(G. Propst, aus einem früheren Skriptum “Systemanalyse”) 1 Grundsätzliches zu mathematischen Modellen Viele Fragestellungen der Umweltwissenschaften werden mit Hilfe quantitativer Methoden bearbeitet. Gemeint ist hier insbesondere die Arbeit mit mathematischen Modellen von realen Systemen. Im Rahmen dieser Vorlesung verstehen wir unter einem “System” einen Teilbereich der Wirklichkeit, für den ein mathematisches Modell erstellt wird. Das ist eine Sammlung gekoppelter Gleichungen und Formeln, deren Lösungen einige der Eigenschaften des Systems wiedergeben oder sein Verhalten beschreiben. Das Modell wird mit Hilfe mathematischer und computergestützter Methoden untersucht. Sofern das Modell die Eigenschaften des Sytems gültig wiedergibt, ist die mathematische Untersuchung des Modells eine “Analyse” des Systems selbst. Daher gehört zur Systemanalyse in dieser Bedeutung insbesondere auch die Erstellung eines mathematischen Modells, die verständnisvolle Arbeit damit, seine Verbesserung, Anpassung oder - gegebenenfalls - Verwerfung. Ein genauerer Titel der vorliegenden Lehrveranstaltung wäre Modellbildung und Simulation. Populationen, mechanische Systeme, chemische Reaktoren, Biotope, Handelsbetriebe, Volkswirtschaften, Körperorgane, Klimasysteme: dies sind einige Beispiele für Teilbereiche der Realität, für deren Modellierung Methoden, die in dieser Vorlesung besprochen werden, angewendet werden können. Ein wesentlicher Aspekt mathematischer Modelle ist die vollständige Definiertheit ihrer Bestandteile. Dies macht sie erstens einer mathematischen Analyse zugänglich und kann zweitens zur quantitativen Berechnung konkreter Beispiele verwendet werden. Folgende Ziele können Zweck der mathematischen Modellbildung sein: • Modellbildungsprozess selbst: Aufdeckung von Wirkungszusammenhängen aufgrund systematischer Vorgangsweise, Erweiterung des Verständnisses des modellierten Systems • quantitative numerische Simulation und Prognose möglicher Entwicklungen • qualitative mathematische Analyse des Modells • Untersuchung von Auswirkungen der Änderung von Modell-Parametern • rechnerunterstützter Entwurf von Systemen (spart Zeit, vermeidet Risiko) • Identifikation von nicht oder nur sehr schwer messbaren Größen (z. B. Seismik (Erdöl), Computertomographie (Gewebe)) • Verbesserung oder Optimierung von Systemeigenschaften. Typische methodische Elemente der Bildung eines mathematischen Modells sind • Vereinfachung, Idealisierung • Festlegung des Wesentlichen, Weglassung von Unwesentlichem 1 • schrittweises Vorgehen von einfach zu komplex • Versuch und Irrtum. In den Modellen können alle möglichen mathematischen Objekte verwendet werden, jedoch beeinflusst der jeweilige Zweck des Modells die Auswahl unter möglichen Modell-Typen. Grundsätzlich braucht ein Modell nicht komplizierter sein als für seinen Zweck erforderlich, selbst wenn das betrachtete System sehr komplex ist. Als Beispiel für ein mathematisches Modell mit dem Zweck einer Prognose betrachten wir die Verunreinigung eines Sees durch einen Schadstoff. Die Ursache der Verunreinigung spielt keine Rolle, jedenfalls wird nach dem Zeitpunkt t = 0 kein Schadstoff mehr zugeführt. Die zu beantwortende Frage lautet: Wie lange wird es dauern, bis – allein auf Grund der Strömung – die Schadstoffkonzentration im See auf 10% der Anfangskonzentration reduziert ist? Der See hat das konstante Volumen V , pro Tag strömen r m3 Wasser zu und ab. Zur Vereinfachung nehmen wir an, dass der Schadstoff immer gleichmäßig im See verteilt ist. Dann ändert sich die Schadstoffkonzentration q(t) gemäß der Mengenbilanz (dies wird später mehrmals genauer erläutert) Änderungsrate der Menge Schadstoff im See = Zufluss - Abfluss an Menge Schadstoff, d (V q(t)) = 0 − rq(t). dt Die Lösung dieser Differentialgleichung (darüber wird später mehr gesagt) mit der Anfangsbedingung q(0) = q0 ist q(t) = q0 e−rt/V . Der gesuchte Zeitpunkt T ist jener, für den q(T ) = q0 /10, also T = ln(10)·V /r. Für den Lake Michigan ist V = 4.871×1012 m3 und r = 4.331×108 m3 /Tag, also T=25897 Tage = 71 Jahre. Natürlich enthält das Modell Vereinfachungen, z.B. die Annahme der totalen Vermischung, die aber den Abfluss an Schadstoff eher beschleunigen würde; andererseits sind Schadstoff vermindernde Prozesse wie chemische Reaktionen oder Sedimentation ausser Acht gelassen. Der springende Punkt der Brauchbarkeit eines mathematischen Modells für den angepeilten Zweck ist die Güte des Modells. Das System wird beobachtet, es gibt qualitative und ev. quantitative Daten. Die Güte des mathematischen Modells wird an Hand des Grads der Übereinstimmung der “Vorhersagen” des Modells mit den Daten bewertet. Diese Übereinstimmung wird mitunter quantifiziert (z.B. Summe der Fehler- Quadrate) und durch geignete Wahl der Modellparameter optimiert. Wenn das Modell allerdings strukturell falsch ist, dann gibt es keine geeigente Wahl von Parametern und die Modellbildung ist (vorläufig) gescheitert. Im Laufe der Vorlesung werden die dargestellten Methoden der mathematischen Modellbildung und Analyse an Hand von Beispielen erläutert. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Modelle möglichst ausgefeilt sind, vielmehr werden allgemeine Modellierungsprinzipien an Hand einfacher Beispiele besprochen. Ferner wird demonstriert, wie man mathematische Modelle am Computer verwendet und untersucht. Es ist ja die Verfügbarkeit von Rechenleistung, bedienungsfreundlicher Software und graphischer Darstellung ein Hauptfaktor der zunehmenden Anwendung von Systemanalyse, die auf mathematischer Modellbildung beruht. 2 3
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