NAR‐Seminar 18. Juni 2015 Wo ist der Patient? Menschen mit Demenz – eine Herausforderung für die Klinik und ihre Mitarbeitenden Dr. Marion Bär Prozessberatung, Bildung und Evaluation für Altenhilfe und Gesundheitswesen Kompetenzzentrum Alter am Institut für Gerontologie Heidelberg Bildquelle: http://blog.miteinander‐leben.de/wenn‐die‐weglauftendenz‐zum‐ problem‐wird/ Wo ist der Patient? „Dass Menschen mit Demenz die Station verlassen könnten und sich verlaufen, belastet mich stark“ „Dass Menschen mit Demenz unbeaufsichtigt aufstehen könnten und stürzen könnten, belastet mich stark“ Pflegethermometer 2014 (Isfort et al., 2014) 1844 befragte Abteilungs‐/Stationsleitungen Mit einer Demenz …. kommen viele Patienten ins Akutkrankenhaus ‐> Durchschnittlicher Anteil: etwa 23% (Isfort et al. 2014) ‐> Prävelenzunterschiede zwischen unterschiedlichen Fachbereichen Wegen einer Demenz ….. dagegen nur wenige ‐> 0,2% der Hauptdiagnosen in dt. Krankenhäusern entfallen auf Demenzerkrankungen (Stat. Bundesamt 2010) • Patienten mit Demenz sind kein homogenes Patientenkollektiv • häufig liegt bei Aufnahme keine gesicherte Demenzdiagnose vor Ein Krankenhausaufenthalt– Für Menschen mit Demenz häufig eine Krisensituation Hintergrundfaktoren: •Demenzbedingte Beeinträchtigungen (Gedächtnis, Orientierung, Urteilsfähigkeit) • zusätzlich z.B. • Kommunikationsprobleme, störanfälliger Tag‐/Nachtrhythmus • Sensorische Beeinträchtigungen • Beschwerden, die zum Krankenhausaufenthalt führen Akute Stressoren: • fremde Umgebung • fremde Personen, Fehlen von Bezugspersonen • körperliches Unwohlsein (z.B. Schmerzen, erlebte Einschränkungen) • psychische Reaktionen: Stress, Angst, Verunsicherung etc. Vgl. Need driven dementia‐compromised behaviour model (Algase et al. 1996) Risiken für Patienten mit Demenz im Krankenhaus • Herausforderndes Verhalten tritt häufig auf oder verstärkt sich • Erhöhtes Risiko, im Krankenhaus ein Delir zu entwickeln • Risiko, Einschränkungen der Autonomie zu erleiden (Sedierung, Fixierung) • Bei „unauffälligen“ Patienten: kognitive Beeinträchtigungen werden oft nicht erkannt, die Genesung kann sich verzögern • Erhöhte Verweildauer, Verzögerung der Entlassung Langfristig: • Gefahr dauerhafter Verschlechterung der Restkompetenzen zur Alltags‐ und Lebensgestaltung • Erhöhtes Risiko, aus dem Krankenhaus direkt in stationäre Langzeitpflege zu kommen (Kleina & Wingenfeld, 2007; Kirchen‐Peters, 2005; Friedrich & Günster, 2005; zit. n. Kirchen‐Peters, 2012) Unerwünschte Ereignisse bei der Klinikversorgung von Menschen mit Demenz (Isfort et al., 2014) Belastung der Pflegenden Mich belastet stark, ….. … dass Pat. m. Demenz die Station verlassen und nicht zurückfinden ….dass Pat. m. Demenz unbeaufsichtigt aufstehe und stürzen können …dass ich zeitlich an die Patienten gebunden bin, aber eigentlich noch andere Arbeit tun müsste …dass ich den Menschen mit Demenz nicht gerecht werden kann …dass ich freiheitseinschränkende Maßnahmen nicht verhindern kann Pflegethermometer 2014 (Isfort et al., 2014) 1844 befragte Abteilungs‐/Stationsleitungen Wo ist der Patient…. Wie wir ihn kannten? „Der Patient im Krankenhaus muss geh‐fähig sein, der muss seine Sachen alleine ein‐ und auspacken können, der muss auf seine Sachen aufpassen können. Der muss jedes Aufklärungsgespräch beim ersten Mal verstehen, sofort unterschreiben und innerhalb der mittleren Grenzverweildauer nach Hause gehen. Und zu Hause ist jemand, der auf ihn aufpasst. Er fällt in ein weiches soziales Netz. Das aber widerspricht der Realität“ (Zitat aus einem Experteninterview mit Klinikleitungen, Kirchen‐Peters 2012, S. 22) Das therapeutische „Arbeitsbündnis“ Mitarbeiter • Behandlungs‐ /Therapieziele lt. Indikation • Gegebener Rahmen (Zeitrahmen, weitere Ressourcen) Patient • eigene Behandlungsziele • Subjektive Heilungsperspektiven • Persönlichkeit, Biografie, Motivationslage Gemeinsame Therapieziele Abgestimmter und per informierter Einwilligung durch den Patienten autorisierter Behandlungsplan Bei Patienten mit Demenz… Patient mit Demenz Mitarbeiter • Behandlungs‐ /Therapieauftrag • Gegebener Rahmen (Zeitrahmen, weitere Ressourcen) • „Wo bin ich hier und was soll ich hier?“ • „Wer ist dieser Mensch und was will er von mir?“ • „Was soll ich hier tun und warum?“ Herausforderung • Zugang finden • Aktuelle Situation des Patienten verstehen darauf reagieren • Vertrauen, subjektive Sicherheit und Orientierung ermöglichen • Das therapeutische Arbeitsbündnis wieder ermöglichen • Dies alles innerhalb eines engen Rahmens (wenig Zeit, begrenzte Informationslage) 10 Spannungsfelder Normanspruch an die eigene Arbeit z.B. Einlösbare Realität Bedürfnisse des Patienten m. Demenz Bedürfnisse der Mitpatienten Patientenwille Patientenwohl Gesetzlicher Betreuer Teamkollegen MitarbeiterIn Andere Berufsgruppen Patient/in mit Demenz Angehörige Problembewusstsein der Mitarbeitenden Befragung von Stationsleitungen (N=141) und leitenden Ärzten (N=131) in den katholischen Krankenhäusern der Erzdiözese Köln (Isfort et al., 2012) Die Mitarbeitenden brauchen… Grundwissen über Demenz Wissen und Strategien zum Fallverstehen Gemeinsame Reflexion und Abstimmung im interdisziplinären Team Fördernde strukturelle Rahmenbedingungen Maßnahme Gesamtstrategie Krankenhausversorgung demenzsensibel gestalten Und was sollte eine „Gesamtstrategie“ beinhalten? DiAG‐Handreichung (Isfort et al. 2012) Alzheimergesellschaft (2013) • Sensibilität fördern • Umgang mit demenzkranken Patienten • Bedeutung von Fallbesprechungen • Demenzbeauftragte benennen • Fortbildung zum Demenzbeauftragten • Angehörigenbezug stärken • Rolle der Angehörigen • Ehrenamt ausbauen • Ehrenamtliche Helfer im Haus • Bildungsmaßnahmen verstärken • Fortbildungen für Personal • Gestaltung der Umgebung • Umgang mit Psychopharmaka kritisch reflektieren u. möglichst standardisieren • Entlassmanagement • Netzwerke schaffen, bestehende Netzwerke ausbauen Barrieren der Einführung von demenzsensiblen Konzepten ‐ Experteninterviews mit Klinikleitungen (Kirchen‐Peters, 2012) Individuelle Barrieren, z.B. • Bedeutung des Problems wird unterschätzt • Ärztliches Selbstverständnis: Beschäftigung mit Demenz bedeutet beruflichen Statusverlust Institutionelle Barrieren, z.B. • Unkenntnis demenzsensibler Konzepte • Zunehmende Spezialisierung und Funktionalisierung der Kliniken • Ablauforientierung als dominierendes Prinzip der KH‐Organisation Übergeordnete Barrieren, z.B. • Massiver Wirtschaftlichkeitsdruck ‐> Arbeitsverdichtung, hohe Arbeitsbelastung • Fragmentierung des Pflege‐ und Gesundheitssektors • Demenzversorgung gehört nicht zur „Spitzenmedizin“ Patientenorientierung der Klinikversorgung von Menschen mit Demenz • • …. Ist eine große Herausforderung für Mitarbeitende, insbesondere unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen Eine wachsende Zahl an Modellprojekten zeigt auf: Entwicklungsspielräume sind dennoch vorhanden Verantwortliche in den Kliniken müssen umdenken • Demenzpatienten als zentrale Zielgruppe wahrnehmen • Es geht nicht (nur) um das Beseitigen von Problemen, sondern um die Realisierung von Patientenorientierung • Bedürfnisgerechte Versorgung von Patienten mit Demenz ist gemeinsame Aufgabe aller patientennahen Berufsgruppen Kliniken brauchen ihrerseits • umfassendere Evidenz über die Wirksamkeit von Konzepten • Anreize und Anerkennung • Langfristig: Refinanzierungsmöglichkeiten Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. phil. Marion Bär Prozessberatung, Bildung und Evaluation für Altenhilfe und Gesundheitswesen Erbprinzenstraße 6 69126 Heidelberg Tel. 0176‐24751845 [email protected]‐heidelberg.de
© Copyright 2024 ExpyDoc