Flucht, Vertreibung, Deportation: Das Jahrhundert der

Veranstaltungsbericht
Flucht, Vertreibung, Deportation: Das Jahrhundert der Zwangsmigration. Vortrag von Prof. Dr. Jochen Oltmer
Vortragsreihe „Das Jahrhundert vermessen. Signaturen – Umbrüche – Kontinuitäten“ des
Lehrstuhls Neueste und Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
10. Dezember 2014 | 18:15 Uhr | Bundesstiftung Aufarbeitung, Kronenstraße 5, 10117 Berlin
Inwiefern lässt sich das 20. Jahrhundert als eines der Zwangsmigration beschreiben? Welche Formen und Folgen von Flucht, Vertreibung und Deportationen sind für das vergangene Jahrhundert auszumachen? Der Politikwissenschaftler und Historiker Prof. Dr. Jochen Oltmer, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle
Studien an der Universität Osnabrück, stellte die „Nötigung zur Abwanderung“ in den Mittelpunkt seines Vortrags, die er von anderen Ursachen der Migration definitorisch abgrenzte: Deportationen, Evakuierung, Flucht,
Sklaven- und Menschenhandel sowie Umsiedlung und Vertreibung. Der Gebrauch dieser Begriffe habe stets in
einem engen Zusammenhang mit der öffentliche Wahrnehmung von Migration und Flüchtlingen gestanden,
erklärte Oltmer, und sei im Laufe der Zeit erheblichen Veränderungen unterworfen gewesen.
Im europäischen wie auch im deutschen Kontext müsse von Zwangsmigration vor allem im Zusammenhang mit
Kriegen gesprochen werden. Aus den jeweiligen Kampfzonen seien die Menschen zu Millionen geflohen, es
habe Vertreibungen in alle Himmelsrichtung sowie Deportationen und Internierungen gegeben. Das Ausmaß
dieser erzwungenen Migration sei eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts, welches nicht ohne die enormen
militärischen Kapazitäten und riesigen Operationsräume sowie die Ausweitung von Kompetenzen staatlicher
Institutionen verstanden werden könne. Entsprechend hätten sich auch die Fluchtdistanzen – anders als im
19. Jahrhundert, wo Fluchtbewegungen oft regional begrenzt gewesen seien – mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg dramatisch vergrößert. Ein das 20. Jahrhundert sehr einprägsam charakterisierendes Phänomen
seien zudem die Deportationen und Internierungen zur Zwangsarbeit gewesen. Auch die Ausbeutung von
Kriegsgefangenen als Arbeitskräfte sei erst in dieser Zeit zu einem Massenphänomen geworden.
Wenn man von Zwangsmigration spreche, müsse auch die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen gestellt werden. Als ein Beispiel für die zahlreichen Faktoren, welche die Aufnahmesituation von Flüchtlingen prägten,
beschrieb Oltmer die Massenflucht von Belgiern 1914. Ein Fünftel der belgischen Bevölkerung sei damals vor
den Deutschen nach Frankreich, Großbritannien und in die Niederlande geflohen. Während die öffentlichen
Reaktionen in England positiv gewesen seien, weil die schutzsuchenden Menschen die Notwendigkeit zum
Beitritt in den Krieg bekräftigten, seien die Flüchtlinge in den Niederlanden eher als soziale und politische Belastung betrachtet worden, da das Land seinen Neutralitätskurs gefährdet sah und Deutschland nicht habe
irritieren wollen.
Eine besondere Form der Aufnahme, dessen Inhalt und Bedeutung sich im Laufe des 20. Jahrhunderts gewandelt habe, sei das Asyl, so Oltmer. Dieser spezifische Schutzstatus habe im 19. sowie im frühen 20. Jahrhundert
nur den Schutz vor Auslieferung an den Herkunftsstaat bedeutet. Mit und nach dem Ersten Weltkrieg sei Asyl
dann differenzierter geregelt worden, weil die Zahl der in Europa Schutzsuchenden erheblich zugenommen
habe. Gleichzeitig sei mit dem Ersten Weltkrieg eine Zeit der Deglobalisierung angebrochen, in der Grenzkontrollen, Ein- und Ausreisevisa sowie Einwanderungskontingente (USA) eingeführt worden seien. So hätten Migranten in Europa auf die Anerkennung als politisch Verfolgte hoffen müssen, um im Aufnahmeland bleiben zu
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur | www.bundesstiftung-aufarbeitung.de
können. In Deutschland sei 1929 das erste Auslieferungsgesetzt eingeführt worden, wobei es seinerzeit kaum
Anträge auf Auslieferung gegeben habe. 1932 sei dann ein Asylrecht in Kraft getreten, das Flüchtlingen besonderen Schutz gewähren sollte, jedoch durch die nationalsozialistische Machtergreifung keine Anwendung mehr
gefunden habe.
1948/49 sei das Asylrecht schließlich in das Grundgesetz der Bundesrepublik aufgenommen worden. Damit
habe sich der Gesetzgeber vom Nationalsozialismus abgrenzen und zugleich den Schulterschluss mit den westeuropäischen Ländern suchen wollen. Im Zentrum der nun einsetzenden Diskussionen um das Asylrecht hätten
die Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR gestanden, für die allerdings nicht das Asylrecht, sondern ein spezielles „Notaufnahmeverfahren“ Anwendung finden sollte. Die Auseinandersetzungen
um das Asylrecht seien damit jedoch nicht abgerissen. Nach Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn 1956
beispielsweise habe sich die Bundesrepublik zunächst vehement gegen die Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen gewehrt. Letztendlich entschied sie sich jedoch aufgrund des öffentlichen Drucks, die Grenzen für die
Ungarn zu öffnen, dafür. Ähnliche Kontroversen um die Frage, wer als politisch Verfolgter das Recht auf Asyl in
der Bundesrepublik erhalten dürfe, ließen sich bis in Gegenwart ausmachen, fügte Oltmer hinzu. Bis in die
1970er Jahre seien es vor allem innereuropäische Fluchtbewegungen gewesen, die viele Menschen in die Bundesrepublik gebracht hätten. Seither lasse sich eine zunehmende Globalisierung von Flucht nach Europa und
Deutschland feststellen.
In der von Dr. Ulrich Mählert (Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur) moderierten Diskussion ging
Professor Oltmer noch einmal auf die Bedeutung von Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert und ihre Zäsuren
ein. Migration sei in allen Epochen eine Normalität gewesen, im 20. Jahrhundert seien Bevölkerungen jedoch
zu „Verschiebemassen“ geworden. Die gedanklichen Grundlagen dafür seien bereits im 19. Jahrhundert gelegt
worden, allerdings hätten erst die großen Kriege danach die Möglichkeit zu gewalttätigen Umsiedlungen freigesetzt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien nach den grausamen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs Zwangsmigrationen zwar geächtet worden, dies habe sie allerdings nicht gänzlich verhindert, so Oltmer.
Beispiele dafür seien die Migrationsbewegungen im Zuge der Dekolonialisierungskriege nach 1945 und die
Massenfluchten aus dem auseinanderbrechenden Jugoslawien in den 1990er Jahren.
Eine Frage aus dem Publikum zielte auf die Bedeutung von Nationalismen für die Vertreibung von Minderheiten. Nationale Integrationsprojekte seien ein ganz entscheidender Motor für Umsiedlungen und Deportationen
gewesen, antwortete Oltmer, allerdings seien diese in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst nicht
mehr verfolgt worden, da sich viele europäische Staaten nach den Bevölkerungsverschiebungen während und
nach dem Zweiten Weltkrieg als weitgehend homogen verstanden hätten. Nationalismus sei im Kalten Krieg
allerdings nie ganz verschwunden.
Teresa Tammer
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur | www.bundesstiftung-aufarbeitung.de