Junge Linke in Russland

DEUTSCHLANDFUNK
Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Redaktion: Karin Beindorff
Sendung:
Dienstag, 01.03.2016
19.15 – 20.00 Uhr
anticapitalist.ru
Junge Linke in Russland
Von Antje Leetz
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- Unkorrigiertes Manuskript -
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ATMO: Lena summt Lied über Krasnaja Armija
O-TON LENA: Sdes wsjo po klassike. Gosudarstwennaja wlast na storone kapitalistow. Ja dashe
ne snaju, moshno li o gosudarstwennoi wlasti jestscho o kak takowoi goworit. Kto budet po dobroi
wolje wypuskat is ruk milliony? Uprawljajut te, kto sachapal sebje westschi, kotoryje w prinzipe ne
mogut prinadleshat odnomu tscheloweku. Kak moshno ne byt politikom, jesli ponjatno schto ne
bywajet tak , schto u odnogo byli milliony, a u drugogo nitschego njet. Nu ne bywajet, nu chot
streljajete menja. Nikto menja w etom ne ubedit….
Sprecherin LENA:
Alles wie bei Marx. Die Staatsmacht steht auf Seiten der Kapitalisten. Ich weiß nicht mal,
ob die Staatsmacht so mächtig ist. Wer wird schon freiwillig seine Millionen hergeben?! In
Wirklichkeit regieren die Milliardäre, die sich alles gegrapscht und angeeignet haben. Man
kann mich erschießen, aber ich werde niemals anerkennen, dass der eine Millionen hat
und der andere nichts.
Musik Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot - Sojus Neru Schimy Respublik
Swobodnych (Hymne Der SU)
Ansage
anticapitalist.ru
Junge Linke in Russland
Ein Feature von Antje Leetz
Musik Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot - Sojus Neru Schimy Respublik
Swobodnych (Hymne Der SU)
ATMO: Lenas Gesang Zug „Roter Pfeil“ Moskau-Petersburg
ERZÄHLERIN:
Der „Rote Pfeil“ fährt wie eh und je von Moskau nach Petersburg. Der Name des Zuges
stammt aus sowjetischen Zeiten. Gleich werde ich Lena wiedersehen, Lena Kusmenok.
Ich habe sie 1992 in Moskau kennengelernt. Damals war sie Filmstudentin, wollte einen
wahrhaftigen Film über das Leben junger Menschen drehen. Das war ihr Traum. Viele
Jahre haben wir nichts voneinander gehört. Bis ich sie neulich im russischen Internet
wiederfand. In einem Video sang sie auf dem Newski-Prospekt, der Petersburger
Prachtstraße, die „Internationale“ und alte Revolutionslieder. Sie hat mich neugierig
gemacht auf ein anderes, ein antikapitalistisches Russland. Seit dem Zerfall der
Sowjetunion sind die Revolution von 1917, Sozialismus und Karl Marx in Russland passé,
dachte ich. Ich kenne die Kinder meiner liberalen Freunde, die bei den Wörtern
„sowjetisch“ und „sozialistisch“ verächtlich das Gesicht verziehen. Ein leiser Zweifel aber
ist immer geblieben. Denn von zufällig getroffenen Menschen auf meinen langen
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Zugreisen im Schlafwagen durchs Land erfuhr ich, dass sie den Untergang der
Sowjetunion bedauerten: Die Gesellschaft sei heute viel ungerechter. Und bei
Jugendlichen auf der Straße sah ich manchmal als Modezeichen den roten Sowjetstern.
ATMO: Zug fährt auf Moskauer Bahnhof in Petersburg ein und hält
ERZÄHLERIN:
Ich fand Lenas E-Mail-Adresse heraus und schrieb ihr. Die Antwort kam prompt:
Sprecherin LENA:
„Wenn Sie mal in der Nähe sind … Meine Adresse: Sankt Petersburg, Chaussee der
Revolution Nummer 50. Ich kann Ihnen eine schmale Kammer anbieten. Lena Kusmenok.“
ATMO: Lena holt Gitarre und singt verschiedene Varianten des Trotzki-Liedes
ERZÄHLERIN:
Und nun sitze ich wunderbarerweise bei Lena in der Küche, in ihrer winzigen
Einzimmerwohnung. Sie ist jetzt Anfang vierzig. Der Film, den sie drehen wollte, ist ein
Traum geblieben. Aber sie hat Erzählungen geschrieben und einen Roman. Lena holt ihre
Gitarre und beginnt alte Revolutionslieder zu singen. Die Originaltexte waren in der
Sowjetunion unter Stalin verboten. Wie das von der Roten Armee und ihrem Gründer, dem
Genossen Trotzki, er fiel 1927 in Ungnade. Lena hat die Originalfassung ausgegraben.
Aber sind diese alten Lieder nicht längst überholt?
O-TON LENA: Eti pesni populjarny i sejtschas. Po krainej mere sredi ljudej mojego pokolenija.
Eto plast folklory. Eto shiwaja tschast takoi narodnoi gorodskoi kultury. Sowsem molodyje ljudi, oni
snajut eti pesni tolko te, is nich … kto ushe wowletschon kakim-to obrasom w protestnoje
dwishenije, w lewoje dwishenije.
Sprecherin LENA:
Im Gegenteil. Sie sind heute wieder populär. Jedenfalls in meiner Generation. Sie sind
lebendige Stadtfolklore, werden gesungen, wenn man zusammensitzt. Von den ganz
jungen, die nach dem Ende der Sowjetunion geboren wurden, kennen sie wohl nur die aus
der linken Protestbewegung.
ERZÄHLERIN:
Ich frage Lena nach ihren ganz persönlichen Beweggründen, warum sie eine Linke
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geworden ist.
O-TON LENA: Ja choshu po ulizam etogo goroda i drugich gorodow, ja wishu, stojat wosle metro
staruschki, oni prodajut zwety. Ich otschen, otschen mnogo staruschek, u nich mnogo zwetow. Ja
wishu, oni nikogda ne prodadut etich zwetow. Ja starajus byt mushestwennym tschelowekom i
mimo nich prochodit ne opuskaja glas. A inogda ja sowsem ne mushestwennaja. Ja dashe
perechoschu na druguju storonu dorogi. Ja ponimaju, schto tak ne dolshno byt ustrojeno sredi
ljudej. Ne smogli sdelat poka, schtob ismenit takoje poloshenije westschej. Schtoby ismenit takoje
poloshenije, natschinaja s staruschek s zwetami. Potom moshet byt sanjatsja besprisornikami,
potom sanjatsja rabotschimi, kotorym ne platjat, kotorym platjat nishe minimuma, kotorych
uwolnjajut sa ljubuju popytku ismenit k sebje takoje otnoschenije.
Sprecherin LENA:
Ich gehe durch die Straßen dieser Stadt und sehe Großmütter an der Metro stehen und
Blumen verkaufen. Viele, viele Großmütter, mit vielen, vielen Blumen. Und ich weiß, ihre
Sträuße werden sie nie los. Mit aller Kraft zwinge ich mich dazu vorbeizugehen, ohne die
alten Frauen anzusehen. Aber manchmal schaffe ich das nicht, und ich wechsle auf die
andere Straßenseite. Mich überläuft es heiß und kalt: So darf es doch unter Menschen
nicht zugehen! Diese Frauen haben ihr ganzes Leben geschuftet … Bisher hat es keiner
fertig gebracht, diese Ungerechtigkeit abzuschaffen. Damit es den alten Frauen mit den
Blumen besser geht. Und den Straßenkindern, den Arbeitern, deren Lohn ein Hohn ist.
Oder die entlassen werden für den leisesten Versuch, sich gegen die Ausbeutung zu
wehren.
ERZÄHLERIN:
Anfang der 90er-Jahre, als in Russland der Raubtierkapitalismus ausbrach – Marx würde
von einer Form der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals sprechen -, fand sich die
ehemalige Filmstudentin selbst „ganz unten“ wieder. Das war eine große Ernüchterung für
die Romantikerin, die geglaubt hatte, dass man die Welt schon allein durch ein
brüderliches Miteinander verändern kann. Damals begann sie sich zum ersten Mal für
Politik und Karl Marx zu interessieren.
O-TON LENA:
Eto ja i sejtschas ne sowsem otwergaju. Ja toshe stschitaju, schto nado natschinat s gruppoi ljudej,
natschinat wnutri nas. A washno bylo to, schto my choteli sosdat takuju model obschestwa, gde
wse my byli by kak bratja. I sejtschas eto dlja menja ostajotsja modelju obschestwa woobstsche
ljudej. Potomu schto ljudi na samom dele bratja. Konetschno i s bratjami trudno.
Sprecherin LENA:
Obwohl ich auch jetzt noch glaube, dass man mit einer kleinen Gruppe beginnen, dass
man bei sich selbst anfangen muss. In der Kommune, in der ich früher lebte, wollten wir
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das Modell einer Menschengemeinschaft schaffen, in der wir alle Brüder sind. Das ist
eigentlich auch heute noch mein Ideal. Denn wir Menschen sind doch tatsächlich alle
Brüder. (ironisch:) Obwohl es auch mit Brüdern nicht leicht ist.
LENA O-TON: Ja wishu, schto my spolsajem k propasti . Ja pytajus kak to wspjat, obratit
dwishenije. Initiativy, kotoryje my delajem po sobstwennoi woli, i s drugimi otnoschenijami meshdu
ljudmi. Ne s temi, kotoryje podorasumewajut, schto ja schto-to sdelaju, a ty mnje oplati moi trud.
Beswosmesdnoje kakoje to polsowanije. Ja schto to delaju,potomu schto eto choroscho. I ty mnje
pomoshesch, potomu schto eto choroscho.
Sprecherin LENA:
Ich sehe, dass die Menschheit sich heute auf einen Abgrund zubewegt. Und ich versuche,
mich festzukrallen und diese Bewegung umzukehren. Ich will nicht auf die alte Weise
leben: Ich tue was für Dich, und du bezahlst mich. Nicht das Geschäft soll bestimmen,
sondern: Ich tue etwas, weil es gut ist. Und Du hilfst mir dabei, weil es gut ist.
ERZÄHLERIN:
Vor elf Jahren hat sie einen kleinen Verlag gegründet: „Neuer kultureller Raum“. Dort
bringt sie kapitalismuskritische Sachbücher und Belletristik heraus. Manchmal zweifelt sie
am Erfolg ihres Engagements. Eine soziologische Umfrage hat ergeben, dass der Großteil
der russischen Bevölkerung unpolitisch und gleichgültig ist. Das habe sich zwar seit der
Ukraine-Krise und dem Streit um die Krim etwas verändert, sagt sie. Sozialistisch
orientierte Linke jedoch seien lange Zeit eine Randerscheinung gewesen.
O-TON LENA: Lewych, kotoryje molodyje, kotorych ne stolko staruschki ogortschajut, a kakije-to
drugije weschi. Mnogo ljudej, kotoryje ne soglaschajutsja s tem, schto w tepereschnejem
ustroistwe.Takije rebjata is glubinki, i s jarko wyrashennoi individualnosti, s sobstwennym
wsgljadom na wsjo i ja dumaju, jesli schto-to natschnjotsja, oni igrajut swoju rol waschnuju.
Sprecherin LENA:
Aber neuerdings lerne ich viele gerade junge Leute kennen, die aus einer linken Position
heraus die kapitalistische Ordnung ablehnen. Es gibt sie auch in den hintersten Ecken des
Landes. Sie haben eine eigenwillige Persönlichkeit und einen ganz besonderen Blick auf
die Dinge. Wenn es so weit ist, werden sie ein Wörtchen mitreden.
ATMO: In der kleinen Kammer am Computer.
ERZÄHLERIN:
Wir sitzen am Computer, in der kleinen Kammer, die mir Lena abgetreten hat.
Normalerweise arbeitet sie hier. Sie ist freiberufliche Redakteurin, ein schlecht bezahlter
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Job. Lena ruft die Seite der unabhängigen Gewerkschaft MPRA auf, der Meshregionalny
profsojus „Rabotschaja assoziazija“ - Überregionale Gewerkschaft der Autoindustrie
„Arbeiterassoziation“. Sie zeigt mir ein Video aus der Auto-Stadt Togliatti an der Wolga: Auf
einem großen Platz stehen eng gedrängt Frauen, Männer und Kinder und begrüßen eine
Resolution gegen die antisoziale Politik der Direktion des Autowerks Awtowas. „Wenn man
uns nicht anhört, kommen wir mit zwei, ja drei Mal so viel Menschen auf den Platz! Wir
überlassen unsere Stadt Togliatti nicht den Bourgeois!“
O-TON LENA:
Na dnjach bukwalno tam sostojalsja bolschoi … sa Togliatty eto otschen bolschoi. Na fotografijach
widno, schto plostschad sapolnena … Bolschoi meeting, polutora tysjatschny. S protestami protiw
sokraschenii. ... Potomu schto dlja Togliatti awtowas gradoobrasujuscheje predprijatije….
Uprawljajuschi schwed Bo Anderson wsjalsja sa delo otschen resko …
Sprecherin
Dieses Meeting hat vor zwei Tagen stattgefunden. Anderthalbtausend Arbeiter sind auf die
Straße gegangen und haben gegen Entlassungen protestiert. Anderthalbtausend ist sehr
viel für Togliatti. Die Stadt lebt von der Autoproduktion. Und der neue schwedische
Generaldirektor Bo Andersson leitet das Unternehmen „Awtowas“ mit harter Hand.
ERZÄHLERIN:
Das Meeting fand Ende September 2015 statt, gerade als ich bei Lena war. Organisiert
wurde es von der „Arbeiterassoziation“. Ihr führender Kopf heißt Alexej Etmanow. Er sei
der berühmteste Gewerkschafter Russlands, sagt Lena. Wenn ich mich für die linke
Bewegung interessiere, müsse ich vor allem ihn kennen lernen. Das Gewerkschaftsbüro
befinde sich ja nur ein paar Bushaltestellen von ihrer Wohnung entfernt.
ATMO: Ich gehe mit Pjotr ins Büro der Meshregionaly rossiski profsojus
ERZÄHLERIN:
Mich empfängt Etmanows Stellvertreter Pjotr Prenjow. Das Büro ist in einer stillgelegten
Fabrik untergebracht. Davon gibt es viele in Petersburg. Pjotr ist Arbeiter, 40 Jahre alt.
2011 hat er zusammen mit Alexej Etmanow die Gewerkschaft gegründet.
PJOTR O-TON: Eto ne prekraschalos nikogda. Sejtschas drugoi etap idjot raswitija.
Formirowanije nowoi lewoi dwishenija s utschotom realija. I s utschotom togo, schto ot
towaristscha Marxa proschlo ushe skolko let. Ljudi reboljuzionirowali, rabotschije revoljuzionirowali.
Raswitije i technitscheski progress otkladywali swoi otpetschatok.
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Sprecher:
Die linke Bewegung hat niemals aufgehört zu existieren. Sie wurde nur an den Rand
gedrängt. Jetzt lebt sie wieder auf und formiert sich neu. Seit dem Genossen Marx sind
viele Jahre vergangen. Die Menschen haben sich revolutioniert, die Arbeiter haben sich
revolutioniert. Die Zeit wird vom technischen Fortschritt geprägt.
ERZÄHLERIN:
Pjotr liest populärwissenschaftliche Aufsätze postsowjetischer Marxisten, die er im Internet
findet. Zwei verehrt er besonders: den Soziologen Boris Kagarlizki und den Professor für
Ökonomie Alexander Busgalin. Aber die wahre linke Bewegung, wendet er ein, das seien
die Arbeiter, die auf die Straße gehen und für ihre Forderungen streiken.
PJOTR O-TON: Njet, na samom dele eto te rabotschije, kotoryje mitingujut, bastujut. Wsjo schto
bylo pri Sowjetskom Sojuse – sozialnyje garantii, trudowyje garantii – oni (gosudarstwo)
postepenno, postepenno sabirajutsja ... U nas kutscha vakanzii. W Sankt Peterburge. No tam
sarabotnaja plata 15 000 do 20 000, na kotoryje sejtschas ushe ne wyshit.
Sprecher:
Die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die sozialen Garantien, die es in der Sowjetunion gab,
werden Schritt für Schritt abgeschafft. … In Sankt Petersburg gibt es viele freie Stellen.
Aber da verdient man nur 15 bis 20 Tausend Rubel. Davon kann kein Mensch leben. Das
ist ein Hohn und kein Lohn. Es ist höchste Zeit, dass eine linke Alternative ausgearbeitet
wird. Das ist die Aufgabe der marxistischen Intelligenz.
ATMO: Alexej Etmanow kommt zur Tür herein
ERZÄHLERIN:
Da kommt Alexej Etmanow herein, der „berühmteste Gewerkschaftsführer Russlands“.
Zwei Attentate hat er überlebt. Bis 2011 arbeitete er als Schweißer im Ford-Werk in Sankt
Petersburg. Irgendwie passt er gar nicht in ein Büro.In Petersburg entstanden Anfang der
2000er-Jahre mehrere Joint Venture, die ausländische Autotypen herstellen: Ford, Nissan,
Toyota, Hyundai, General Motors.
O-TON ETMANOW: My kak w swojo wremja podnjali na Forde, wse predprijatija,
otkrywajuschichsja w Peterburge, byli ushe wynushdeny blanku sarplaty podnimat pod Fordowku,
inatsche u nich ne bylo by personala. Poetomu wse sabastowki, wse kollektivnyje destwija,
kotoryje byli na Forde, oni byli sa sebja i sa togo parnja, to jest dlja wsech. Sejtschas eto wsjo
unitschtoshajetsja, potomu schto prichodit effektiwny mamagment. Wsjat awtowas.
Sejtschas eto wsjo unitschtoshajetsja, potomu schto prichodit effektiwny mamagment. Wsjat
awtowas. Prischol Bo Anderson, kotory wse neprofilnyje aktivy wywodit sa predely awtowasa …
Poetomu sejtschas ne umejustschije opyt borby profsojusy --- im prichoditsja natschinat s nulja. ...
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U naschich profsojusow segodnja aktualnaja sadatscha wyrabotat te predloshenija prawitelstwa
Rossiskoi Federazii dlja togo, schto awtomobilny sektor w Rossii sochranilsja. Potomu schto tot
krisis, w kotory my popali, dostatotschnno shostki, segodnja bjot po naschim tschlenam profsojusa,
po naschim towaristscham, kotoryje rabotajut na awtopredprijatijach. Bukwalno nedelju nasad
awtowas sajawil o sokraschenije 15 Tausend Arbeitern. Eto wsjo sledstwije togo kapitalisma,
kotory k nam prischol shostkogo.
Sprecher
Als wir bei Ford die Löhne nach oben trieben, mussten alle anderen Autowerke, die in
Petersburg aufmachten, ihren Arbeitern genauso viel bezahlen wie Ford. Sonst hätten sie
kein Personal gehabt. Damals herrschte noch Mangel an Fachkräften. Deswegen haben
unsere Streiks bei Ford nicht nur uns, sondern auch den anderen Arbeitern genützt. Aber
jetzt werden all unsere Erfolge wieder zunichte gemacht durch das „effektive
Management“. Wie zum Beispiel bei Awtowas in Togliatti. Als der schwedische
Generaldirektor Bo Andersson kam, hat er die Produktionszweige, die nicht ins Profil
passten, abgeschafft. Und die Gewerkschaften, die keinerlei Kampferfahrung haben,
fangen praktisch bei Null an. Unsere aktuelle Aufgabe ist es, Vorschläge für die Regierung
auszuarbeiten, damit die Autoindustrie in Russland erhalten bleibt. Denn die Krise, in die
wir jetzt gerutscht sind, trifft unsere Kollegen hart. Gerade vor einer Woche hat Awtowas
angekündigt, 15 Tausend Arbeiter zu entlassen. Das sind alles die Folgen des
gnadenlosen Kapitalismus, der über uns hereingebrochen ist.
ATMO: Bo Andersson zu Awtowas
ERZÄHLERIN:
Ob es ein Erfolg von Etmanows Gewerkschaft ist, dass Putin sich im Oktober 2015, nach
dem Meeting in Togliatti, mit Bo Andersson getroffen hat? Er forderte ihn jedenfalls auf, die
Produktion des neuen Lada Vesta in großem Umfang auszubauen.
Seit kurzem steht Etmanow auch mit den Beschäftigten von Volkswagen in der Stadt
Kaluga in Verbindung, 200 Kilometer südlich von Moskau.
O-TON ETMANOW: Tot she Volkswagen ne wosprinimal nas w serjos. Odin is direktorow
Volkswagena on skasal, kogda my wstretschalis w samom natschale:„Mister Etmanow, u was i u
waschego profsojusa otschen plochaja reputazija w delowych krugach w Germanii.“ Na schto my
posmejalis i skasali, schto w Rossii tysjatschi profsojusnych liderow i tolko u Etmanow jest kakajato reputazija w delowych krugach Germanii. Santschit, my prawilno rabotajem.“ (Lacht)
Sprecher
Einer der Direktoren von Volkswagen hat uns erst nicht für voll genommen. Er nahm mich
bei den Verhandlungen zur Seite: „Mister Etmanow“, sagte er, “Sie und Ihre ganze
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Gewerkschaft haben einen sehr schlechten Ruf in deutschen Geschäftskreisen.“ Ich lachte
und sagte: „Was? In Russland gibt es Millionen Gewerkschafter und Tausende
Gewerkschaftsführer. Und nur Etmanow soll einen schlechten Ruf in den deutschen
Geschäftskreisen haben?! Da haben wir ja alles richtig gemacht!“
ERZÄHLERIN:
Der Gewerkschaftsfunktionär gehört keiner linken Partei an. Er glaubt, dass es überhaupt
keine politischen Parteien mehr geben müsse, wenn die Gewerkschaften eines Tages
stark genug wären.
O-TON ETMANOW: Togda ne nushny byli by nikakije polititscheskije partii. Sowerschenno
spokoino pod ideju sozialnoi sprawedliwosti moshno ostaiwat imenno sozialistitscheski
orientirowannoje obschestwo. Eto obosnatschajet, schto wo glawe wsjo taki stoit tschelowek truda,
a ne pribyl kapitalista. Ja stschitaju, schto eto nesprawedliwo. Kogda odni pokupajut sebje jachty
von 200 metern Länge, a drugije ne mogut rebjonka odet w detski sad – eto nesprawedliwo.
Nationalisazija, ja stschitaju, dolshna byt. I wse predprijatija dolshny byt nationalisirowany.
Osobenno kotoryje sanimajutsja resursy dobiwajuschije.
Sprecher 2:
Dann könnte man mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit eine sozialistisch orientierte
Gesellschaft schaffen. Das bedeutet, dass an erster Stelle der Mensch der Arbeit steht
und nicht der Gewinn des Kapitalisten. Es ist ungerecht, wenn die einen sich Yachten von
200 Metern Länge leisten, während die anderen ihren Kindern nicht mal anständige
Kleider für den Kindergarten kaufen können. Meiner Meinung nach müssen alle
Unternehmen nationalisiert werden. Vor allem die, die Bodenschätze fördern.
ERZÄHLERIN:
Sind Etmanows Forderungen nach Nationalisierung und sozialer Gerechtigkeit nicht
utopisch?
O-TON ETMANOW: Potschemu utopia?! … Moshet byt utopina. No ja stschitaju, schto tak
dolshno byt. Snatschit, ja utopist. (Lacht) Eto she ne plocho. Potschemu stschitajut, schto utopist –
eto plocho. Wot Che Guevara! Wot eto ideal tscheloweka. Eto woin, eto bojez. Eto utopist.
Sprecher 2:
Dann bin ich eben Utopist. Ist das denn was Schlechtes?! Warum glauben alle, dass
Utopie was Schlechtes ist. Che Guevara! Das ist ein Ideal für mich! Der war ein Kämpfer!
Der war Utopist!
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Musikakzent: Gitarrenakkorde
ATMO: Mit Lena im Buchladen
ERZÄHLERIN:
In Petersburg gibt es einen alternativen Buchladen - „Porjadok slow“ - „Ordnung der
Wörter“. Lena kommt manchmal hierher. Der Laden sei nicht so kommerziell wie die
anderen und habe ein besonderes Angebot. Lena findet russische Übersetzungen, die in
den letzten Jahren erschienen sind: Ernst Mandel, „Warum ich Marxist bin.“ Friedrich
Dürrenmatt, „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“. „Che Guevara als
revolutionärer Theoretiker“. Das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels. Das
„Kapital“ allerdings ist ausverkauft. Offenbar ist es auch in Petersburg begehrt.
O-TON LENA : Trotzki, Istorija Russkoi revoljuzii. W dwuch tomach. Trotzki, Moja shisn. O
Trotzkom. …Moskwa Prosaik, 2014. ...
Sprecherin
Aber bitte, hier haben Sie Trotzki: „Geschichte der Russischen Revolution“ in zwei Bänden.
„Mein Leben.“
ERZÄHLERIN:
Die Trotzki-Bücher aber habe sie schon vor Jahren gelesen, sagt Lena. Ihr Interesse
weckt ein anderer Band.
O-TON LENA: O, prekrasno! Eto prekrasnoje proiswedenije. Mnje otschen nrawjatsja rannije
filosofskije raboty Marxa. Jesli u menja byli by lischnich 408 rublej, ja by ich kupila….
Sprecherin
Das ist ja wunderbar! Ein wunderbares Buch! Das gefällt mir am besten! Die frühen
philosophischen Schriften von Marx. Wenn ich 408 Rubel hätte, würde ich das Buch sofort
kaufen.
ATMO: Lena blättert im Buch.
ERZÄHLERIN:
Lena sucht nach einer bestimmten Stelle, die ihr wichtig ist, und die sie mir unbedingt
vorlesen will.
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ATMO: Lena liest aus dem Marx-Aufsatz vor, darauf Zitator.
ZITATOR:
Die Nationalökonomie geht von der Arbeit als der eigentlichen Seele der Produktion aus,
und dennoch gibt sie der Arbeit nichts und dem Privateigentum alles. Proudhon hat aus
diesem Widerspruch zugunsten der Arbeit wider das Privateigentum geschlossen. Wir
aber sehn ein, daß dieser scheinbare Widerspruch der Widerspruch der entfremdeten
Arbeit mit sich selbst ist und daß die Nationalökonomie nur die Gesetze der entfremdeten
Arbeit ausgesprochen hat. Eine gewaltsame Erhöhung des Arbeitslohns … wäre also
nichts als eine bessere Salairierung der Sklaven und hätte weder dem Arbeiter noch der
Arbeit ihre menschliche Bestimmung und Würde erobert.
Sprecherin
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Aus den frühen Arbeiten von Karl Marx.
1844
ERZÄHLERIN:
Dann entdeckt sie das Buch eines Freundes.
Sprecherin
Iwan Owsjannikow, Zur Verteidigung der Mehrheit. Freier Marxistischer Verlag“
Musik und ATMO: Iwan Owsjannikow erzählt von Kitaiskaja stolowaja
ERZÄHLERIN:
Mit Iwan Owsjannikow, 25 Jahre alt, Historiker, habe ich mich in der Kitaiskaja Stolowaja
getroffen, der Chinesischen Imbissstube. Sie befindet sich in einer der Nebenstraßen des
teuren Newski-Prospekts. Hier aber kann man billig und gut essen, und es herrscht eine
demokratische Atmosphäre, sagt Iwan. Die Jugend fühle sich außerdem vom chinesischen
Flair angezogen. Owsjannikows Buch „Zur Verteidigung der Mehrheit“ ist gerade in
Moskau im „Freien marxistischen Verlag“ erschienen. Iwan muss mir einen Begriff erklären,
den ich noch nie gehört habe: „Kreatariat“. Es ist eine Wortschöpfung von ihm - eine
Zusammenziehung aus „kreativ“ und „Proletariat“.
O-TON IWAN: Jest takije goroda, skashem kak Piter ili Moskwa, jest ogromny sloi ljudej, kotory
tschasto nasywajut prekrariatom. W naschei strane takije professii kak prepodawatel wusa, ili
skashem wratsch. Ili skashem journalist – oni wowse ne prinadleshat k srednemu klassu ... Eto
resultat soziologitscheskich oprosow. …Jawno eto ne sredni klass, no eto i ne klassitscheski
promyschlenny proletariat. Kotory kak ras tschasto imejut otnositelno wysokije sarplaty. A
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prepodawatel w wuse, dashe imejuschi nautschnuju stepen, polutschajet skashem 20 000 rublej.
Sprecher:
In solchen großen Städten wie Petersburg oder Moskau macht dieses „Kreatariat“ eine
große Schicht aus. Lehrer, Ärzte oder Journalisten gehören in unserem Land nicht zur
besser gestellten Mittelschicht. Sie gehören jedoch auch nicht zum Proletariat, das
manchmal sogar gut verdient. Aber ein Dozent an der Hochschule beispielsweise
bekommt nur 20 Tausend Rubel, selbst wenn er einen wissenschaftlichen Grad hat.
ERZÄHLERIN:
Das sind etwa 260 Euro. Viele russische Intellektuelle, die ich kenne, gehören zu dieser
ärmeren Schicht des „Kreatariats“, auch Lena Kusmenok, auch Iwan Owsjannikow selbst.
Iwan ist Berater von Alexej Etmanow und Aktivist der RSD, der Rossiiskoje
Sozialistitscheskoje Dwishenije, übersetzt: Russische Sozialistische Bewegung. Das ist
eine Vereinigung von mehreren linken Gruppen. Ihre Internetseite heißt anticapitalist.ru.
O-TON IWAN: W zelom bolschinstwo naschich towarischtscheh stschitajet sebja marxistami. My
wyschli is trotzkistkoi tradizii. Eto bylo schto-to neprilitschnoje. Stschitalos, schto eto wsjo ustarelo.
Schto marxism – eto swjasano s sowjetskoi epochoi. Samschewaja dogma. No segodnja interesno,
schto imenno w intelektualnoi sredu, w sredu utschonych, gumanitariejw, chudoshnikow, dejatelej
kultury, pisatelej, marxistskije idei pronikajut. Eto dowolno ushe dawno. ... on jawljajetsja
intellektualnoi modoi.
Sprecher:
Die Mehrheit unserer Genossen bezeichnet sich als Marxisten. Wir kommen aus der
trotzkistischen Tradition. Noch vor 10 Jahren war es in Russland verpönt, sich zum
Marxismus zu bekennen. Er galt als veraltetetes sowjetisches Dogma. Aber interessant ist,
dass heute gerade in der Schicht der Intellektuellen, der Naturwissenschaftler, der
Geisteswissenschaflter, der Künstler, der Schriftsteller sich marxistisches Gedankengut
immer mehr verbreitet. Das ist direkt eine Modeerscheinung bei den Intellektuellen.
ERZÄHLERIN:
Der Marxismus wird in Russland gewöhnlich mit seiner dogmatischen Stalinschen Version
identifiziert. Indessen entwickelt sich neben dem „orthodoxen Marxismus“ eine neue
Tendenz, die als „postsowjetischer Marxismus“ bezeichnet wird. Als Iwan 1992 geboren
wurde, existierte die Sowjetunion bereits seit einem Jahr nicht mehr.
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O-TON IWAN: Sowjetski Sojus byl otschen protiworetschiwaja systema. S odnoi storony
besuslowno bylo by neprawilno otrizat ogromnyje sozialnyje sawojewanija, kotoryje prinesla
revoljuzija 17ogo goda. Po sute dela w 1917 god w naschej strane natschalas sowremennost. …
Ogromnoje kolitschestwo ljudej polutschili wosmoshnos probitsja nawerch imenno w resultate
revoljuzii. No w to she wremja moja babuschka i moi ded po materinskoi linii, oni byli
repressirowany. Schto kasajetsja Stalina, eto nasilije nad kommunistitscheskoi idei, kotoraja w
osnowe swojej jawljajetsja gumanistitscheskoi. I kotoraja w osnowe swojej jawljajetsja
progressivnoi. Imenno poetomu Stalinism dlja menja litschno jawljajetsja ogromnym
prestuplenijem. ...I w resultate my widim, schto ideji marxisma okasalis w naschej strane i w
drugich postsowjetskich stranach silno diskreditirowany.
Sprecher:
Die Sowjetunion war ein sehr widersprüchliches System. Auf der einen Seite wäre es
falsch, die großen sozialen Errungenschaften abzustreiten, die die Revolution von 1917
brachte. 1917 begann in unserem Land die Moderne. Viele Menschen erhielten nach der
Revolution die Möglichkeit von „ganz unten“ aufzusteigen. Aber andererseits waren meine
Großeltern mütterlicherseits Opfer des Stalinismus. Stalin hat der kommunistischen Idee,
die ihrem Wesen nach humanistisch und progressiv ist, Gewalt angetan. Deshalb ist der
Stalinismus für mich persönlich eines der größten Verbrechen. Denn er hat die Idee des
Marxismus in unserem Land und in anderen postsowjetischen Ländern diskreditiert.
Atmo Theremin „Internationale“; Zug Sapsan nach Moskau, Durchsagen
ERZÄHLERIN:
Ich fahre mit dem modernen Hochgeschwindigkeitszug Sapsan – Wanderfalke –, made by
Siemens, von Petersburg nach Moskau, dem nächsten Ziel auf meiner Reise zu den
neuen russischen Linken. Erinnerungen kommen hoch: In der russischen Hauptstadt habe
ich drei Jahre gelebt und gearbeitet – von 1985 bis 1988, zu Zeiten von Perestroika und
Glasnost. Ich habe diese Zeit als Hoffnungsschimmer empfunden, denn eine sozialistische
Erneuerung schien noch möglich. Ich habe das Land von „unten“ erlebt, mit den
Menschen, die keine Privilegien hatten. Und ich bin noch heute davon überzeugt, dass sie
sehr wohl reif waren für eine demokratische Umgestaltung. Ihr Talent, ihre Bildung, ihr
Geschichtswissen und vor allem das hohe Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft
haben mich damals beeindruckt. Eine breite Streikbewegung für soziale Gerechtigkeit
entstand.
O-TON BUSGALIN: W period perestroiki wo wtoroi polowine 80ich godow roshdalis udiwitelnyje
nowyje initiativy. Eto bylo realnoje samouprawlenije trudowych kollektivov. Na bolschom
kolitschestwo krupnych predprijatii.
13
Sprecher:
Während der Perestroika in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wurden neue Initiativen
geboren. Das war eine Chance für die reale Selbstverwaltung der Arbeitskollektive.
ERZÄHLERIN:
Der Moskauer Ökonomieprofessor Alexander Busgalin ist einer der führenden Köpfe des
neuen, postsowjetischen Marxismus. Geboren 1954 gehört er zur älteren Generation der
Linken.
O-TON BUSGALIN: 10 s lischnim tysjatsch rabotschich. Minski tschasowoi sawod. Kamas –
gigantskoje predprijatie. Ingenery, w osnownom molodyje aktiwnyje shenschiny tridzati Rabotschije.
Wse wmeste sosdawali systemy, w kotorych ljudi utschastwowali praktitscheski w reschenii del
swojego sawoda. Togda pojawilis silnyje ekologitscheskije dwishenija. byli nadeshdy na to, schto is
tupika toi awtoritarnoi protiworeschiwoi sowjetskoi systemy, gde ne bylo nastojastschego
kommunisma i sozialisma, gde bylo mnogo feodalnogo bjurokratitscheskoi systemy, wot is etoi
systemy wychod is tupika budet naiden ne putjom woswrata nasad k polufeodalnoi,
polukapitalistitscheskoi modeli, k kapitalismu jurowskogo perioda … unverständlich? perioda, w
kotorom my segodnja okasalis.Da w period k nowomu tipu sozialisma. Eto byl realny projekt,
kotory mog realisowatjsja, no ne polutschilos.
Sprecher:
Wir waren auf einer Werft mit Zehntausenden Arbeitern. Im Minsker Uhrenwerk. Bei
Kamas, einem gigantischen Autohersteller. Die Ingenieure, vor allem junge aktive Frauen,
die Arbeiter – alle zusammen schufen ein System, in dem die Menschen an den
Entscheidungen ihres Betriebs teilnahmen. Damals entstand eine starke ökologische
Bewegung. Und es gab die Hoffnung, dass man aus der Sackgasse des autoritären
sowjetischen Systems, in dem es nie einen wirklichen Kommunismus und Sozialismus
gegeben hat, wo das System in vielem noch feudal-bürokratisch war, dass man aus dieser
Sackgasse einen Weg findet. Nicht zurück zu einem halbfeudalen, halbkapitalistischen
Modell, zum Kapitalismus der ursprünglichen Akkumulation, der über uns gekommen ist.
Sondern zu einem neuen Typ des Sozialismus. Das war ein reales Projekt, das hätte
verwirklicht werden können. Aber es wurde nichts draus.
ATMO: MUSS – Busgalin-Vorlesung
ERZÄHLERIN:
1995 hat Busgalin in Moskau eine Bildungseinrichtung für Jugendliche gegründet – die
MUSS. Das ist die Abkürzung für „Molodjoshny universitet sowremennogo sozialisma“ –
auf Deutsch: „Jugenduniversität des modernen Sozialismus“. Ein sehr optimistisches
Unterfangen. Denn wer interessierte sich damals für eine Gesellschaftsordnung, die
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gerade als gescheitert galt? Aber schon zwanzig Jahre lang unterrichtet der Professor der
Moskauer Universität, der häufig auch in die USA zu Vorlesungen eingeladen wird, an der
Jugenduniversität marxistische Theorie. Das Thema seiner heutigen Vorlesung: „Der
Mensch als Sklave und Schöpfer der Geschichte“.
O-TON BUSGALIN: Wsjaki ras kogda my goworim, Putin glawnoje slo ili Putin glawnoje dobro,
my prewraschajemsja w konformistow, kotoryje werjat w dobrogo zarja. Wopros, kak my moshem
schto-to delat wmesto piramidy wlasti. …
Sprecher :
Immer wenn wir sagen, Putin der Böse oder Putin der Gute, drücken wir eigentlich nur aus,
dass wir Konformisten sind und an den guten oder bösen Zaren glauben oder vielleicht
selbst gern die Herrschaft hätten. Wir müssen aber wegkommen von diesem MachtDenken und eine andere Logik finden.
ERZÄHLERIN:
Die Vorlesung wird von einer Kamera aufgezeichnet und auf „anticapitalist.ru“ gestellt. So
kann sie sich jeder ansehen, in Moskau, Petersburg oder im fernen Wladiwostok.
ERZÄHLERIN:
Die populäre marxistische Zeitschrift „Alternativy“ findet man ebenfalls im Internet.
Genauso wie die beiden anderen linken Zeitschriften „Rabkor“ „Arbeiterkorrespondent“ des Soziologen Boris Kagarlitzki und die literarische Zeitschrift
„Skepsis“. In „Alternativy“ hatte ich einen Aufsatz von Busgalin über das „Reich der
Freiheit“ gelesen, der mich sehr beschäftigt. Scheint er mir doch für die heutige Zeit der
gesellschaftlichen Krisen und der Suche nach Alternativen hochaktuell zu sein. Ich sehe
einen inneren Bezug zu dem Marx-Zitat über die Erhöhung des Arbeitslohns, der nichts
weiter sei als eine bessere Entlohnung der Sklaven und „weder dem Arbeiter noch der
Arbeit ihre menschliche Bestimmung und Würde gibt.“ Lena hatte es mir im Petersburger
alternativen Buchladen vorgelesen.
O-TON BUSGALIN: W odnom is nesowerschjuschich rasdela 3ego toma Kapitala, kak iswestno
jego kompanowal Engels, jest nebolschoi fragment Marxa o tom, schto buduschi mir – eto zarstwo
swobody, kotory raszwetajet na swojom fundamente na zarstwe neobchodimosti. I tam pokasano,
schto buduscheje… eto mir, kotory snimajet w gegeljewskom smysle, to jest otrizajet
dialektitscheski, otrizajet wes preschestwujuschi mir, postrojeny na expluataziju i otschushdenije.
15
Sprecher:
In einem Kapitel des unvollendeten dritten Bandes des „Kapitals“ – bekanntlich hat ihn
Engels fertig gestellt – gibt es ein kleines Fragment von Marx, in dem er schreibt, dass die
zukünftige Welt das „Reich der Freiheit“ sein soll. Und dieses „Reich der Freiheit“ wird sich
auf dem Fundament des „Reichs der Notwendigkeit“ entfalten. Marx legt dar, dass diese
zukünftige Welt im Hegelschen Sinne, das heißt dialektisch, die vorangegangene Welt, die
auf Ausbeutung und Entfremdung basiert, aufhebt.
ZITATOR:
Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und
äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; Jenseits desselben beginnt die menschliche
Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur
auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des
Arbeitstages ist die Grundbedingung.
O-TON BUSGALIN: Rost swobodnogo wremeni, kogda tschelowek swobodno raswiwajetsja kak
litschnost. No w prinzipe sejtschas proiswoditelnost truda dostatotschno dlja togo, schtoby ljudi jeli,
pili odewalis normalno wo wsjom mire, ostalnoje wremja sanimalis naukoi, iskusstwom,
pedagogikoi i wospitanijem w schirokom smysle slowa reschenijem ekologitscheskich problem i
rasgrebanijem ogromnogo morja sozialnoi grjasi, kotory porodil predschestwujuschi mir.
Sprecher
Die Verkürzung des Arbeitstages ist eine Grundbedingung. Und der daraus folgende
Zuwachs an freier Zeit, in der der Mensch sich als Persönlichkeit entwickeln kann. Die
Arbeitsproduktivität ist heute so hoch, dass die Menschen auf der ganzen Welt normal
essen, trinken und sich kleiden könnten und genug Zeit hätten, um sich mit Wissenschaft,
Kunst, Erziehung, ökologischen Problemen zu befassen. Und das riesige Meer an
missgestalteten sozialen Verhältnissen aufzuräumen, das die vorangegangene Welt
erzeugt hat.
ERZÄHLERIN:
Busgalin scheint tatsächlich ein unverrückbarer Optimist zu sein. Ist es nicht eher so, frage
ich, dass die Mehrheit der Menschen mit dem allgemeinen Strom mitschwimmt und nicht
mehr an Veränderungen in der Gesellschaft glaubt? Der dialektisch denkende Ökonom
kontert:
O-TON BUSGALIN: Otkuda wsjalsja wosmitschasowoi rabotschi den? W 19. weke w manifest
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kommunistitscheskoi partii pojawilos eto trebowanije. Wsego 150 let tomu nasad. Ono kasalos
absolutno romantitscheski, besnadjoshnym, utopitscheskim. Eto bylo radikalnoje, revoljuzionnoje,
kategoritscheskoje, neprijemljemoje, newosmoshnoje trebowanije wwesti potrjrjasajuscheje
shestokoje ogranitschenije na kapital, kotoroje kapital nikogda ne rasreschit. ...W Chikago
rabotschich, kotoryje trebowali 8itschasowogo rabotschego dnja, rasstreljali. Perwoje maja rodilos
takim obrasom. ... Odnako segodnja eto kashetsja sowerschenno otschewidnym. Wrode by bogom
dannym i wsegda suschestwowaschim. A sa eto ljudi borolis desjatiletijami. Moshet byt stoletijami.
No pobedili. Dawaite poetomu budem optimistami ...
Sprecher 4
Woher kommt der Achtstundentag? Diese Forderung wurde im 19. Jahrhundert gestellt, im
Manifest der Kommunistischen Partei. Das war erst vor 150 Jahren. Sie (er)schien absolut
romantisch zu sein, hoffnungslos, utopisch. Das war eine radikale, revolutionäre,
unannehmbare, eine unmöglich erscheinende Forderung, die für das Kapital einen harten
Einschnitt bedeutet hätte. Das Kapital wird sie niemals anerkennen, so glaubte man. In
Chicago wurde auf die Arbeiter geschossen, die den Achtstundentag forderten. So
entstand der Erste Mai. Doch heute erscheint uns das wie gottgegeben. Aber die
Menschen haben Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dafür gekämpft. Und gesiegt. Lassen
Sie mich also bitte Optimist sein.
Atmo Theremin „Internationale“
ERZÄHLERIN:
Beim Abschied erzähle ich Busgalin, dass ich am nächsten Tag nach Nischni Nowgorod
weiterfahre, der letzten Station meiner Erkundungsreise auf der Suche nach den
russischen Linken. „Fahren Sie zuerst nach Dsershinsk, unbedingt nach Dserschinsk“,
fordert er mich auf. „Das liegt gleich neben Nischni Nowgorod. Dort gibt es noch so einen
unverbesserlichen Optimisten, einen ganz jungen.“
ATMO: Mit Andrej Rudoi im Stadtpark von Dserschinsk
ERZÄHLERIN:
Und so finde ich mich unerwartet und plötzlich in der hintersten Provinz wieder, in einer
Industriestadt mit großen sozialen Problemen. Sie trägt immer noch den Namen von Felix
Dserschinski, dem ersten Leiter der Tscheka, des Allrussischen Außerordentlichen
Komitees zur Bekämpfung der Konterrevolution, Vorgänger des KGB und FSB. Auf der
Fahrt hierher ein trauriges Bild: viele tote Fabriken, wie in Petersburg, und viele hell
erleuchtete Shoppingcenter: Obi, Metro, Saturn, Spar, Volkswagen, Nissan.
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O-TON ANDREJ: Unterhaltung zwischen Autorin und Andrej.
McDonalds dashe jest w Dsershinske. … „Spar“ A.: Mc Donalds, da, da, da jest. „Spar“.
Woobsche schto bolsche wsego stroitsja w Dsershinske, eto torgowyje zentry i zerkwi. Torgowa
zentr kak atribut obschestwa upotreblenija, i zerkwi kak opium dlja naroda.
Sprecher:
Ja, ja, auch in Dsershinsk gibt’s McDonalds und Spar. Was am meisten gebaut wird, sind
Handelszentren und Kirchen. Das Handelszentrum als Attribut der Konsumgesellschaft,
und die Kirche (lacht) als Opium für das Volk.
ERZÄHLERIN:
Aber seitdem Russland von der schweren Wirtschaftskrise erfasst und das reale
Einkommen um 10 bis 20 Prozent gesunken ist, habe die Kauflust stark nachgelassen,
erklärt mir Andrej Rudoi. Der elegant gekleidete Geschichtslehrer hat mich zu einer Bank
im Stadtpark geführt. Hier könnten wir ungestört reden. In seine Schule Nummer 23 hat
man uns nämlich nicht reingelassen. Andrej ist dort als linker Aktivist verschrien, und dann
kommt er noch mit einer ausländischen Journalistin! Vor kurzem hat der junge Mann in
Dserschinsk die Gewerkschaft der Lehrer gegründet.
O-TON ANDREJ: Jestestwenno nesawisimoje profsojusnoje dwishenije ono awtomatitscheski
roshdajet protiwodejstwije i so storoy wlastjej i so storony rabotodateljej. Tem bolee, schto i menja i
mnogich drugich rebjat ushe mestnyje organy polizii i mestnoi wlasti snali kak marxistow, kak
lewych aktivistow. My, profsojus utschitelej bukwalno dwe nedeli nasad podal trebowanije w
uprawlenije obrasowanija o tom, schtoby nam wernuli nadbawki k sarplate.
Sprecher:
Klarer Fall: Die unabhängige Gewerkschaftsbewegung ruft automatisch Gegenaktionen
hervor, sowohl bei der Stadtregierung als auch bei der Schulleitung. Zumal meine
Kameraden und ich bei der Polizei und den Beamten als Marxisten und linke Aktivisten
verschrien sind. Vor zwei Wochen hat unsere Lehrergewerkschaft eine Forderung an die
Abteilung für Bildung gerichtet: Sie sollen uns die Aufstockung zu unserem Grundlohn
zurückgeben.
ERZÄHLERIN:
Das Gehalt des Lehrers, erzählt mir Andrej, das in Russland schon an sich nicht hoch ist,
besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bildet die Basis, der zweite Teil ist eine
stimulierende Aufstockung, die für gute Unterrichtsführung und wissenschaftliches
Arbeiten mit den Schülern gezahlt wird.
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O-TON ANDREJ: Natschinaja s 2014ogo goda w schkolach goroda eti stimulirujuschije bally
natschinali propadat. I na etoi wolne my kak ras sosdali profsojus ... Kogda my objawili
rabotodatelju o tom, schto sosdan profsojus, natschalos dawlenije. Mnje srasu skasali, schto
Andrej Wladimirowitsch, Wy po karernoi lestnize prosto ne prodwintes, a wosmoshno, schto Wy
budete prosto uwoleno. Jestestwenno my wydershali wsjo dawlenije, tem bolee my energitscheski
podkowannyje ljudi. I na kakich-to provokazii ne podajomsja. I schto Wy dumajete. … I w tot den,
kogda my podali eti trebowanije, ushe k wetscheru nam wernuli eti stimulirujuschije bally … Delo w
tom, schto i administrazija mojej schkoly i administrazija goroda ponjala, schto jest realnaja
dejstwujuschaja sila. Jest ne odin ja kak marxist, aktivist, kotory begajet flagom marsch. A jest
dejstwitelno kollektiv, kotory gotow, drug sa druga wstupatsja.
Sprecher:
Aber 2014 fiel dieser stimulierende Teil einfach weg. Und auf dieser Welle haben wir die
Gewerkschaft gegründet. Als wir das dem Arbeitgeber mitteilten, begann man auf uns
Druck auszuüben, vor allem auf mich als Vorsitzenden. Andrej Wladimirowitsch, hieß es,
mit der Karriereleiter ist es nun vorbei, vielleicht werden Sie auch entlassen. Aber den
Druck haben wir ausgehalten und uns nicht provozieren lassen. Und was glauben Sie?!
Bereits am Abend nach der Einreichung unserer Forderung wurde uns das stimulierende
Gehalt zurückgegeben. Der Schulleitung und der Stadtregierung wurde der Boden unter
den Füßen zu heiß. Sie haben begriffen, dass wir eine reale Kraft sind, die nicht nur Worte
macht. Dass es nicht nur mich, den Marxisten und Aktivisten gibt, der mit der Fahne
voranmarschiert, sondern ein ganzes Lehrerkollektiv, wo einer für den anderen einsteht.
ERZÄHLERIN:
Der 25-Jährige ist Klassenlehrer einer 11. Klasse. Seine Schüler sind 16, 17 Jahre alt.
Wenn er mit ihnen einen Ausflug macht und statt des guten Anzugs Jeans trägt, wird er oft
selbst für einen Schüler gehalten. Wissen die jungen Leute denn, dass er Marxist ist?
O-TON ANDREJ: Poskolku ja utschitel istorii i utschitel obschestwosnanija, to ne goworit o Marxe,
ja ne mog by dashe jesli ja ne byl by marxistom. Ne smotrja na to, schto posle 91 goda wlasti
popytalis wytscherknut Marxa is utschebnikow, no eto ne wosmoshno … Wynut marxism is
soziologii, is politologii, is istorii, is filosofii – eto wsjo rawno schto wynut is sdanija polowinu
kirpitschej. … Imenno poetomu marxism kak tschastnauki - da, ja objasnjaju jego detjam. Detjam
ja wsjo taki rekomenduju schto-to bolee udobowarimoje. Bolee popularisirowannoje. Tot she
Busgalin, tot she Kagarlitzki i rjad drugich sowremennych awtorow, kotoryje bolsche prostym
jasykom mogut objasnit molodjoshi, schto jest marxistskaja teorija.
Sprecher:
Da ich Lehrer für Geschichte und Gesellschaftskunde bin, bleibt mir nichts anderes übrig
als von Marx zu sprechen, selbst wenn ich kein Marxist wäre. Nach 1991, nach dem
Untergang der Sowjetunion, hat man zwar versucht, Marx aus den Lehrbüchern zu tilgen.
Aber das geht nicht. Wenn man den Marxismus aus der Soziologie, der Politologie, der
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Geschichte und Philosophie entfernt, ist es das Gleiche, als wolle man aus einem
Gebäude die Hälfte der Steine rausziehen. Ja, ich erkläre den Kindern den Marxismus als
Methode des wissenschaftlichen Herangehens bei der Analyse der Gesellschaft. Aber zum
Lesen empfehle ich ihnen doch lieber eine Lektüre, die leichter zu verdauen ist. Busgalin
und Kagarlitzki zum Beispiel und andere moderne Marxisten, die den jungen Leuten in
einer einfachen Sprache die marxistische Theorie nahe bringen.
ERZÄHLERIN:
Und wie ist er selbst zum Marxismus gekommen?
O-TON ANDREJ: Nawernoje wsjo taki bytije opredelilo sosnanije. Ja wyros ne w bogatoi semje,
moja mat schweja. Wyros ja bes otza. Byli takije momenty, kogda my sdawali w makulaturu knigi
dlja togo, schtoby sumet kupit chleb elementarno. Eto bylo w 2000 ili 2001. Kogda strana tolko
otchodila ot krisisa 1998ogo goda. Eto dejstwitelno otloshil neki otpetschatok.
Sprecher:
Warscheinlich bestimmt das Sein tatsächlich das Bewusstsein, wie Marx sagt. Ich bin in
einer Familie aufgewachsen, die nicht reich war. Meine Mutter ist Näherin. Ich bin ohne
Vater groß geworden. Es gab Momente, da wir unsere Bücher verhökern mussten, damit
wir Brot kaufen konnten. Das hat mich geprägt.
ATMO: Park
ERZÄHLERIN:
Andrej ist zornig über den Sozialabbau. Er macht die neoliberale Wirtschaftsideologie
dafür verantwortlich, dass das Staatsbudget für Bildung und Medizin immer mehr gekürzt
wird. Alles würde jetzt kommerzialisiert. Ich frage ihn, wie er Putins innenpolitische Rolle in
diesem Prozess einschätzt.
O-TON ANDREJ: On dejstwitelno na storone oligarchow. Gody, eto wremja peredela
sobstwennosti. Eto wremja kogda grabilos i rasstaskiwalos wsjo, schto moshno. Eto wremja,
kogda formirowalas nowaja russkaja burshuasija. A k konzu 90ich godow ona formirowalas kak
klass. Jej bolsche ne bylo smysla wojewat drug s drugom. Jej nushno bylo nawesti porjadok i
rasstawit nowyje prawila igry. Imenno etu rol sygral Putin ...
Sprecher 5
Er ist auf der Seite der Oligarchen. Die 90er-Jahre unter Jelzin waren die Zeit der
Umverteilung des Eigentums. Als alles, was nicht niet- und nagelfest war, gestohlen und
verscherbelt wurde. Als die neue russische Bourgeoisie sich als Klasse herausbildete.
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Aber dann musste Ordnung herrschen und neue Spielregeln eingeführt werden. Und
genau diese Rolle spielte Putin.
ATMO: zum Bus.
ERZÄHLERIN:
Andrej begleitet mich zum Bus nach Nischni Nowgorod. Ich hätte Glück, sagt er. Heute
Abend findet dort ein Konzert der linken Rockband „Arkadi Koc“ aus Moskau statt. Schade,
dass er nicht mitkommen könne. Die Gruppe sei in ganz Russland legendär durch ihre
provokanten Lieder. Nicht nur bei Linken. Der Bandleader, Kirill Medwedew, sei
gleichzeitig Dichter und Organisator des „Freien marxistischen Verlags“. Andrej ruft Karina
Ginojan an, eine Genossin, die mich zum Konzert mitnehmen soll.
Atmo Café „Bufet“ in Nischni Nowgorod, Karina, Konzert der Rockband „Arkadi Koc“
ERZÄHLERIN:
Das Café „Bufet“ in Nischni Nowgorod. Viele junge Leute drängen sich um die Bühne. Die
Mädchen mit kleinen Rucksäcken wie bei uns, modern angezogen. Karina hat die
Wollmütze auf die braunen Locken gestülpt. Wären nur Linke hier, erklärt sie, würden
vielleicht 40 Leute zuhören. Es sind aber über hundert Fans der Gruppe gekommen. Kirill
Medwedew kündigt einen neuen Song an, der begeistert begrüßt wird: „Reich zu sein ist
eine Schande“.
ATMO: Song, darauf Karina
O-TON KARINA: I sa to, schto on pytajetsja sotschetat poetitscheskoje i polititscheskoje, o tscho
w naschich krugach otschen mnogo rasgowariwajut o takoi probleme. On takoi primer kakoi-to
lewoi kultruy, kotoraja prosto otrashajet naschi wsgljady. Po duchu otschen blisko.
Sprecherin:
Die Gruppe ist so populär, weil sie Poesie mit politischen Themen verbindet. Sie ist ein
Beispiel für linke Kultur und Kunst. Sie drückt unsere Gefühle und unseren Geist aus.
ATMO: Konzert – Song „Sabastowka“.
ERZÄHLERIN:
Der nächste Song „Sabastowka“, „Streik“, heizt die Stimmung an. Die Gruppe hat sich
21
nach dem alten Dichter Arkadi Koc benannt, der 1902 die „Internationale“ aus dem
Französischen ins Russische übersetzte: „Ni bog, ni zar i ne geroi“ - „Es rettet uns kein
höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können
wir nur selber tun.“Karina ist erst 24 und unterrichtet schon als Dozentin an der Universität
Englisch. Und Russisch als Fremdsprache für die sogenannten Arbeiter-Immigranten aus
Mittelasien. Ein Jahr lang hat sie das aus Solidarität mit den oft Geächteten unentgeltlich
getan.
ATMO: Karinas Erzählung.
ERZÄHLERIN:
Mit drei Freunden lebt Karina in einer Kommune. Die Wohnung beschreibt die junge Frau
scherzhaft als „bourgeois“. Denn sie hätten ein wundervolles Bad. Vorher hat sie in einer
Abrissbude gehaust, zu dritt in einem Zimmer.
O-TON KARINA: Ja woobsche otschen wdochlena etoi idejej. Mnje kashetsja, schto eto samoje
prekrasnoje schto moshet byt. Schto rasruschil by wosmoshnost wsego togo sla, kotoroje
osuschestwljajetsja tschasche wsego wnutri semi. Mnje takaja ideja otschen bliska i ja stschitaju,
schto eto wychod i takaja laboratorija, kotoraja moshet sformirowat nowyje formy otnoschenii
meshdu ljudmi. Ja werju w tot, kotory byl w 20ije gody, kogda mnogogo dobilis feministki.
Alexandra Kollontai. Byl kurs destwitelno na rawenstwo praw.
Sprecherin:
Ich begeistere mich sehr für die Idee der Kommune. Das ist das Beste, was man sich
denken kann. Es zerstört all das Böse, das vor allem innerhalb der Familie passiert. Die
Kommune-Idee ist mir sehr nahe und ich denke, sie ist ein Ausweg. Ein Laboratorium, das
neue Formen der menschlichen Beziehungen erzeugt. Solche Versuche hat es schon in
der frühen zwanziger Jahren in der Sowjetunion gegeben, als Feministinnen und
Revolutionärinnen wie Alexandra Kollontai sich für die Befreiung der Frau einsetzten. Für
eine Gleichberechtigung und Befreiung aller Menschen.
MUSIK: Gruppe „Arkadi Koc“ mit Song „Steny“.
ZITATOR:
Lass uns das Gefängnis zerstören. Die Mauern sollen fallen. Sie sind längst morsch. Und
wenn Du mit der Schulter dagegen drückst. Und wenn wir zu zweit dagegen drücken.
Dann reißen wir die Mauern ein. Und atmen frei auf.
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ATMO: Song „Steny“ mit Zugatmo
ERZÄHLERIN:
Ich fahre weg aus Nischni Nowgorod. Ich verlasse Russland. Zurück in Berlin schaue ich
manchmal bei „anticapitalist.ru“ rein. Alexander Busgalin war auf einer internationalen
Konferenz über Marxismus in Peking. Andrej Rudoi hat einen vieldiskutierten Aufsatz über
Trotzki veröffentlicht, Iwan Owsjannikow trat auf einer Veranstaltung der Ford-Arbeiter in
Petersburg auf und die Gruppe „Arkadi Koc“ hat ein neues Album veröffentlicht. Ich denke
an Lena und Karina. In meiner Vorstellung sind sie wie zwei Schwestern – die eine älter,
die andere jünger. Die ältere ist lebenserfahren und nachdenklich, manchmal verzagt. Die
jüngere unbeschwert und beflügelt von der Idee, ein neues Lebensmodell zu schaffen. Ihr
Lachen klingt mir noch im Ohr:
O-TON KARINA: Lachen. Wot, Bylo otschen sdorowo. Wremja, kogda k nam prijeshalo mnogo
towarischej. Prosto takaja forma shisni, ona na kornju unitschtoshajet ljuboi individualism. Takaja
forma shisni eto prosto rasruschajet i eto prekrasno.
Sprecherin:
Wir laden alle ein bei uns zu wohnen. Als unser Kamerad. Das wäre toll! Die Lebensform
der Kommune rottet den Individualismus mit der Wurzel aus. Und das ist wunderbar!
Atmoakzent Theremin „Internationale“
Absage:
anticapitalist.ru
Junge Linke in Russland
Ein Feature von Antje Leetz
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
Es sprachen: Frauke Poolman, Claudia Mischke, Matthias Haase, Gregor Höppner, Louis
Friedemann Thiele, Hendrik Stickan und Camilla Renschke
Ton und Technik: Gunther Rose und Caroline Thon
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Redaktion: Karin Beindorff
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