MENSCHEN «BERGE, WÄLDER, MOORE sind der schönste Supermarkt» Holz, Heu, Rostnägel, Gold: Bei STEFAN WIESNER kommt alles in den Topf. Der Naturkoch ist für seine eigenwilligen Rezepte weltbekannt. An der «Schweizer Familie»-Feuerstelle zeigt er seine Kunst – und plaudert aus dem Küchenkästchen. Interview Leandra Graf und Roland Studer Fotos René Ruis Stefan Wiesner wirft an der «Schweizer Familie»-Feuerstelle Büelwald ob Escholzmatt LU Prisen seines «Hexenpulvers» – Bärlapp – ins Feuer. MENSCHEN MENSCHEN Stefan Wiesner ist mit dem Rapid Spezial unterwegs. Auf dem Anhänger führt er die Feldküche mit. Auf der Suche nach Zutaten für das Essen findet Wiesner einen Baumpilz. Blumen und Kräuter sind ebenfalls Ingredienzen fürs Mahl. Das Moos, das der Koch ausgräbt, ist als Dekoration gedacht. «Die Blätter des Vogelbeerbaums schmecken beim Kauen nach Mandeln, wie Amaretto.» Stefan Wiesner, was tun Sie am 1. August? S tefan Wiesner tuckert auf seinem einachsigen Schlepptraktor Rapid Spezial von 1964 zum Büelwald. Auf dem Anhänger eine Feldküche. Der Besitzer und Küchenchef des Gasthofs Rössli in Escholzmatt LU ist für seine Naturküche weltbekannt. Er kocht mit Holz und Heu, Kohle und Torf, Gold und Rostnägeln. An der «Schweizer Familie»-Feuerstelle will der mit einem Stern im «Guide Michelin» und 17 «Gault Millau»-Punkten ausgezeichnete Koch einen Fünfgänger zubereiten: Vorspeise, Salat mit Brot, Suppe, Wurst, Dessert. 22 Schweizer Familie 31/32/2015 Vielleicht laufe ich auf die Beichlen, das ist mein Hausberg. Von dort sieht man viele Höhenfeuer. Werden Sie Cervelats bräteln? Die esse ich lieber roh. Mit Brot und Senf. Wärme verändert ihr Aroma. Ich grilliere gerne Landjäger. Ist das kulinarischer Frevel? Überhaupt nicht, das ist eine Delikatesse. Man kann jede Rauchwurst grillieren. Aber nicht zu lange, sonst wird sie salzig. Und sachte, damit die Haut nicht platzt. Essen Sie auch mal im Fast-Food-Restaurant? PIONIER DER NATURKÜCHE Stefan Wiesner, 53, ist einer der aussergewöhnlichsten Köche der Welt und ein Pionier der Naturküche, die bei Köchen weltweit im Trend liegt. Er ist mit einem Stern im «Guide Michelin» und 17 «Gault Millau»-Punkten ausgezeichnet. Bekannt ist vor allem sein Gourmetmenü, für das er mit Naturmaterialien wie Heu, Holz oder Torf kocht. Stefan Wiesner ist mit Monika, 49, verheiratet. Sie leiten den Gasthof Rössli in Escholzmatt LU, wo sie auch leben. Sie haben zwei Kinder. Amy, 21, lernt Fachfrau Gesundheit. Joe, 18, lernt Fassbauer. www.stefanwiesner.ch Klar. Ich respektiere jede Küche, die sauber ist, Produkte aus der Region verwendet und frische Salate sowie qualitativ gute Produkte anbietet. Bei manchen FastFood-Restaurants ist das der Fall. Ausserdem erhalte ich dort, was ich erwarte. Stefan Wiesner hängt sich den geflochtenen Korb über die Schulter und geht Zutaten für Salat und Dekoration sammeln. Er schaut in Büsche, schnuppert an Sträuchern, zupft Spitzwegerich, Sauerampfer und Margeriten von der Wiese, pflückt Himbeerblätter und Klee am Waldrand, zwickt Nüsse und Blätter von Buchen. Er reicht mir Blätter des Vogelbeerbaums zum Degustieren. Sind die nicht giftig? ➳ Stefan und Monika Wiesner, «Wurstwerkstatt – Brat- und Siedwürste einfach selber machen», 34.90 Franken. Das Buch erscheint im Oktober. Wiesner gibt auch Kurse in Wurstherstellung. Schweizer Familie 31/32/2015 23 MENSCHEN FE UERS TELL ENMENÜ VO N ST EFAN W IE SNER «Ich beschalle das Salz mit der Frequenz des Urknalls – einem atmosphärischen Rauschen.» «Nein», antwortet Wiesner gelassen. Sie schmecken beim Kauen nach Mandeln. «Wie Amaretto», sagt er und lächelt fein. und Algen aus dem Bach, in dem der Fisch gelebt hat. Zuletzt dekoriere ich den Tellerrand mit den Steinen. So ist das Gericht eine Einheit – auch symbolisch. Wo sind Sie lieber: in der Küche oder in der Natur? Sie kochen mit fast allem. Beispielsweise mit Teer. ANZEIGE Sie schrecken selbst vor Kuhdung nicht zurück. Ich brauche beides. Zutaten sammle ich nicht jeden Tag. Wenn ich aber gehe, dann stundenlang. Berge, Wälder, Moore und Bäche sind der schönste Supermarkt der Welt. Dort verliere ich mich in Gedan- Goodie #2 Speck-Badetuch APÉRO Schlachtalp-Käse mi t getrockneten Zwetschgen, Äpfeln un d Birnen Weinbrot mit Traubenund Traubenkernen aus dem Topf, Beurre caramel salé Schweizer Fleur de Sel aus Bex, Tasmanischer Pfeffe r Sirup aus den Nadel n der Douglasfichte (zitronig), Entlebuche r Kräutertee, Heubier der Brauerei Hohgant, Entlebucher Spezialb ier SALAT Büffelmilch-Mozzare lla aus Marbach LU an Leindotteröl und Birnen-Balsamico mit Kräutern aus Wa ld, Wiesen und Garte n: Himbeerblätter, Storch enschnabel, Waldklee, Vogelbeeren (klein e Dosis ist nicht giftig, hat sehr viel Vit amin C), Sauerampfer , Schafgarbe, Spitzweger ich, Zaunwicke, Kapuzinerkresse, Mo hnblüten, Kornblumen, Ringelblumen, roter Klee, Lavendel, Kamille Darin habe ich eingepackte Kalbsbäggli gegart – köstlich. Früher legten italienische Strassenarbeiter morgens in Jutesäcke und Papier gewickelte Schinken in den Asphalt und assen ihn am Abend. Im Val de Travers gibt es noch heute Asphaltschinken. Ich probierte mal, Rippchen acht Sekunden über getrockneten Kuhfladen zu räuchern. Der Geschmack war unterschwellig und nicht wahrnehmbar, stützte aber trotzdem den Geschmack des Fleisches. In Island räuchern sie Fleisch und Käse mangels Brennholz mit Schafsmist. SUPPE Wiesners legendäre He urahmsuppe WURST Kochen Sie wild drauflos, was Ihnen grad in den Sinn kommt oder über den Weg läuft? Stefan Wiesner und Rebecca Clobath, Leiterin von dessen Kochschule, richten auf dem Anhänger den Salat an. Im Gegenteil. Ich recherchiere intensiv über Hintergründe einer neuen Zutat und kläre mit Fachleuten die Eigenheiten, bevor ich zu pröbeln beginne. ken. Schon einige Male habe ich deswegen meinen Trüffelhund Levi vergessen und musste zurückfahren, um ihn zu holen. Worin liegt der Kern dieser Küche? Durch eine wissenschaftliche Studie im Internet. Sie hatte die Frequenz des Urknalls eruiert, sie soll 108 Hertz betragen. Diese Frequenz – ein atmosphärisches Rauschen – spiele ich mit einem handelsüblichen Lautsprecher ab und beschalle damit das Salz, das – wie alle Kristalle – Töne aufnehmen kann. Ob es den Urknall aufnimmt, kann ich nicht beweisen. Ich habe auch keine Lust dazu. Was heisst das? Es klingt so oder so etwas durchgeknallt. Sie sind besonders für Ihr Gourmetmenü bekannt. Wie würden Sie es beschreiben? Als kulinarisches und gastronomisches Gesamtwerk mit acht Gängen. Ich widme es jeweils einem Thema aus Philosophie, Kunst, Politik, Geschichte oder Technik und versuche, das Thema kochend umzusetzen. Sie ist regional. Und monokulturell. Ich verwende vor allem Produkte aus dem Entlebuch. Und ich bringe Lebensräume auf den Teller. Was in der Natur miteinander lebt, verwende ich miteinander, weil Natur alles ausgleicht, auch geschmacklich. Nennen Sie mir bitte ein Beispiel. Forellen koche ich mit Moos und Kresse vom Ufer sowie Steinen, Schwemmholz 24 Wie sind Sie darauf gekommen, Salz mit dem Klang des Urknalls zu beschallen? Schweizer Familie 31/32/2015 Es ist eine philosophische Spinnerei, die ich schön finde. Sie verändert den Geschmack des Salzes nicht, das sage ich den Gästen. Sind Sie mehr Koch oder Künstler? Immer mehr Künstler. Ich löse mich von Gelerntem und entwerfe Neues, das ich aus mir schöpfe. Wie die Persönlichkeit in der Musik eines Komponisten zu hören oder in den Bildern des Malers zu sehen ist, steckt meine Persönlichkeit in den Gerichten. andere nicht möglich, weil beide Küchen rund die Hälfte des Umsatzes ausmachen. Ist das nicht bei allen Gourmetköchen so? Für das Gourmetmenü reservieren Sie dreissig Plätze. An Wochenenden liegt die Nachfrage mehrfach höher. Wieso stocken Sie nicht auf? Nein. Viele kochen brillant, begnügen sich aber mit dem hochklassigen Handwerk. Wegen der experimentellen Küche werden Sie als Hexer bezeichnet. Mögen Sie den Namen? Er definiert nicht, was ich tue. Aber er ist kurz, markant und einzigartig, was mir als Marke nützt. Googelt man Hexer, erscheint das «Rössli» mit Foto, Karte und Internetadresse. Sie servieren im «Rössli» nebst dem Gourmetmenü auch saisonale Landküche für Einheimische, Durchreisende und Arbeiter. Wie sehen Sie diesen Spagat zwischen Altbewährtem und Neuartigem? Ich lege auf beides Wert und habe für beides dieselben Köche. Das eine wäre ohne das Weil ich dafür mehr Personal und Infrastruktur bräuchte. Mir sind aber der Kontakt zu den Gästen, die Qualität des Essens und gute Bedienung wichtiger als kurzfristiger Gewinn. Sind Sie ein besserer Koch als Geschäftsmann? Schweins-Rindswurs t ohne Darm, eingeklemmt in zwei Holzs chindeln von der Lärche. Gewürzt mit Muskat, Nelken, Salz, Pfeffer, fein gehackten Lärchennadeln In Orangensaft und Ing wer marinierte kleine Tomaten, lauwa rm Dips: Holzkohle-Senf mit Sauerrahm, caramelisierte Apfelkon fitüre Rotwein: Zweigelt vom Weingut Heidegg, Gelfingen DESSERT Mir geht wirtschaftliches DenCrème brûlée, leicht gesalzen, parfümiert ken völlig ab. Ohne meine Frau mit Buchenholz, garniert mit frittierten Buche Monika wäre ich vermutlich vernblättern und geröstete n Buchennüssen lumpt. Sie hat mir verboten, in Entlebucher Kafi fertig mit Williams und der Küche das Fleischmesser zu Zwetschgenwasser von verwenden, weil ich für die Studer Willisau Menüs zu viel abschneide. Ich neige zu Grosszügigkeit, wie schon mein Vater Hans. Er gab Salat. Er trägt eine Designeruhr am HandGästen sogar Fleisch mit nach Hause. gelenk, einen Ring des Nomadenvolks Tuareg an einem Finger und um den Hals An der Feuerstelle verfeinert Stefan Wies- ein Lederband mit einem getrockneten und ner mit den gesammelten Kräutern den lackierten Burgundertrüffel. ➳ ANZEIGE Der Sommer kommt gut. Hol dir jetzt gratis deine Bell Summer Goodies. Sammelpunkte gibt’s auf Bell Barbecue-Produkten. Das ist gut. Seit 1869. Schweizer Familie 31/32/2015 25 MENSCHEN MENSCHEN TIPP Es können auch anderes Holz und andere Blätter verwendet werden. «SCHWEIZER FAMILIE»WURST ZUM 1. AUGUST VON STEFAN WIESNER Ergibt ca. 10 Würste à 200 Gramm ZUTATEN 1 kg mageres Rindfleisch, 1 kg Hals speck vom Schwein, 3 g schwarzer Pfeffer (grob zerstossen), 0,6 g Gewürznelken (fein gemörsert), 1,2 g frisch geriebene Muskatnuss, 10 g getrocknete Zwiebeln (fein gemahlen), 3 g frische Lärchennadeln (fein gehackt), 20 dünne LärchenholzSchindeln (Baumarkt) ZUBEREITUNG 1.Fleisch durch die Scheibe 3 des Fleischwolfs drehen. Die Temperatur des Fleisches darf 5 Grad nicht überschreiten. 2.Fleischmasse mit den Gewürzen vermischen und kühl halten. 3.Holzschindeln 1 bis 2 Stunden in Wasser einweichen. 4.Brät sandwichartig zwischen die Brettchen drücken. Kühl stellen bis zum Gebrauch, allenfalls vakuumieren. 5.Holzschindel direkt in die Glut oder auf den Grill legen und unter Wenden 8–10 Minuten braten. Die «Schweizer Familie»Wurst brutzelt auf dem Grill (rechts), Stefan Wiesner schneidet das Brot. Was bedeutet dieser Anhänger? Ich fand 2013 so viele Trüffel, dass ich einige für meine Angestellten zu Schmuck verarbeitete. Den grössten Trüffel wollte niemand, deshalb trage ich ihn. Und wieso tragen Sie meistens einen Hut? Weil ich wenig Haare habe. Und weshalb schwarze Kleider? Das tue ich beruflich, weil schwarz praktisch ist: Man sieht den Schmutz nicht. Privat tragen Sie Farben? Ja, das möchte meine Frau. Farben tun der Seele gut, sie stimmen fröhlich. Weniger fröhlich war Ihr Einstieg in die Gastronomie. Das stimmt. 1989 kauften meine Frau und ich meinen Eltern das «Rössli» ab. Einige Jahre später schrieben wir rote Zahlen, und das während sieben Jahren. Wir lebten damals unter dem Existenzminimum. In unserer Not zapften wir sogar die Sparkonti der Kinder mit dem Geld von Gotti 26 Schweizer Familie 31/32/2015 «Ich setzte auf meine Stärke: Das Entlebuch in Geschmack zu übersetzen.» Zubereitungszeit Brät: 15–30 Minuten, Grillieren: 8–10 Minuten Einweichzeit Holzschindeln: 1–2 Stunden immer in Escholzmatt gelebt. Was hält Sie dort? Die schöne Natur, die Menschen, die hohe Lebensqualität. Und die Hypothek auf dem «Rössli». Was verbindet Sie mit Ihrer Frau? und Götti an, um uns über Wasser zu halten. Wie fanden Sie aus der Krise? Wir entschieden, im Gasthof auf Regio nalität und meine Stärke zu setzen, das Entlebuch in Geschmack zu übersetzen. Zuvor wollten wir es allen recht machen, krampften bis zu 16 Stunden am Tag, auch am Wochenende, während die Kinder vor dem Fernseher sassen. Litten Sie darunter? Damals nicht. Ich realisierte es vor lauter Stress nicht. Heute tut es mir leid, weil ich die verpasste Zeit mit der Familie nicht nachholen kann. Und die Kinder Amy und Joe? Sie hielten uns in der Pubertät zu Recht vor, zu wenig für sie da gewesen zu sein. Nach den Krisenjahren ging es uns allerdings finanziell gut genug, dass wir mehr Zeit mit ihnen verbringen konnten. Heute haben wir ein Superverhältnis. Ihre Eltern gaben das «Rössli» wegen Erschöpfung ab. Wieso haben Sie es übernommen? Nicht aus Freude, sondern aus Tradition. Das gehörte sich so. Was hätten Sie lieber getan? Schreiner lernen, die Kunstgewerbeschule besuchen und die Welt bereisen. Stattdessen haben Sie mit Ausnahmen weniger Lehrjahre Die Ansichten über das Leben und die Natur. Wir haben denselben Geschmack. Und was unterscheidet Sie? Monika ist genau und gewissenhaft. Sagt sie etwas, tut sie es so. Ich nicht. Sind Sie unberechenbar? Ja. Als wir mal nach Südfrankreich in die Ferien fahren wollten, bog ich aus einer Laune heraus an der ersten Kreuzung links statt rechts ab und fuhr nach Österreich. Monika stutzte natürlich. Ich konnte ihr aber irgendwie erklären, wieso es gerade gut wäre, nach Österreich zu fahren. Was ist Ihr Lieblingsduft? Ameisensäure und das Holz der Douglasfichte. Beide duften zitronig. Und was essen Sie am liebsten? Birchermüesli. Joghurt. Und Pommes frites mit Ketchup, beides selbst gemacht. Ich hätte etwas Erlesenes erwartet. Da täuschen sich viele. Gourmetköche essen so gerne Normales, wie ihre Gäste exklusive Speisen probieren. Stefan Wiesner holt die 1.-August-Würste vom Grill, die er für die «Schweizer Familie» kreiert hat. Im Grunde eine einfache Speise. Besonders wird sie durch die Würze mit den feinen Nadeln des Lärchenbaumes und durch ihre Präsentation zwischen Lärchenholz-Schindeln. Die Würste sind butterzart. Daneben stellt der Meisterkoch Holzkohle-Senf auf den Tisch und wünscht einen guten Appetit. ● 534 «Schweizer Familie»-Feuerstellen Wo die Grillplätze liegen, erfahren Sie im Internet auf einer übersichtlichen Karte inklusive Videoaufnahmen und Fotos. www.schweizerfamilie.ch/feuerstellen
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