Ansehen - Berliner Dom

Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Domprediger Thomas C. Müller
1. Sonntag nach Trinitatis, 7. Juni 2015, 10 Uhr
Predigt über 1. Johannes 4,16b-21 (und Lukas 16, 19-31)
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
16b Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind
auch wir in dieser Welt.
18 Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit
Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht
liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.
21 Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
Liebe Gemeinde,
die Bibel singt das Lied der Liebe, aber sie tut es auf mehrstimmige Weise. Und manchmal scheint es so,
dass sie verwirrende Dissonanzen hervorbringt, die nicht mehr recht zusammenklingen wollen und
einen verwirrten Hörer hinterlassen.
An diesem Sonntag treffen zwei biblische Texte aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Auf der einen Seite Johannes mit seinem poetischen Lobpreis der Liebe Gottes. „Gott ist die Liebe, und
wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Ein Satz, wie gemacht die großen Feste der
Liebe: Braut und Bräutigam, die die Kirche durchschreiten, vor den Altar treten, einander ihre Liebe
bezeugen und sind einhüllen lassen in ihrer Liebe von diesem Wort des Johannes. Wie gemacht auch für
eine Taufe oder eine Konfirmation. Ein Wort, dass schützt gegen die Bedrohung der Liebe, der eine Ehe
ausgesetzt ist, der ein junges Menschenkind ausgesetzt ist, der von Anbeginn des Lebens bis zum Ende
wir alle ausgesetzt sind und die als Furcht immer mitläuft: dass einmal die Liebe endet; dass wir einmal
herausfallen aus der Liebe und wir ungeliebt zurückbleiben. Genau davon berichtet auf der anderen
Seite die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus, die wir eben in der Lesung des Evangeliums
gehört haben. Sie erzählt von einem lieblosen Menschen, der am Ende selbst aus der Liebe fällt. Gott ist
die Liebe – ja, aber was geschieht, wenn der Mensch mit Lieblosigkeit antwortet? Um die Liebe zu
verstehen, müssen wir erst eine Weile dieser Geschichte der Lieblosigkeit folgen. Der reiche Mann lebt
in Freuden, Lazarus liegt vor seiner Tür. Trotz der räumlichen Nähe: Zwischen den beiden liegt die
Grenze, die Glück und Elend voneinander trennen. Der, der sie zumindest für einen Augenblick
überschreiten könnte, tut es nicht. In der Logik der Erzählung erfährt der Reiche im Jenseits genau die
menschliche Kälte, die er Lazarus entgegenbrachte. Auch dort ist die Grenze zwischen Glück und Elend
unüberbrückbar. Himmel und Hölle sind das genaue spiegelverkehrte Abbild der jetzigen Welt.
Wer sich in einer Gruppe über diesen Gleichnis um den Reichen und den armen Lazarus austauscht,
kann erleben, wie viele Emotionen geweckt werden: Betroffenheit, Angst, auch Widerwille und das
Gefühl, dass hier vereinfacht wird, was doch in Wahrheit viel komplexer ist. Als Menschen im
Wohlstand können wir gar nicht anders, als uns sofort mit den Reichen zu identifizieren. Wir sehen als
die Glücklichen die Elendesbilder, und bei denen, die noch nicht abgestumpft sind, läuft das schlechte
Gewissen mit. In der Geschichte sagt Vater Abraham: „Und überdies besteht zwischen uns und euch
eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch
niemand von dort zu uns herüber.“ Es fällt schwer, bei diesem Satz nicht an die große Kluft zu denken,
die heute realexistierende Höllen der Armut und die Zonen des Reichtums voneinander trennt. In der
großen Kluft, zwischen hier und dort ertrinken Tausende. Die Kluft zwischen Glück und Elend zieht sich
nicht nur durchs Mittelmeer. Auch bei uns liegen Glück und Elend dicht beieinander. An einem
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sommerlichen Abend in Berlin mit einem Glas Wein in einem schönen Restaurant sitzend kann es
passieren, dass wir sehen, wie jemand den Mülleimer nach Essbarem durchsucht. In der U-Bahn leiert
der Obdachlose seinen Spruch herunter. Selbst, wenn wir etwas geben, er darf unsere Welt nicht
betreten. Das Gefühl der Überforderung sucht uns heim. Und wer in sich schaut, spürt die große Kluft
in sich selbst, mit der er sich selbst schützt, um all das Elend auf Distanz zu halten und nicht selbst
hineingezogen zu werden. Die Gleichniserzählung nimmt darauf keine Rücksicht. Ihre Botschaft ist:
Das, was ihr andere erdulden lasst, dass werdet ihr einmal selbst erdulden müssen. Die Geschichte
versetzt unser Gewissen in Unruhe. Aber sie lässt uns auch ratlos zurück. Sie reißt eine Wunde auf, die
sie nicht schließen kann. Sie ist einfach ein kalter Spiegel. Sie löst Furcht aus, nicht Liebe.
Gott ist die Liebe – vor dem Hintergrund dieser Welt ohne Liebe klingt der Satz des Johannes nicht
mehr so selbstverständlich. Dabei setzt Johannes im Grunde an der Stelle ein, wo das Gleichnis aufhört.
Auch er kennt die manchmal erschütternde Lieblosigkeit, zu der Menschen fähig sind, selbst bei denen,
die sich auf Gott berufen. Er kennt die frommen Illusionen der religiösen Menschen, die Gott im Munde
führen, aber immer nur Druck transportieren. „Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der
kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.“ Und ihm werden Menschen vor Augen gestanden haben,
denen er das sagen musste. Von nicht wenigen Menschen wird heute Religion mit Abgrenzung und
Spaltung in Verbindung gebracht. Und mit Furcht. Auch Johannes spricht vom Tag des Gerichts, an dem
dieser ganze Wahnsinn von Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit auf den Tisch gelegt wird. Und er kennt
die tief angelegte Furcht, dieser Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Aber er weiß, dass die Furcht keine
Liebe weckt. Deshalb zeigt er inmitten der Lieblosigkeit, die diese Welt prägt, den Beziehungsraum der
Liebe auf, der Gott selbst ist.
„Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe
bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; Furcht ist nicht in der Liebe,
sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe.“
Diese Poesie der Liebe Gottes ist kein religiöser Zuckerguss, der über die reale Lieblosigkeit der Welt
und des Menschen gegossen wird. Es eine Einladung aus der Welt der Grenzen, der Beziehungslosigkeit,
der Lieblosigkeit in diesen Raum der Liebe Gottes zu treten, die Furcht hinter sich zu lassen und den
Weg zum anderen zu finden.
Auf der wohl berühmtesten Ikone der russisch-orthodoxen Tradition, der Dreifaltigkeitsikone von Andrej
Rublew, wird Gott nach den Motiven einer alttestamentlichen Geschichte in Gestalt von drei Engeln
dargestellt, die am Tisch sitzen. Die Engel sind als Gott Vater, als Sohn und als Heiliger Geist
dargestellt, die durch Zeichen und Gesten ihre innige Verbundenheit und liebende Hingabe anzeigen.
Die Figuren sind aber gleichzeitig so angeordnet, dass der Betrachter unmittelbar den Eindruck
gewinnen muss, dass er selbst Teil dieser Gottesgemeinschaft ist. Der Betrachter sieht nur hin und ist
schon im Hinsehen Teil des Kreises. Die orthodoxe Spiritualität der Ikonenbetrachtung ist Beheimatung
in der Beziehung: Je länger der Blick auf dem Bild der Liebe bleibt, umso mehr bekommt der Betrachter
ein Gefühl dafür, dass er in der Liebe ist und schon immer war. „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst
geliebt, “ sagt Johannes. Liebe ist keine Anstrengung, nichts was wir schaffen und erzeugen müssten,
sondern wir treten in eine Liebe ein, die schon da ist und immer da sein wird. Nur im Wegblicken und
Vergessen falle ich heraus und die Furcht kehrt wieder zurück.
Der reiche Mann, der lieblos ist und seine Lieblosigkeit am eigenen Leib erfahren muss - und die
Botschaft von der Liebe, in der keine Furcht ist: Manchmal wird in der Gegenwart der Vorwurf laut,
dass dieses johanneische Zeugnis der Liebe Gottes heute in der Verkündigung der Kirche zu viel
Gewicht bekommt. Die Rede vom Kuschelgott macht die Runde. Der Satz: „Gott liebt dich“, ist so wahr,
aber er klingt manchen Ohren wie eine billige Gnade. Dahinter steht die Erfahrung, dass Menschen
gerne Liebe entgegennehmen, aber dass sie keine Konsequenzen für ihr Leben und Handeln hat. Wir
sollen Gott „fürchten und lieben“ heißt es in Luthers Kleinem Katechismus. Genügt es dann wirklich
Gott als Liebe zu beschreiben, besteht sein innerstes Wesen nicht auch aus einem Teil der furchtbar
unberechenbar und zum Fürchten bleibt?
Morgen feiern wir hier im Berliner Dom eine Nacht der Lichter nach dem Ritus der Gemeinschaft von
Taizé im Gedenken an Frére Roger, den Gründer und dem geistigen Vater dieser Gemeinschaft von
Taizé, der in diesem Jahr am 12. Mai 100 Jahre alt geworden wäre. Diese Gemeinschaft hat sich
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unmittelbar nach dem Krieg in Frankreich als eine Gemeinschaft von Brüdern unterschiedlicher
Konfessionen gegründet. Das schlagende Herz dieser Gemeinschaft war und ist die Überwindung von
Grenzen aller Art. Die ersten Gäste, die aufgenommen wurden, waren deutsche Kriegsgefangene. Die
Bevölkerung der umgebenden Dörfer hatte ja unter dem einstigen Feind gelitten und sah den
Aktivitäten der Brüder misstrauisch zu. Es war ungeheuer schwer, in dieser Skepsis den Geist der Liebe
und Versöhnung gegenüber dem einstigen Feind durchzuhalten. Dazu gehört auch, dass die Brüder von
Taizé darauf verzichteten, ihre Gastfreundschaft an Bedingungen zu knüpfen. Das ist ja das normale in
zwischenmenschlichen Beziehungen, das Menschen ihre Liebe an Bedingungen knüpfen und versuchen
sie durchzusetzen. Vom zeitweiligen Liebesentzug, über die subtile Manipulation, kleinen Nadelstichen
und kaum wahrnehmbaren Bestrafungsaktion bis zum Angstmachen – selbst in den intimsten
menschlichen Beziehungen werden solche Mittel eingesetzt. Der Geist der Gemeinschaft von Taizé
verbindet sich mit einem radikalen Verzicht darauf. Der Impuls dazu nährt sich aus einer zentralen
Botschaft, die Frére Roger immer wieder eingeschärft hat: Gott ist nur Liebe und nichts anderes. Egal
an welchem Punkt in seinem Leben jemand steht, egal, wie weit eine sich in Schuld verstrickt hat. Wer
auf Gott schaut, ist im Kreis der Liebe und er hat nichts anderes zu fürchten. Frère Roger hat allen
Verundeutlichung dieser einen Botschaft heftig widersprochen. Nicht das Übermaß oder die
Einseitigkeit der Liebe Gottes ist das Problem, sondern die Tatsache, dass der Menschen sich ihr nicht
zuwenden und damit in seiner Furcht bleiben. Und diese Furcht, in der er bleibt in seine Beziehungen
mit hineinnimmt. Die Furcht führt dazu, dass er die Doppeldeutigkeit in seine Beziehungen hineinlässt,
führt zu inneren und äußeren Grenzen, führt zu der Lieblosigkeit. Gott ist die Liebe – d.h. Gott ist die
Überwindung der Furcht, die zum anderen Menschen führen kann. „Wer in die Liebe Gottes eintaucht,
taucht beim Nächsten auf“, wissen die christlichen Mystikerinnen und Mystiker. Diese Liebe ist frei,
aber nicht billig. Sie ist unendlich kostbar, weil bedingungslose Liebe nirgendwo zu finden ist – nur
hier. Sie ist heilig, weil sie von uns nicht benutzt werden kann, sondern weil sie uns in Gebrauch
nimmt. Wir heiligen sie, in dem wir den anderen an uns heranlassen. Sie ist nicht von dieser Welt, aber
sie ist in dieser Welt und hält uns am Leben und arbeitet in uns, ein Leben lang und darüber hinaus, bis
wir den Weg aus den selbstgemachten Höllen der Beziehungslosigkeit herausgefunden haben.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne ich
Christus Jesus.
Amen.
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