Streit-fragen Das Magazin der Energie- und Wasserwirtschaft November 2015 Unternehmergeist Speicherpioniere krempeln die Ärmel hoch Pro & Contra Brauchen wir eine Mindestreserve für Erdgas? Aussteigen. Aber wie? Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks im Gespräch mit BDEW-Präsident Johannes Kempmann über Klimaziele und Dekarbonisierung INTRO • ENERGIE »Industrielle Abnehmer profitieren (...) von den niedrigen Stromeinkaufspreisen oder sind, wie die stromintensiven Unternehmen, von der EEG-Umlage befreit.« Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) in einer Pressemitteilung am 2.10.15 2 STREITFRAGEN — November 2015 Titel Foto: Caroline Seidel/dpa Picture‑Alliance, Seite 2–3 Foto: Shutterstock INTRO Streitpunkt Energie ENERGIE • INTRO »Die EEGUmlage ist ein Kostenmonster.« Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie, zum gleichen Anlass am 15.10.2015. STREITFRAGEN — November 2015 3 ANSTOSS There is work to do In December, the nations of the world gather for the COP21 climate negotiations in Paris. Hopes are high that a deal will be done. Germans will be expecting their country to be held up in Paris as an example of leadership, but things may not work out that way. Germany certainly deserves credit for its role in driving down the cost of clean energy. It is, after all, the country that brought us feed-in tariffs and the Energiewende, which pushed the wind and solar industries down the experience curve, helping to make them almost fully competitive with fossil fuels. However, Germany is also the country that brought us the world’s largest voluntary shut-down of zero-carbon power, a rigid, statist model of climate action, and now low-emission diesel engines that aren’t in fact low in emissions. Between 2003 and 2013, the Energiewende tripled Germany’s production of renewable energy, by all measures an extraordinary achievement. But the Energiewende also saw Germany shut its fleet of safe, cheap (on a marginal cost basis), zero-carbon nuclear plants. As a result, German power generation from fossil fuels has remained almost exactly flat over those ten years. Had Germany instead decided to shut its coal-fired power plants, it could have reduced lignite use by 42 percent. On any objective analysis coal is far more harmful than nuclear power, and the world has zero chance of remaining within a 2°C carbon budget if it insists on first shutting its nuclear plants. Then look at the tools Germany used to drive the Energiewende: feed-in tariffs, regulations and targets at all levels of the economy, lubricated by generously-subsidised, state-allocated credit. The historic transformations of the telecommunications, Internet and other industries show that, while public support may be needed in the early stages of new technologies, there comes a time to remove barriers and allow in new entrants. Incumbents don’t lead the creation of new industrial paradigms; no bureaucrat can drive disruption in the same way as Facebook or Amazon. It should come as no surprise to Germans that the fastest-moving clean energy companies – like Tesla, Nest, First Solar and SolarCity – are all American. Germany has much to be proud of in the drive to clean energy. But when it comes to climate, there is work to do if it wants to be recognised uncritically as a leader. Guru der Cleantech-Investment-Szene, Gründer von Bloomberg New Energy Finance, Mitglied des Beratungsgremiums der UNInitiative Sustainable Energy for All und vieles mehr Lieber auf Deutsch? Dann gehen Sie auf www.streitfragen.de/impulse 4 STREITFRAGEN — November 2015 Foto: Richard Nicholson/Shutterstock MICHAEL LIEBREICH AUFRUF • ANSTOSS Hier Können Sie einen anstoss geben! EINFACH EINE E‑MAIL AN: [email protected] STREITFRAGEN — November 2015 5 Streit-fragen INTRO: 2 ANSTOSS: 4 KUNDENDIENST: 26 SCHLAGZEILEN: 44 TERMINE/IMPRESSUM: 45 OUTRO: 46 November 2015 Zeitreise Seit über zwei Dekaden finden globale Klimakonferenzen statt. „Streitfragen“ zeigt an sechs Beispielen, was sich im Laufe der Zeit getan hat. 14 8 »Störfaktor« Was heißt hier Flexibilität? Flexibilität ist ein Schlüsselwort der Energiewende. Worauf sich die Energiewirtschaft einstellen muss, zeigen andere Branchen. Eine Weltkarte zum Pariser Gipfel Das Klima ist global. Wenn sich die Länder nicht auf verbindliche Emissionsziele einigen können, sieht es schwarz aus. 24 Was wäre, wenn ... ... jeder seine eigene Hausbatterie hätte? 32 28 Nachwuchs in der Energiebranche 6 STREITFRAGEN — November 2015 51,4 Wissenschaft 19,7 60% Öffentlicher Sektor Gesellschaftlicher Sektor Wie sieht die Energiewelt 2040 aus? Die ersten Ergebnisse der BDEWDelphi-Studie sind da. 30 16% 57% Zahlen + Fakten 16% 56% Wirtschaft und Verbände 6% 40% 30% ganz sicher These A wahrscheinlich These A weder noch wahrscheinlich These B ganz sicher These B deutsche Fassung 9% 46% 24% 20% 1% englische Fassung 4% 43% 36% 10% 7% 50 40 30 20 10 0 Kein Geld mehr für die Kohle! Fotos: Toyota, Tesla Motors, Henning Ross, Katrin Binner, Getty Images, Wolfgang Stahr; Illustrationen: Shutterstock, C3 Visual Lab Ob aus Furcht vor sinkenden Rediten oder Political Correctness: Divestment schwächt den Markt für fossile Ressourcen. 42 18 Streitgespräch Speicherpioniere Der Anteil der Erneuerbaren am Strommix steigt. Ihre Verfügbarkeit aber schwankt. Die Lösung: Speicher müssen her. 38 Leer! Voll! Egal? Braucht Deutschland zur Sicherung der Energieversorgung Mindestfüllstände für Erdgasspeicher? 36 Klimaschutz als ökonomische Chance STREITFRAGEN — November 2015 7 STÖRFAKTOR • FLEXIBEL Auf Biegen und Beugen ... Wer nicht flexibel ist oder wird, hat schlechte Chancen. F lexiblität stammt von dem lateinischen Wort „flectere“ und heißt so viel wie biegen und beugen. Aus ökonomischer Sicht ist flexibel, wer sich anpassen, wer auf neue Bedingungen reagieren kann. Die Bereitschaft, sich zu beugen oder auch auch mal zu verbiegen, mussten in den vergangenen Jahren viele Branchen und Sektoren an den Tag legen: Alteingesessene Fluggesellschaften etwa mussten auf Billiglinien reagieren. Die traditionsreiche Buchbranche bekam es mit dem E-Book zu tun. Und deutsche Innenstädte mussten sich darauf einstellen, dass die Leute lieber von der Couch aus im Internet ihre Einkäufe erledigen. Die Liste ist lang. Überleben kann nur derjenige, der mit neuen Geschäftsmodellen und Innovationen neue Wege geht. Flexibilität ist auch ein Schlüsselwort für die Umsetzung der Energiewende: Volatile und dezentrale Stromerzeugung, hochflexible Erdgasanwendungen, die Nutzung von Erneuerbaren Energien, der Einsatz von Speichern, Smart Grids und auch Flexibilitäten auf der Nachfrageseite verändern das Energiesystem in ihrem Fundament – und stellen die Energiewirtschaft vor gänzlich neue Herausforderungen. Neue intelligente und passgenaue Technologien verändern den Markt und zwingen Unternehmen, schnell zu reagieren. Folgende Beispiele zeigen, wie sich andere Branchen durch Flexibilität neu aufgestellt und ihre Chance genutzt haben. 8 STREITFRAGEN — November 2015 FLEXIBEL • STÖRFAKTOR Stör fakt or Fotos: plainpicture, Shutterstock Deh n D ie e n b i s z ur Tele Sc g le i k che ommu hmerz nZ gren n sch ik e it p a ft z e: unk ations und . Neu bra t l ib eW n s elb ch er et tb d ie stbe ew a lisier e w urd U w t wi stel nterne usste erber, e d i e et wa le K di h dua n mus men fl unden srupti e Ener zum s te ex g ve T li so ech iew ir tzu j sier tes n. Da ibel au rg ten no l s Er e de d T f n e a og l f e ef ge ü u le . H r Z e i t – u oniere bnis: m e Situa r, dass ien inz n s t u n das ic io o u dd kam d as a nd Su bi les u nen ei h en r fen nd uc h ein urch d ni as v „Ga m e mo n n v d iv on oc eC or s i tion te u ije ha n h f ü r ch n a ei n dem O ger“ Das d dadu les und tige St e r P w a r rch ie d u sc t , e ic h E nd h ap h a a fen . Au e diese l le a nd tisches eln des s iPho ane , r sc ch i e re n E r le Tou ße V h n chs bni ne l l Ha n e der cr se le c h e r ä nd e run Energi bigen dys a lt rmög eens r im l ic h e g E aus w ir en a Hau n t w ic s eh t sc n: W sha lt d ird ha ft de k lung en ließ as i i . ut e Pho et wa n si st ofde ne d e r E r B at t c h g r o e ne r g ie w r ie s p e i e nd e? STREITFRAGEN — November 2015 9 STÖRFAKTOR • FLEXIBEL »Toyota hat neue Produktionstech nologien entwor fen, um bislang unbekannte Niveaus in der Flexibilität der Autoherstellung zu erklimmen.« Gleiche Bauteile – weniger Kosten Immer mehr Modelle laufen bei Autobauern vom selben Band. Flexible Montagelinien werden zum Standard einer modernen Fabrik, denn der Hersteller ist in der Lage, an einem Stand- 10 STREITFRAGEN — November 2015 ort mit ein und derselben Anlage unterschiedliche Modelle in unterschiedlicher Stückzahl zu fertigen. So kann die Produktion den Kundenwünschen angepasst und eine optimale Auslastung der Linien gewährleistet werden. Statt zentral vorgegeben, erhalten Maschinen an der Taktstraße künftig über QR-Codes oder RFIDChips genaue Befehle, wie sie Werkstücke bearbeiten sollen: Ähnlich wie in der Energiewirtschaft ist die Digitalisierung längst Realität. Fotos: Toyota, ddp Mitsuhisa Kato, Executive Vice President Toyota Neil Hunt, CEO Netflix Aus jedem Kätzchen wird mal eine Katze* Mit Serienhits aus eigener Produktion hat sich der Videodienst Netflix nicht nur zu einer rasant wachsenden internationalen Marke entwickelt, sondern vor allem den US-amerikanischen TV-Markt revolutioniert. Die Erfolgsgeschichte beginnt mit der Produktion der Politserie „House of Cards“. Damit schaffte das Unternehmen den Sprung vom Video-on-Demand-Dienst zum TV-Studio. Seitdem schneidert der milliardenschwe- re Konzern seine Formate auf das Publikum zu: Er hat einen Algorithmus entwickelt, um die Vorlieben der Nutzer zu erfassen und passende Genres vorschlagen zu können: Produktentwicklung, die sich streng an den Bedürfnissen der Kunden orientiert. Experten sind sich sicher: Internet-Fernsehen wird klassisches, lineares Fernsehen obsolet machen. Spannend wird sein, ob und wie die Platzhirsche ARD, ZDF, RTL und Co. auf diesen neuen Herausforderer reagieren werden. STREITFRAGEN — November 2015 *Zitat Frank Underwood aus „House of Cards“ »Unsere Vision ist, dem Zuschauer zwei großartige Vorschläge zu machen. Er be stimmt nach Lust und Laune, was er sehen will.« 11 STÖRFAKTOR • FLEXIBEL »Pop-up-Expe riences müssen über eine kurze Zeit nicht nur die Wünsche der Gäste erfüllen, sondern auch Mehrwert bieten. Dafür bedarf es Mut und einer Vision.« Klaus Peter Kofler, CEO Kofler & Kompanie Nur für kurze Zeit ... Angebote, die quantitativ oder zeitlich limitiert sind, üben einen unwiderstehlichen Reiz aus: Habenwollen. So funktionieren Pop‑up‑Restaurants. Sie öffnen ihre Türen nur für kurze Zeit. Hier ist Flexibilität Unternehmensphilosophie und das Zauberwort lautet temporäre Food-Performance. Das verspricht Exklusivität und eine Erfahrung, die man nur zu einem bestimmten Zeitpunkt machen kann. In Deutschland betreibt Caterer Klaus Peter Kofler sein „Pret a Diner“ nach diesem Konzept. Es taucht für einige Zeit – entweder Tage oder einige Wochen – in einer europäischen Metropole auf und funktioniert dann wie ein Sternerestaurant, mit Profis in der Küche und im Service. Die Gäste fühlen sich geadelt, die Preise gelten hingegen als relativ moderat. 12 STREITFRAGEN — November 2015 FLEXIBEL • STÖRFAKTOR »Die Wohncontainer sind designbar in Form und Größe – das ist die große Chance. Man kann die Räume zusam menbauen wie Lego‑Bausteine.« Fotos: Amanda Nikolic/Kofler & Kompanie, Pablo Castagnola Jörg Duske, Investor Urbanes Wohnen nach dem Lego-Prinzip Wohnraum ist knapp. Neubau dauert. Findige Architekten haben Frachtcontainer als urbane Behausung entdeckt, schick designt und energieeffizient. Großer Vorteil: Es können Module an- oder abgebaut werden. Je nach Bedarf. In Berlin gibt es seit Ende vergangenen Jahres das deutschlandweit erste Containerdorf für Studenten. Die Idee dazu hatte der Berliner Unternehmer Jörg Duske. Er feilte an Design, Form und Bau der Container. Aktuell kostet ein Single-Container im Monat so viel wie eine Einzimmerwohnung: 389 Euro, inklusive Möbel, Strom, Wasser, Internet und Heizung. Der Andrang ist groß. Jetzt wird angebaut. Ab November können die Studenten auch in einen dritten Komplex einziehen. Wärme und Strom für die rund 400 Einheiten des Studenten dorfs liefert übrigens ein eigenes Blockheizkraftwerk. STREITFRAGEN — November 2015 13 ZEITREISE • INTERNATIONALE KLIMAPOLITIK Skyline von Shanghai: Smog gehört in chinesischen Megametropolen zum Alltag. 14 STREITFRAGEN — November 2015 INTERNATIONALE KLIMAPOLITIK • ZEITREISE Globale Klimapolitik: Und sie bewegt sich doch Im Dezember gibt es die UN-Klimakonferenzen 25 Jahre. Was hat sich bewegt seit Genf 1990? Tendenz: Es gibt wohl Licht am Ende des Tunnels, aber der Tunnel ist noch sehr lang. Von REINER SCHWEINFURTH E Foto: Getty Images in Gipfel vor dem Gipfel in New York bei der UN-Vollversammlung im September 2015. Papst Franziskus, Chinas Präsident Xi und Barack Obama sind sich einig: Das Klima darf nicht kippen. Alles soll dafür unternommen werden. Die Wirtschaftsmächte haben schon im vergangenen Jahr gemeinsame Ziele vereinbart. Die USA wollen ihren CO₂-Ausstoß bis 2025 um 28 Prozent verringern. Peking will mit der Einsparung im Jahr 2030 beginnen und bis dahin den Anteil von Erneuerbaren am Energiemix auf 20 Prozent steigern. Und jetzt gibt der Papst seinen Segen dazu. Wie sieht es in Deutschland aus? Was ist am Nordpol los? Wie reagiert der größte Rückversicherer der Welt, Munich Re, auf die klimatischen Veränderungen? Und ist das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) hilfreich, um Veränderungen zu unterstützen? BEDRÄNGTER NORDPOL Die Arktis zeigt am deutlichsten, was die Klimaveränderung bewirkt. Die Erwärmung über den Eisflächen nahm in den 1990er-Jahren doppelt so stark zu wie auf der restlichen Erde. Stabil zwischen ein und zwei Grad Celsius über dem Niveau von Messungen zwischen 1950 und 1990. Dabei ist nicht nur die Verbrennung fossiler Energieträger durch Industrie, Haushalte oder Verkehr schuld – Brandrodungen in Südamerika, Afrika und Asien haben ebenso großen Einfluss. Dies zeigt, wie stark die Faktoren miteinander verflochten sind. Die Produktion von Nahrungsmitteln, übrigens auch ein Millenniumsziel der Vereinten Nationen, schlägt sich nieder im Eisabbruch an den großen Schelfen. Die Konzentration von Treibhausgasen über den Polkappen ist überproportional groß. Das Eis schmilzt, weil sich das Meerwasser erwärmt. Darunterliegende Erdformationen kommen zum Vorschein. Weil die schmelzende Eis- und Schneefläche weniger Sonnenlicht reflektiert, wird dieses stärker absorbiert – es wird noch schneller wärmer. Die Effekte stärken sich gegenseitig. Ein klassischer Fall von positiver Rückkopplung, die sich so lange aufschaukelt, bis das Eis verschwunden wäre. Doch ob es sich dabei um eine unumkehrbare Entwicklung handelt – darüber sind sich die Experten uneins. DEUTSCHLAND, DER MUSTERKNABE Umweltschützer aus aller Welt preisen das deutsche Modell. Der Anteil erneuerbarer Energien von gut 30 Prozent im Jahr 2015 an der gesamten Stromproduktion ist eine Größe, um die man die Deutschen beneidet. Das in den vergangenen 30 Jahren entstandene Umweltbewusstsein hat alle gesellschaftlichen Milieus erreicht – und sich in konkreten Ergebnissen verfestigt. Ob bei der Mülltrennung, dem steigenden Anteil der Radler am städtischen Verkehr oder dem Verzehr von biologisch erzeugten Lebensmitteln: Nachhaltigkeit ist normal geworden. Nach acht Jahren rot-grüner Regierungen, die sich beson- ders für ökologische Themen engagierten, ist Grün auch für die Konservativen Mainstream. Die Energiewende nahm gerade richtig Fahrt auf, als das Reaktorunglück in Fukushima die Welt erschütterte und die Bundesregierung zum Ausstieg aus der Kernenergie veranlasste. Dennoch hat Deutschland seine Vorreiterposition bei der Verfolgung der Klimaschutzziele behalten. Nach drei Jahren, in denen auch hierzulande die Werte wieder stiegen, gelang 2014 im Vergleich zum Vorjahr eine erneute Senkung. Spätestens seit dem Kyoto-Protokoll 1997 wurde der Schutz der Erdatmosphäre international immer wichtiger. Aber in Deutschland war der CO₂-Ausstoß im letzten Jahr tatsächlich um 27 Prozent niedriger als 1990. Davon träumt China bisher nur. DER DRACHE WACHT AUF In China sterben vier Millionen Menschen jährlich an der Luftverschmutzung. Der Fortschritt kostet Leben. Das hat die Regierung erkannt und erstmals konkrete Zahlen veröffentlicht. Die Smog-Bekämpfung wird nicht billig. Nach einer Schätzung der staatlichen Akademie für Umweltplanung kostet sie umgerechnet 210 Milliarden Euro bis zum übernächsten Jahr. Eine gewaltige Summe. Wachstum und Umweltschutz sind sich noch nicht grün. Die chinesische Delegation stand gemeinsam mit der amerikanischen regelmäßig auf der Bremse, wenn es um die Ratifizierung internationaler Klimavereinbarungen ging. Das hat sich geändert. STREITFRAGEN — November 2015 15 ZEITREISE • INTERNATIONALE KLIMAPOLITIK WELTMACHT MIT SCHEUKLAPPEN Auch die Vereinigten Staaten sind schon jetzt von den Folgen des Klimawandels massiv betroffen. Doch weil große Teile der Politik den Klimawandel schlicht negieren, gibt es nach wie vor keine durchgreifenden Maßnahmen zur CO₂-Begrenzung. Die sichtbarsten Auswirkungen sind die sich häufenden Dürren. Das Phänomen ist nicht neu, gehört zu den klimatischen Eigenschaften der Landmasse. Aber die Häufigkeit und die zunehmende Stärke überraschen die Meteorologen. Die aktuelle Trockenheit in Kalifornien ist die schlimmste seit 1.200 Jahren, wie Untersuchungen an Bäumen zeigen. Allein im laufenden Jahr wird in der Landwirtschaft mit Einbußen von zwei Milliarden Dollar gerechnet. Tausende von Arbeitsplätzen gehen in der Region verloren. Der Bundesstaat ist nicht irgendein Anbaugebiet, sondern die weltweit größte landwirtschaftlich genutzte Fläche. Und was wird dagegen getan? So gut wie nichts. Kalifornien denkt lieber über Entsalzunganlagen nach. Neue Energiefresser. Klimaschutzmaßnahmen wirken sich nicht von heute auf morgen aus. Dieser Zeitverzug ist eines der größten Hemmnisse. Präsident Obama macht jetzt aber ernst. Er verkündete im August, dass Kraftwerke in den USA erstmals ihren Schadstoffausstoß reduzieren müssen – bis 2030 um 32 Prozent im Vergleich zu 2005. Doch ein Gesetz dazu gibt es noch nicht. Dafür Streit zwischen Demokraten und Republikanern. AM ENDE ZAHLT DIE VERSICHERUNG Munich Re warnt seit Jahren vor den teuren Folgen der Klimaveränderung. Viele Risiken wie Überschwemmungen oder Wirbelstürme konnten lange kalkuliert werden. Das wird schwieriger. Seit den 1980er-Jahren stellen die Schadensregulierer fest, dass sich klimatologische Er16 STREITFRAGEN — November 2015 eignisse – Dürren, Waldbrände, Temperaturextreme – fast verdoppelt haben. Wer also noch Zweifel haben sollte, dass die Klimaveränderung zu einer globalen Gefährdung führt, dem sagt Prof. Peter Höppe, der Leiter der Georisikoforschung des Konzerns: „Wir können sehen, mit welchen Ereignissen wir künftig häufiger rechnen müssen.“ In reichen Länder helfen Versicherungen beim Wiederaufbau nach Katastrophen, in armen ist das nicht so einfach. Für Munich Re ist klar, dass zur Eindämmung klimagefährdender Emissionen viel mehr getan werden müsste. Auch wer nichts für den Klimaschutz tut, müsse bezahlen – und sei es für den Umgang mit den Folgen des Klimawandels. DER MAHNUNGEN DES IPCC Die UN und die Weltorganisation für Meteorologie gründeten 1988 den IPCC. Ein Braintrust, der über den Wissensstand in der Klimaforschung berichtet. Im Bericht 2013 steht: „Die Erwärmung des Klimasystems ist eindeutig, und viele dieser seit den 1950er Jahren beobachteten Veränderungen sind seit Jahrzehnten bis Jahrtausenden nie aufgetreten.“ Die Zusammenfassung des IPCC lässt keinen Zweifel an der dramatischen Zuspitzung kritischer Wetterlagen. Ob es sich um Niederschläge handelt, um Wirbelstürme, Wärmeperioden, Dürren – überall ist mit einer Zunahme menschengemachter Katastrophen zu rechnen. Einen Königsweg, die Lebensgrundlagen zu erhalten, gibt es nur insofern, als an den erforderlichen Maßnahmen unermüdlich gearbeitet werden muss. Die Begriffe ändern sich nicht: Nachhaltigkeit, Kohlendioxid-Reduzierung, technologische Anpassung, Ressourcenschonung. Die Technik allein wird es nicht regeln. Verhaltensänderungen gehören auch dazu. Wie kommuniziert man die Binsenweisheit, dass weniger mehr ist? Für die Klimakonferenz in Paris steht die Agenda seit Langem fest. Zum ersten Mal seit über 20 Jahren soll die Vereinbarung für Industrie- und Entwicklungsländer rechtlich bindend sein: die Emisson von Treibhausgasen deutlich zurückzufahren. Die beiden größten Umweltverschmutzer der Welt – die USA und China – wissen, dass die Zeit der unverbindlichen Absichtserklärungen zu Ende ist. DIE KLIMAKONFERENZEN IM ÜBERBLICK 1990 Genf 1992 Rio de Janeiro Unterzeichnung der auf Basis einer UN-Resolution von 1989 erarbeiteten Klimarahmenkonvention durch 150 Staaten 1995 Berlin Hauptanliegen: Überprüfen der Klimarahmenkonvention auf effektiven Klimaschutz 1996 Genf 1997 Kyoto Verabschiedung rechtsverbindlicher Begrenzungs- und Reduzierungsverpflichtungen für die CO₂-Emissionen der Industrieländer 1998 Buenos Aires 1999 Bonn 2000 Den Haag 2001 Bonn Einigung trotz des Ausstiegs der USA aus dem Kyoto-Protokoll und damit Voraussetzungen geschaffen für die Ratifikation des Protokolls 2001 Marrakesch 15 Entscheidungen zur Ausgestaltung und Umsetzung des Kyoto-Protokolls, unter anderem zum System der Erfüllungskontrolle 2002 Neu-Dehli 2003 Mailand Abschluss der zweijährigen Verhandlungen über die Regeln für die Aufforstungs- und Wiederaufforstungsprojekte in Entwicklungsländern 2004 Buenos Aires 2005 Montreal Fahrplan zur Fortentwicklung des internationalen Klimaschutzregimes post 2012 2006 Nairobi Vereinbarung von Investitionen von 1,25 Milliarden Euro als konkreter Beitrag zur Überwindung der Energiearmut in Afrika 2007 Bali 2008 Posen Übereinkunft, bis Mitte Februar 2009 nationale Minderungsziele beziehungsweise -maßnahmen für 2020 zu benennen 2009 Kopenhagen Politische Willenserklärung: Begrenzung des globalen Temperaturanstieg auf unter zwei Grad Celsius 2010 Cancún Errichtung eines globalen Klimafonds 2011 Durban 2012 Doha Das Kyoto-Protokoll wird fortgesetzt 2013 Warschau Fahrplan für ein neues Klimaabkommen und Eckpunkte zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen 2014 Lima 2015 Paris Fotos: Shutterstock, dpa Picture‑Alliance, Laif Seit einigen Jahren gibt es im Reich der Mitte einen Solarboom sondergleichen. Hoch subventioniert gehen Anlagen ans Netz, der Ausbau wird ungebremst fortgesetzt. Die Klimawandel hat einen Vormarsch der Wüsten ausgelöst. Der muss gestoppt werden und führt zu Aufforstungsmaßnahmen ohne Beispiel. Riesige Schutzwälder bedecken bereits eine Fläche von 22 Millionen Hektar – das entspricht knapp der Fläche Großbritanniens. INTERNATIONALE KLIMAPOLITIK • ZEITREISE Oben links: Windräder in Schleswig-Holstein. Oben rechts: Als Teil eines Aufforstungsprogramms pflanzen Koreaner und Mongolen unweit der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator Bäume. Unten: US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel diskutieren während des G7-Gipfels 2015 in der oberbayerischen Stadt Krün auch über globale Klimapolitik. STREITFRAGEN — November 2015 17 STREITGESPRÄCH • KLIMASCHUTZ ALS ÖKONOMISCHE CHANCE „Wir brauchen einen strukturierten Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks im Gespräch mit BDEW-Präsident Johannes Kempmann zu Klimaschutz und deutscher Energiepolitik. Moderation TOM LEVINE K Hendricks: Natürlich müssen wir vermeiden, dass es Verlagerungen von industrieller Produktion allein wegen des Emissionshandels geben wird. Daran haben wir nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein klimapolitisches Interesse. Ich bin im Übrigen sicher, dass wir auch ohne Verpflichtung einen weit über Europa hinausgehenden CO₂-Emissionshandel bekommen werden. Die Chinesen sind dabei, ihn landesweit einzuführen, die Emissionshandelssysteme von Kalifornien und Quebec haben sich miteinander verbunden – da wächst was zusammen. urz vor dem Klimagipfel in Paris treffen in Berlin die Bundesumweltministerin und der BDEW-Präsident zusammen. Vor welcher Aufgabe, so die Frage, steht die deutsche Energiewirtschaft im Angesicht der klimapolitischen Entwicklung – und welche Forderungen stellen sich aus der Politik? Gehen Sie hoffnungsvoll nach Paris, Frau Dr. Hendricks? Johannes Kempmann: Die Hoffnung teilen wir. Aber die Definition von Zielen allein wird nicht reichen. Was wir brauchen, sind verbindliche Umsetzungsmechanismen, sonst bleiben wir am Ende des Tages wieder im Unverbindlichen. Kriegen wir einen Zertifikatehandel außerhalb der EU ausgeweitet, am besten weltweit? Das ist die entscheidende Frage. Hendricks: Verbindliche Umsetzungsmechanismen wird es nicht geben, weil alle 18 STREITFRAGEN — November 2015 Ist der Klimaschutz als Ziel in der Energiewirtschaft angekommen, Herr Kempmann? Johannes Kempmann, Präsident des BDEW und Technischer Geschäftsführer der Städtischen Werke Magdeburg, vor dem Bundesumweltministerium. Länder von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Jedes Land wird einen Beitrag nach seinen eigenen Möglichkeiten leisten müssen und können. Kempmann: Wir brauchen sie aber. Nationale Alleingänge sind ja sehr ehrenwert, aber am Ende des Tages verlagern wir damit nur Emissionen von einem Land ins andere. Und dann haben wir fürs Klima überhaupt gar nichts geschafft. Kempmann: Ja natürlich. Wir haben uns schon vor Jahren auf eine CO₂-neutrale Energieversorgung im Jahr 2050 festgelegt. Das weiß mancher vielleicht nicht mehr so genau, aber das ist Beschluss lage. Momentan ringen wir intern um die Frage, was die richtigen Schritte sind, um da hinzukommen? Darum geht es auch in den Auseinandersetzungen mit der Bundesregierung. Insgesamt sind die Auswirkungen der Energiewende auf die Produktionsbedingungen der Energiewirtschaft noch nicht wirklich in den Köpfen angekommen. Damit wir in Zukunft weitgehend ohne Kohle und ohne Gas Strom produzieren können, ist ein gewaltiger Strukturwandel nötig. Da- Fotos: Wolfgang Stahr Dr. Barbara Hendricks: Ja, ich bin positiv gestimmt, denn im Unterschied zu anderen Konferenzen haben sich auch die Vereinigten Staaten und China auf Ziele verpflichtet. Zugleich können wir den Ländern des Südens in Bezug auf die Erneuerbaren, die jetzt marktgängig sind, Entwicklungschancen aufzeigen. Das ist ganz wichtig für die Vertrauensbildung. sauber Prozess“ Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks. »Wenn wir auf 80 Prozent kommen wollen, brauchen wir sehr dringend Speicher, sonst wird das nichts.« Johannes Kempmann Gaskraftwerk in Deutschland extra laufen. Aber ich bin trotzdem dafür, dass wir das so machen. Weil von allen Akteuren das politische Signal ausgeht: Wir gehen diesen Strukturwandel jetzt an. Und wir flankieren ihn, damit es nicht zu sozialen Verwerfungen führt. »Allen muss klar werden, dass die Produktion und Verstromung von Braunkohle endlich ist.« Dr. Barbara Hendricks 20 STREITFRAGEN — November 2015 Verband wollen wir aber sprechfähiger werden, als wir das heute sind. Hendricks: Es ja nicht verwerflich, dass die Interessenlagen unterschiedlich sind. Wir haben doch immerhin eine Übereinkunft über das Ziel. Im Jahre 2050 wollen wir Strom mindestens zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien gewinnen und im Verhältnis zu 1990 80 bis 95 Prozent weniger CO₂ ausstoßen. Innerhalb der EU muss Deutschland eher 95 als 80 Prozent Minderung beitragen. Darüber, wie man dann dorthin kommt, gibt es natürlich gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Das große Thema ist: Wie gehen wir mit der Verstromung von Kohle um? Nach Lage der Dinge wird man davon ausgehen können, dass 2050 der konventionelle Anteil der Stromproduktion eher vom Gas als von der Kohle kommt. Da müssen wir einen strukturierten Prozess hinbekommen. Kempmann: Wir gehen dieses Thema ja gerade mit den 2,7 Gigawatt Braunkohle an, die in die Reserve gehen. Klimapolitisch ist das kein Beitrag, der irgendwie hilft. Es wird ja deswegen kein einziges Aber reicht die Geschwindigkeit im Prozess? Steigen wir schnell genug um? Hendricks: Wir hatten im ersten Halbjahr 32 Prozent des Bruttostromverbrauchs aus Erneuerbaren. Das ist noch ein ganzes Stück von 80 Prozent entfernt. Aber unser Klimaaktionsplan beschreibt ja die Schritte, die wir gehen müssen. Bis 2020 werden wir gegenüber 1990 minus 40 Prozent weniger Treibhausgase erreichen, bis 2030 haben wir uns auf minus 55 Prozent verpflichtet. Damit sind wir innerhalb der Europäischen Union quasi am oberen Fotos: Wolfgang Stahr gegen ist, mit Verlaub, der Ausstieg des Ruhrgebiets aus der Kohleförderung ein Klacks gewesen. Deswegen brauchen wir sehr schnell einen wirklich offen geführten gesamtgesellschaftlichen Diskurs, um die Kernfragen, die Meilensteine zu definieren. Wer bezahlt das alles? Was darf das kosten? Was brauchen wir an Speichern, was an Netz? Wir führen diese Diskussion innerhalb des Verbandes mit harten Auseinandersetzungen der unterschiedlichen Sparten, die oft unterschiedliche Interessen haben. Als Hendricks: Deswegen glaube ich auch, dass sich die Unternehmen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Betriebsräten darauf einstellen werden. Ein Prozess, den man über 25 bis 30 Jahre steuern kann, hilft Strukturbrüche zu vermeiden. Im rheinischen Revier, zwischen Düsseldorf, Köln und Aachen, wird der Anpassungsprozess Zeit brauchen, aber es wird verhältnismäßig leichter sein als in der Lausitz oder im mitteldeutschen Revier. Ich kann da niemandem raten, was genau zu tun ist. Das liegt in der Verantwortung der Landesregierungen, wobei die Bundesregierung natürlich unterstützen kann und wird. Aber alle müssen sich klar darüber werden, dass die Produktion und Verstromung von Braunkohle endlich ist. KLIMASCHUTZ ALS ÖKONOMISCHE CHANCE • STREITGESPRÄCH Kempmann: Sie wäre es ja gerne. Gucken wir uns zum Beispiel das Thema Forschung und Entwicklung an. Da ist die Energiewirtschaft ganz anders aufgestellt als zum Beispiel die Automobilindustrie oder die Pharmaindustrie. Das hat aber nicht so sehr etwas damit zu tun, dass wir Forschung nicht wollen. Wir können das inzwischen kaum noch. Da ist nicht mehr genug Kapital da. Viele Energieunternehmen kämpfen ums Überleben. Da haben wir industriepolitisch ein riesengroßes Problem. Rand des Ehrgeizes. Die 40 Prozent will die Europäische Union erst im Jahr 2030 erreichen. Wir sind schon bei denjenigen, die im Geleitzug vorne sind. Das müssen wir aber auch, weil wir das bedeutendste Industrieland sind. Kempmann: Ich habe ein bisschen Zweifel, ob das alles so funktioniert. Nehmen wir mal das Thema Speicher. Wir nutzen im Moment das gesamte europäische Verbundnetz als Resonanzboden für unseren Überschussstrom. Den schieben wir nach Frankreich, nach Polen, nach Tschechien. Unsere östlichen Nachbarn haben damit erhebliche Probleme und bauen inzwischen elektronische Grenzzäune auf. Wenn die anderen auch auf diese Idee kommen, dann funktioniert das europäische Verbundnetz nicht mehr. Das ist so. Das hat was mit Physik zu tun, und die entzieht sich bekanntlich der politischen Mehrheitsbildung. Wenn wir auf 80 Prozent kommen wollen, brauchen wir sehr dringend Speicher, sonst wird das nichts. Hendricks: Das ist eine Voraussetzung, richtig. Wobei ich an dieser Stelle den deutschen Netzbetreibern durchaus mal ein Kompliment aussprechen möchte. Dass wir mit diesen Volatilitäten im Netz so gut umgehen, so gut wie nie Stromausfälle haben in der Bundesrepublik Deutschland, das wird in anderen Teilen der Welt mit Hochachtung gesehen. Aber bleibt das auch so? Schon jetzt ziehen sich Investoren aus Investitionen in konventionelle Kraftwerke zurück. Hendricks: Auf den internationalen Finanzmärkten sehen wir, dass Investoren sich aus der Produktion fossiler Energieträger zurückziehen, aber dass das schon Kraftwerke betrifft, sehe ich so nicht. Kempmann: Wir schon. Wir erheben die Zahlen regelmäßig. Schon heute stehen rund 53 Prozent aller geplanten Kraftwerksneubauten infrage. Ab 2022 werden so viele Kraftwerke in Deutschland abgeschaltet, dass wir jetzt schon in Erneuerung gehen müssten. Dies wird es aber nur geben, wenn Investoren die Chance sehen, mit ihrem Geld auch etwas verdienen zu können. Bei den derzeitigen Rahmenbedingungen ist das nicht gegeben. Wir brauchen deshalb einen Kapazitätsmarkt. Hendricks & Kempmann im Gespräch. Den Strukturwandel angehen. Ich hoffe, dass dieses Thema nach der Bundestagswahl 2017 neu diskutiert werden kann. Und wir brauchen einen neuen Vorstoß bei der Kraft‑Wärme‑Kopplung. Wir haben jetzt eine Novelle, das ist schon mal gut, aber damit werden wir nicht mal den Bestand erhalten können. Herr Kempmann, ist die Energiewirtschaft selbst aktiv genug? Hendricks: Gerade an der Stelle ist die öffentliche Forschungsförderung außerordentlich umfangreich. Das sollten Sie nicht vergessen. Kempmann: Die Anstrengungen des Bundesforschungsministeriums sind ausdrücklich zu loben, aber darum geht’s mir gar nicht. Ein Beispiel: Samsung hat Tausende Leute, die sich mit Batterieforschung befassen. Ein Unternehmen. Wo sind die denn bei uns? Die Energiewirtschaft hat rund 200 Millionen Euro an Forschungsaufkommen. Das ist so STREITGESPRÄCH • KLIMASCHUTZ ALS ÖKONOMISCHE CHANCE Hendricks: Entschuldigung, das ist doch eine Folge von Forschung und Entwicklung. Sonst wären die Chinesen doch nie auf die Idee gekommen, Solarmodule zu produzieren. Ist die Energiewende ein Erfolgsmodell für die restliche Welt oder haben wir uns dank Überbürokratisierung lächerlich gemacht? Hendricks: Nein, lächerlich gemacht haben wir uns ganz und gar nicht. In der Welt wird überwiegend mit Bewunderung auf die Energiewende geschaut, aber natürlich auch abwartend, wie schaffen die das? Und wir sind nicht überbürokratisiert. Wir haben mit dem EEG ein Markteinführungsprogramm gemacht, weil wir die Ersten waren. Die anderen machen es jetzt anders, ist doch völlig klar. Die Systeme sind ja auch preiswerter geworden. Dass wir jetzt selbst etwas ändern, also etwa die feste Einspeisevergütung durch Ausschreibungsmodelle ablösen, das zeigt ja, dass wir das Handling ständig anpassen. Kempmann: Das Thema Bürokratisierung kann man schon unterschiedlich sehen. Raten Sie mal, wie viele Tarife es bei den EEG-Abrechnungen gibt inzwischen? 100? 400? Weit über 4.000! Die müssen die Verteilnetzbetreiber überall und bis hinter Posemuckel vorhalten. Bei jeder IT-Migration müssen sie das mitnehmen. Und jede Extraregelung ist gut gemeint »Wir nageln kilometerlang Photovoltaikmodule aus China an die Wand und finden das innovativ.« Johannes Kempmann 22 STREITFRAGEN — November 2015 und gut begründbar, hat aber wahnsinnige Auswirkungen am langen Ende. Auch was die Netze angeht, sind wir in einem Regulationskorsett, das gerade in kleineren Unternehmen unglaublich viel Aufwand bedeutet. Hendricks: Vom Prinzip her kann ich Ihnen nicht widersprechen. Aber wenn man versucht, etwas zu verändern, was einmal auf andere Weise zugesagt war, dann gibt es immer gleich größte öffentliche Anteilnahme. Das gelingt einfach nicht immer. Wir haben jetzt ausführlich über die Stromproduktion geredet. Was ist mit Wärmemarkt, Mobilität und Landwirtschaft? Passiert da was? Passiert da genug, Frau Ministerin? Hendricks: Wir haben das im Blick und gehen das mit unserem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 an. Die Bun- desregierung hat die Beiträge definiert, die die verschiedenen Sektoren zu erbringen haben. Klar steht die Stromproduktion im Vordergrund. Aber wir müssen die Sektoren Strom und Wärme und Verkehr stärker als bisher integrativ betrachten. Wie wirkt das in einem Gesamtsystem zusammen, wie lassen sich Synergien heben, die uns sowohl industriepolitisch als auch klimaschutzpolitisch und energiepolitisch voranbringen? Da gibt es noch zu viele Hemmnisse; wir sind dabei, die zu identifizieren, um sie dann abbauen zu können. Kempmann: Viele sind der Meinung, wenn man nur relativ schnell relativ viele EEG-Anlagen in die Landschaft stellt, dann wird das schon mit der Energiewende. Das ist völlig verkürzt gedacht. Wir brauchen die Landwirtschaft, den Verkehr, wir brauchen insbesondere den Wärmebereich, um am Ende des Tages Fotos: Wolfgang Stahr ungefähr ein Prozent der EEG-Umlage. Wir erreichen damit null Innovation. Wir nageln kilometerlang Photovoltaikmodule aus China an die Wand und finden das innovativ. KLIMASCHUTZ ALS ÖKONOMISCHE CHANCE • STREITGESPRÄCH die CO₂-Einsparziele zu erreichen. Als erstes brauchen wir einfach einen funktionieren Emissionszertifikatehandel im Stromerzeugungssektor. Hendricks: Unsere Position ist es nicht, den Verkehrssektor mit in den ETS-Markt einzubeziehen. Kempmann: Nein, das nicht. Aber wir reden seit vier Jahren über die Frage der steuerlichen Förderung von Gebäude sanierungen. Und Bund und Länder können sich darüber nicht einigen. Jetzt geht’s um solche irrsinnigen Themen wie die Frage des Handwerkerprivilegs. Ein Euro Steuererleichterung in diesem Bereich, das wissen wir doch, wird bis zu acht Euro privates Kapital mobilisieren. Hendricks: Ich bedaure es auch, dass Bund und Länder sich darauf nicht haben einigen können. Aber vergessen Sie nicht die anderen Fördermöglichkeiten, die wir aufgelegt haben: Zinsverbilligungen und die Zuschussförderung. Die sind für Privateigentümer, die ihr Einfamilienhaus energetisch sanieren wollen, eigentlich das Mittel der Wahl. Zum Schluss noch mal zurück zum Thema Dekarbonisierung. Sehen wir dem nächsten Ausstieg entgegen? Ist das in der Industrie und in der Politik angekommen? Hendricks: Ja. Es ist davon auszugehen, dass es in 25 oder 30 Jahren keine Kohleverstromung in Deutschland mehr geben wird. Es kann ja auch gar nicht anders gehen, wenn man sich den Strommix im Jahr 2050 anguckt, auf den wir uns seit 2007 geeinigt haben. Um der Redlichkeit und der Menschen willen, die in den Kohlerevieren leben und arbeiten, müs- Barbara Hendricks und Johannes Kempmann im Bundesumweltministerium: Ganz überwiegend guckt sich die Welt die deutsche Energiewende mit Bewunderung an oder mit Neugier, wie schaffen die das? »Unsere Position ist es nicht, den Verkehrssektor mit in den ETS-Markt einzubeziehen.« Dr. Barbara Hendricks sen wir einen strukturierten Prozess beschreiben und steuern, wie wir unter Rücksichtnahme auf die regionale Wirtschaft und die Beschäftigten Alternativen entwickeln. Kempmann: Da sind wir uns einig. Wir brauchen einen sauber strukturierten Prozess. Der fängt damit an, dass man umfänglich die Fragen auflistet, die in diesem Zusammenhang zu beantworten sind. Und da geht es dann nicht nur um die Lausitz. Es ist viel umfänglicher. Die Dekarbonisierung betrifft die gesamte Wertschöpfungskette der Industrie in Deutschland. Wir brauchen dringend einen sauber aufgesetzten gesamtgesellschaftlichen Diskurs über diese Frage. Da stecken wir im Moment alle die Köpfe in den Sand. Das können wir aber nicht mehr lange aushalten. Sonst verzetteln wir uns in einer Fülle von Einzelmaßnahmen, die am Ende des Tages nicht zusammenpassen. Wir brauchen klare politische Rahmenbedingungen, damit die Industrie entscheiden kann, was im Einzelnen passieren muss. Je mehr Markt wir dort zulassen können, umso besser ist es. Die Branche steht für diesen Dialog bereit. Hendricks: Dazu genau dient der Grünbuch- und Weißbuchprozess, den mein Kollege Sigmar Gabriel aufgesetzt hat. All diese vielen Fragen müssen in dem Zusammenhang tatsächlich auf den Tisch kommen und beantwortet werden. Wir danken Ihnen für das Gespräch. Kommentare zum Thema auf www.streitfragen.de/debatten STREITFRAGEN — November 2015 23 KARTE • KLIMAPOLITIK SAUDI-ARABIEN IRAN 532,2 KANADA 533,7 SÜDKOREA 592,9 DEUTSCHLAND LÄNDER MIT DEM HÖCHSTEN CO₂-AUSSTOSS, in 2012, in Millionen Tonnen 458,8 CO₂-AUSSTOSS NACH REGIONEN UND PRO KOPF IM VERGLEICH, 1990 und 2013 755,3 JAPAN 1223,3 RUSSLAND 1659,0 INDIEN 1954,0 USA 5074,1 CHINA 8250,8 S LATEINAMERIKA 3 0,98/1,84 7 39 33 26 24 22 30 27 26 29 6 7 7 7 0 2 ERNEUERBARE GAS KOHLE ÖL 6 4 5 WASSER- NUKLEAR KRAFT ANTEIL AM WELTWEITEN ENERGIEVERBRAUCH, 1990, 2013 und 2035 (Prognose), in Prozent 24 STREITFRAGEN — November 2015 WELTWEITER CO₂-AUSSTOSS NACH SEKTOR, Anteile in Prozent TRANSPORT TRANSPORT WOHNEN WOHNEN 6 2323 Bei der BeiDymaxion-Weltkarte, der Dymaxion-Weltkarte, einemeinem 1946 1946 patentierten patentierten ProjektionsverfahProjektionsverfahren vom ren amerikanischen vom amerikanischen Architekten Architekten Richard Richard Buckminster Buckminster Fuller,Fuller, wird eine wird eine Weltkarte Weltkarte auf ein auf Polyeder ein Polyeder projiziert projiziert und kann und so kann durch so durch Auffaltung Auffaltung auf auf unterschiedliche unterschiedliche WeiseWeise als als zweidimensionale zweidimensionale Karte Karte dargestellt dargestellt werden. werden. INDUSTRIE INDUSTRIE 6 2020 9 9 SONSTIGE SONSTIGE STROM U. WÄRME STROM U. WÄRME 42 42 JAPAN JAPAN R A CHINA CHINA 1,16/1,36 1,16/1,36 11 1011 10 4 NORDAMERIKA NORDAMERIKA 4 2,63/10,60 2,63/10,60 RUSSLAND RUSSLAND 5,44/5,85 5,44/5,85 N N 16 7 7 INDIEN INDIEN1 16 21 2 2,44/1,80 2,44/1,80 9 9 8 GESAM G 8 13 0,66/2,07 0,66/2,07 13 MITTLERER MITTLERER OSTEN OSTEN EUROPA EUROPA TOP 10 DER LÄNDER MIT DER HÖCHSTEN VERÄNDERUNG IM PRIMÄRENERGIEVERBRAUCH, zwischen 2004 und 2014, in Prozent 0,66/1,71 0,66/1,71 13 13 11 KATARKATAR VIETNAM VIETNAM CHINA CHINA INDIEN INDIEN PERU PERU +199 +199 +102 +102 +89 +89 +85 +85 +80 +80 -20 -20 ITALIEN ITALIEN -20 -20 UNGARN UNGARN GRIECHENLAND -24 -24 GRIECHENLAND UKRAINE -27 -27 UKRAINE -41 -41 LITAUEN LITAUEN 11 5,48/4,35 5,48/4,35 7 9 9 7 AFRIKA AFRIKA11 1 1 0,67/1,08 0,67/1,08 ENTWICKLUNG DER WELTWEITEN STROMERZEUGUNG AUS ERNEUERBAREN ENERGIEN, in Terawattstunden 3166 3756 3982 4669 BIOENERGIE 233 379 433 615 WIND 171 521 721 1409 SOLAR 7 97 188 482 62 70 78 104 1 1 2 WASSERKRAFT OZEANIEN 0,30/ 0,44 33 GEOTHERMIE 0 MEERESENERGIE RESTL. ASIEN 44 2007 1,58/3,08 2012 2014 2020 INVESTITIONEN IN ERNEUERBARE ENERGIEN, in entwickelten und Entwicklungsländern, in Milliarden US-Dollar 190 162 149 135 LEGENDE 121 108 REGION X,XX/X,XX PRO KOPF CO₂-AUSSTOSS, in Tonnen 36 20 in 1990 97 75 61 53 5 in 2013 107 89 83 GESAMT CO₂-AUSSTOSS, in Gigatonnen in 2013 113 139 131 66 46 29 9 10 in 1990 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 LÄNDER MIT DER HÖCHSTEN INSTALLIERTEN KAPAZITÄT AN ERNEUERBAREN ENERGIEN, Anteile an der Stromproduktion weltweit, in Prozent 14 31 Windkraft CHINA CHINA Wasserkraft 26 48 Bioenergie USA DEUTSCHLAND Solar 21 Meeresenergie SÜDKOREA USA Geothermie 28 2014 KLIMAPOLITIK • KARTE GLOBALE BILANZ WELTWEITER CO₂-AUSSTOSS, in Millionen Tonnen CO₂ WELT in 2012: 31,73 +51,3% in 1990: 20,97 EIne für Alle, Alle für eine! Mit diesem Wissen gehen Ende November 194 Staaten an den Pariser Verhandlungstisch: Die globalen, klimaschädlichen Treibhausgas-Emissionen nehmen ungehindert zu, vor allem der Ausstoß von Kohlendioxid. Das ist eine traurige Bilanz. Seit 25 Jahren trifft sich die Welt zu Klimakonferenzen, auf denen um ein gemeinsames Vorgehen für den Erhalt der Lebensgrundlage auf diesem Planeten gerungen wird. Der Weltklimagipfel in Paris soll endlich den Durchbruch bringen. Die Erwartungen sind hoch: Schaffen es die Vertragsstaaten, sich auf verbindliche Klimaschutzziele zu verpflichten? Die Weltkarte zeigt anschaulich, wie sich die CO₂-Emissionen in den vergangenen Jahren entwickelt haben, wie sich der Anteil des Grünstroms stetig erhöht und wie die Investitionen in Erneuerbare seit zehn Jahren steigen – auch in den Entwicklungsländern. Eine Bestandsaufnahme. 4 5 PRO KOPF CO₂-AUSSTOSS, in Tonnen in 1990 PRO KOPF CO₂-AUSSTOSS, in Tonnen in 2012 WELTWEITER PRIMÄRENERGIEVERBRAUCH, in Millionen Tonnen Erdölequivalent 2004 10556 +22,5% 2014 12928 WELTWEITE STROMERZEUGUNG AUS ERNEUERBAREN ENERGIEN, in Terawattstunden Quellen: Emissions Database for Global Atmospheric Research, EDGARv4.2 FT 2012 BP (2011–2014), BP Statistical Review of World Energy 2011–2014 IRENA, Renewable Energy Capacity Statistics 2015 IEA, 2012 CO2 Emissions Overview Renewables 2015 Global Status Report Statista 2015 (Quelle IEA) 3641 2007 +48,7% 5414 2014 STREITFRAGEN — November 2015 25 KUNDENDIENST • SMART HOME Dr. Norbert Verweyen ist Geschäftsführer bei RWE Effizienz und erzählt, was er vom intelligenten Haus hält. Als Kunde. A uf keinen Fall will ich irgendwelche Monitore überwachen. Die Technik soll einfach funktionieren, alles muss im Hintergrund zusammenspielen. Als Ingenieur ist man ja immer in Verdacht, übers Ziel hinauszuschießen. Aber wenn man nicht allein lebt, ist jede Veränderung im gemeinsamen Haushalt eine Familien entscheidung. Und wir wollen ja kein Techniklabor, sondern ein Zuhause. Dabei ist die wichtigste Frage: Wie wollen wir unser Zuhause überhaupt nutzen? Der Wohnwert ist aus meiner Sicht ganz entscheidend. Die Technik soll man gar nicht sehen, sie muss einfach funktionieren. Und das im doppelten Sinn. Sie darf keinen Aufwand verursachen, ich muss nicht jedes Mal dran denken: Welchen Knopf muss ich denn drücken? Ich möchte mich nicht ständig mit der Technik auseinandersetzen. Da in meiner Familie Energiesparen durchaus ein Thema ist, haben wir die großen Energiefresser wie Heizung und Licht ganz gut im Blick. Aber Smart Home ist ja deutlich mehr als Energiesparen. Da bei uns die Duschdauer ein Thema ist, haben wir über Duschautomaten diskutiert. Solche, bei denen man vorher die Zeit regulieren kann, die sich automatisch 26 STREITFRAGEN — November 2015 etwa nach zehn Minuten abschalten. Der Familienrat hat sich dann dagegen entschieden. Aber wir nutzen Mischbatterien, die konstant eine bestimmte Temperatur liefern. Das ist in Ordnung. Außerdem haben wir die Rauchmelder im ganzen Haus untereinander vernetzt. Sollte einer angehen, bekommen wir eine Nachricht. Was uns auch weitergeholfen hat, sind die Rollladensteuerung und die Lichtsteuerung am Rechner. Nach einer vorgegebenen Zeit verändert sich die Farbe einer LED-Lampe. Das ist das Signal für die Kinder: Achtung, Pause machen. Das sind so nützliche Dinge, die uns allen weiterhelfen. Bei jedem neuen Gerät, das kommt, diskutieren wir – erst im Vorfeld und dann beim Einbau. Das ist bestimmt auch Teil dieser Lebensphase, dass mit den Kindern sehr intensiv diskutiert wird. Aber wir diskutieren natürlich auch als Ehepaar die Themen immer wieder neu. Ich habe da manchmal den Eindruck, wir beschäftigen uns damit relativ viel – im Gegensatz zu anderen. Aber ich sehe das auch als Chance, eine Rückmeldung zu bekommen und die als Ingenieur weiterzudenken. Wenn ich mir die Hausautomatisierung anschaue, dann spielt sich viel, wenn es einmal implementiert ist, im Hintergrund ab. Wir schauen ja nicht ständig auf irgendwelche Monitore. Oder wie hoch der Stromverbrauch ist. Diese Phase hat es auch gegeben. Entscheidend ist, dass man hinterher den Komfort, den Foto: Jörg Mettlach/RWE, Shutterstock; Montage: C3 Visual Lab Wie sieht Ihr perfektes e m o h aus? Zuhause t r a sm SMART HOME • KUNDENDIENST so eine Hausautomatisierung bietet, sehr schnell als selbstverständlich empfindet. Das wird einem erst bewusst, wenn man mal woanders hinkommt. Wir hatten neulich so eine Erfahrung im Ferienhaus. Als wir festgestellt haben: Oh, jetzt muss man mal die Temperatur hochdrehen und jetzt selbst die Rollläden hochmachen. Da wird einem bewusst, wie gut das zu Hause klappt. Das wird so schnell zu einer Selbstverständlichkeit, dass man das gar nicht mehr so bewusst wahrnimmt. Das macht auch ein gutes Smart Home aus. Ich bin felsenfest überzeugt, dass in Zukunft jeder Haushalt in einem gewissen Maß vernetzt sein wird. Wenn die Leute heute einen Fernseher kaufen, dann ist den meisten gar nicht bewusst, dass die Geräte die Vernetzung alle schon inklusive haben. Die werden zwar noch nicht Alles muss im Hintergrund spielen: Norbert Verweyen und seine Familie leben bereits in einem Smart Home. so genutzt, aber die Geräte sind internetfähig. Allein der Schritt, die untereinander zu vernetzen, das ist eine bewusste Entscheidung zu Hause. Wir haben derzeit schon 14 Milliarden vernetzte Großgeräte weltweit auf dem Markt. Innerhalb der kommenden fünf Jahre wird sich die Zahl verdreifachen. Die Technik ist in vielen Haushalten schon längst vorhanden und die Vernetzung wird sich auf sämtliche Haushaltsgeräte bis runter zur Kaffee maschine ausdehnen. Allerdings will ich die Datenhoheit behalten: In einem gläsernen Haus zu leben, wäre für mich eine schreckliche Vorstellung. Das ist vielleicht auch meinem Alter geschuldet. Meine Kinder schätzen das anders ein, als ich das tue, und wir diskutieren darüber natürlich auch sehr intensiv. Wenn irgendjemand damit anfängt, irgendwelche Informati- onen aus meinem Haus herauszuziehen, will ich erst mal gefragt werden, ob ich das überhaupt wünsche. Und was ist die Gegenleistung? Wenn mir ein Hersteller sagt: Ich biete Dir an, dass Dein Kühlschrank mir sagt, wie gut und effizient er funktioniert, dann halte ich das für eine sinnvolle Sache. Aber nur zu schauen, wie oft ich die Kühlschranktür öffne – das geht eigentlich keinen was an. Und das kann man ja aus den Daten auch herauslesen. Alles in allem, das Smart Home, das intelligente vernetzte Zuhause, das ist eine Entwicklung, die wirklich keiner mehr aufhalten kann. Es wird verschiedene Abstufungen geben. Wichtig ist, wie weit Sie diese Technik zu Hause zulassen. Ich glaube, dass in wenigen Jahren der Haushalt, wie wir ihn noch vor 20 Jahren hatten, eine absolute Ausnahme ist. STREITFRAGEN — November 2015 27 40.000 Euro Einstiegsgehalt (jährlich) 4,5 Jahre hat das Studium gedauert 6 Prozent beträgt der Frauenanteil in dem Beruf, wenn man die beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) gelisteten Energieauditoren berücksichtigt ENERGIEBERATUNG • NACHWUCHS Die Kostendetektivin Karola Fendl hilft Kunden aus der Industrie und dem öffentlichen Sektor bei der Einsparung von Energie und Wasser. Die Energiewende ist für die 32-Jährige eine Chance. Im Interview erklärt sie warum. Interview INA BRZOSKA Die Energiewende bringt frischen Wind in die Branche. Dadurch entstehen viele neue Jobs und Chancen für junge Arbeitnehmer. Zum Beispiel für Karola Fendl, die schon immer von der Dynamik dieses Wirtschaftssektors fasziniert war. Sie arbeiten bei den Stadtwerken Krefeld als Projektmanagerin für Energieeffizienz und Contracting? Ich bin Energieberaterin und versuche, mit unseren Geschäftskunden Lösungen zu finden, wie sie Gas- oder Stromkosten einsparen. Unsere Kunden kommen aus dem Gewerbe, der Industrie oder dem öffentlichen Bereich. Ich beantworte ihre Fragen zu neuen gesetzlichen Regelungen und den damit verbundenen Pflichten. Sie sind studierte Umweltwissenschaftlerin. Wie sind Sie in die Energiewirtschaft gekommen? Ich bin nach dem Studium nach Japan gegangen und habe dort in der Energieberatung gearbeitet. Das hat mir sehr gut gefallen. Japan war zu dem Zeitpunkt schon sehr fortschrittlich. Wie auch in Deutschland gibt es dort eine ambitionierte Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen, das fand ich sinnvoll. Dann war ich bei einem internationalen Unternehmen im Umweltmanagement tätig, wollte mich aber auf Energie spezialisieren. Foto: Henning Ross Was reizt Sie so an dem Thema? Diese Branche ist unglaublich dynamisch und befindet sich ständig im Wandel, das finde ich interessant. In der Energiewirtschaft kennt man sich nach einer Weile, man legt Wert auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und langfristige Beziehungen. Hinzu kommt, dass man in der Rolle des Energieversorgers die Möglichkeit hat, mit Kunden aus ganz verschiedenen Branchen zusammenzuarbeiten. Sie beschäftigen sich mit Öko-Controlling. Was versteht man darunter? Das ist der Versuch, die Energieflüsse transparenter zu machen. Das hilft, Einsparpotenziale zu finden. Ich biete in meinen Beratungsgesprächen dann auch Produkte an, die helfen, mehr Transparenz herzustellen. Möglich sind etwa die Einführung eines Energiemanagementsystems oder der Einsatz von Smart Metern. Diese Investitionen lohnen sich langfristig, um Kosten zu sparen. Jedes Jahr gibt es ein neues Gesetz und die Effizienztechnologien entwickeln sich ständig weiter, da muss ich immer auf dem Laufenden bleiben, das finde ich sehr reizvoll. Ich nehme mir sehr viel Zeit, interne und externe Fortbildungen zu besuchen. Außerdem lese ich viel Fachliteratur und Tageszeitungen. Meine Motivation ist dabei immer, dass ich die Kunden optimal beraten kann. Welche Fähigkeit sollte man auf Ihrer Position auf jeden Fall mitbringen? Ich führe telefonische und persönliche Beratungsgespräche mit Kunden und mache die Datenanalyse, um Energieeinsparpotenziale zu identifizieren. Neben der fachlichen Kompetenz sind Soft Skills ganz wichtig. Man muss ganz unterschiedlichen Leuten sehr gut zuhören können – und zwar vom Geschäftsführer bis zum Elektriker. Nur indem man mit diesen Leuten richtig kommuniziert, kann man herausfinden, wo der Schuh drückt. Wo sehen Sie in Ihrem Beruf die spannendste Herausforderung? Wie ist die Frauenquote in Ihrem Beruf und was raten Sie jungen Kolleginnen? Was machen Sie den größten Teil Ihrer Arbeitszeit? Steckbrief NAME: Karola Fendl ALTER: 32 GEBURTSORT: Magdeburg WOHNORT: Krefeld POSITION: Projektmanagerin für Energieeffizienz und Contracting STUDIUM: Umweltwissenschaften an der Universität Lüneburg INTERESSEN: Literatur, Reisen EMPFEHLUNG: Auf die Stand-By Verbräuche von Internet- router, Computer oder Ladegeräten achten. Sie verbrauchen mehr Ener- gie, als viele denken. Es gibt immer mehr engagierte Frauen, die meinen Beruf ausüben. Natürlich könnten es noch mehr sein. Deshalb möchte ich jungen Kolleginnen Mut machen, im Energiesektor zu arbeiten. Hier werden sich in den nächsten Jahren spannende neue Karriereoptionen ergeben. Was wäre die nächste Karrierestufe, die Sie sich vorstellen könnten? Ich kann mich entweder fachlich weiterbilden, indem ich einen weiteren Abschluss mache oder Zusatzqualifikationen erwerbe. Eine andere Möglichkeit wäre es, in Richtung Personalverantwortung zu gehen und irgendwann ein Team zu leiten. Ich bin aber erst seit zwei Jahren bei den Stadtwerken und habe mich da noch nicht entschieden. Dieses Thema finden Sie auch auf www.streitfragen.de/fakten STREITFRAGEN — November 2015 29 FAKTEN • ZAHLEN Und so geht’s weiter Die Energiesysteme sind im Umbruch – in Deutschland und weltweit. Die internationale Studie „Delphi Energy Future 2040“ wagt einen Blick in die Zukunft. Hier ausgewählte Ergebnisse: 1. These: Dezentrale Energieanlagen 2. 72,7 Expertise Prozent glauben, dass eine dezentrale Energieversorgung zu einer neuen demokratischen Selbstorganisation auf lokaler Ebene führt. 3. 30% der Befragten gehen davon aus, dass die Chinesen die weltweit führenden Entwickler nachhaltiger Energietechnologien sein werden. sehen diese Markführerschaft bereits in zehn Jahren. 30 Expertise These: Innovator China 75% STREITFRAGEN — November 2015 Befragten gehen davon aus, dass intelligente Zähler und Endgeräte den Verbrauch optimieren. These: All electric society meinen, grüner Strom wird auch zu Elektromobilität und Wärme genutzt. Expertise 9 10 von 3/4 4. These: Internet der Dinge 82 Prozent Region sehen diese Entwicklung für Deutschland, Europa und Nordamerika. 90% sehen diese Entwicklung erst 2040 oder danach. 5. These: Frauen entscheiden anders 66% der ausländischen Befragten erwarten, dass Frauen als Entscheider mehr Gewicht auf eine nachhaltige Energienutzung legen werden. Für die Deutschen ist das weniger ein Thema. 42% ZAHLEN • FAKTEN Wie sieht der Markt im Jahr 2040 aus? Um mögliche Antworten zu finden, hat der BDEW eine internationale Delphi-Studie initiiert. Gemeinsam mit der Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und PricewaterhouseCoopers (PwC) werden langfristige Trends in Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie und Politik hinterfragt, die unsere Energiezukunft beeinflussen. Konkret haben über 80 internationale Experten unterschiedlicher Fachrichtungen Thesen aufgestellt, die von 350 Entscheidern bewertet wurden. „Streitfragen“ hat die überraschendsten Ergebnisse aus der 1. Befragungsrunde für Sie zusammengestellt. These: Im Jahr 2040 … … hat sich die Hoffnung, die deutsche E nergiewende werde zum Exporthit, aufgrund von Akzeptanzproblemen zerschlagen. (These B) … ist Deutschland führende Exportnation für Energiemanagement und Energietechnik. (These A) 51,4 19,7 Prozent der Befragten sehen Deutschland eher scheitern. Prozent der Befragten sind sich da sicher. Wissenschaft 60% Öffentlicher Sektor Gesellschaftlicher Sektor 16% 57% 16% 56% Wirtschaft und Verbände Die meisten Befürworter kommen aus der Forschung, die Wirtschaft und die Verbände sind eher skeptisch. 6% 40% 30% ganz sicher These A wahrscheinlich These A weder noch wahrscheinlich These B ganz sicher These B deutsche Fassung 9% 46% 24% 20% 1% englische Fassung 4% 43% 36% 10% 7% 50 40 30 20 10 Kaum einen Unterschied spielt bei der Zustimmung zu T hese A die Herkunft. Etwa der gleiche Anteil an ausländischen und deutsche Experten sind sich hier sicher. 0 65 Wer hätte das gedacht: Experten über 65 glauben am meisten an den Erfolg der deutschen Energiepolitik. Weitere Informationen zur Delphi-Studie und ihrer Methode: www.delphi-energy-future.com/de STREITFRAGEN — November 2015 31 SZENARIO • HOME STORAGE ... werden HAusbesitzer unabhängig Solarstrom ins Netz einzuspeisen, wird sich immer weniger lohnen, ihn selbst zu verbrauchen immer mehr. Die Solaranlage als Modul für die Selbstversorgung gewinnt an Bedeutung. Überschüssige Energie aus Sonnentagen kann nun quasi im eigenen Keller gespeichert werden, bis sie benötigt wird. Zugekauft wird Strom dann nur noch, wenn es gar nicht anders geht. 32 STREITFRAGEN — November 2015 Fotos: dpa, iStock, Tesla Motors Wenn jeder seine eigene Hausbatterie hätte ... HOME STORAGE • SZENARIO Was Apple für die digitalen Medien in den 1980erJahren bedeutete, das schaffte Tesla 30 Jahre später mit seiner smarten Powerwall – einem Energiespeicher für den Privathaushalt. Massenproduktion und damit sinkende Preise krempelten die Energiebranche völlig um. Ein (fiktionaler) Blick zurück aus dem Jahr 2020. Von REINER SCHWEINFURTH ... entsteht im Keller Glamour Die Powerwall von Tesla hat ein Design, das schon jetzt mit Apple-Chic verglichen wird. Nachahmer, die schon in den Startlöchern stehen, werden sich ähnlich Mühe geben. Die Energie wird in einem formschönen Behälter gespeichert, der schon von außen das neue Konzept visualisiert. Der Kunde kann unter Mustern und Farben wählen. STREITFRAGEN — November 2015 33 SZENARIO • HOME STORAGE ... wird es weniger kraftwerke geben S o richtig los ging es 2015. 15.000 Home Storage‑Geräte wurden damals angeschlossen. Der Markt war noch auf jene beschränkt, die eine eigene Solara nlage auf dem Dach hatten und den Sonnenstrom auch dann nutzen wollten, wenn die Sonne nicht schien. Die großen Netzbetreiber schliefen nicht. Sie organisierten aus vielen kleinen Einheiten große Speicher, die günstigen Strom für alle vorhielten, auch für die, die keine Haushaltsbatterie im Keller hatten. Privathaushalte und Stromindustrie sorgten gemeinsam für die Energiewende. Deutschland hatte sich wieder zu jenem führenden Produzenten in der Elektro- 34 STREITFRAGEN — November 2015 technik entwickelt, der es schon einmal an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gewesen war. Bei den Batteriepacks, die heute in fast jedem Haus stehen, hat sich eine Stromleistung von durchschnittlich zehn Kilowatt durchgesetzt. Mehr brauchen wir im Alltag selten. Wir nehmen immer dann Strom auf, wenn die Handvoll Versorger ihn günstig zur Verfügung stellen oder die eigene Produktion auf dem Dach uns einen besseren Preis macht. Fünf Jahre halten die Akkus mindestens ohne größere Leistungseinbußen. Der Export von Hausspeichern, die von Mercedes‑Benz, BMW oder Vattenfall hergestellt werden, dreht weiterhin hochtourig. Zudem hat sich ein Markt für „Second Life“-Geräte entwickelt. Der mecklenburgische Versorger WEMAG erkannte früh das Potenzial gebrauchter Speicher, kombinierte sie neu. Aus ihrem E‑Kit, das sich zum funktionalen Antriebsstandard für E‑Mobility gemausert hatte, ist ein Lizenzgeschäft geworden, das in China genauso funktioniert wie in Anklam. Die Speicher können den Strom parken, der etwa durch eine Photovoltaikanlage auf dem Hausdach erzeugt wurde. Als es mit der Energiewende so richtig losging – in den späten 1990er‑Jahren – war auch der Siegeszug der Batterie absehbar. Die Entwicklung brachte viele Menschen dazu, die „Daseinsvorsorge Fotos: Jürgen Nefzger, Roman Rätzke/ReeVolt Mit Millionen privaten Energieerzeugern und weniger Großkraftwerken wird eine völlig neue Energielandschaft entstehen. Und die stillgelegten Energieanlagen dürfen ihr Dasein noch als Freizeitpark, Kletterlandschaft oder Kunstobjekt fristen. HOME STORAGE • SZENARIO ... gibt das der E-Mobility Schub Es gibt schon heute ein Konzept für einen ganz einfachen Elektroantrieb, der sehr einfach ein- und ausgebaut werden kann. Der Autofahrer schließt ihn an den eigenen Energiespeicher an und zieht sich von dort zum Beispiel Solarstrom vom Dach. Die Tankstelle im Keller ist praktisch, sauber, billig. Energie“ in die eigenen Hände zu nehmen. Folge: die Dezentralisierung der Stromproduktion mit einem immer selbstbewussteren Auftreten der Prosumer – der Verbraucher, die gleichzeitig Produzenten sind. Auf Verteilungsprobleme reagierten die Netzbetreiber zunächst mit einem umfassenden Netzausbau, der aber teuer war und auf vielfältige Widerstände stieß. Als dann die ersten massentauglichen Batterien auf dem Markt auftauchten, begann das große Umdenken. Trotz zunächst recht hoher Leistungsverluste beim Speichern ist das Parken von regionalen Überproduktionen aus erneuerbaren Energiequellen in virtuellen, aus vielen Home Storage-Geräten zusammengesetz- ten Speichern günstiger als der Transport. Alle großen Provider begannen, Komplettlösungen anzubieten. Von der Anlieferung des Stroms bis zum Speicher, von der Regeltechnik bis zum Management des Energieverlustes im Stand‑by‑Modus, während des Urlaubs oder in der Nacht. Das alles ist längst Standard. Der Preis machte die Musik dazu. Die Einspeisevergütung ging zurück. Heute – 2020 – gibt es nur noch 3,5 Cent pro Kilowattstunde für die Stromlieferung aus dem Haushalt ins große Netz. Die Nutzung der privaten Ressourcen durch die großen Provider bringt auch noch 1,5 Cent pro Kilowattstunde. Hinzu kommt, dass sich viele Speicher längst amortisiert ha- ben, mehrfach abgeschrieben sind und so der Strom aus der Eigenproduktion praktisch umsonst ist. Mit dem Speicher zu Hause hat sich ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage ergeben, der mit der Unterstützung großer Anbieter zu einer Versorgungssicherheit geführt hat, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat. Da ist auch die obligatorische Energie-Flatrate für jeden Haushalt zu verschmerzen. Schließlich muss ja die zentrale Infrastruktur unterhalten werden. Das Thema finden Sie auch auf www.streitfragen.de/szenario STREITFRAGEN — November 2015 35 MEINUNG • VERSORGUNGSSICHERHEIT Brauchen wir einen Mindest Ja. Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit ist die Einführung einer stetigen und temporären Gasreservevorhaltung sinnvoll. Von ERNA-MARIA TRIXL D er Lieferstopp von Erdgas aus Russland in die Ukraine hat eine verstärkte Diskussion um die Sicherheit der deutschen Gasversorgung ausgelöst. Neben der potenziellen Gefährdung der Versorgungssicherheit aufgrund der politischen Bedrohungslage können vor allem in Süddeutschland auch Leistungsengpässe, hervorgerufen durch länger anhaltende Kälteperioden, wie sie beispielsweise im Februar 2012 aufgetreten sind, zu Einschränkungen der Versorgung – insbesondere des geschützten Kundenkreises – führen. Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit in Deutschland ist daher ein Sicherungsmechanismus erforderlich, der beide Situationen maßgeschneidert abdeckt. Diese Funktion übernehmen derzeit insbesondere Gasspeicher, und zwar kostenlos und dauerhaft als Nebenprodukt. Aufgrund der aktuellen und absehbaren zukünftigen Entwicklungen ist deren Wirtschaftlichkeit jedoch erheblich gefährdet. Es ist zu erwarten, dass es zur irreversiblen Stilllegung von Gasspeichern kommt – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Versorgung. Gasspeicher 36 STREITFRAGEN — November 2015 stehen im Wettbewerb mit anderen flexiblen Produkten. Dies führte zu einer konsequenten Sommer-/Winter-PreisspreadBewirtschaftung des gesamten Arbeitsgasvolumens. Damit fehlt aber ein Anreiz für eine möglichst lange Verfügbarkeit der notwendigen Vorhalteleistung, was tendenziell leere Speicher am Ende des Winters nach sich zieht. Aufgrund des Wegfalls der früher üblichen Leistungspreissystematik ist die „inhärente Versorgungssicherheit“ nicht mehr gegeben. Die Wettbewerbsfähigkeit von Speichern wird zusätzlich durch doppelte Netzentgelte benachteiligt. Wir sehen daher zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit die Einführung von zwei Mechanismen – analog der Kapazitätsreserve im Strommarkt – als notwendig an: –eine stetige Gasreservevorhaltung für Kälteperioden und –eine temporäre Gasreservevorhaltung für politische Krisensituationen. Wesentlicher Aspekt ist dabei die Einführung einer Vorhalteverpflichtung für die Fernleitungsnetzbetreiber. Diese sind für den Transport des Gases, das von den Bilanzkreisverantwortlichen auch in diesen Fällen am virtuellen Handelspunkt der Marktgebiete bereitgestellt wird, verantwortlich. Die Kosten für die Vorhalteverpflichtung sollten von der Regulierungsbehörde anerkannt und über Netzentgelte abgewälzt werden. »Es ist ein Sicherungsmechanismus erforderlich, der beide Situationen maßgeschneidert abdeckt.« Erna-Maria Trixl, Geschäftsführerin Vertrieb der Stadtwerke München VERSORGUNGSSICHERHEIT • MEINUNG füllstand für Erdgasspeicher? Nein. Staatlich vorgegebene Reserven oder Mindestfüllstände wären ein nicht vertretbarer Eingriff. Von THILO AUGUSTIN Fotos: Shutterstock, Kerstin Groh/SWM, Gelsenwasser; Illustration: C3 Visual Lab D ie Erdgasversorgung in Deutsch land hat sich in den letzten Dekaden zu einer wesentlichen Säule der umweltgerechten und sicheren Energieversorgung etabliert. Seit Anfang der Gasversorgung hat die Versorgungssicherheit der Endkunden stets eine sehr hohe Bedeutung. Den Besonderheiten der Importabhängigkeit und der langen Transportwege wurde dabei stets Rechnung getragen. Mit der Einführung des liberalisierten Energiemarktes sind die Marktrollen in der Gasversorgung neu zugeordnet und definiert worden. So ist die Lieferanten- und Handelskette heute durch einen funktionierenden und liquiden Markt am virtuellen Handelspunkt geprägt. Der technische Betrieb des Gasnetzes wird durch die marktgebietsverantwortlichen Fern- und Verteilnetzbetreiber bestritten. Die Speicherinfrastruktur stellt eine separate Marktrolle dar und wird im Wesentlichen von den Händlern bewirtschaftet. Zum Erhalt der wirksamen Systemstabilität sind alle drei Marktrollen aufeinander angewiesen und müssen am Wettbewerb teilnehmen. Als weitergehendes Sicherungssystem hat sich der BDEW für eine Flexibilitätsre- serve ausgesprochen, die bei Marktversagen für einen Übergangszeitraum von maximal sieben Tagen ungewollte Abschaltungen vermeiden soll oder weitergehende Versorgungsprobleme überbrücken kann. Alle darüber hinausgehenden Versorgungsanforderungen sollten ohne weitere regulatorische Eingriffe in Handels- oder Speicherfunktionen über einen transparenten Markt ablaufen. Der Zubau von weiteren Importkapazitäten sowie die erfolgreichen Energieeinsparmaßnahmen führen dazu, dass die vorhandene Flexibilität im Gasversorgungssystem stets weiter zunimmt und die Preise für Flexibilitäten wie Speicher günstiger werden. Das heißt auch, dass der Betrieb von einigen Speicheranlagen durchaus unwirtschaftlich werden kann und diese vom Markt genommen werden. Genau diese Korrekturen innerhalb der Marktwirtschaft stellen einen gewollten und funktionierenden Effekt für die Vorhaltung derartiger Reserven dar und führen dazu, dass die Kunden der Gasversorgung nicht mit überproportionalen Kosten belastet werden. Ein staatlicher Eingriff in Form einer vorgegebenen Reserve oder die Verpflichtung von Speichernutzern zu Mindestfüllständen wäre ein nicht vertretbarer regulatorischer Eingriff und das völlig falsche Signal an den Markt. Es gibt leider genügend Beispiele, bei denen derartige regulatorische Eingriffe für einen Übergangszeitraum ins Leben gerufen wurden, aber als Provisorium teilweise über Jahrzehnte Bestand haben. Eine einmal aufgebaute regulatorische Maßnahme wird in der Regel trotz besseren Wissens nicht zurückgenommen. »Ein staatlicher Eingriff wäre das völlig falsche Signal an den Markt.« Thilo Augustin, Bereichsleiter Vertrieb bei Gelsenwasser STREITFRAGEN — November 2015 37 UNTERNEHMERGEIST • SPEICHERMARKT Sie betreten Neuland Die Energiewende braucht neue Systeme zur Netzstabilisierung. Innovative Unternehmen stecken viel Geld und Expertise in Speichermöglichkeiten. Der Pioniergeist wird sich lohnen – weltweit. Younicos-Mitbegründer Clemens Triebel im eigenen Technologiezentrum in Berlin-Adlershof. 38 STREITFRAGEN — November 2015 Fotos: Marc Beckmann Von Y VONNE SCHRÖDER SPEICHERMARKT • UNTERNEHMERGEIST W enn die Natur doch nur berechenbarer wäre: und konnten von Beginn an auf die Unterstützung von guten InMal wird weniger Wind gebraucht, ein ander- vestoren bauen“, sagt Clemens Triebel, Chief Visionary Officer mal mehr Sonne. Dabei soll der Strom immer und Younicos-Mitbegründer. „Und die Vorteile der Batterie lagrüner werden. In dem Maß, wie der Anteil gen für uns immer klar auf der Hand: Sie ist langlebig, sicher und Erneuerbarer am Energiemix steigt, drängt eine extrem schnell. Batterien können in weniger als 200 Millisekunneue Problematik in den Fokus: Systemstabili- den reagieren.“ tät und Speicherbedarf. Nach Berechnungen der Thüga-Gruppe Welche Batterien die besten sind und wie ihr Lade- und Entwerden schon 2020 etwa 17 Terawattstunden erneuerbarer Ener- ladeverhalten sich auf die Speicheranforderungen auswirken, ungie zwischengespeichert werden müssen. Bis 2050 wird der Be- tersuchen die Berliner im eigenen Lithium-Ionen-Testlabor. Es darf an Speicherkapazität auf etwa 50 Terawattstunden anstei- wird aber nicht nur geforscht, sondern auch gebaut. Auf der porgen. Neben dem Netzausbau sind deshalb auch Investitionen in tugiesischen Azoren-Insel Graciosa errichtet Younicos gemeinkluge und bezahlbare Speichertechniken gefragt. sam mit dem regionalen Energieversorger EDA das weltweit ersWo genau wie viel gespeichert werden soll, das ist die Fra- te erneuerbare Energiesystem auf Basis von bis zu 100 Prozent ge, die sich bei der Speicherung generell stellt. Viele Verbrau- Wind- und Sonnenstrom. „Wo sonst als auf einer Insel könnten cher wollen eine autarke Versorgung. Gleichzeitig muss in wir derzeit besser zeigen, dass erneuerbare Energien technisch Großspeichersysteme investiert werden, die garantieren, dass wie wirtschaftlich fossilen Energieträgern voraus sein können“, der Strom für viele Abnehmer gleichmäßig fließt. sagt Triebel. Deshalb konzipierten sie den Bau eines 2,6‑MegaImmer mehr Unternehmen, ob watt‑Groß-Akkus, der den überschüsklein oder Global Player, arbeiten dersigen Strom aus einem 4,5‑Megawatt‑ zeit an der Entwicklung neuer EnerWindpark und einer Ein‑Megawatt‑ giespeichermodelle. Die Investitionen Photovoltaikanlage speichern kann. machen sich zwar noch nicht oder Der Bau wird von privaten Investokaum bezahlt, doch die Konkurrenz ren getragen. Wenn die Anlage dann schläft nicht. Und jene, die sich jetzt läuft, soll sie die Stromversorgung auf das Know‑how aneignen, werden zu Graciosa zu 65 Prozent (Jahresdurchden Ersten gehören, die damit Geld schnitt) aus erneuerbaren Energien verdienen. decken. Die Dieselkraftstoff-Importe „Führend im Bereich ‚Storage‘ sind könnten dadurch sukzessive verringert derzeit die USA, gefolgt von Japan, werden. China und Deutschland – egal, ob es Triebel: „Das Modell und die Erum kleinere Lösungen für die dezentfahrungen, die wir aus diesem Projekt ralen erneuerbaren Erzeugungsparks gewinnen, lassen sich auch auf andegeht oder um zentrale Lösungen, die re Systeme umlegen. Letztlich spielt es zur Netzstabilisierung oder zur Teilkeine Rolle, ob wir eine Insel oder den nahme am Regelenergiemarkt eingeKontinent Europa betrachten.“ setzt werden. Wobei Deutschland eine Wesentlicher Bestandteil der Batsehr wichtige Rolle einnimmt“, sagt teriekonzepte von Younicos ist auch Cavin Pietzsch, Leiter des Geschäftsdie dazugehörige Software. „Die ist bereichs GE Energy Management in entscheidend für intelligente SpeiDeutschland. „Bereits heute besteht der cherlösungen“, erklärt Clemens TrieEnergieerzeugungsmix in Deutschland bel. Es geht um Regulierung, VernetYounicos forscht an der optimalen Batterie. zu 30 Prozent aus Erneuerbaren. Dazung, aber auch das Abschöpfen von her gibt es hierzulande auch ein großes großen Datenmengen aus zentralen Interesse, schnell Lösungen in das Energiesystem zu integrieren, und dezentralen Anlagen. Damit die Stromnetze ohne rotierendie helfen, die fluktuierende Einspeisung aus erneuerbaren Er- de Massen stabil betrieben werden können, müssen alle Erzeuzeugungsanlagen auszubalancieren. Speichertechnologien sind gungs- und Speichereinheiten dezentral und ohne menschliches hier sicherlich eine zentrale Komponente.“ Eingreifen zusammenspielen. Ob und wie man Geld in Zukunft mit den SpeicherkapazitäSPEICHERPIONIERE AUS BERLIN ten verdiene, liege allerdings nicht nur daran, wie sich der Markt Eine solche Lösung – ein Fünf‑Megawatt‑Lithium-Ionen-Akku – entwickele, sondern auch daran, ob die Politik die Märkte so gestabilisiert in Schwerin bereits seit einem Jahr das ostdeutsche stalte, um die Energiewende kosteneffizient umzusetzen. Im MoStromnetz. Er ist der erste kommerzielle Batteriespeicher in Eu- ment sei das noch nicht der Fall. Speicher würden nicht für ihre ropa, finanziert und betrieben vom Energieversorger WEMAG. Genauigkeit und Präzision belohnt. Allerdings sei das fehlende Die vom Berliner Unternehmen Younicos konzipierte vollauto- politische Bekenntnis nicht der einzige Grund dafür, wieso die matische Anlage wurde im September 2014 eröffnet und gleicht Investitionen in den deutschen Speichermarkt so zögerlich seien. seitdem erfolgreich kurzfristige Schwankungen in der Netzfre- Triebel glaubt, dass das Vertrauen in die Batterie als Speicherquenz aus und schafft so Platz für mehr Wind- und Sonnen- medium in großen Dimensionen erst langsam wächst. Als man strom. „Wir arbeiten und forschen bereits seit 2005 an Speichern 2006 damit begonnen habe sich vorzustellen, dass Batterien STREITFRAGEN — November 2015 39 UNTERNEHMERGEIST • SPEICHERMARKT so groß sein könnten wie eine Sporthalle, war alleine schon das Wort Batteriekraftwerk eine Innovation für sich. NEUE POWER AUS DEN USA Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt die Batteriebranche Anfang dieses Jahres, als der US-Elektroautobauer Tesla in Los Angeles die Powerwall, den Batteriespeicher für zu Hause, vorstellte. Auch wenn die Batterietechnik aus dem Hause Tesla nicht neu ist – durch die Powerwall wurde ein Hype ausgelöst. Ausgeklügeltes Marketing brachte öffentliche Aufmerksamkeit und kurbelte den Absatz an. In den USA gingen nach der Präsentation im Mai bereits 40.000 Bestellungen ein. Der angekündigte Preis für den Tesla-Speicher kommt zudem einer Kampfansage an etablierte Anbieter für Stromspeicher gleich, darunter Samsung, Bosch und der Batteriehersteller Varta. Etwa 3.000 US-Dollar kostet die kleine Variante des Tesla-Hausspeichers. Das ist fast die Hälfte dessen, was Käufer für vergleichbare Produkte bezahlen müssen. Ab 2016 soll der Tesla‑Wandspeicher in zwei Ausführungen auch in Deutschland auf den Markt kommen. Kooperiert wird hierzulande mit dem Hamburger Energieversorger LichtBlick. Diese Ankündigung rief die deutschen Unternehmen auf den Plan. So hat nun auch Daimler verkündet, in das Geschäft mit den stationären Batterien einzusteigen. Die ersten Lithium-Ionen-Akkus, die der Konzern bereits in kleinerer Ausführung in seinen Elektrofahrzeugen einsetzt, sollten im Sommer auf den Markt kommen, nun ist von Herbst die Rede. Über den Preis gibt es noch keine Informationen. Der sich entwickelnde Wettbewerb wird den Produktpreis drücken. Ist eine Massenproduktion möglich, führt das zu einer Preisminderung. Die Stromspeicher werden immer günstiger zu haben sein – parallel dazu steigt die Akzeptanz der Batterien als Speicherform. Da sind sich die Experten sicher. „Technologisch gesehen sind mittlerweile viele Batteriespeichersysteme so weit entwickelt, dass sie einen wirtschaftlichen Business Case ermöglichen“, sagt Cavin Pietzsch. „Das wird sich in den nächsten Jahren mit der Verbesserung der zellenspezifischen Speicherkapazitäten noch drastisch verbessern. Der Wettbewerb wird hier auch durch die Anforderungen der Automobilindustrie angetrieben und sorgt damit für einen kontinuierlichen Innovationsdruck.“ General Electric entdeckte den Speichermarkt schon vor einigen Jahren für sich. Mittlerweile wächst der Konzern auch in diesem Geschäftsfeld kontinuierlich. Aktuell baut GE an einem Großprojekt in den USA mit 30 Megawatt Leistung. GRÜNER WASSERSTOFF AUCH FÜR DIE STRASSE Neben dem Hype um die Hausakkus ringen sowohl Powerto-Gas-Technologien (P2G) als auch Power-to-Heat (P2H) als wichtige Komponenten im Speichermarkt um Aufmerksamkeit. P2G als Langzeitspeicher wird dann gebraucht, wenn es über längere Zeit zu hohen Stromüberschüssen kommt, wie sie etwa ab einem Anteil der erneuerbaren Energien von mindestens 50 Prozent zu erwarten sind. „Unser P2G-Projekt ist in Deutschland eines der größten“, sagt Jonas Aichinger, Referatsleiter Technologieentwicklung und ‑management der Stadtwerke Mainz. Das besondere an der P2G-Technologie sei, dass man mit ihr auch auf lange Zeit Energie speichern könne. Mehrere Tage oder Wochen seien kein Problem – und genau das mache diese Tech40 STREITFRAGEN — November 2015 nologie so wertvoll für die Energiewende, so der Technologieexperte. „Unsere PEM-Anlage zur Wasserstoffgewinnung ist sogar die größte im Speichermarkt weltweit.“ Etwa 17 Millionen Euro wurden in die moderne Mainzer Anlage zur Herstellung grünen Wasserstoffs investiert. Etwa die Hälfte der Summe finanzierte der Bund als Forschungs- und Entwicklungsvorhaben. Das Pilotprojekt wurde von den Stadtwerken Mainz in Zusammenarbeit mit Siemens, Linde und der Hochschule RheinMain umgesetzt. Die Anlage, die nach einjähriger Bauzeit im Juli dieses Jahres in Betrieb ging, ist an einen Windpark und das Strom- und Gasnetz der Umgebung angeschlossen. Das Herzstück des Systems ist eine PEM-Elektrolyseanlage zur Wasserstoffgewinnung aus regenerativem Strom mit einer Spitzenleistung von sechs Megawatt. Entschieden habe man sich für diese Technologie vor allem, weil der Standort in Mainz die nötige Infrastruktur hat, so Aichinger. „Wir haben hier einen idealen Knotenpunkt.“ Der Energiepark ist direkt an das Mittelspannnetz der Stadtwerke Mainz sowie an vier benachbarte Windräder angebunden. Zudem läuft eine Pipeline über das Gelände, in die der Wasserstoff gleich eingespeist werden kann. „Außerdem nutzen wir die in Wasserstoff gespeicherte Energie, um sie auch in Brennstoffzellen‑Fahrzeuge einsetzen zu können. Die erneuerbare Energie kann so auch auf die Straßen gebracht werden“, sagt Jonas Aichinger. Mit Brennstoffzellen‑Fahrzeugen kann man schon heute mehrere 100 Kilometer fahren und einfach auftanken. Investiert in die Zukunft: Dr. Tobias Brosze von den Stadtwerken Mainz. Fotos: Katrin Binner SPEICHERMARKT • UNTERNEHMERGEIST Derzeit wird im Energiepark genügend Wasserstoff produziert, um etwa 2.000 Brennstoffzellen-Autos zu versorgen. Aichinger: „Man sollte die moderne Stadt als energieatmende Zelle begreifen. Wenn Wind und Sonne viel Strom produzieren, laden wir die Speicher der Stadt auf, um diese bei Bedarf nutzen zu können.“ Die Großanlage ist auch aus wirtschaftlicher Sicht spannend. Denn die Stadtwerke Mainz beschäftigen sich schon seit Beginn der Energiewende mit dem Thema Netzstabilität und Speichertechnologie. „Wir investieren in die Zukunft“, sagt Dr. Tobias Brosze, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke Mainz. „Wir haben in den vergangenen Jahren schon viel Neues ausprobiert und waren sehr innovativ unterwegs. Wir packen das Thema an und sammeln Erfahrungen.“ Die Wirtschaftlichkeit soll nun in einem vierjährigen Jonas Aichinger (li.) und Dr. Tobias Brosze in der Power‑to‑Gas-Anlage der Stadtwerke Mainz. Pilotprojekt untersucht und erprobt werden. „Derzeit wird die Auswirkung von Einsatzszenarien und Wasserstoffverwendung auf die Wirt- dereinspeisung aus dem Netz entnommen, zwischengespeichert schaftlichkeit der Anlage untersucht. Noch wissen wir nicht, ob und anschließend wieder zugeführt. man mit dem Einsatz von P2G Geld verdienen kann. Wenn in Dass Speicher gebraucht werden, stellt wohl niemand ernstden kommenden Jahren die neue Technologie honoriert wird haft infrage. Die Politik müsste sich eigentlich nur zu dieser und sich die Strommärkte weiter entwickeln, sind wir gut aufge- Form der Stromspeicherung bekennen und die Voraussetzungen stellt“, ist sich Brosze sicher. dafür schaffen, dass die Anlagen wirtschaftlich betrieben werden können. Dann könnten die zwölf Projekte verwirklicht werden. TECHNOLOGIE ZWEITER KLASSE? Derzeit haben bei den Speichertechnologien in Deutschland al- RAUS AUS DER NISCHE lerdings die Pumpspeicher die Nase vorn. 31 Kraftwerke speisen „Es wird in kürzester Zeit einen kommerziellen Speichermarkt über sechs Gigawatt Leistung ein. Und weil die bewährte Tech- geben – ob für zentrale oder dezentrale Lösungen“, ist GE-Mann nologie als zuverlässig gilt, sind weitere Cavin Pietzsch überzeugt. In Privathauszwölf größere Projekte geplant. Aber die halten wird es viel mehr kleine KompaktAKTUELLE ENERGIESPEICHER Investoren zucken zurück. Denn: Die reanlagen geben. Aber auch große Lösungen gulatorischen Hürden sind zu hoch. Und sind notwendig. Sie werden unmittelbar Pumpspeicherkraftwerke ... das Preisgefüge hat sich mit dem steigenan konventionelle Kraftwerke angeschlos... sind eine bewährte großtechnische Stromspeiden Anteil Erneuerbarer stark verändert. sen sein, um Regelenergie zu handeln und chertechnologie mit einem Wirkungsgrad von etwa Darunter leiden die bestehenden Anlazu vermarkten. Beides wird seinen Platz 85 Prozent. gen und neue Vorhaben liegen auf Eis. finden. Batteriespeicher ... Pumpspeicher sind aber – wie alle andeAllerdings, und darin sind sich die ... gibt es mit verschiedenen Zelltypen. Sie beren Energiespeicher auch – darauf angeMarktteilnehmer einig, müssen die Bezeichnen den verwendeten Batterietyp: von AHI = wiesen, dass im Strommarktdesign der dingungen für neue Speichermodelle verAqueous Hybrid Ion über Li-Ion = Lithium-Ionen Zukunft die Bereitstellung von Flexibilibessert werden. Das betrifft unter anbis ZBrRFB = Zink-Brom-Redox-Flow-Batterie. tät und gesicherter Leistung angemessen derem einfachere Genehmigungen für Power-to-Gas ... vergütet wird. Bislang hat sich das trotz Windgasprojekte und einen besseren Zu... gibt es als Elektrolyseverfahren mit einem WirPotenzialstudien einzelner Bundesländer gang zu den Regelenergiemärkten sowie kungsgrad von 75 Prozent und durch die Methaninoch nicht geändert. die Möglichkeit, überschüssigen Windsierung von Wasserstoff, bei der der Wirkungsgrad Zudem werden für den Strom, der in strom zum Marktwert zu beziehen. bei 60 Prozent liegt. die Pumpspeicheranlagen fließt, nach wie Ob Batterie, P2G, P2H oder PumpPower-to-Heat ... vor Netzentgelte und Umlagen berechnet. speicher – verschiedene Speichertechno... nutzt überschüssigen Strom aus Erneuerbaren Zu Unrecht, denn ein Speicher ist kein logien werden dafür sorgen, das Netz zu Energien zur Erwärmung des Heizungswassers. Der Endverbraucher, wie aktuell im Energiestabilisieren und die Versorgung zu siWirkungsgrad beträgt fast 100 Prozent. wirtschaftsgesetz festgeschrieben ist. Der chern. Vielleicht entwickeln Ingenieure Strom wird also zum Zwecke der Wieaber auch völlig neue Verfahren. STREITFRAGEN — November 2015 41 ESSAY • DIVESTMENT 42 STREITFRAGEN — November 2015 DIVESTMENT • STANDPUNKT Kohle ohne Kohle Investoren ziehen ihre Gelder von Kohlekraftwerken ab. Aber warum? Aus Gründen der Political Correctness? Oder weil sie sich um ihre Renditen sorgen? Von ANDREAS THEYSSEN Fotos: Shutterstock (4); Illustration: C3 Visual Lab L eonardo DiCaprio ist kein knausriger Typ. An den gut der Kohle! Doch was steckt dahinter? Ein Modetrend? Ein öko500 Millionen Euro, die er bislang in Hollywood verdient logisch motivierter Wandel wie jener, der dazu führte, dass heute hat, lässt der Schauspieler andere kräftig teilhaben. Er hat selbst Discountmärkte Bioprodukte in ihren Regalen haben? Es für die Wahlkämpfe aller demokratischen US-Präsident- ist komplizierter. schaftskandidaten seit Bill Clinton gespendet, für BibWenn Norwegens Staatsfonds desinvestiert, dann weil es poliliothekscomputer, für die Rettung der asiatischen Tiger, tisch gewollt ist. Das ist bemerkenswert. Denn der Staatsfonds wird für haitianische Erdbebenopfer, für die Aids-Forschung. Er stach gespeist durch Einnahmen aus Norwegens Öl- und Gasförderung. bei einer Wohltätigkeitsauktion sogar Paris Hilton aus, um eine Kohle aber lehnt Oslos Parlament ab. Und so wundert man sich Chanel-Tasche für seine Mutter zu ersteigern. Nur eine Gruppe bei einem deutschen Versorger: „Gerade die, die am meisten am kann von ihm kein Geld mehr erwarten: Unternehmen, die ihr CO₂-Ausstoß verdienen, machen nun auf CO₂-frei.“ Geschäft mit fossilen Energien machen. „Wir müssen den WanBei anderen Finanziers sind es indes sehr renditeorientierte del zu einer Wirtschaft der sauberen Energien schaffen, die ohne Gründe. So begründet zwar auch die Citigroup ihren Ausstieg fossile Energieträger auskommt“, sagt er. „Deshalb ist es jetzt an aus der Kohle mit Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Gleichzeitig der Zeit zu desinvestieren.“ Sein privates und das Vermögen seiner gibt sie an, in den nächsten zehn Jahren mit 100 Milliarden DolUmweltschutzstiftung zieht er deshalb aus solchen Investments ab. lar Umwelt- und Klimaschutztechnologien finanzieren zu wollen. DiCaprio ist der derzeit prominenteste Anhänger der sogenann- Und das ist der Punkt. Die Ressourcen fossiler Energieträger sind ten Divestment-Bewegung. Klimaschutzorganisationen wie 350.org endlich, zudem wird die Branche durch Klimaabkommen und organisieren seit Jahren Kampagnen gegen Erdöl-, Gas- und vor allem verschärfte Gesetze immer weiter eingeschränkt. Für Finanziers Kohleindustrie, die durch ihren heißt das: ein schrumpfender hohen CO₂-Ausstoß die ErderMarkt. Regenerative Energien Kohlekraftwerke haben bereits in der Gegenwart wärmung forcieren. Anfangs behingegen bieten dank staatliteiligten sich vor allem Universitächer Förderung hohe Margen. Probleme, die jenseits alles Ökologischen liegen. ten, Kirchen und Kommunen, die Bei Insurance Europe, dem ihre Vermögensanlagen aus den Dachverband der europäischen inkriminierten Branchen abzogen. Doch inzwischen hat die Bewe- Versicherer, sind die Klimaziele „ein ganz großes Thema“, wie es gung nicht nur DiCaprio gepackt, sondern sogar die Wirtschaft selber. dort heißt. Doch auch dabei geht es nicht um Political Correct„Manche Investoren auf den internationalen Finanzmärkten ness, sondern um unternehmerische Erwägungen. „Es ist seit eisind zu Recht der Auffassung, dass der Bau von Kohlekraftwerken niger Zeit anerkannt, dass der Klimawandel für die Welt ernstmit einer ambitionierten Klimapolitik unvereinbar ist“, beobach- hafte Konsequenzen hat“, so Torbjörn Magnusson, Vizepräsident tet Ottmar Edenhofer, Klimaschutzberater der Bundeskanzlerin. von Insurance Europe. Mehr und schwerere Naturkatastrophen Dahinter steckt mehr als Wunschdenken bei Deutschlands be- würden die Herausforderungen, denen sich die Versicherer heute kanntestem Kämpfer gegen die Erderwärmung. schon gegenüber sähen, noch weiter steigen lassen. Die KalkulaAllein 2015 haben die Großbanken Credit Agricole, Citigroup tion der Branche: mehr CO₂ = mehr Erderwärmung = mehr Kaund Bank of Amercia erklärt, keine Kohleprojekte mehr finan- tastrophen = mehr Kosten für die Versicherer. zieren zu wollen. Auch der Versicherer Axa und die Stiftung der Die Divestment-Bewegung erreicht inzwischen sogar die US-Milliardärsfamilie Rockefeller sagten Adieu. Norwegens Staats- Energieversorger. So hat Vattenfall seine ostdeutsche Braunfonds, immerhin 835 Milliarden Euro schwer, dürfte folgen. Der kohle-Sparte nun offiziell zum Verkauf freigegeben. Mit PolitiFinanzausschuss des Parlaments in Oslo hat jüngst den Rückzug cal Correctness hat das indes wenig zu tun. Die deutsche Enerdes Fonds aus allen Anlagen mit fossilen Energien empfohlen. Be- giewende mit ihrem Fokus auf regenerative Energien drückt zu troffen wären weltweit bis zu 70 Unternehmen, darunter auch die sehr auf die Rendite. deutschen Versorger E.ON und RWE. Wie die Atomkraft, so gerät auch die Kohle aus der Mode. Andreas Theyssen war Ressortleiter Politik bei der Financial Times Sie gilt als dreckig, als pfui, und deshalb als tabu. Also raus aus Deutschland und ist Gründer der Debattierplattform Opinion Club. STREITFRAGEN — November 2015 43 SCHLAGZEILEN • MEDIENCHECK SCHLAGZEILEN, die wir gern lesen würden TERMINE • VERANSTALTUNGEN Was kommt Die Energie- und Wasserbranche ist in Bewegung. Fortwährend finden Kongresse, Tagungen und Foren zu aktuellen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Themen statt. 30.11.–11.12.2015 UN-Klimakonferenz, Paris 3.12.2015 Forum für kleinere und mittlere Stadtwerke, Hamburg 16.–18.2.2016 E-world energy & water, Essen Impressum Herausgeber BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. Reinhardtstraße 32 10117 Berlin [email protected] www.bdew.de Gesamtverantwortung Mathias Bucksteeg Chefredaktion Henning Jeß 23.–24.2.2016 Smart Renewables 2016, Berlin 25.–29.4.2016 Hannover Messe mit dem Energieforum „Life Needs Power 2016“ unterstützt vom BDEW Redaktionsschluss Herbst 2015 Konzept und Realisierung C3 Creative Code and Content GmbH, unter redaktioneller Mitarbeit von Ricarda Eberhardt, Birgit Heinrich (Bildwelt), BDEW Autoren dieser Ausgabe Ina Broszka, Tom Levine, Yvonne Schröder, Reiner Schweinfurth (alle C3) Druck und Verarbeitung Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft Potsdam mbh Karl-Liebknecht-Straße 24/25 14476 Golm bei Potsdam STREITFRAGEN — November 2015 45 OUTRO • TRINKWASSER OUTRO Streitpunkt Wasser »Eine Steuer auf Pflanzenschutzmittel könnte Anreiz für den einzelnen Landwirt sein, jeweils möglichst wenig Pflanzenschutzmittel einzusetzen, so Geld zu sparen und zu helfen, unerwünschte Umweltbelastungen zu reduzieren.« Robert Habeck, Umweltminister von Schleswig-Holstein, zu seinem Vorschlag einer Steuer auf Pflanzenschutzmittel am 2.10.2015. 46 STREITFRAGEN — November 2015 TRINKWASSER • OUTRO »Die Forderung von Minister Habeck bringt (...) keinen Zusatznutzen für den Umweltschutz.« Foto: Shutterstock Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes, zum gleichen Thema am 3.10.2015. STREITFRAGEN — November 2015 47 Und hier geht’s weiter: www.streitfragen.de Diskutieren Sie mit, erfahren Sie mehr. Lesen Sie das Doppelinterview zwischen Hans-Heinrich Andresen (WEB Andresen) und Andreas Renner (EnBW) über den zukünftigen Ausbau der Windkraft in Deutschland, die Ausgestaltung des Auktionsdesigns für erneuerbare Energien und die Akteursvielfalt. Erfahren Sie im Länderporträt, was Costa Rica unternimmt, um bis 2021 Niedrigemissionsland zu werden. Streit-fragen Das Magazin der Energie- und Wasserwirtschaft Sie haben auf www.streitfragen.de einen spannenden Beitrag gefunden? Dann sagen Sie es weiter! Sie haben eine andere Meinung als die Autoren? Wir sind gespannt. www.streitfragen.de | [email protected]
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