefechte austrugen.
Das Buch liest sich wie ein sprachlich ausgefeilter Tagebucheintrag über eine grauenhafte Reise.
Denn die Autorin schreibt auch über das eigene Entsetzen hinsichtlich ihrer zerfallenden Heimat. Das
ist genauso ansteckend wie die Wut, die sie über
Plünderungen, Missbrauch und Morden seitens des
Militärs empfindet. Hinzu kommt, dass die Autorin
selbst Alawitin ist, also derselben Religionsgruppe
angehört wie Assad. Für die Rebellengruppen ist das
ein Grund, sie zu hassen. Yazbek verzweifelt mehr als
einmal daran, dass sie ihre Identität verheimlichen
muss. „Ich bin keine Alawitin, und Du bist kein Sunnit. Ich bin Syrerin und Du bist Syrer“, versucht sie
einmal, einem Kämpfer zu erklären – und stößt damit nur auf Unverständnis und noch mehr Hass.
Auch dafür lohnt es sich, das Buch zu lesen. Es
macht auf erschreckende Weise klar, wie vertrackt
die gesellschaftlichen Geflechte sind. Nichts ist mehr
eindeutig, schreibt Yazbek: Bataillone kämpfen gegen Bataillone, die Revolution wurde durch das Militär vernichtet; religiöse Extremisten verbreiten bestialischen Schrecken, Kinder tragen Waffen. Und sie
alle unterlägen der „absoluten Herrschaft eines tödlichen Himmels“, von dem es Bomben regnet.
Das Schicksal der Menschen sei der beste Beweis
für den moralischen Verfall der Menschheit, hält sie
am Ende des Buches fest. Nicht nur der IS, sondern
auch Assad und das lange Stillhalten der internationalen Staatengemeinschaft trügen Schuld an der Gewalt in Syrien, hätten sie doch den Nährboden für
religiösen Extremismus geschaffen. Es ist traurig,
dass sie damit wahrscheinlich Recht hat.
Hanna Pütz
Wirtschaftskritik als Passionsgeschichte
Mit Hilfe der Kreuzwegmetapher schildern die Autoren, wie eine auf Wachstum und Konsum ausgerichtete Wirtschaft Not und Hunger verursacht. Und setzen
ihre Hoffnungen auf den nachhaltigen Konsum.
Josef Nussbaumer
Leidenswege der Ökonomie
Studia Universitätsverlag,
Innsbruck 2015, 272 Seiten, 19,90 Euro
Das Buch bedient sich der Leidens- und Kreuzwegmetapher, um die wirtschaftliche Ungerechtigkeit
der Welt aufzuzeigen. „Viele der Betroffenen sind
von Geburt an zum Hunger verurteilt, ihr Leben
lang beschreiten sie die vielen Stationen eines täglichen Leidensweges und jeden Tag verhungern sie
ein Stückchen, um schließlich einen vorzeitigen Tod
zu sterben“. So beginnt das erste Kapitel des Buches
oder, wie es heißt, die Erste Station auf dem Leidensweg.
Mit dem Thema Hunger hat sich der Innsbrucker
Professor Josef Nussbaumer schon in mehreren Büchern befasst. Dabei widmet er sich nicht den großen Hungerkatastrophen der Geschichte, sondern
vielmehr dem alltäglichen Hunger heute und dessen
Ursachen. „Für die Produktion von 50 Litern (eine
Tankfüllung) Bioethanol benötigt man 232 Kilogramm Mais. Davon könnte ein Kind in Sambia oder
Mexiko ein Jahr lang leben“.
Die Autoren überdehnen die christliche Metaphorik dabei nicht. Statt auf der klassischen Via Dolorosa bewegen sie sich auf einem selbst entworfenen Weg, der schließlich ins Schlusskapitel „Hoffnung“ mündet. Das ist auch notwendig, denn in den
Stationen, die von der Produktion und dem Konsum
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rezensionen service
von Nahrungsmitteln über die Ressourcen bis zu
den Themen Verteilung, Müll und Klima reichen,
kann man schon an der Welt verzweifeln.
Sie tischen dabei keinesfalls neue Tatsachen auf,
sondern vielmehr Fakten, die allgemein bekannt
sind oder bekannt sein könnten. Zusammengefasst
und ergänzt werden sie durch im Telegrammstil verfasste Splitter namens „Einfach zum Nachdenken“.
Da heißt es etwa zum Thema Beifang im Kapitel
„Meer“: „Meeresschildkröten, Haie oder Delfine verenden qualvoll in den Netzen. Insgesamt gibt es Jahr
für Jahr 38 Millionen Tonnen Beifang, das entspricht
40 Prozent des weltweiten Fischfangs“. Oder zur Entwaldung: „Durch die Zerstörung der Wälder verliert
die Weltwirtschaft zwei bis fünf Billionen Dollar pro
Jahr“.
Die erschreckenden Zahlen, die auch mit Quellenhinweisen belegt werden, zeigen, dass ein solches
Verhalten auch der ökonomischen Vernunft widerspricht. Auf moralisierende Belehrung verzichten
die Autoren, denn die Botschaft kommt auch so an.
Wenn wir so weiter wirtschaften, wie bisher, schaufeln wir unser eigenes Grab. Oder, wie der im Vorspann zitierte Papst Franziskus es knackig ausdrückt:
„Diese Wirtschaft tötet“.
Die gute Nachricht: Die Erde ist imstande, die
Menschheit weiterhin zu ernähren, auch wenn die –
den Prognosen entsprechend – weiter wächst. Von
einem Konsum, der nach dem Motto „mein Auto,
mein Haus, mein Boot“ auf den althergebrachten Sozialstatus setzt, werden wir uns aber verabschieden
müssen. Initiativen für nachhaltigen Konsum und
ein Wandel bei den gängigen Statussymbolen lassen
die Autoren hoffen, dass die Konsequenzen aus den
aufgelisteten Bedrohungen schließlich doch irgendwann gezogen werden. Ralf Leonhard
Informiert protestieren
Der Widerstand gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP ist groß. Zwei neue Bücher analysieren Ängste und Versprechen – und liefern den Gegnern wichtige Argumente.
Petra Pinzler
Der Unfreihandel
Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien
Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg
2015, 288 Seiten, 12,99 Euro
Ferdi de Ville, Gabriel Siles-Brügge
TTIP
The Truth about the Transatlantic Trade
and Investment Partnership
Polity-Verlag, Cambridge 2015,
160 Seiten, ca. 17,50 Euro
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Petra Pinzler hat das weitergehende Buch geschrieben. Die Wirtschaftsjournalistin stellt – aufgehängt
an den aktuellen Diskussionen über TTIP, den Freihandelsvertrag mit Kanada CETA und das Dienstleistungsabkommen TISA – das globale Handelssystem
insgesamt auf den Prüfstand. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit sei ein internationales
„Schattenregime“ entstanden; Handelspolitiker und
Lobbyisten hätten ihre eigenen Regeln geschaffen,
die vor allem multinationalen Konzernen und der
„Zerstörung der Natur und des Menschen“ dienten,
diagnostiziert sie.
Mit Verschwörungstheorien wartet die ZEIT-Redakteurin aber nicht auf. Im Gegenteil: Nüchtern
und verständlich geht sie den Bedenken auf den
Grund, das Abkommen werde Sozial- und Umweltstandards senken und ärmeren Ländern Nachteile
auf dem internationalen Markt verschaffen. Pinzler
belegt mit vielen Beispielen, wie berechtigt diese
Ängste sind – beim Einsatz von Pestiziden in der
Landwirtschaft etwa oder Substanzen in Kosmetika,
die in Europa verboten, aber in den USA erlaubt sind.
Oder im Blick auf die Rechte von Arbeitnehmern, die
in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren deutlich abgebaut worden sind.
Weitere Kapitel widmet sie den besonders umstrittenen privaten Schiedsgerichtsverfahren, bei
denen Firmen Staaten verklagen können, wenn sie
durch deren Gesetze die Rentabilität ihrer Investitionen in Gefahr sehen. Sie beschreibt, wie die Verfahren zu einem milliardenschweren Markt für Anwaltskanzleien und Konzerne geworden sind. Und
sie erklärt, wie die Privatwirtschaft mit Hilfe solcher
Gerichte Gesetze bereits im Vorfeld zu verhindern
sucht. Die Schiedsgerichte stehen zwar bei TTIP zur
Diskussion, sind im CETA-Abkommen jedoch bereits
festgeschrieben.
Der britische Politikwissenschaftler Gabriel SilesBrügge und sein Genfer Kollege Ferdi de Ville beschränken sich in ihrem Buch auf die Auseinandersetzung mit TTIP. Auch sie nehmen Argumente von
Gegnern und Befürwortern unter die Lupe und kommen zu dem Schluss, dass sowohl die damit verknüpften Ängste als auch die Versprechen derzeit
übertrieben werden. Ihr Ziel ist es, die Debatte zu
versachlichen – und ihr vor allem in den USA eine
größere Öffentlichkeit zu verschaffen. Denn im Gegensatz zu Europa sehen sie jenseits des Atlantiks
noch zu wenig „politische Reife“ in den Diskussionen.
Petra Pinzler, Gabriel Siles-Brügge und Ferdi de
Ville würdigen den Widerstand gegen TTIP und bescheinigen ihm eine große Kraft für Veränderungen:
Bürgerinnen und Bürger wehren sich gegen Geheimverhandlungen, sie fordern Beteiligung und mehr
demokratische Kontrolle. Darüber hinaus würdigen
die Autoren die bereits erzielten Erfolge. Sie teilen
aber auch die Skepsis, dass sich das Abkommen tatsächlich noch stoppen lässt beziehungsweise dass es
gelingt, höhere Umwelt- und Sozialstandards darin
festzuschreiben, die weltweit Schule machen könnten.
Pinzlers Buch ist leichter zugänglich, sie schreibt
anschaulich und lässt die Leserinnen und Leser an
vielen ihrer Gespräche mit Vertretern von Politik,
Wirtschaft und Wissenschaft direkt teilhaben. SilesBrügge und de Ville kommen wissenschaftlicher und
theoretischer daher. Doch beiden Büchern ist eine
breite Aufmerksamkeit zu wünschen, diesseits und
jenseits des Atlantik, in der Zivilgesellschaft und in
der Politik. Gesine Kauffmann
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service rezensionen
Schwarzer Humor aus dem Iran
Mojgan Ataollahis Roman bricht mit dem Klischee der
leidenden, aber kämpfenden Frau und inszeniert stattdessen auch mal das groteske Scheitern.
Mojgan Ataollahi
Ein leichter Tod
Residenz-Verlag, Salzburg 2015,
182 Seiten, 17,90 Euro
Es könnte eine Geschichte aus irgendeinem Land der
Erde sein: Eine Frau wird von ihrem Ehemann misshandelt, trennt sich von ihm, das Scheidungsverfahren zermürbt sie, Beziehungen mit anderen Männern scheitern. Sie wird depressiv, will aus dem Leben
scheiden. Aber dieser Roman bietet dank Mojgan
Ataollahis Schreibkunst weit mehr als das. Und ist dabei keineswegs langweilig oder vorhersehbar.
Allerdings ist es nicht die Handlung, die überrascht – sie nimmt tatsächlich keine wirklich unerwarteten Wendungen. Dass die Hauptfigur des autobiografisch gefärbten Werkes ihre Suizidabsicht
schließlich nicht in die Tat umsetzen wird, weiß man
von vornherein. Doch fesselt Mojgan Ataollahi, die im
Iran bislang lediglich einen Lyrikband veröffentlichen
durfte, mit dieser weltweiten Erstpublikation gerade
dadurch, dass sie das Klischee der leidenden, aber
kämpfenden, der unterdrückten, aber zur Selbstbestimmung findenden Frau immer wieder bricht.
Denn mit der Selbstbestimmung tut sich die Protagonistin schwer. Sie heißt wie die 1981 geborene
Autorin Mojgan und ist ebenso alt. Sie trägt ein Kopftuch, das jedoch immer wieder herunterrutscht, vor
allem in unpassenden Momenten. Groteskes Scheitern begleitet sie, beginnend schon auf den ersten
Buchseiten: Im Haus ihrer Eltern in Teheran, in das
sie nach der Flucht vor ihrem Mann zurückgekehrt
ist, will Mojgan sich das Leben nehmen. Sie sucht
nach einer selbstbestimmten Todesart, die sanft und
schmerzlos sein soll. Sie probiert es mit einer „Reistablette“, einem zyanidhaltigen Schädlingsbekämpfungsmittel zum Schutz von Reisvorräten. Das vermeintliche Gift erweist sich jedoch als Grippemittel.
Mojgan beschafft sich erneut eine Reistablette,
diesmal eine echte, und beschließt: „Zumindest in
der Todesstunde sollte man von Störenfrieden befreit sein.“ Sie zieht sich daher in ein Haus in einer
Küstenstadt zurück. Es ist eine Bruchbude, überall
liegen tote Kakerlaken, die ihre Beine in die Luft strecken; viele andere der Tierchen sind noch lebendig.
Mit Insektenspray kämpft Mojgan gegen die Kakerlaken. Gegen menschliche Schädlinge stellt sie jeden
Abend ein Paar Männerschuhe in den Hof, um den
Eindruck zu erwecken, es sei ein Mann in der Wohnung. Doch dem leichten Tod in absoluter Einsamkeit
stehen nicht nur die Schaben in ihrer Behausung und
potenzielle Eindringlinge von außen entgegen, sondern auch ihre eigenen Gedanken. Es sind die „abscheulichen Erinnerungen und unmenschlichen Erfahrungen“ ihres Lebens, die nun vor ihrem geistigen
Auge vorbeiziehen.
Diese Erinnerungen zeigen Mojgan als eine Person, die keineswegs immer alles passiv über sich ergehen ließ. Als Kind zum Beispiel hatte sie schwache
Hände, aber auch den großen Wunsch, einem älteren
Nachbarjungen, der sie immer wieder mit dem Moped verfolgte, einen Fausthieb zu versetzen. Sie stählte sich, indem sie jeden Tag mit einem Lineal auf ihre
Handflächen und Handrücken schlug. Ihre Familie
glaubte, es handele sich um einen Fall von Masochismus. Aber irgendwann war sie soweit, dass sie gegen
eine Wand hauen und sie eindellen konnte. Und
dann erwischte sie den Nachbarjungen, ihre Faust
landete auf seinem Auge.
Trotz solcher Wehrhaftigkeit wird sie immer wieder Opfer von Übergriffen und Gewalt. Selbst sehr
brutale Szenen sind dabei nicht ohne Situationskomik. Denn die Autorin schildert sie mit dem ihr eigenen schwarzen Humor jenseits der Klischees, der den
Roman lesenswert macht.
Anja Ruf
Impressum www.welt-sichten.org
Redaktion: Bernd Ludermann (bl, verantw.), Tillmann Elliesen (ell), Barbara Erbe (erb),
Gesine Kauffmann (gka), Hanna Pütz (hap, Volontärin), Sebastian Drescher (sdr, online)
Die Rubrik „Global-lokal“ erscheint in Kooperation mit der Servicestelle Kommunen in
der Einen Welt/Engagement Global gGmbH.
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Mitglieder im VFEP: Brot für alle (Bern), Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst (Berlin), Christoffel-Blindenmission (Bensheim), Fastenopfer (Luzern),
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Verlegerischer Dienstleister:
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Preis der Einzel-Nr.: 5,50 Euro / 7,80 sFr zuzügl. Versandkosten
Preis im Jahresabonnement: 49,20 Euro, ermäßigt 36,90 Euro. Preisänderungen
vorbehalten.
ist die Nachfolgezeitschrift von „der überblick“ und „eins Entwicklungspolitik“.
ISSN 1865-7966 „welt-sichten“
3-2016 |
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| 3-2016
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verantwortungsvolles Handeln
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Kontakt: Tel. 0711-185-60-0
www.messe-stuttgart.de
Stuttgart
2. April 2016
Entwicklungspolitische Landeskonferenz 2016
Die Agenda 2030 für nachhaltige
Entwicklung
Evangelische Akademie Bad Boll
Kontakt: Tel. 07164-79-0
www.ev-akademie-boll.de
Weingarten
10. bis 15. April 2016
13. Weingartener Woche zum Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht
Tagung für Studierende der
Rechtswissenschaften
Akademie der Diözese
Rottenburg-Stuttgart
Kontakt: Tel. 0711-1640-600
www.akademie-rs.de 2014. 270 Seiten. Kart.
19,90 € (D), 20,50 € (A)
ISBN 978-3-8474-0171-1
eISBN 978-3-8474-0443-9
Michael Lapsley
Mit den Narben der Apartheid
Vom Kampf für die Freiheit zum Heilen traumatischer
Erinnerungen
mit Stephen Karakashian
Vorwort von Desmond Tutu
Übersetzt von Hélène und Dieter Rybol
Father Michael Lapsley verlor als Kämpfer gegen die
Apartheid bei einem Briefbombenattentat beide Hände
und eines seiner Augen. In seiner Autobiografie erzählt
er von diesem entsetzlichen Ereignis – und davon, wie
er seine eigene traumatische Erfahrung umgelenkt
hat und sie nun, als Leiter des Institute for Healing of
Memories, für die Heilung anderer Traumatisierter auf
der ganzen Welt nutzt.
Stimmen:
Das ist eines der bewegendsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Rupert Neudeck
Michaels Leben ist eine faszinierende Metapher…
Nelson Mandela
shop.budrich-academic.de • [email protected]
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service termine
termine – kulturtipps
Facetten der Schönheit
Schönheit
und Idyll: Der
Künstler Didier
Ahadsi aus
Togo hat diese
­Figurenszene
aus Blech
­gestaltet.
Paul Schimweg/­
museum für völkerkunde hamburg
Das Museum für Völkerkunde
Hamburg widmet sich in seiner
Ausstellung unterschiedlichen
Berlin
bis 30.04.2016
Ein Gott – Abrahams Erben am Nil
Juden, Christen und Muslime in
Ägypten von der Antike bis zum
Mittelalter
Der titelgebende Abraham gilt als
wichtiges Bindeglied zwischen
Judentum, Christentum und
Islam. In Ägypten teilen sich diese
großen Religionen eine lange
gemeinsame Geschichte. Die Ausstellung will das religiöse Leben
von der Römerzeit bis zum Ende
der Fatimiden-Herrschaft im 12.
Jahrhundert beleuchten. Während
dieser Zeit lebten die drei Weltreligionen dort friedlich miteinander.
Rund 150 Ausstellungsobjekten
sollen dem Besucher vermitteln,
wie der Alltag in Ägypten aussah.
Zu sehen sind zum Beispiel die
Überreste der jeweiligen heiligen
Schriften, die alle in Ägypten
gefunden wurden. Ebenso wird
die Baugeschichte von Synagogen,
Kirchen und Moscheen erörtert.
Fotografien aus der jüngeren
Zeit ergänzen die Ausstellung.
Bode-Museum
Kontakt: Tel. 030-266-4242-42
www.smb.museum.de
Schönheitsidealen Afrikas. Sie illustrieren, dass sich die europäischen Vorstellungen von „typisch
Karlsruhe
5. März bis 4. September 2016
New Sensorium – Exciting from
Failures of Modernization
Die Ausstellung präsentiert
Werke asiatischer Künstler, die
sich mit Globalisierung und
digitalen Technologien befassen.
Sie wollen zeigen, wie das digitale und das tatsächliche Leben
miteinander verbunden sind.
Viele der Künstler sind mit neuen
Technologien aufgewachsen und
haben gleichzeitig die ideologischen und wirtschaftlichen
Veränderungen der vergangenen
Jahrzehnte in Asien mitbekommen. Gleichzeitig existieren noch
viele alte Traditionen. Die Werke
von rund 15 Künstlern dieser
Generation sind in Karlsruhe zu
sehen. Dazu gehören Videoinstallationen, Skulpturen und
Zeichnungen. Die Ausstellung
beleuchtet die Zukunft der
neuen Medien, will aber auch die
Beziehung zwischen ihnen und
der greifbaren Welt hinterfragen.
Zentrum für Kunst und
Medientechnologie
Kontakt: Tel. 0721-8100-0
www.zkm.de
afrikanischem“ Aussehen teils
stark von der Wirklichkeit unterscheiden.
Obwohl Afrika längst Teil der
internationalen Modeindustrie ist,
halten sich dort auch noch traditionelle Schönheitsideale. Sie zeigen sich in der Bemalung des Körpers oder in bestimmten Frisuren,
die sich teilweise wiederum in
westlichen Ländern durchgesetzt
haben. Schmucknarben oder Tattoos und sogar das Spitzfeilen der
Vorderzähne werden in einigen
Subkulturen bereits kopiert.
Die Ausstellung beleuchtet
auch vergangene afrikanische
Schönheitsideale. So präsentiert
sie Masken und Skulpturen, die
bis zu 500 Jahre alt sind. Beispiele
aus der Modewelt zeugen davon,
welchen Einfluss afrikanische
Kassel
Schönheitsideale weltweit haben.
Eine Wand aus Titelblättern europäischer Modemagazine zeigt die
wachsende Anzahl afrikanischer
Models; auf Monitoren laufen Modenschauen, und auch die erste
Barbie-Puppe Afrikas ist zu sehen.
Die Ausstellungsstücke stammen
zum großen Teil aus der Sammlung des Museums und wurden
durch Objekte afrikanischer Partner – zum Beispiel des Modeschöpfers Diouma Dieng Diakhate aus dem Senegal – ergänzt.
Hamburg
bis 6. November 2016
Africa’s Top Models
Schönheitsideale – Ideale
Schönheit
Kontakt: Tel. 040-428-879-0
www.voelkerkundemuseum.com
Koblenz
bis 1. Mai 2016
Images
Mit der Frage, wie Bilder wahrgenommen werden und welchen
Einfluss die Bilderflut im Internet
auf die menschliche Wahrnehmung hat, beschäftigt sich die
Ausstellung „Images“ im Kasseler
Museum für Gegenwartskunst
„Fridericianum“. Die dort gezeigten Arbeiten untersuchen
die Wandelbarkeit von Bildern.
Der documenta-Künstler Pierre
Huyghe lässt in einer Installation
gemeinsam mit Philippe Parreno
eine animierte Figur in einem
kurzen Film ihren eigenen Tod
erzählen. Die Arbeit von Seth
Price zeigt die Enthauptung eines
Amerikaners durch Dschihadisten im Irak aus dem Jahr 2004:
Der Künstler hat ein Bild aus
dem Video in roter Farbe auf eine
Plastikfolie gebracht. Insgesamt sind die Werke von neun
internationalen Künstlern zu
sehen, darunter Trisha Donelly,
Cory Arcangel und Mark Leckey.
bis 10. April 2016
Grimanesa Amorós. Ocupante
Die peruanisch-amerikanische
Licht- und Videokünstlerin Grimanesa Amorós zeigt in Koblenz,
im Museum Ludwig direkt am
Zusammenfluss von Mosel und
Rhein, bunte und großformatige, dreidimensionale Lichtinstallationen. Amorós lebt und
arbeitet in New York. Ihre Werke
standen bereits auf dem Time
Square, außerdem waren sie in
Mexiko, Tel Aviv und Peking zu
sehen. Sie alle sollen Geschichte
und Lebensweise der jeweiligen
Ausstellungsstätte widerspiegeln.
Viele von Amorós‘ Lichtinstallationen nehmen Bezug auf die
Sozialgeschichte und Kultur
ihrer Heimat Peru. Im Ludwig
Museum stellt sie außerdem
ihre neue Videoarbeit „Ocupante“ vor, die sich mit der Suche
nach Schönheit und Poesie in
der Kunst befasst. Die Installation ist die erste Ausstellung
der Künstlerin in Deutschland.
Fridericianum
Kontakt: Tel. 0561-707-27-20
www.fridericianum.org
Ludwig Museum Koblenz
Kontakt: Tel. 0261-3040-412
www.ludwigmuseum.org 3-2016 |
Verschenken Sie
Es lohnt sich!
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5,50 €
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3-2016 März
AGENDA
2030: Schl
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SÜDAFRIKA:
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25.01.20
Sie machen mit einem
-Abonnement jemandem eine Freude – wir bedanken uns dafür mit einem Buch. Sie haben die
Wahl: Lernen Sie in „Das Geständnis der Löwin“ die dunklen Geheimnisse einer Dorfgemeinschaft kennen oder begeben Sie sich in
dem haitianischen Voodoo-Krimi „Schweinezeiten“ in den Kampf gegen Verbrechen,
Korruption und okkulte Mächte.
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sachlich
kritisch
gründlich
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Umschlag
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Dahin, wo
n
es besser ist
22.02.2016
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Sie schenken Denkanstöße:
Im nächsten Heft
Entwicklungsbanken
Finanzinstitutionen wie die
Weltbank oder die KfW investieren
Milliarden in Entwicklungsländern. Wie verhindern sie, dass
dabei die Umwelt geschädigt oder
Menschenrechte verletzt werden?
Wie fördert der deutsche Entwicklungsfinanzierer DEG Privatunternehmen in Afrika? Welche
Absichten verfolgt China mit der
neuen Entwicklungsbank AIIB?
Und warum kommt die lateinamerikanische Banco del Sur nicht
in Gang?
Windkraft in
Brasilien
analysiert, hinterfragt, erklärt
und macht neugierig. Die Zeitschrift bietet
Reportagen, Interviews und Berichte über
die Länder des Südens und globale Fragen.
Jeden Monat direkt ins Haus.
Mia Couto
Das Geständnis der Löwin
Unionsverlag, 2016
280 Seiten
Gary Victor
Schweinezeiten
Unionsverlag, 2016
130 Seiten
Im Nordosten von Brasilien sollen
große Windkraftprojekte entstehen. Die Anwohner werden vom
sauberen Strom jedoch kaum
profitieren.
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Ausgabe 5-2016
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„Das Geständnis der Löwin“ von Mia Couto
„Schweinezeiten“ von Gary Victor
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