„Ihr seid die Pioniere des gekreuzigten Heilands!“ Die Potsdamer Garnisonkirche und ihre Prediger im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg1 Reiner Zilkenat Am 10. November 1913 wurde im so genannten Langen Stall, gelegen unmittelbar hinter der Garnisonkirche, die jährliche Vereidigung des neuen Rekrutenjahrgangs der in Potsdam stationierten Garde-Regimenter vorgenommen. Es war die letzte derartige Zeremonie, bevor nur ein knappes Dreivierteljahr später der Erste Weltkrieg entfesselt wurde. Viele der versammelten Rekruten sollten, noch vor dem Ende ihrer militärischen Ausbildung, bald an den Fronten verbluten oder verwundet werden. Anlässlich des bei diesen Zeremonien stets zu leistenden Fahneneides ergriff der Hofprediger Dr. Walter Richter das Wort, zugleich Divisionspfarrer der 1. Garde-Division. Seine Ansprache wäre es wert, Ihnen ungekürzt zu Gehör zu bringen. Wegen der knappen Zeit, die mir zur Verfügung steht, möchte ich nur einige Zitate wiedergeben. Originalton Pfarrer Richter: „Noch einen Blick, ehe das Jahr 1913 scheidet, das unserem Kaiser den Silberkranz des Friedens aufs Haupt setzte, aber auch die blutigen Lorbeeren von 1813 wie in Rubinen leuchten ließ auf unseres Volkes Stirne. (…) Es muss der Herr unserem Heere voran ziehen im Leben und im Sterben. Wie es am Grimmaischen Tor bei Leipzig war: Hingemäht die Reihen der Treuen und die nächste Reihe stürmt schon hinein – hinan – hindurch. Was kümmern uns die Hügel unserer Leichen – das ist der ‚Herrengeist’, vor dem endlich der ‚Herrengeist’ eines Napoléon, der nichts kennt als das eigene Ich, den Rücken kehren muss. (…) Der Sieg ist grün, das Glück ist neu – o unsere Lust und Wonne, der deutsche Adler flieget frei im Licht der eigenen Sonne. Auch die alten Raben um Barbarossas Kyffhäuser mussten vor diesem Adlerflug zur Sonne in ihre Schlupfwinkel flüchten. Zurück, zurück mein Volk in diesen Opfergeist, wenn du vorwärts willst – und du stehst nicht am Ende, sondern am Anfang deiner Weltensaat.“ Und weiter: „Dem Gott nach, der uns in Christo heute, gestern und in Ewigkeit derselbe treue blieb. Das liegt in deinem Eide, der dich für die Zukunft, für die Ewigkeit bindet. Da unten in der Tiefe, da mögen die Sümpfe mit ihrem Gift und Morast liegen bleiben – was gehen sie uns an: Man braucht nicht im Sumpf zu waten, um zu wissen: Das ist ein Sumpf! Adlerflug vorwärts! Über alles Faule und Unsichere und Gemeine hinaus, so will ich mich als unverzagter, ehr1 Referat, gehalten auf der gemeinsam von der Martin-Niemöller-Stiftung und der Initiative „Christen brauchen keine Garnisonkirche“ am 31. Oktober 2015 in Berlin-Pankow veranstalteten Tagung „Die Garnisonkirche Potsdam: Gedenkort des Versagens – ein Ort der Versöhnung?“ Der Sprachduktus wurde beibehalten, die Anmerkungen in der Regel auf den Nachweis der Zitate beschränkt. 1 und die Pflicht liebender Soldat…in und außer Dienst beweisen bis ans Ende. Adleraugen für die Mächte, die uns und unser Volk vorwärts bringen können in der alten Treue, Adlerkrallen aber gegen die Todfeinde, die uns unser kostbarstes Erbe, deutsche Zucht und Sitte, Ehre und Frömmigkeit (man beachte die für einen Geistlichen bemerkenswerte Reihenfolge! – R.Z.) rauben wollen.“2 Die uns heute verstörende Militanz dieser Rede, die man in dieser Form wohl eher von einem im nationalistischen Denken befangenen, bornierten Offizier oder von einem Vertreter des Alldeutschen Verbandes erwartet hätte, war nicht dem Charakter des Hof- und Divisionspredigers Walter Richter allein geschuldet. Vielmehr spiegelt sie – wenn auch in zugespitzter Weise – wider, welche Aufgaben die Militärpfarrer im Kaiserreich zu erfüllen hatten, nicht zuletzt in Potsdam, der Heimstatt der 1. Garde-Division. Deshalb an dieser Stelle ein kurzes Wort zur Institution des Militärpfarrers und zu den Besonderheiten der Garnison Potsdam. Die Institution des Militärpfarrers hatte in der preußischen Armee eine lange Tradition.3 Über die Zeiten hinweg existierte es als ein probates Instrumentarium, dem Bündnis von Thron und Altar zu dienen. In der Zeit des Kaiserreiches, vor allem in der wilhelminischen Ära, erhielt es seine besondere Bedeutung durch zwei Entwicklungen: Zum einen die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft, besonders in den Großstädten, und zum anderen das unaufhaltsame Anwachsen der Sozialdemokratie, zwei miteinander durchaus verbundene Prozesse. Hier setzte die Tätigkeit der Militärpfarrer ein. Während der zwei- bzw. dreijährigen Ausbildung der Rekruten sollten sie die sich bietende Gelegenheit nutzen, um die jungen Soldaten wieder für die Kirche zurück zu gewinnen, „vaterländisches Bewusstsein“ zu schaffen und die Loyalität zum Hause Hohenzollern auszuprägen – oder sie erst zu erwecken. Mit den vorhin zitierten Worten des Divisionspfarrers Richter: Sie sollten lernen, dem „Sumpf“ und dem „Morast“ entfliehen zu können – „im Adlerfluge“. Keine leichte Aufgabenstellung. Sie wurde dadurch erschwert, dass die Rekruten, Mannschaften und Unteroffiziere vollkommen zu recht Militärpfarrer weniger als Seelsorger wahrnahmen denn als Vorgesetzte, als Offiziere. Schließlich unterstanden sie in allen, außer den unmittelbar geistlichen Angelegenheiten, dem Preußischen Kriegsministerium. Im Alltag verkehrten sie vorzugsweise im Offizierskasino, ja sie pflegten regelmäßigen Umgang in den Familien der höheren Offiziere und Kommandeure. Ich komme auf diesen Punkt bei der Skizzierung der Biographien der drei wichtigsten Pfarrer, die an der Potsdamer Garnisonkirche wirkten, noch zurück. 2 Hofprediger Richter: Zum Fahneneid. Ansprache bei der Rekruten-Vereidigung im Langen Stalle am 10. November 1913, S. 5ff. , in: Domstiftarchiv Brandenburg (Havel), Pfarrarchiv der Garnisonkirche Potsdam, Po-G 82/208. 3 Siehe hierzu das Standardwerk von Hartmut Rudolph: Das evangelische Militärkirchenwesen in Preußen. Die Entwicklung seiner Verfassung und Organisation vom Absolutismus bis zum Vorabend des 1. Weltkrieges. Mit einem dokumentarischen Anhang, Göttingen 1973. 2 Der Feldpropst der preußischen Armee, der geistliche Vorgesetzte der Militärpfarrer, hatte diese Probleme durchaus erkannt. In einer als geheim klassifizierten Denkschrift vom 18. September 1890, die er an seine Amtsbrüder in der Armee sandte, umriss er die Probleme der Seelsorge in der Armee, die sich bis zum Ende des Kaiserreiches grundsätzlich nicht wesentlich verändern sollten, mit außerordentlich bildhaften, ja dramatisch klingenden Worten. „Die Sozialdemokratie wächst als eine Giftblume des Rationalismus und Materialismus aus dem Boden eines sittlich-religiös erkrankten, von dem Urquell allen Lebens sich abwendenden Volkes empor, und diese Giftblüte möchte nach allen Seiten hin ihren nur Verderben und Auflösung bewirkenden Saft…auch auf die Armee abschütteln.“ Weiterhin heißt es: „Da aber die Armee die große Pulsader der Nation ist, und man an dem Geist, der in sittlichreligiöser Hinsicht in derselben herrscht, den Geist unseres Volkes bemessen kann, wäre es falsch, die Armee als solche für etwa eingetragene Irrlehren, sittliche Schäden, ja Umsturzbestrebungen verantwortlich zu machen, vielmehr muss der ruhige Betrachter an derartigen Vorkommnissen in erster Linie nur ernste Symptome von Krankheiten des ganzen Volkslebens erkennen.“4 Welche Therapien schlägt der Feldpropst vor? Insgesamt fünf Vorschläge werden von ihm unterbreitet, um Abhilfe zu schaffen oder das Ausmaß der von ihm geschilderten Zustände zumindest zu mildern.5 Erstens das Wort Gottes zu predigen, „ein Hammer, der auch Felsen zerschmeißt“, zweitens auch mit Hilfe einer „frischen, lebendigen, volkstümlichen“ Predigt Patriotismus zu vermitteln; drittens Besuche in seelsorgerischer Absicht vor allem bei Rekruten durchführen. Zum Beispiel gelte es nach einem Soldatensuizid den Kameraden des Selbstmörders die Erkenntnis zu vermitteln, dieser habe eine Sünde begangen; viertens die Gründung von Offiziers-Frauenvereinen zu initiieren, die sich auch den Mannschaften zuwenden könnten und fünftens sollten die Militärgeistlichen durch eine bescheidene Lebensführung in ihren Haushalten den Soldaten als Vorbilder dienen. Die Lebensfremdheit dieser Vorschläge wirkt geradezu grotesk. Sie waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Worin bestand nun die Spezifik der Militärseelsorge in Potsdam? Sicherlich in der ganz unmittelbaren räumlichen Nähe zum Deutschen Kaiser und König von Preußen wie der Hohenzollern-Familie. Patron der am 17. August 1732 geweihten Garnisonkirche, die als Weihe- und Erinnerungsstätte eine Gruft mit den Sarkophagen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. sowie zahlreiche erbeutete Fahnen und Standarten aus dem Befreiungskriegen sowie aus den Feldzügen von 1864, 1866 und 1870/71 zur Erinnerung an „glanzvolle“ Zeiten des preußischen Militärs aufwies, war kein Geringerer als der jeweils regierende Monarch. Er hatte letztlich die in Potsdam amtierenden Militär- und 4 Der evangelische Feldpropst der Armee: Die besonderen Pflichten der evangelischen Militär-Geistlichen gegenüber den sozialen Aufgaben der Gegenwart (Geheim!), S.1f., in: Domstiftarchiv Brandenburg, Pfarrarchiv der Garnisonkirche Potsdam, Po-G 12/196. 5 Das Folgende: ebenda, S.2ff. 3 Garnisonkirchenpfarrer, von denen einer zugleich die kleine Zivilgemeinde betreute, die vor allem aus Hofbediensteten bestand, zu bestimmen. Sie waren nicht nur der Seelsorge für die 1. Garde-Division verpflichtet, sondern sie pflegten, wie wir noch sehen werden, nicht selten privaten, mitunter fast freundschaftlichen Umgang mit dem Herrscherhaus, für das sie auch als Pfarrer bei Taufen, Konfirmationen und anderen Anlässen amtierten. Bei nicht wenigen Gottesdiensten waren Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses, bei Aufenthalten in Potsdam auch das Kaiser- und Königspaar in der Garnisonkirche anwesend. Sie saßen – nicht nur in übertragendem Sinne – bei den Herrschenden zu Tische und sie redeten in ihrer Sprache. Die Einheit von Thron und Altar manifestierte sich hier in einer sehr unmittelbaren, sinnlich erfahrbaren Weise. Ich möchte an dieser Stelle die Biographien dreier bedeutende Pfarrer skizzieren, die an der Potsdamer Garnisonkirche wirkten, zwei von ihnen auch in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Ich beginne mit Dr. Bernhard Rogge, dessen Biographie ich etwas ausführlicher darstellen möchte. Rogge wurde am 22. Oktober 1831 als Sohn eines Pfarrers in Groß Tinz in Schlesien geboren. Am 21. September 1862 erfolgte in Anwesenheit von König Wilhelm I., des Kronprinzen sowie anderer Mitglieder des Hauses Hohenzollern seine feierliche Amtseinführung als Garnisonpfarrer in Potsdam. Zuvor hatte er bereits in gleicher Funktion in Koblenz gewirkt. Für Rogges Berufung in dieses exponierte Amt in jungen Jahren – er zählte nur knapp 31 Jahre – dürfte sich positiv ausgewirkt haben, dass es sich bei ihm um den Schwiegersohn des Feldpopstes der preußischen Armee, Dr. Thielen, sowie um den Schwager des Kriegsministers und späteren Generalfeldmarschalls Albrecht von Roon handelte. Rogge fand schnell die Sympathien des Königs und die Freundschaft des Prinzen Friedrich Carl, mit dessen Familie er regelmäßig verkehrte. Als Teilnehmer an den Feldzügen von 1866 und 1870/71, den so genannten Einigungskriegen, erwarb er auf Befehl des Königs das Eiserne Kreuz und erlebte am 18. Januar 1871 den Höhepunkt seiner Laufbahn als Militärpfarrer. Auf ausdrücklichen Wunsch Wilhelms I. hielt er in Versailles im Angesicht der versammelten Fürsten des Deutschen Reiches, des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, des Generalfeldmarschalls Grafen Moltke und anderer hoher Militärs die Predigt anlässlich der Gründung des Deutschen Reiches, das soeben erworbene Eiserne Kreuz am Talar. Rogge war sichtlich beeindruckt! Wilhelm I., „der mächtigste protestantische Fürst der Welt“ hatte auf dem Sessel Platz genommen, „der einst den Thron des Sonnenkönigs zierte, das alles war an sich schon eine gewaltige Predigt“6 – so beschrieb er in seinen Kriegsmemoiren „Bei der Garde“ die Szenerie. Seine Predigt stellte er unter das Motto: „Der Herr hat Großes an uns getan, des sind 6 Bernhard Rogge: Bei der Garde. Erlebnisse und Eindrücker aus dem Kriegsjahre 1870/71, Hannover 1895, S.116. 4 wir fröhlich“. Und er interpretierte die Reichsgründung „von oben“ im Sinne einer Erfüllung der vermeintlich göttlichen Pläne zugunsten des Hauses Hohenzollern: „In dem Werke, das sich vor unsern Augen vollziehen soll, sehen wir das Ziel erreicht, auf das Gottes Vorsehung in der Geschichte unseres Vaterlandes und Königshauses seit jener Krönung in Königsberg (gemeint ist die Krönung des Kurfürsten Friedrichs III. von Brandenburg zum König Friedrich I. in Preußen am 18. Januar 1701 – R.Z.), derer wir heute gedenken, uns hingewiesen hat.“7 Und weiter: „Wir sehen das Deutsche Reich wieder auferstehen in alter Herrlichkeit, ja in einer Macht und Größe, die es nie zuvor besessen hat, sehen dem Deutschen Reiche seinen Kaiser wiedergegeben und dürfen als solchen einen König begrüßen, dessen greises Haar mit frischen Lorbeerkränzen geschmückt ist, in denen wir die ruhmvollen Zeiten der deutschen Vergangenheit erneuert, ja übertroffen sehen.“8 Und er endete mit den Worten: „Allmächtiger, barmherziger Gott, Herr der Heerscharen! Ziehe ferner in Gnaden aus mit den deutschen Heeren und segne ihre Waffen zur völligen Überwindung des Feindes.“9 Wilhelm I. standen – nach Rogges Erinnerung – tief ergriffen „die Tränen in den Augen“.10 Allerdings stieß die Predigt des Potsdamer Garnisonpredigers nicht nur auf Zustimmung. Vor allem Kronprinz Friedrich, der spätere „99-Tage-Kaiser“, kritisierte die Überhöhung der von Rogge in Anspruch genommen historischen Rolle des Hauses Hohenzollern. Dessen ungeachtet: Von nun an war Bernhard Rogge, dessen Versailler Predigt in den Zeitungen und anderen Publikationen sowie in Sammlungen von Quellen zur „Reichsgründung“ immer wieder verbreitet wurde, eine weit über Potsdam hinaus bekannte Persönlichkeit. Ein besonderes Ereignis stellte für den Prediger der 1. Garde-Division der Einzug zu Pferde mit den siegreichen Truppen in Potsdam und Berlin dar, wo ihn seine Konfirmandinnen bereits erwarteten und mit Blumen überschütteten bzw. wo er durch das Brandenburger Tor ritt, an dessen der Strasse Unter den Linden zugewandten Seite das Transparent mit der Aufschrift prangte: „Welch eine Wendung durch Gottes Fügung“.11 Rogge war in den Jahren danach darum bemüht, in zahlreichen Publikationen den Ruhm des Hauses Hohenzollern und seiner Kurfürsten, Könige und Kaiser zu verbreiten. Es handelte sich dabei ausschließlich um hagiographische Studien, wie z.B. sein Buch „Das Kaiserpaar – Für das deutsche Volk und Heer, für Schule und Haus“, das er 1906 veröffentlichte. Seine fast sechshundert Seiten starke Darstellung mit dem Titel „Das Buch von den preußischen Königen“, das 1895 in erster Auflage erschienen war, wurde übrigens vor nicht allzu langer Zeit in einem Wolfenbütteler Verlag nachgedruckt.12 Einen 7 Ebenda, S.123. Ebenda. 9 Ebenda, S.124. 10 Ebenda, S.125. 11 Siehe ebenda, S. 12 Bernhard Rogge: Das Buch von den preußischen Königen, Hannover 1895, Reprint Wolfenbüttel o.J. (etwa 2000). 8 5 Karriereknick erlitt Rogge, als er nicht zum Nachfolger seines Schwiegervaters als Feldpropst der preußischen Armee ernannt wurde. Er trat deshalb 1889 zwar als Militärpfarrer zurück, verblieb jedoch als ziviler Hofprediger im Amt, bis er im September 1906, nach 44 Dienstjahren, in den Ruhestand trat. Und der Erste Weltkrieg? Er sieht den über Achtzigjährigen wieder auf der Kanzel bzw. als Prediger unter freiem Himmel. Am 2. September 1914, dem Jahrestag des Sieges der deutschen Truppen bei Sedan 1870, hatte Rogge, zutiefst überzeugt vom scheinbar unmittelbar bevorstehenden Sieg der deutschen Waffen gegen Frankreich, im Lustgarten zu Potsdam, eine vor nationalistischen und militaristischen Tiraden triefende Ansprache vor großer Zuhörerschaft gehalten. Hier war u.a. der „heilige Krieg“, den Deutschland „als einen aufgezwungenen Krieg“13 führe, sein Thema. Er habe „den deutschen Michel aus dem Schlafe geweckt und in einen vom Haupt bis zu den Zehen mit Wehr und Schild ausgerüsteten, in heiligem Zorn entbrannten Michael verwandelt.“14 Und am Ende durfte die servile Referenz vor dem Kaiser nicht fehlen: „Ihm und seiner Fürsorge haben wir’s zu danken, dass unser Heer so gerüstet dasteht, dass es zum Schrecken der Feinde geworden ist, dass unsere Marine auch dem Kampfe mit einer ihr doppelt überlegenen Seemacht mit freudigem Todesmute entgegensieht. Ihm darum das erneute Gelübde unserer Treue, ihm unser Gruß ins Feldleger“; er sei, so frohlockte Rogge, „schon heute der Siegreiche“.15 Am 2. Weihnachtsfeiertage des Jahres 1914 wählt der greise Hof- und Garnisonprediger a.D. eine offen aggressive, ja chauvinistische Tonlage. Das deutsche Volk erscheint hier geradezu als das „auserwählte Volk“ Gottes: „Aber den Glauben wollen wir uns nicht nehmen lassen, dass Gott auch durch die Schrecken dieses Krieges etwas Besonderes aus unserem Volk machen will, dass unserem deutschen Volke Aufgaben gestellt sind, die kein anderes wie das unsere zu erfüllen berufen ist, und dass, wenn Gott in einem Kriege den wir nicht gesucht und gewollt haben, uns in solch einen Kampf stellt, wie wir ihn täglich erleben, und wenn er ihm verleiht, solche Taten zu vollbringen, wie unsere Heere und die mut uns Verbündeten sie vollbracht haben, er mit solch einem Volke noch besondere Dinge vorhaben muss.“16 Man habe das Recht zu der Überzeugung, „dass der Kampf, in dem wir für den Fortbestand des Deutschen Reiches, für die Ehre und Wohlfahrt des deutschen Volkes stehen, zugleich ein Kampf für das Reich Gottes ist.“17 Das deutsche Volk sei „ein 13 Bernhard Rogge: Sedanrede. Gehalten bei einer Volksfeier am Abend des Sedantages im Hofgarten in Potsdam, in: Ein feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit, hrsg. von Bruno Doehring, I, Bd., Berlin 1914, S.169. 14 Ebenda. 15 Ebenda, S.170. 16 D. Rogge: Lasset uns gehen gen Bethlehem. Weihnachtspredigt, gehalten am 2. Weihnachtsfeiertag 1914 in der Potsdamer Garnisonkirche, in: Ein feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit, hrsg. von Bruno Doehring, II. Bd., Berlin 1915, S.177. 17 Ebenda. 6 Segen für die Welt, ein Träger und Bringer echter, christlicher und zugleich echt menschlicher Kultur“, es sei „ein Salz für die Erde, ein Licht für die Welt“. 18 Bernhard Rogge trug schwer an der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Die Stadt Potsdam war ihm fremd geworden. Mit den neuen politischen Verhältnisse vermochte er sich verständlicher Weise nicht anzufreunden. Er verließ die Stadt, in der er jahrzehntelang gepredigt hatte und zog an die Ostsee nach Scharbeutz, wo er am 9. August 1919 verstarb. Sein Begräbnis fand vier Tage später in Potsdam auf dem Alten Kirchhof statt, die Trauerfeier unmittelbar davor, in der bis auf den letzten Platz gefüllten Garnisonkirche. Das im holländischen Exil lebende Kaiserpaar hatte einen Kranz weißer Rosen geschickt. Angehörige des Garde-Jäger-Bataillons hielten die Totenwache, Fahnen des 1. Garde-Regiments zu Fuß hatten mit entrollten Fahnen „am Haupte des Sarges“ Aufstellung genommen, die Honoratioren der Stadt, zu deren Ehrenbürger er zählte, waren erschienen. Der Hofprediger Walter Richter, wir hörten eingangs Auszüge aus seiner Ansprache zur Rekruten-Vereidigung sechs Jahre zuvor, hob in seiner Gedächtnisrede hervor: „Niemals habe Bernhard Rogge ausgesprochen, als wie jetzt mit seinen toten Lippen: ‚Eure Sünde hat mir das Herz gebrochen, und mir Potsdam zu einer fremden Stadt gemacht, denn ohne Kaiser ist Potsdam nicht mehr mein Potsdam’.“19 Wohl kein anderer Geistlicher, der von der Kanzel der Garnisonkirche predigte, verfügte über den Bekanntheitsgrad eines Bernhard Rogge, der Generationen von Soldaten das „Bündnis von Thron und Altar“ nahe zu bringen versucht und der sein Leben aufs engste mit dem Schicksal des Hauses Hohenzollern verknüpft hatte – und wie dieses am Ende gescheitert war. Beim zweiten Geistlichen der Garnisonkirchen-Gemeinde, zu dessen Biographie ich einige Bemerkungen formulieren möchte, handelt es sich um Dr. Johannes Vogel. Er wurde, beinahe vierzigjährig, im Februar 1912 an die Garnisonkirche berufen und erhielt den Titel eines Hofpredigers verliehen.20 Als Militärpfarrer hatte er seit 1903 Erfahrungen gesammelt, vor allem als Divisionspfarrer in Flensburg. Der Feldpropst der preußischen Armee charakterisierte Johannes Vogel in einem Schreiben an den Chef des Militär-Kabinetts vom 16. Februar 1912 mit den Worten: „In ihm vereinigt sich der überzeugungsvolle Theologe mit dem begeisterten Soldaten.“21 Vogels Stunde schlug im Ersten Weltkrieg. Als Feld-Divisions-Pfarrer der 1. Garde-Kavallerie-Division war er vom ersten Kriegstage bei der kämpfenden Truppe Zeuge der Kampfhandlungen an den Fronten. 18 Ebenda, S.178. Potsdamer Tageszeitung, Nr. 189, 14.8.1919, Beilage, S.1: Die Begräbnisfeier für Hofprediger D. Rogge, in: Domstiftarchiv Brandenburg (Havel), Pfarrarchiv der Garnisonkirche Potsdam, Po-G 225/162. 20 Siehe Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76 III Sekt. 1 Abt. XII Nr.34, unfol.: Schreiben des Kriegsministers an den Preußischen Minister für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 16.2.1912. 21 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 5101/22382, Bl.9. 19 7 Im April 1918 gelang ihm ein großer Karrieresprung: Er wurde der evangelische Feldgeistliche im kaiserlichen Großen Hauptquartier. Eine Funktion, die nicht ohne das ausdrückliche Einverständnis, wenn nicht die Initiative des Kaisers denkbar gewesen wäre, zu dessen engster Umgebung er fortan gehörte. Die Vermutung liegt nahe, dass Vogel bei seinem nur zweijährigen Wirken an der Garnisonkirche bei Seiner Majestät einen außerordentlich positiven Eindruck hinterlassen haben muss. Vogel erfreute sich bald der Allerhöchsten Huld und wurde im Hauptquartier sogar zu Vier-Augen-Gesprächen und zu Tische gebeten, wenn sich ausländische Staatsgäste angesagt hatten, wie zum Beispiel Kaiser Karl von Österreich. Als das Ende der Hohenzollern-Herrschaft nahte, war Vogel an der Entwicklung zweier Projekte beteiligt, die diesen Prozess aufhalten bzw. den Kaiser einen sicheren Aufenthalt in Deutschland verschaffen sollten. Zum einen schlug er dem Vizepräsidenten des Oberkirchenrates der altpreußischen Landeskirche, Friedrich Lahusen, in den ersten Tagen des November 1918 vor, dass „von der obersten protestantischen Kirchenbehörde ein Rundschreiben an die Gemeinden über die Königstreue gesandt werde.“22 Zugleich sei eine Ergebenheitsadresse protestantischer Pfarrer an den Kaiser zu richten. Offenbar waren diese Projekte im Verlaufe eines Gesprächs zwischen Wilhelm II. und Johannes Vogel erdacht worden. Der katholische Kollege Vogels, Kaplan Ludwig Beck, reiste sogleich zu Felix Kardinal Hartmann, dem Erzbischof von Köln, um zu erfahren, ob gleiches auch von Seiten der katholischen Kirche initiiert werden könnte. Kardinal Hartmann besaß jedoch weitaus mehr Realismus als der Garnisonkirchen-Prediger. Er reagierte auf die Pläne des Kaisers und seines protestantischen Pfarrers im Großen Hauptquartier mit den Worten: „Es ist jetzt zu spät!“23 Zum anderen war Vogel in die Planungen einbezogen, dem Kaiser heimlich eine sichere Unterkunft, irgendwo in Ostpreußen oder im Baltikum, zu verschaffen. Wilhelm II. im Exil – das müsste unbedingt verhindert werden. Auch dieses Vorhaben zerplatzte angesichts der Realitäten der Revolution wie eine Seifenblase. Johannes Vogel kehrte nach Potsdam an die Garnisonkirche zurück. Im Gegensatz zu Bernhard Rogge, der am Ende seines Lebens resignierte, war Vogel, auch wegen seines deutlich jüngeren Lebensalters von damals 46 Jahren, nicht geneigt, sich mit der neuen Ordnung zu arrangieren oder ihre Existenz resignierend in Kauf zu nehmen. Vielmehr betätigte er sich fortan bis zu seinem Tode am 19. Februar 1933 aktiv am Versuch der Wiederherstellung der Hohenzollern-Monarchie bzw. an der Zerstörung der Weimarer Republik. Der Garnisonkirchen-Pfarrer stand am Ende des Krieges und in den Wochen nach seiner Beendigung in engem Kontakt zur Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die in Berlin zu den Exponenten der gegenrevolutionären Kräfte zählte. Sie 22 „Pro Fide et Patria!“ Die Kriegstagebücher von Ludwig Berg 1914/18. Katholischer Feldgeistlicher im Gro0en Hauptquartier Kaiser Wilhelms II. Hrsg. von Frank Becker u. Almut Kriele, Köln u.a. 1998, S.777f. (Schreiben Bergs an den katholischen Feldpropst Dr. Joeppen vom 4.11.1918). 23 Ebenda, S.778 (Eintragung über einen Besuch bei Kardinal Hartmann, 4.11.1918, abends). 8 zeichnete verantwortlich für die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und war bei den „Märzkämpfen“ 1919 durch ihr besonders grausames Handeln hervorgetreten. Major Freiherr von Autenried, der Kommandeur des „Ost-Bataillons“ der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, bedankte sich am 28. März 1919 bei Vogel für dessen „von Herzen gekommene und zu Herzen gegangene Predigt“ anlässlich der Gedächtnisfeier „zu Ehren der Gefallenen der Division“ bei den Märzkämpfen in Berlin-Lichtenberg. „Wahrlich“, so schreibt von Autenried, „hätte man gewünscht, diese Empfindung hörte ich vielfach, dass ganz Berlin und namentlich unsere irregeleiteten Widersacher ihren Worten gelauscht hätten! (…) Der Hinweis auf das Fenster, aus dem einst ein gütiges Auge auf uns nieder schaute, das uns Glück und Segen, Ordnung und Frieden im Lande brächte und das Fenster zum Allerhöchsten im Himmel – das waren goldene Worte! Mit kameradschaftlichen Gruß. Autenried.“24 Nur wenige Tage zuvor war Autenried bei Vogel vorstellig geworden, um eine finanzielle Unterstützung der Garnisonkirchengemeinde für den Deutschen Pfadfinderbund einzuwerben. Auch hier gibt es den Bezug zu den Märzkämpfen, denn „die Pfadfinder haben sich auch während der Unterdrückung der Unruhen in Berlin (gemeint sind hier wiederum die Märzkämpfe-R.Z.) im Ordonanz- und Botendienst freiwillig gestellt und auch gut bewährt. Jeder Helfer darf das Bewusstsein in sich tragen, an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes mitzuarbeiten.“25 Ob es zu einer Zahlung der Gemeinde oder aus Vogels privaten Einkünften an den Pfadfinderbund kam, geht aus den Akten nicht hervor. Kurz darauf verließ Johannes Vogel die Garnisonkirche, um zukünftig als Seelsorger an der Potsdamer Friedenskirche zu wirken. Seinem jetzt im holländischen Exil lebenden Kaiser und König blieb er stets in Treue verbunden. Am 5. November 1922 vollzog er hier die kirchliche Trauung Wilhelms II. mit seiner zweiten Ehefrau Hermine, geborene Prinzessin Reuß.26 Als dritten bedeutenden Geistlichen, der an der Potsdamer Garnisonkirche wirkte, sei von Johannes Kessler die Rede. Geboren am 8. Mai 1865 in thüringischen Köstritz als Kind eines Pfarrers, Studium der Theologie in Berlin, wurde ihm aufgrund einer Empfehlung seines „väterlichen Freundes“, des Berliner Ober-Hofpredigers Kögel, im Jahre 1888 das Amt eines zivilen Erziehers der Söhne des soeben als Nachfolger Friedrichs III. inthronisierten Kaisers Wilhelms II. und seiner Gattin, Kaiserin Auguste Viktoria übertragen. Von nun an logierte der junge Theologe in den Schlössern in Berlin und Potsdam, wo er von einem Lakaien bedient wurde, begleitete die Familie auf 24 Brief von Major Freiherr von Autenried, Palast-Hotel Berlin, 28.3.1919, an ungenannten Empfänger (wahrscheinlich Pfarrer Johannes Vogel), in: Domstiftarchiv Brandenburg (Havel), Pfarrarchiv der Garnisonkirche Potsdam, Po-G 83/213, unfol. 25 Brief des Deutschen Pfadfinderbundes-Beirat Major Freiherr von Autenried-Charlottenburg, 21.3.1919, an einen namentlich nicht genannten Hofprediger (wahrscheinlich Pfarrer Johannes Vogel), in: Domstiftarchiv Brandenburg (Havel), Pfarrarchiv der Garnisonkirche Potsdam, Po-G 403/90, unfol. 26 Siehe Kraft und Sehnsucht. Predigten von Hofprediger Dr. Vogel, Bd. I, Berlin o.J., S.95ff. 9 Reisen und bei Kuraufenthalten und hatte somit täglich engen Kontakt zum Kaiserpaar sowie den ihm anvertrauten Prinzen, darunter dem Kronprinzen. Kessler erfreute sich höchster Wertschätzung, wovon auch die Verleihung des Königlichen Kronenordens an den erst Vierundzwanzigjährigen Zeugnis ablegte – ein vollkommen ungewöhnlicher Vorgang. Der Prinzenerzieher beschloss jedoch, eine theologische Karriere zu absolvieren und nahm seinen Abschied vom Hofstaat Wilhelms II. Er blieb allerdings in der unmittelbaren Nähe des Monarchen und seiner Familie. Denn er wurde 1893 als Garnisonprediger nach Potsdam berufen und erhielt zusätzlich am 21. Mai 1898 den Titel eines Hofpredigers27; eine Stellung, die er bis zum Jahre 1907 inne hatte, als er an die Lukaskirche nach Dresden wechselte. Kessler war ein „schneidiger“ Prediger, dessen Ansprachen bei Rekrutenvereidigungen, Jubiläumsfeiern und anderen derartigen Anlässen höheren Ortes sicherlich viel Anklang fanden. In seinen Memoiren schreibt er rückblickend über seine Jahre als Pfarrer an der Garnisonkirche: „Mit stolzer Freude denke ich an diese glücklichste Periode meines Lebens zurück…Wohl bei keinem Gottesdienste hat mich das Bewusstsein verlassen: du stehst auf besonders geweihtem Boden. Hier, dem Altar gegenüber auf dem schlichten, roten Sessel saß so oft die Königin Luise neben dem König…(…) Hier zu deinen Füßen unter der Kanzel der große König, der das unsterbliche Wort sprach: ‚Es ist nicht nötig, dass ich lebe; es ist nur nötig, dass ich meine Pflicht tue.’ Mit jugendlicher Begeisterung…diente ich vor allem meiner großen Soldatengemeinde. Es war stets für mich ein erhebendes, aber zugleich auch verantwortungsschweres Gefühl, an so vielen deutschen Jünglingen und Männern Seelsorge treiben zu dürfen. (…) Wie manche Hunderttausende sind von mir in den Jahren vereidigt, in Kasernenstunden belehrt, in Gottesdiensten erbaut, in Lazaretten besucht und im Soldatenheim gesammelt worden. Diese Männergemeinde hat mich immer wieder verpflichtet, ein freudiges, männliches, heldisches Christentum zu predigen.“28 Mit diesen Anschauungen schien Johannes Kessler der rechte Mann zu sein, um Soldaten mental auf bevorstehende Feldzüge vorzubereiten. Seine diesem Zwecke gewidmeten Ansprachen – das Wort „Predigt“ will in diesem Zusammenhang nur schwer über die Lippen – hatten es in sich. Als im Juli des Jahres 1900 die nach China aufbrechenden Soldaten in der Garnisonkirche zur Niederschlagung des so genannten Boxeraufstandes verabschiedet wurden, formulierte Kessler die folgenden Gedanken: „Seid ihr bereit zum Kampfe und bereit, gegebenenfalls auch zum Sterben? Ihr sollte der starke Arm sein, der das Gericht über die Mörder verhängt. Ihr sollt die gepanzerte Faust sein, die hinein fährt unter die feigen Meuchelmörder. Der tausendjährige Kampf zwischen Morgen- und Abendland ist wieder ausgebrochen, es gilt nicht nur die Glieder der Kultur, sondern auch den europäischen Handel, die Fahne, die über unseren 27 Siehe Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76 III Sektion 13 Abt. XX Nr. 31 Bd. 10, unfol.: Allerhöchster Erlass vom 21.5.1891. 28 Johannes Kessler: Ich schwöre mir ewige Jugend, Leipzig 1935, S.203. 10 Kolonien schwebt, zu schützen! Völker Europas, wahret die heiligsten Güter. Ihr seid aber auch die Streiter Gottes, die nicht ruhen dürfen, bis sein heiliges Wort für alle Völker gilt. Nicht Friede darf werden auf Erden, bis das heilige Evangelium der Glaube aller Völker ist. Ihr seid die Pioniere des gekreuzigten Heilands! Darum Hand an das Schwert! (…) Es schaut auf euch der heilige Gott. Seid männlich und stark, wenn es hinein geht in die Schlacht. Seid männlich und stark, wenn die Kugeln um euch sausen, und seid männlich und stark, wenn der Tod einst naht, denn ihr werdet dann die Krone des Lebens empfangen.“29 Der Berichterstatter des „Potsdamer Intelligenz-Blattes“ gab zu Protokoll, dass die Versammelten „hoch ergriffen“ von den „stärkenden und zugleich tröstenden und doch wiederum so anfeuernden Worten des Geistlichen“30 gewesen seien. Kessler bemühte sich, Soldaten in kleineren Gesprächsgruppen zu motivieren, ihre Sorgen und Nöte offen auszusprechen und miteinander zu diskutieren. Er richtete sogar ein „Soldatenheim“ mit Hilfe einer Spende des Kaisers und hoher Offiziere ein, das mit seinen Veranstaltungen nicht zuletzt davon abhalten sollte, fragwürdig erscheinende Lokale und Etablissements im nahen Berlin zu besuchen.31 Allerdings darf bezweifelt werden, ob die gleichfalls von Kessler in den Wintermonaten organisierten „Kasernenstunden“ und die Veranstaltungen im „Soldatenheim“ auf die Interessen, Nöte und Anliegen der Rekruten und einfachen Soldaten eine Antwort geben konnten. Hier wurden u.a. behandelt: „Die Wahlsprüche der Hohenzollern“, „Sittlichkeitsfragen“, „Berühmte Feldherren“, „Soldatische Tugenden“ und „Der Selbstmord“.32 1907 war es mit Kesslers Karriere als Hof- und Garnisonkirchenprediger vorbei. Er folgte in jenem Jahr einem Ruf auf die Pfarrstelle der Lukaskirche in Dresden, nachdem ihm sein Hausarzt eine „ruhigere“ Tätigkeit als die an der Potsdamer Garnisonkirche dringend empfohlen hatte. So wurde aus dem preußischen Prediger jetzt ein im Königtum Sachsen wirkender Theologe, nicht zuletzt nach einem Gespräch mit dem damaligen Dresdner Superintendenten Otto Dibelius.33 Seiner militaristischen und nationalistischen Gesinnung blieb er jedoch treu, was eine kleine Sammlung seiner im Jahre 1914 gehaltenen Kriegspredigten beweist.34 Ich komme zum Schluss: Die Potsdamer Garnisonkirche als Immediatkirche des Königs von Preußen und die hier wirkenden Geistlichen, von denen ich Ihnen drei in der gebotenen Kürze vorstellen konnte, hat in den Jahren von den so genannten Einigungskriegen bis zum Ersten Weltkrieg eine exponierte Rolle bei der Konditionierung junger 29 Potsdamer Intelligenz-Blatt, Nr. 173, 26.7.1900, 1. Beilage, S.1: Potsdams Scheidegruß dem ostasiatischen Reiter-Regiment. 30 Ebenda. 31 Siehe Johannes Kessler: Ich wünsche mir ewige Jugend, S.208f. 32 Siehe ebenda, S.207. 33 Siehe ebenda, S. 306ff. 34 Siehe Durch Gott zum Sieg. Zweite Sammlung von Predigten und Ansprachen in den Kriegstagen 1914 gehalten von J. Kessler, 2. Auflage, Dresden 1914. 11 Rekruten und Soldaten, für bevorstehende Kriege gespielt. Der spezifische genius loci mit der Königsgruft und den insgesamt 150 Fahnen und Standarten der dänischen, österreichischen und französischen Armee fand nicht seinesgleichen in Preußen. In der Garnisonkirche wurden bis in den 1. Weltkrieg hinein die in den Krieg hinausziehenden Soldaten gesegnet und ihnen versichert, auf den Schlachtfeldern als „Krieger Gottes“ zu agieren. Nationalismus und Militarismus waren die Ingredienzien der hier gehaltenen Ansprachen, für die, ich wiederhole es, der Begriff „Predigt“ nicht passend erscheinen will. Rogge, Vogel und Kessler – sie waren wichtige Exponenten der „geistlichen Leibgarde“ des Königs, des Hauses Hohenzollern und der Militärkaste, die das Schicksal des Landes auch in Zeiten der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft nach wie vor wesentlich bestimmten. Wer über die Frage des Wiederaufbaus der Potsdamer Garnisonkirche diskutiert, täte gut daran, alles dies in angemessener Weise zu bedenken. Das Bauwerk, um das es geht, lässt sich nur schwer von den Traditionen trennen, die in ihm sinnlich erfahrbar waren; Traditionen, die von seiner Kanzel vermittelt wurden von Theologen, deren Aussagen durchaus anschlussfähig waren für die später von den „Deutschen Christen“ propagierten menschenverachtenden Tiraden. Nicht nur der 30. Januar, sondern auch der 21. März 1933, der „Tag von Potsdam“, so scheint es, hat eine lange Vorgeschichte. 12
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