DEUTSCHLANDFUNK Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Redaktion: Karin Beindorff Sendung: Dienstag, 01.03.2016 19.15 – 20.00 Uhr anticapitalist.ru Junge Linke in Russland Von Antje Leetz URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - 1 ATMO: Lena summt Lied über Krasnaja Armija O-TON LENA: Sdes wsjo po klassike. Gosudarstwennaja wlast na storone kapitalistow. Ja dashe ne snaju, moshno li o gosudarstwennoi wlasti jestscho o kak takowoi goworit. Kto budet po dobroi wolje wypuskat is ruk milliony? Uprawljajut te, kto sachapal sebje westschi, kotoryje w prinzipe ne mogut prinadleshat odnomu tscheloweku. Kak moshno ne byt politikom, jesli ponjatno schto ne bywajet tak , schto u odnogo byli milliony, a u drugogo nitschego njet. Nu ne bywajet, nu chot streljajete menja. Nikto menja w etom ne ubedit…. Sprecherin LENA: Alles wie bei Marx. Die Staatsmacht steht auf Seiten der Kapitalisten. Ich weiß nicht mal, ob die Staatsmacht so mächtig ist. Wer wird schon freiwillig seine Millionen hergeben?! In Wirklichkeit regieren die Milliardäre, die sich alles gegrapscht und angeeignet haben. Man kann mich erschießen, aber ich werde niemals anerkennen, dass der eine Millionen hat und der andere nichts. Musik Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot - Sojus Neru Schimy Respublik Swobodnych (Hymne Der SU) Ansage anticapitalist.ru Junge Linke in Russland Ein Feature von Antje Leetz Musik Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot - Sojus Neru Schimy Respublik Swobodnych (Hymne Der SU) ATMO: Lenas Gesang Zug „Roter Pfeil“ Moskau-Petersburg ERZÄHLERIN: Der „Rote Pfeil“ fährt wie eh und je von Moskau nach Petersburg. Der Name des Zuges stammt aus sowjetischen Zeiten. Gleich werde ich Lena wiedersehen, Lena Kusmenok. Ich habe sie 1992 in Moskau kennengelernt. Damals war sie Filmstudentin, wollte einen wahrhaftigen Film über das Leben junger Menschen drehen. Das war ihr Traum. Viele Jahre haben wir nichts voneinander gehört. Bis ich sie neulich im russischen Internet wiederfand. In einem Video sang sie auf dem Newski-Prospekt, der Petersburger Prachtstraße, die „Internationale“ und alte Revolutionslieder. Sie hat mich neugierig gemacht auf ein anderes, ein antikapitalistisches Russland. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind die Revolution von 1917, Sozialismus und Karl Marx in Russland passé, dachte ich. Ich kenne die Kinder meiner liberalen Freunde, die bei den Wörtern „sowjetisch“ und „sozialistisch“ verächtlich das Gesicht verziehen. Ein leiser Zweifel aber ist immer geblieben. Denn von zufällig getroffenen Menschen auf meinen langen 2 Zugreisen im Schlafwagen durchs Land erfuhr ich, dass sie den Untergang der Sowjetunion bedauerten: Die Gesellschaft sei heute viel ungerechter. Und bei Jugendlichen auf der Straße sah ich manchmal als Modezeichen den roten Sowjetstern. ATMO: Zug fährt auf Moskauer Bahnhof in Petersburg ein und hält ERZÄHLERIN: Ich fand Lenas E-Mail-Adresse heraus und schrieb ihr. Die Antwort kam prompt: Sprecherin LENA: „Wenn Sie mal in der Nähe sind … Meine Adresse: Sankt Petersburg, Chaussee der Revolution Nummer 50. Ich kann Ihnen eine schmale Kammer anbieten. Lena Kusmenok.“ ATMO: Lena holt Gitarre und singt verschiedene Varianten des Trotzki-Liedes ERZÄHLERIN: Und nun sitze ich wunderbarerweise bei Lena in der Küche, in ihrer winzigen Einzimmerwohnung. Sie ist jetzt Anfang vierzig. Der Film, den sie drehen wollte, ist ein Traum geblieben. Aber sie hat Erzählungen geschrieben und einen Roman. Lena holt ihre Gitarre und beginnt alte Revolutionslieder zu singen. Die Originaltexte waren in der Sowjetunion unter Stalin verboten. Wie das von der Roten Armee und ihrem Gründer, dem Genossen Trotzki, er fiel 1927 in Ungnade. Lena hat die Originalfassung ausgegraben. Aber sind diese alten Lieder nicht längst überholt? O-TON LENA: Eti pesni populjarny i sejtschas. Po krainej mere sredi ljudej mojego pokolenija. Eto plast folklory. Eto shiwaja tschast takoi narodnoi gorodskoi kultury. Sowsem molodyje ljudi, oni snajut eti pesni tolko te, is nich … kto ushe wowletschon kakim-to obrasom w protestnoje dwishenije, w lewoje dwishenije. Sprecherin LENA: Im Gegenteil. Sie sind heute wieder populär. Jedenfalls in meiner Generation. Sie sind lebendige Stadtfolklore, werden gesungen, wenn man zusammensitzt. Von den ganz jungen, die nach dem Ende der Sowjetunion geboren wurden, kennen sie wohl nur die aus der linken Protestbewegung. ERZÄHLERIN: Ich frage Lena nach ihren ganz persönlichen Beweggründen, warum sie eine Linke 3 geworden ist. O-TON LENA: Ja choshu po ulizam etogo goroda i drugich gorodow, ja wishu, stojat wosle metro staruschki, oni prodajut zwety. Ich otschen, otschen mnogo staruschek, u nich mnogo zwetow. Ja wishu, oni nikogda ne prodadut etich zwetow. Ja starajus byt mushestwennym tschelowekom i mimo nich prochodit ne opuskaja glas. A inogda ja sowsem ne mushestwennaja. Ja dashe perechoschu na druguju storonu dorogi. Ja ponimaju, schto tak ne dolshno byt ustrojeno sredi ljudej. Ne smogli sdelat poka, schtob ismenit takoje poloshenije westschej. Schtoby ismenit takoje poloshenije, natschinaja s staruschek s zwetami. Potom moshet byt sanjatsja besprisornikami, potom sanjatsja rabotschimi, kotorym ne platjat, kotorym platjat nishe minimuma, kotorych uwolnjajut sa ljubuju popytku ismenit k sebje takoje otnoschenije. Sprecherin LENA: Ich gehe durch die Straßen dieser Stadt und sehe Großmütter an der Metro stehen und Blumen verkaufen. Viele, viele Großmütter, mit vielen, vielen Blumen. Und ich weiß, ihre Sträuße werden sie nie los. Mit aller Kraft zwinge ich mich dazu vorbeizugehen, ohne die alten Frauen anzusehen. Aber manchmal schaffe ich das nicht, und ich wechsle auf die andere Straßenseite. Mich überläuft es heiß und kalt: So darf es doch unter Menschen nicht zugehen! Diese Frauen haben ihr ganzes Leben geschuftet … Bisher hat es keiner fertig gebracht, diese Ungerechtigkeit abzuschaffen. Damit es den alten Frauen mit den Blumen besser geht. Und den Straßenkindern, den Arbeitern, deren Lohn ein Hohn ist. Oder die entlassen werden für den leisesten Versuch, sich gegen die Ausbeutung zu wehren. ERZÄHLERIN: Anfang der 90er-Jahre, als in Russland der Raubtierkapitalismus ausbrach – Marx würde von einer Form der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals sprechen -, fand sich die ehemalige Filmstudentin selbst „ganz unten“ wieder. Das war eine große Ernüchterung für die Romantikerin, die geglaubt hatte, dass man die Welt schon allein durch ein brüderliches Miteinander verändern kann. Damals begann sie sich zum ersten Mal für Politik und Karl Marx zu interessieren. O-TON LENA: Eto ja i sejtschas ne sowsem otwergaju. Ja toshe stschitaju, schto nado natschinat s gruppoi ljudej, natschinat wnutri nas. A washno bylo to, schto my choteli sosdat takuju model obschestwa, gde wse my byli by kak bratja. I sejtschas eto dlja menja ostajotsja modelju obschestwa woobstsche ljudej. Potomu schto ljudi na samom dele bratja. Konetschno i s bratjami trudno. Sprecherin LENA: Obwohl ich auch jetzt noch glaube, dass man mit einer kleinen Gruppe beginnen, dass man bei sich selbst anfangen muss. In der Kommune, in der ich früher lebte, wollten wir 4 das Modell einer Menschengemeinschaft schaffen, in der wir alle Brüder sind. Das ist eigentlich auch heute noch mein Ideal. Denn wir Menschen sind doch tatsächlich alle Brüder. (ironisch:) Obwohl es auch mit Brüdern nicht leicht ist. LENA O-TON: Ja wishu, schto my spolsajem k propasti . Ja pytajus kak to wspjat, obratit dwishenije. Initiativy, kotoryje my delajem po sobstwennoi woli, i s drugimi otnoschenijami meshdu ljudmi. Ne s temi, kotoryje podorasumewajut, schto ja schto-to sdelaju, a ty mnje oplati moi trud. Beswosmesdnoje kakoje to polsowanije. Ja schto to delaju,potomu schto eto choroscho. I ty mnje pomoshesch, potomu schto eto choroscho. Sprecherin LENA: Ich sehe, dass die Menschheit sich heute auf einen Abgrund zubewegt. Und ich versuche, mich festzukrallen und diese Bewegung umzukehren. Ich will nicht auf die alte Weise leben: Ich tue was für Dich, und du bezahlst mich. Nicht das Geschäft soll bestimmen, sondern: Ich tue etwas, weil es gut ist. Und Du hilfst mir dabei, weil es gut ist. ERZÄHLERIN: Vor elf Jahren hat sie einen kleinen Verlag gegründet: „Neuer kultureller Raum“. Dort bringt sie kapitalismuskritische Sachbücher und Belletristik heraus. Manchmal zweifelt sie am Erfolg ihres Engagements. Eine soziologische Umfrage hat ergeben, dass der Großteil der russischen Bevölkerung unpolitisch und gleichgültig ist. Das habe sich zwar seit der Ukraine-Krise und dem Streit um die Krim etwas verändert, sagt sie. Sozialistisch orientierte Linke jedoch seien lange Zeit eine Randerscheinung gewesen. O-TON LENA: Lewych, kotoryje molodyje, kotorych ne stolko staruschki ogortschajut, a kakije-to drugije weschi. Mnogo ljudej, kotoryje ne soglaschajutsja s tem, schto w tepereschnejem ustroistwe.Takije rebjata is glubinki, i s jarko wyrashennoi individualnosti, s sobstwennym wsgljadom na wsjo i ja dumaju, jesli schto-to natschnjotsja, oni igrajut swoju rol waschnuju. Sprecherin LENA: Aber neuerdings lerne ich viele gerade junge Leute kennen, die aus einer linken Position heraus die kapitalistische Ordnung ablehnen. Es gibt sie auch in den hintersten Ecken des Landes. Sie haben eine eigenwillige Persönlichkeit und einen ganz besonderen Blick auf die Dinge. Wenn es so weit ist, werden sie ein Wörtchen mitreden. ATMO: In der kleinen Kammer am Computer. ERZÄHLERIN: Wir sitzen am Computer, in der kleinen Kammer, die mir Lena abgetreten hat. Normalerweise arbeitet sie hier. Sie ist freiberufliche Redakteurin, ein schlecht bezahlter 5 Job. Lena ruft die Seite der unabhängigen Gewerkschaft MPRA auf, der Meshregionalny profsojus „Rabotschaja assoziazija“ - Überregionale Gewerkschaft der Autoindustrie „Arbeiterassoziation“. Sie zeigt mir ein Video aus der Auto-Stadt Togliatti an der Wolga: Auf einem großen Platz stehen eng gedrängt Frauen, Männer und Kinder und begrüßen eine Resolution gegen die antisoziale Politik der Direktion des Autowerks Awtowas. „Wenn man uns nicht anhört, kommen wir mit zwei, ja drei Mal so viel Menschen auf den Platz! Wir überlassen unsere Stadt Togliatti nicht den Bourgeois!“ O-TON LENA: Na dnjach bukwalno tam sostojalsja bolschoi … sa Togliatty eto otschen bolschoi. Na fotografijach widno, schto plostschad sapolnena … Bolschoi meeting, polutora tysjatschny. S protestami protiw sokraschenii. ... Potomu schto dlja Togliatti awtowas gradoobrasujuscheje predprijatije…. Uprawljajuschi schwed Bo Anderson wsjalsja sa delo otschen resko … Sprecherin Dieses Meeting hat vor zwei Tagen stattgefunden. Anderthalbtausend Arbeiter sind auf die Straße gegangen und haben gegen Entlassungen protestiert. Anderthalbtausend ist sehr viel für Togliatti. Die Stadt lebt von der Autoproduktion. Und der neue schwedische Generaldirektor Bo Andersson leitet das Unternehmen „Awtowas“ mit harter Hand. ERZÄHLERIN: Das Meeting fand Ende September 2015 statt, gerade als ich bei Lena war. Organisiert wurde es von der „Arbeiterassoziation“. Ihr führender Kopf heißt Alexej Etmanow. Er sei der berühmteste Gewerkschafter Russlands, sagt Lena. Wenn ich mich für die linke Bewegung interessiere, müsse ich vor allem ihn kennen lernen. Das Gewerkschaftsbüro befinde sich ja nur ein paar Bushaltestellen von ihrer Wohnung entfernt. ATMO: Ich gehe mit Pjotr ins Büro der Meshregionaly rossiski profsojus ERZÄHLERIN: Mich empfängt Etmanows Stellvertreter Pjotr Prenjow. Das Büro ist in einer stillgelegten Fabrik untergebracht. Davon gibt es viele in Petersburg. Pjotr ist Arbeiter, 40 Jahre alt. 2011 hat er zusammen mit Alexej Etmanow die Gewerkschaft gegründet. PJOTR O-TON: Eto ne prekraschalos nikogda. Sejtschas drugoi etap idjot raswitija. Formirowanije nowoi lewoi dwishenija s utschotom realija. I s utschotom togo, schto ot towaristscha Marxa proschlo ushe skolko let. Ljudi reboljuzionirowali, rabotschije revoljuzionirowali. Raswitije i technitscheski progress otkladywali swoi otpetschatok. 6 Sprecher: Die linke Bewegung hat niemals aufgehört zu existieren. Sie wurde nur an den Rand gedrängt. Jetzt lebt sie wieder auf und formiert sich neu. Seit dem Genossen Marx sind viele Jahre vergangen. Die Menschen haben sich revolutioniert, die Arbeiter haben sich revolutioniert. Die Zeit wird vom technischen Fortschritt geprägt. ERZÄHLERIN: Pjotr liest populärwissenschaftliche Aufsätze postsowjetischer Marxisten, die er im Internet findet. Zwei verehrt er besonders: den Soziologen Boris Kagarlizki und den Professor für Ökonomie Alexander Busgalin. Aber die wahre linke Bewegung, wendet er ein, das seien die Arbeiter, die auf die Straße gehen und für ihre Forderungen streiken. PJOTR O-TON: Njet, na samom dele eto te rabotschije, kotoryje mitingujut, bastujut. Wsjo schto bylo pri Sowjetskom Sojuse – sozialnyje garantii, trudowyje garantii – oni (gosudarstwo) postepenno, postepenno sabirajutsja ... U nas kutscha vakanzii. W Sankt Peterburge. No tam sarabotnaja plata 15 000 do 20 000, na kotoryje sejtschas ushe ne wyshit. Sprecher: Die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die sozialen Garantien, die es in der Sowjetunion gab, werden Schritt für Schritt abgeschafft. … In Sankt Petersburg gibt es viele freie Stellen. Aber da verdient man nur 15 bis 20 Tausend Rubel. Davon kann kein Mensch leben. Das ist ein Hohn und kein Lohn. Es ist höchste Zeit, dass eine linke Alternative ausgearbeitet wird. Das ist die Aufgabe der marxistischen Intelligenz. ATMO: Alexej Etmanow kommt zur Tür herein ERZÄHLERIN: Da kommt Alexej Etmanow herein, der „berühmteste Gewerkschaftsführer Russlands“. Zwei Attentate hat er überlebt. Bis 2011 arbeitete er als Schweißer im Ford-Werk in Sankt Petersburg. Irgendwie passt er gar nicht in ein Büro.In Petersburg entstanden Anfang der 2000er-Jahre mehrere Joint Venture, die ausländische Autotypen herstellen: Ford, Nissan, Toyota, Hyundai, General Motors. O-TON ETMANOW: My kak w swojo wremja podnjali na Forde, wse predprijatija, otkrywajuschichsja w Peterburge, byli ushe wynushdeny blanku sarplaty podnimat pod Fordowku, inatsche u nich ne bylo by personala. Poetomu wse sabastowki, wse kollektivnyje destwija, kotoryje byli na Forde, oni byli sa sebja i sa togo parnja, to jest dlja wsech. Sejtschas eto wsjo unitschtoshajetsja, potomu schto prichodit effektiwny mamagment. Wsjat awtowas. Sejtschas eto wsjo unitschtoshajetsja, potomu schto prichodit effektiwny mamagment. Wsjat awtowas. Prischol Bo Anderson, kotory wse neprofilnyje aktivy wywodit sa predely awtowasa … Poetomu sejtschas ne umejustschije opyt borby profsojusy --- im prichoditsja natschinat s nulja. ... 7 U naschich profsojusow segodnja aktualnaja sadatscha wyrabotat te predloshenija prawitelstwa Rossiskoi Federazii dlja togo, schto awtomobilny sektor w Rossii sochranilsja. Potomu schto tot krisis, w kotory my popali, dostatotschnno shostki, segodnja bjot po naschim tschlenam profsojusa, po naschim towaristscham, kotoryje rabotajut na awtopredprijatijach. Bukwalno nedelju nasad awtowas sajawil o sokraschenije 15 Tausend Arbeitern. Eto wsjo sledstwije togo kapitalisma, kotory k nam prischol shostkogo. Sprecher Als wir bei Ford die Löhne nach oben trieben, mussten alle anderen Autowerke, die in Petersburg aufmachten, ihren Arbeitern genauso viel bezahlen wie Ford. Sonst hätten sie kein Personal gehabt. Damals herrschte noch Mangel an Fachkräften. Deswegen haben unsere Streiks bei Ford nicht nur uns, sondern auch den anderen Arbeitern genützt. Aber jetzt werden all unsere Erfolge wieder zunichte gemacht durch das „effektive Management“. Wie zum Beispiel bei Awtowas in Togliatti. Als der schwedische Generaldirektor Bo Andersson kam, hat er die Produktionszweige, die nicht ins Profil passten, abgeschafft. Und die Gewerkschaften, die keinerlei Kampferfahrung haben, fangen praktisch bei Null an. Unsere aktuelle Aufgabe ist es, Vorschläge für die Regierung auszuarbeiten, damit die Autoindustrie in Russland erhalten bleibt. Denn die Krise, in die wir jetzt gerutscht sind, trifft unsere Kollegen hart. Gerade vor einer Woche hat Awtowas angekündigt, 15 Tausend Arbeiter zu entlassen. Das sind alles die Folgen des gnadenlosen Kapitalismus, der über uns hereingebrochen ist. ATMO: Bo Andersson zu Awtowas ERZÄHLERIN: Ob es ein Erfolg von Etmanows Gewerkschaft ist, dass Putin sich im Oktober 2015, nach dem Meeting in Togliatti, mit Bo Andersson getroffen hat? Er forderte ihn jedenfalls auf, die Produktion des neuen Lada Vesta in großem Umfang auszubauen. Seit kurzem steht Etmanow auch mit den Beschäftigten von Volkswagen in der Stadt Kaluga in Verbindung, 200 Kilometer südlich von Moskau. O-TON ETMANOW: Tot she Volkswagen ne wosprinimal nas w serjos. Odin is direktorow Volkswagena on skasal, kogda my wstretschalis w samom natschale:„Mister Etmanow, u was i u waschego profsojusa otschen plochaja reputazija w delowych krugach w Germanii.“ Na schto my posmejalis i skasali, schto w Rossii tysjatschi profsojusnych liderow i tolko u Etmanow jest kakajato reputazija w delowych krugach Germanii. Santschit, my prawilno rabotajem.“ (Lacht) Sprecher Einer der Direktoren von Volkswagen hat uns erst nicht für voll genommen. Er nahm mich bei den Verhandlungen zur Seite: „Mister Etmanow“, sagte er, “Sie und Ihre ganze 8 Gewerkschaft haben einen sehr schlechten Ruf in deutschen Geschäftskreisen.“ Ich lachte und sagte: „Was? In Russland gibt es Millionen Gewerkschafter und Tausende Gewerkschaftsführer. Und nur Etmanow soll einen schlechten Ruf in den deutschen Geschäftskreisen haben?! Da haben wir ja alles richtig gemacht!“ ERZÄHLERIN: Der Gewerkschaftsfunktionär gehört keiner linken Partei an. Er glaubt, dass es überhaupt keine politischen Parteien mehr geben müsse, wenn die Gewerkschaften eines Tages stark genug wären. O-TON ETMANOW: Togda ne nushny byli by nikakije polititscheskije partii. Sowerschenno spokoino pod ideju sozialnoi sprawedliwosti moshno ostaiwat imenno sozialistitscheski orientirowannoje obschestwo. Eto obosnatschajet, schto wo glawe wsjo taki stoit tschelowek truda, a ne pribyl kapitalista. Ja stschitaju, schto eto nesprawedliwo. Kogda odni pokupajut sebje jachty von 200 metern Länge, a drugije ne mogut rebjonka odet w detski sad – eto nesprawedliwo. Nationalisazija, ja stschitaju, dolshna byt. I wse predprijatija dolshny byt nationalisirowany. Osobenno kotoryje sanimajutsja resursy dobiwajuschije. Sprecher 2: Dann könnte man mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit eine sozialistisch orientierte Gesellschaft schaffen. Das bedeutet, dass an erster Stelle der Mensch der Arbeit steht und nicht der Gewinn des Kapitalisten. Es ist ungerecht, wenn die einen sich Yachten von 200 Metern Länge leisten, während die anderen ihren Kindern nicht mal anständige Kleider für den Kindergarten kaufen können. Meiner Meinung nach müssen alle Unternehmen nationalisiert werden. Vor allem die, die Bodenschätze fördern. ERZÄHLERIN: Sind Etmanows Forderungen nach Nationalisierung und sozialer Gerechtigkeit nicht utopisch? O-TON ETMANOW: Potschemu utopia?! … Moshet byt utopina. No ja stschitaju, schto tak dolshno byt. Snatschit, ja utopist. (Lacht) Eto she ne plocho. Potschemu stschitajut, schto utopist – eto plocho. Wot Che Guevara! Wot eto ideal tscheloweka. Eto woin, eto bojez. Eto utopist. Sprecher 2: Dann bin ich eben Utopist. Ist das denn was Schlechtes?! Warum glauben alle, dass Utopie was Schlechtes ist. Che Guevara! Das ist ein Ideal für mich! Der war ein Kämpfer! Der war Utopist! 9 Musikakzent: Gitarrenakkorde ATMO: Mit Lena im Buchladen ERZÄHLERIN: In Petersburg gibt es einen alternativen Buchladen - „Porjadok slow“ - „Ordnung der Wörter“. Lena kommt manchmal hierher. Der Laden sei nicht so kommerziell wie die anderen und habe ein besonderes Angebot. Lena findet russische Übersetzungen, die in den letzten Jahren erschienen sind: Ernst Mandel, „Warum ich Marxist bin.“ Friedrich Dürrenmatt, „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“. „Che Guevara als revolutionärer Theoretiker“. Das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels. Das „Kapital“ allerdings ist ausverkauft. Offenbar ist es auch in Petersburg begehrt. O-TON LENA : Trotzki, Istorija Russkoi revoljuzii. W dwuch tomach. Trotzki, Moja shisn. O Trotzkom. …Moskwa Prosaik, 2014. ... Sprecherin Aber bitte, hier haben Sie Trotzki: „Geschichte der Russischen Revolution“ in zwei Bänden. „Mein Leben.“ ERZÄHLERIN: Die Trotzki-Bücher aber habe sie schon vor Jahren gelesen, sagt Lena. Ihr Interesse weckt ein anderer Band. O-TON LENA: O, prekrasno! Eto prekrasnoje proiswedenije. Mnje otschen nrawjatsja rannije filosofskije raboty Marxa. Jesli u menja byli by lischnich 408 rublej, ja by ich kupila…. Sprecherin Das ist ja wunderbar! Ein wunderbares Buch! Das gefällt mir am besten! Die frühen philosophischen Schriften von Marx. Wenn ich 408 Rubel hätte, würde ich das Buch sofort kaufen. ATMO: Lena blättert im Buch. ERZÄHLERIN: Lena sucht nach einer bestimmten Stelle, die ihr wichtig ist, und die sie mir unbedingt vorlesen will. 10 ATMO: Lena liest aus dem Marx-Aufsatz vor, darauf Zitator. ZITATOR: Die Nationalökonomie geht von der Arbeit als der eigentlichen Seele der Produktion aus, und dennoch gibt sie der Arbeit nichts und dem Privateigentum alles. Proudhon hat aus diesem Widerspruch zugunsten der Arbeit wider das Privateigentum geschlossen. Wir aber sehn ein, daß dieser scheinbare Widerspruch der Widerspruch der entfremdeten Arbeit mit sich selbst ist und daß die Nationalökonomie nur die Gesetze der entfremdeten Arbeit ausgesprochen hat. Eine gewaltsame Erhöhung des Arbeitslohns … wäre also nichts als eine bessere Salairierung der Sklaven und hätte weder dem Arbeiter noch der Arbeit ihre menschliche Bestimmung und Würde erobert. Sprecherin Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Aus den frühen Arbeiten von Karl Marx. 1844 ERZÄHLERIN: Dann entdeckt sie das Buch eines Freundes. Sprecherin Iwan Owsjannikow, Zur Verteidigung der Mehrheit. Freier Marxistischer Verlag“ Musik und ATMO: Iwan Owsjannikow erzählt von Kitaiskaja stolowaja ERZÄHLERIN: Mit Iwan Owsjannikow, 25 Jahre alt, Historiker, habe ich mich in der Kitaiskaja Stolowaja getroffen, der Chinesischen Imbissstube. Sie befindet sich in einer der Nebenstraßen des teuren Newski-Prospekts. Hier aber kann man billig und gut essen, und es herrscht eine demokratische Atmosphäre, sagt Iwan. Die Jugend fühle sich außerdem vom chinesischen Flair angezogen. Owsjannikows Buch „Zur Verteidigung der Mehrheit“ ist gerade in Moskau im „Freien marxistischen Verlag“ erschienen. Iwan muss mir einen Begriff erklären, den ich noch nie gehört habe: „Kreatariat“. Es ist eine Wortschöpfung von ihm - eine Zusammenziehung aus „kreativ“ und „Proletariat“. O-TON IWAN: Jest takije goroda, skashem kak Piter ili Moskwa, jest ogromny sloi ljudej, kotory tschasto nasywajut prekrariatom. W naschei strane takije professii kak prepodawatel wusa, ili skashem wratsch. Ili skashem journalist – oni wowse ne prinadleshat k srednemu klassu ... Eto resultat soziologitscheskich oprosow. …Jawno eto ne sredni klass, no eto i ne klassitscheski promyschlenny proletariat. Kotory kak ras tschasto imejut otnositelno wysokije sarplaty. A 11 prepodawatel w wuse, dashe imejuschi nautschnuju stepen, polutschajet skashem 20 000 rublej. Sprecher: In solchen großen Städten wie Petersburg oder Moskau macht dieses „Kreatariat“ eine große Schicht aus. Lehrer, Ärzte oder Journalisten gehören in unserem Land nicht zur besser gestellten Mittelschicht. Sie gehören jedoch auch nicht zum Proletariat, das manchmal sogar gut verdient. Aber ein Dozent an der Hochschule beispielsweise bekommt nur 20 Tausend Rubel, selbst wenn er einen wissenschaftlichen Grad hat. ERZÄHLERIN: Das sind etwa 260 Euro. Viele russische Intellektuelle, die ich kenne, gehören zu dieser ärmeren Schicht des „Kreatariats“, auch Lena Kusmenok, auch Iwan Owsjannikow selbst. Iwan ist Berater von Alexej Etmanow und Aktivist der RSD, der Rossiiskoje Sozialistitscheskoje Dwishenije, übersetzt: Russische Sozialistische Bewegung. Das ist eine Vereinigung von mehreren linken Gruppen. Ihre Internetseite heißt anticapitalist.ru. O-TON IWAN: W zelom bolschinstwo naschich towarischtscheh stschitajet sebja marxistami. My wyschli is trotzkistkoi tradizii. Eto bylo schto-to neprilitschnoje. Stschitalos, schto eto wsjo ustarelo. Schto marxism – eto swjasano s sowjetskoi epochoi. Samschewaja dogma. No segodnja interesno, schto imenno w intelektualnoi sredu, w sredu utschonych, gumanitariejw, chudoshnikow, dejatelej kultury, pisatelej, marxistskije idei pronikajut. Eto dowolno ushe dawno. ... on jawljajetsja intellektualnoi modoi. Sprecher: Die Mehrheit unserer Genossen bezeichnet sich als Marxisten. Wir kommen aus der trotzkistischen Tradition. Noch vor 10 Jahren war es in Russland verpönt, sich zum Marxismus zu bekennen. Er galt als veraltetetes sowjetisches Dogma. Aber interessant ist, dass heute gerade in der Schicht der Intellektuellen, der Naturwissenschaftler, der Geisteswissenschaflter, der Künstler, der Schriftsteller sich marxistisches Gedankengut immer mehr verbreitet. Das ist direkt eine Modeerscheinung bei den Intellektuellen. ERZÄHLERIN: Der Marxismus wird in Russland gewöhnlich mit seiner dogmatischen Stalinschen Version identifiziert. Indessen entwickelt sich neben dem „orthodoxen Marxismus“ eine neue Tendenz, die als „postsowjetischer Marxismus“ bezeichnet wird. Als Iwan 1992 geboren wurde, existierte die Sowjetunion bereits seit einem Jahr nicht mehr. 12 O-TON IWAN: Sowjetski Sojus byl otschen protiworetschiwaja systema. S odnoi storony besuslowno bylo by neprawilno otrizat ogromnyje sozialnyje sawojewanija, kotoryje prinesla revoljuzija 17ogo goda. Po sute dela w 1917 god w naschej strane natschalas sowremennost. … Ogromnoje kolitschestwo ljudej polutschili wosmoshnos probitsja nawerch imenno w resultate revoljuzii. No w to she wremja moja babuschka i moi ded po materinskoi linii, oni byli repressirowany. Schto kasajetsja Stalina, eto nasilije nad kommunistitscheskoi idei, kotoraja w osnowe swojej jawljajetsja gumanistitscheskoi. I kotoraja w osnowe swojej jawljajetsja progressivnoi. Imenno poetomu Stalinism dlja menja litschno jawljajetsja ogromnym prestuplenijem. ...I w resultate my widim, schto ideji marxisma okasalis w naschej strane i w drugich postsowjetskich stranach silno diskreditirowany. Sprecher: Die Sowjetunion war ein sehr widersprüchliches System. Auf der einen Seite wäre es falsch, die großen sozialen Errungenschaften abzustreiten, die die Revolution von 1917 brachte. 1917 begann in unserem Land die Moderne. Viele Menschen erhielten nach der Revolution die Möglichkeit von „ganz unten“ aufzusteigen. Aber andererseits waren meine Großeltern mütterlicherseits Opfer des Stalinismus. Stalin hat der kommunistischen Idee, die ihrem Wesen nach humanistisch und progressiv ist, Gewalt angetan. Deshalb ist der Stalinismus für mich persönlich eines der größten Verbrechen. Denn er hat die Idee des Marxismus in unserem Land und in anderen postsowjetischen Ländern diskreditiert. Atmo Theremin „Internationale“; Zug Sapsan nach Moskau, Durchsagen ERZÄHLERIN: Ich fahre mit dem modernen Hochgeschwindigkeitszug Sapsan – Wanderfalke –, made by Siemens, von Petersburg nach Moskau, dem nächsten Ziel auf meiner Reise zu den neuen russischen Linken. Erinnerungen kommen hoch: In der russischen Hauptstadt habe ich drei Jahre gelebt und gearbeitet – von 1985 bis 1988, zu Zeiten von Perestroika und Glasnost. Ich habe diese Zeit als Hoffnungsschimmer empfunden, denn eine sozialistische Erneuerung schien noch möglich. Ich habe das Land von „unten“ erlebt, mit den Menschen, die keine Privilegien hatten. Und ich bin noch heute davon überzeugt, dass sie sehr wohl reif waren für eine demokratische Umgestaltung. Ihr Talent, ihre Bildung, ihr Geschichtswissen und vor allem das hohe Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft haben mich damals beeindruckt. Eine breite Streikbewegung für soziale Gerechtigkeit entstand. O-TON BUSGALIN: W period perestroiki wo wtoroi polowine 80ich godow roshdalis udiwitelnyje nowyje initiativy. Eto bylo realnoje samouprawlenije trudowych kollektivov. Na bolschom kolitschestwo krupnych predprijatii. 13 Sprecher: Während der Perestroika in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wurden neue Initiativen geboren. Das war eine Chance für die reale Selbstverwaltung der Arbeitskollektive. ERZÄHLERIN: Der Moskauer Ökonomieprofessor Alexander Busgalin ist einer der führenden Köpfe des neuen, postsowjetischen Marxismus. Geboren 1954 gehört er zur älteren Generation der Linken. O-TON BUSGALIN: 10 s lischnim tysjatsch rabotschich. Minski tschasowoi sawod. Kamas – gigantskoje predprijatie. Ingenery, w osnownom molodyje aktiwnyje shenschiny tridzati Rabotschije. Wse wmeste sosdawali systemy, w kotorych ljudi utschastwowali praktitscheski w reschenii del swojego sawoda. Togda pojawilis silnyje ekologitscheskije dwishenija. byli nadeshdy na to, schto is tupika toi awtoritarnoi protiworeschiwoi sowjetskoi systemy, gde ne bylo nastojastschego kommunisma i sozialisma, gde bylo mnogo feodalnogo bjurokratitscheskoi systemy, wot is etoi systemy wychod is tupika budet naiden ne putjom woswrata nasad k polufeodalnoi, polukapitalistitscheskoi modeli, k kapitalismu jurowskogo perioda … unverständlich? perioda, w kotorom my segodnja okasalis.Da w period k nowomu tipu sozialisma. Eto byl realny projekt, kotory mog realisowatjsja, no ne polutschilos. Sprecher: Wir waren auf einer Werft mit Zehntausenden Arbeitern. Im Minsker Uhrenwerk. Bei Kamas, einem gigantischen Autohersteller. Die Ingenieure, vor allem junge aktive Frauen, die Arbeiter – alle zusammen schufen ein System, in dem die Menschen an den Entscheidungen ihres Betriebs teilnahmen. Damals entstand eine starke ökologische Bewegung. Und es gab die Hoffnung, dass man aus der Sackgasse des autoritären sowjetischen Systems, in dem es nie einen wirklichen Kommunismus und Sozialismus gegeben hat, wo das System in vielem noch feudal-bürokratisch war, dass man aus dieser Sackgasse einen Weg findet. Nicht zurück zu einem halbfeudalen, halbkapitalistischen Modell, zum Kapitalismus der ursprünglichen Akkumulation, der über uns gekommen ist. Sondern zu einem neuen Typ des Sozialismus. Das war ein reales Projekt, das hätte verwirklicht werden können. Aber es wurde nichts draus. ATMO: MUSS – Busgalin-Vorlesung ERZÄHLERIN: 1995 hat Busgalin in Moskau eine Bildungseinrichtung für Jugendliche gegründet – die MUSS. Das ist die Abkürzung für „Molodjoshny universitet sowremennogo sozialisma“ – auf Deutsch: „Jugenduniversität des modernen Sozialismus“. Ein sehr optimistisches Unterfangen. Denn wer interessierte sich damals für eine Gesellschaftsordnung, die 14 gerade als gescheitert galt? Aber schon zwanzig Jahre lang unterrichtet der Professor der Moskauer Universität, der häufig auch in die USA zu Vorlesungen eingeladen wird, an der Jugenduniversität marxistische Theorie. Das Thema seiner heutigen Vorlesung: „Der Mensch als Sklave und Schöpfer der Geschichte“. O-TON BUSGALIN: Wsjaki ras kogda my goworim, Putin glawnoje slo ili Putin glawnoje dobro, my prewraschajemsja w konformistow, kotoryje werjat w dobrogo zarja. Wopros, kak my moshem schto-to delat wmesto piramidy wlasti. … Sprecher : Immer wenn wir sagen, Putin der Böse oder Putin der Gute, drücken wir eigentlich nur aus, dass wir Konformisten sind und an den guten oder bösen Zaren glauben oder vielleicht selbst gern die Herrschaft hätten. Wir müssen aber wegkommen von diesem MachtDenken und eine andere Logik finden. ERZÄHLERIN: Die Vorlesung wird von einer Kamera aufgezeichnet und auf „anticapitalist.ru“ gestellt. So kann sie sich jeder ansehen, in Moskau, Petersburg oder im fernen Wladiwostok. ERZÄHLERIN: Die populäre marxistische Zeitschrift „Alternativy“ findet man ebenfalls im Internet. Genauso wie die beiden anderen linken Zeitschriften „Rabkor“ „Arbeiterkorrespondent“ des Soziologen Boris Kagarlitzki und die literarische Zeitschrift „Skepsis“. In „Alternativy“ hatte ich einen Aufsatz von Busgalin über das „Reich der Freiheit“ gelesen, der mich sehr beschäftigt. Scheint er mir doch für die heutige Zeit der gesellschaftlichen Krisen und der Suche nach Alternativen hochaktuell zu sein. Ich sehe einen inneren Bezug zu dem Marx-Zitat über die Erhöhung des Arbeitslohns, der nichts weiter sei als eine bessere Entlohnung der Sklaven und „weder dem Arbeiter noch der Arbeit ihre menschliche Bestimmung und Würde gibt.“ Lena hatte es mir im Petersburger alternativen Buchladen vorgelesen. O-TON BUSGALIN: W odnom is nesowerschjuschich rasdela 3ego toma Kapitala, kak iswestno jego kompanowal Engels, jest nebolschoi fragment Marxa o tom, schto buduschi mir – eto zarstwo swobody, kotory raszwetajet na swojom fundamente na zarstwe neobchodimosti. I tam pokasano, schto buduscheje… eto mir, kotory snimajet w gegeljewskom smysle, to jest otrizajet dialektitscheski, otrizajet wes preschestwujuschi mir, postrojeny na expluataziju i otschushdenije. 15 Sprecher: In einem Kapitel des unvollendeten dritten Bandes des „Kapitals“ – bekanntlich hat ihn Engels fertig gestellt – gibt es ein kleines Fragment von Marx, in dem er schreibt, dass die zukünftige Welt das „Reich der Freiheit“ sein soll. Und dieses „Reich der Freiheit“ wird sich auf dem Fundament des „Reichs der Notwendigkeit“ entfalten. Marx legt dar, dass diese zukünftige Welt im Hegelschen Sinne, das heißt dialektisch, die vorangegangene Welt, die auf Ausbeutung und Entfremdung basiert, aufhebt. ZITATOR: Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung. O-TON BUSGALIN: Rost swobodnogo wremeni, kogda tschelowek swobodno raswiwajetsja kak litschnost. No w prinzipe sejtschas proiswoditelnost truda dostatotschno dlja togo, schtoby ljudi jeli, pili odewalis normalno wo wsjom mire, ostalnoje wremja sanimalis naukoi, iskusstwom, pedagogikoi i wospitanijem w schirokom smysle slowa reschenijem ekologitscheskich problem i rasgrebanijem ogromnogo morja sozialnoi grjasi, kotory porodil predschestwujuschi mir. Sprecher Die Verkürzung des Arbeitstages ist eine Grundbedingung. Und der daraus folgende Zuwachs an freier Zeit, in der der Mensch sich als Persönlichkeit entwickeln kann. Die Arbeitsproduktivität ist heute so hoch, dass die Menschen auf der ganzen Welt normal essen, trinken und sich kleiden könnten und genug Zeit hätten, um sich mit Wissenschaft, Kunst, Erziehung, ökologischen Problemen zu befassen. Und das riesige Meer an missgestalteten sozialen Verhältnissen aufzuräumen, das die vorangegangene Welt erzeugt hat. ERZÄHLERIN: Busgalin scheint tatsächlich ein unverrückbarer Optimist zu sein. Ist es nicht eher so, frage ich, dass die Mehrheit der Menschen mit dem allgemeinen Strom mitschwimmt und nicht mehr an Veränderungen in der Gesellschaft glaubt? Der dialektisch denkende Ökonom kontert: O-TON BUSGALIN: Otkuda wsjalsja wosmitschasowoi rabotschi den? W 19. weke w manifest 16 kommunistitscheskoi partii pojawilos eto trebowanije. Wsego 150 let tomu nasad. Ono kasalos absolutno romantitscheski, besnadjoshnym, utopitscheskim. Eto bylo radikalnoje, revoljuzionnoje, kategoritscheskoje, neprijemljemoje, newosmoshnoje trebowanije wwesti potrjrjasajuscheje shestokoje ogranitschenije na kapital, kotoroje kapital nikogda ne rasreschit. ...W Chikago rabotschich, kotoryje trebowali 8itschasowogo rabotschego dnja, rasstreljali. Perwoje maja rodilos takim obrasom. ... Odnako segodnja eto kashetsja sowerschenno otschewidnym. Wrode by bogom dannym i wsegda suschestwowaschim. A sa eto ljudi borolis desjatiletijami. Moshet byt stoletijami. No pobedili. Dawaite poetomu budem optimistami ... Sprecher 4 Woher kommt der Achtstundentag? Diese Forderung wurde im 19. Jahrhundert gestellt, im Manifest der Kommunistischen Partei. Das war erst vor 150 Jahren. Sie (er)schien absolut romantisch zu sein, hoffnungslos, utopisch. Das war eine radikale, revolutionäre, unannehmbare, eine unmöglich erscheinende Forderung, die für das Kapital einen harten Einschnitt bedeutet hätte. Das Kapital wird sie niemals anerkennen, so glaubte man. In Chicago wurde auf die Arbeiter geschossen, die den Achtstundentag forderten. So entstand der Erste Mai. Doch heute erscheint uns das wie gottgegeben. Aber die Menschen haben Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dafür gekämpft. Und gesiegt. Lassen Sie mich also bitte Optimist sein. Atmo Theremin „Internationale“ ERZÄHLERIN: Beim Abschied erzähle ich Busgalin, dass ich am nächsten Tag nach Nischni Nowgorod weiterfahre, der letzten Station meiner Erkundungsreise auf der Suche nach den russischen Linken. „Fahren Sie zuerst nach Dsershinsk, unbedingt nach Dserschinsk“, fordert er mich auf. „Das liegt gleich neben Nischni Nowgorod. Dort gibt es noch so einen unverbesserlichen Optimisten, einen ganz jungen.“ ATMO: Mit Andrej Rudoi im Stadtpark von Dserschinsk ERZÄHLERIN: Und so finde ich mich unerwartet und plötzlich in der hintersten Provinz wieder, in einer Industriestadt mit großen sozialen Problemen. Sie trägt immer noch den Namen von Felix Dserschinski, dem ersten Leiter der Tscheka, des Allrussischen Außerordentlichen Komitees zur Bekämpfung der Konterrevolution, Vorgänger des KGB und FSB. Auf der Fahrt hierher ein trauriges Bild: viele tote Fabriken, wie in Petersburg, und viele hell erleuchtete Shoppingcenter: Obi, Metro, Saturn, Spar, Volkswagen, Nissan. 17 O-TON ANDREJ: Unterhaltung zwischen Autorin und Andrej. McDonalds dashe jest w Dsershinske. … „Spar“ A.: Mc Donalds, da, da, da jest. „Spar“. Woobsche schto bolsche wsego stroitsja w Dsershinske, eto torgowyje zentry i zerkwi. Torgowa zentr kak atribut obschestwa upotreblenija, i zerkwi kak opium dlja naroda. Sprecher: Ja, ja, auch in Dsershinsk gibt’s McDonalds und Spar. Was am meisten gebaut wird, sind Handelszentren und Kirchen. Das Handelszentrum als Attribut der Konsumgesellschaft, und die Kirche (lacht) als Opium für das Volk. ERZÄHLERIN: Aber seitdem Russland von der schweren Wirtschaftskrise erfasst und das reale Einkommen um 10 bis 20 Prozent gesunken ist, habe die Kauflust stark nachgelassen, erklärt mir Andrej Rudoi. Der elegant gekleidete Geschichtslehrer hat mich zu einer Bank im Stadtpark geführt. Hier könnten wir ungestört reden. In seine Schule Nummer 23 hat man uns nämlich nicht reingelassen. Andrej ist dort als linker Aktivist verschrien, und dann kommt er noch mit einer ausländischen Journalistin! Vor kurzem hat der junge Mann in Dserschinsk die Gewerkschaft der Lehrer gegründet. O-TON ANDREJ: Jestestwenno nesawisimoje profsojusnoje dwishenije ono awtomatitscheski roshdajet protiwodejstwije i so storoy wlastjej i so storony rabotodateljej. Tem bolee, schto i menja i mnogich drugich rebjat ushe mestnyje organy polizii i mestnoi wlasti snali kak marxistow, kak lewych aktivistow. My, profsojus utschitelej bukwalno dwe nedeli nasad podal trebowanije w uprawlenije obrasowanija o tom, schtoby nam wernuli nadbawki k sarplate. Sprecher: Klarer Fall: Die unabhängige Gewerkschaftsbewegung ruft automatisch Gegenaktionen hervor, sowohl bei der Stadtregierung als auch bei der Schulleitung. Zumal meine Kameraden und ich bei der Polizei und den Beamten als Marxisten und linke Aktivisten verschrien sind. Vor zwei Wochen hat unsere Lehrergewerkschaft eine Forderung an die Abteilung für Bildung gerichtet: Sie sollen uns die Aufstockung zu unserem Grundlohn zurückgeben. ERZÄHLERIN: Das Gehalt des Lehrers, erzählt mir Andrej, das in Russland schon an sich nicht hoch ist, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bildet die Basis, der zweite Teil ist eine stimulierende Aufstockung, die für gute Unterrichtsführung und wissenschaftliches Arbeiten mit den Schülern gezahlt wird. 18 O-TON ANDREJ: Natschinaja s 2014ogo goda w schkolach goroda eti stimulirujuschije bally natschinali propadat. I na etoi wolne my kak ras sosdali profsojus ... Kogda my objawili rabotodatelju o tom, schto sosdan profsojus, natschalos dawlenije. Mnje srasu skasali, schto Andrej Wladimirowitsch, Wy po karernoi lestnize prosto ne prodwintes, a wosmoshno, schto Wy budete prosto uwoleno. Jestestwenno my wydershali wsjo dawlenije, tem bolee my energitscheski podkowannyje ljudi. I na kakich-to provokazii ne podajomsja. I schto Wy dumajete. … I w tot den, kogda my podali eti trebowanije, ushe k wetscheru nam wernuli eti stimulirujuschije bally … Delo w tom, schto i administrazija mojej schkoly i administrazija goroda ponjala, schto jest realnaja dejstwujuschaja sila. Jest ne odin ja kak marxist, aktivist, kotory begajet flagom marsch. A jest dejstwitelno kollektiv, kotory gotow, drug sa druga wstupatsja. Sprecher: Aber 2014 fiel dieser stimulierende Teil einfach weg. Und auf dieser Welle haben wir die Gewerkschaft gegründet. Als wir das dem Arbeitgeber mitteilten, begann man auf uns Druck auszuüben, vor allem auf mich als Vorsitzenden. Andrej Wladimirowitsch, hieß es, mit der Karriereleiter ist es nun vorbei, vielleicht werden Sie auch entlassen. Aber den Druck haben wir ausgehalten und uns nicht provozieren lassen. Und was glauben Sie?! Bereits am Abend nach der Einreichung unserer Forderung wurde uns das stimulierende Gehalt zurückgegeben. Der Schulleitung und der Stadtregierung wurde der Boden unter den Füßen zu heiß. Sie haben begriffen, dass wir eine reale Kraft sind, die nicht nur Worte macht. Dass es nicht nur mich, den Marxisten und Aktivisten gibt, der mit der Fahne voranmarschiert, sondern ein ganzes Lehrerkollektiv, wo einer für den anderen einsteht. ERZÄHLERIN: Der 25-Jährige ist Klassenlehrer einer 11. Klasse. Seine Schüler sind 16, 17 Jahre alt. Wenn er mit ihnen einen Ausflug macht und statt des guten Anzugs Jeans trägt, wird er oft selbst für einen Schüler gehalten. Wissen die jungen Leute denn, dass er Marxist ist? O-TON ANDREJ: Poskolku ja utschitel istorii i utschitel obschestwosnanija, to ne goworit o Marxe, ja ne mog by dashe jesli ja ne byl by marxistom. Ne smotrja na to, schto posle 91 goda wlasti popytalis wytscherknut Marxa is utschebnikow, no eto ne wosmoshno … Wynut marxism is soziologii, is politologii, is istorii, is filosofii – eto wsjo rawno schto wynut is sdanija polowinu kirpitschej. … Imenno poetomu marxism kak tschastnauki - da, ja objasnjaju jego detjam. Detjam ja wsjo taki rekomenduju schto-to bolee udobowarimoje. Bolee popularisirowannoje. Tot she Busgalin, tot she Kagarlitzki i rjad drugich sowremennych awtorow, kotoryje bolsche prostym jasykom mogut objasnit molodjoshi, schto jest marxistskaja teorija. Sprecher: Da ich Lehrer für Geschichte und Gesellschaftskunde bin, bleibt mir nichts anderes übrig als von Marx zu sprechen, selbst wenn ich kein Marxist wäre. Nach 1991, nach dem Untergang der Sowjetunion, hat man zwar versucht, Marx aus den Lehrbüchern zu tilgen. Aber das geht nicht. Wenn man den Marxismus aus der Soziologie, der Politologie, der 19 Geschichte und Philosophie entfernt, ist es das Gleiche, als wolle man aus einem Gebäude die Hälfte der Steine rausziehen. Ja, ich erkläre den Kindern den Marxismus als Methode des wissenschaftlichen Herangehens bei der Analyse der Gesellschaft. Aber zum Lesen empfehle ich ihnen doch lieber eine Lektüre, die leichter zu verdauen ist. Busgalin und Kagarlitzki zum Beispiel und andere moderne Marxisten, die den jungen Leuten in einer einfachen Sprache die marxistische Theorie nahe bringen. ERZÄHLERIN: Und wie ist er selbst zum Marxismus gekommen? O-TON ANDREJ: Nawernoje wsjo taki bytije opredelilo sosnanije. Ja wyros ne w bogatoi semje, moja mat schweja. Wyros ja bes otza. Byli takije momenty, kogda my sdawali w makulaturu knigi dlja togo, schtoby sumet kupit chleb elementarno. Eto bylo w 2000 ili 2001. Kogda strana tolko otchodila ot krisisa 1998ogo goda. Eto dejstwitelno otloshil neki otpetschatok. Sprecher: Warscheinlich bestimmt das Sein tatsächlich das Bewusstsein, wie Marx sagt. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nicht reich war. Meine Mutter ist Näherin. Ich bin ohne Vater groß geworden. Es gab Momente, da wir unsere Bücher verhökern mussten, damit wir Brot kaufen konnten. Das hat mich geprägt. ATMO: Park ERZÄHLERIN: Andrej ist zornig über den Sozialabbau. Er macht die neoliberale Wirtschaftsideologie dafür verantwortlich, dass das Staatsbudget für Bildung und Medizin immer mehr gekürzt wird. Alles würde jetzt kommerzialisiert. Ich frage ihn, wie er Putins innenpolitische Rolle in diesem Prozess einschätzt. O-TON ANDREJ: On dejstwitelno na storone oligarchow. Gody, eto wremja peredela sobstwennosti. Eto wremja kogda grabilos i rasstaskiwalos wsjo, schto moshno. Eto wremja, kogda formirowalas nowaja russkaja burshuasija. A k konzu 90ich godow ona formirowalas kak klass. Jej bolsche ne bylo smysla wojewat drug s drugom. Jej nushno bylo nawesti porjadok i rasstawit nowyje prawila igry. Imenno etu rol sygral Putin ... Sprecher 5 Er ist auf der Seite der Oligarchen. Die 90er-Jahre unter Jelzin waren die Zeit der Umverteilung des Eigentums. Als alles, was nicht niet- und nagelfest war, gestohlen und verscherbelt wurde. Als die neue russische Bourgeoisie sich als Klasse herausbildete. 20 Aber dann musste Ordnung herrschen und neue Spielregeln eingeführt werden. Und genau diese Rolle spielte Putin. ATMO: zum Bus. ERZÄHLERIN: Andrej begleitet mich zum Bus nach Nischni Nowgorod. Ich hätte Glück, sagt er. Heute Abend findet dort ein Konzert der linken Rockband „Arkadi Koc“ aus Moskau statt. Schade, dass er nicht mitkommen könne. Die Gruppe sei in ganz Russland legendär durch ihre provokanten Lieder. Nicht nur bei Linken. Der Bandleader, Kirill Medwedew, sei gleichzeitig Dichter und Organisator des „Freien marxistischen Verlags“. Andrej ruft Karina Ginojan an, eine Genossin, die mich zum Konzert mitnehmen soll. Atmo Café „Bufet“ in Nischni Nowgorod, Karina, Konzert der Rockband „Arkadi Koc“ ERZÄHLERIN: Das Café „Bufet“ in Nischni Nowgorod. Viele junge Leute drängen sich um die Bühne. Die Mädchen mit kleinen Rucksäcken wie bei uns, modern angezogen. Karina hat die Wollmütze auf die braunen Locken gestülpt. Wären nur Linke hier, erklärt sie, würden vielleicht 40 Leute zuhören. Es sind aber über hundert Fans der Gruppe gekommen. Kirill Medwedew kündigt einen neuen Song an, der begeistert begrüßt wird: „Reich zu sein ist eine Schande“. ATMO: Song, darauf Karina O-TON KARINA: I sa to, schto on pytajetsja sotschetat poetitscheskoje i polititscheskoje, o tscho w naschich krugach otschen mnogo rasgowariwajut o takoi probleme. On takoi primer kakoi-to lewoi kultruy, kotoraja prosto otrashajet naschi wsgljady. Po duchu otschen blisko. Sprecherin: Die Gruppe ist so populär, weil sie Poesie mit politischen Themen verbindet. Sie ist ein Beispiel für linke Kultur und Kunst. Sie drückt unsere Gefühle und unseren Geist aus. ATMO: Konzert – Song „Sabastowka“. ERZÄHLERIN: Der nächste Song „Sabastowka“, „Streik“, heizt die Stimmung an. Die Gruppe hat sich 21 nach dem alten Dichter Arkadi Koc benannt, der 1902 die „Internationale“ aus dem Französischen ins Russische übersetzte: „Ni bog, ni zar i ne geroi“ - „Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“Karina ist erst 24 und unterrichtet schon als Dozentin an der Universität Englisch. Und Russisch als Fremdsprache für die sogenannten Arbeiter-Immigranten aus Mittelasien. Ein Jahr lang hat sie das aus Solidarität mit den oft Geächteten unentgeltlich getan. ATMO: Karinas Erzählung. ERZÄHLERIN: Mit drei Freunden lebt Karina in einer Kommune. Die Wohnung beschreibt die junge Frau scherzhaft als „bourgeois“. Denn sie hätten ein wundervolles Bad. Vorher hat sie in einer Abrissbude gehaust, zu dritt in einem Zimmer. O-TON KARINA: Ja woobsche otschen wdochlena etoi idejej. Mnje kashetsja, schto eto samoje prekrasnoje schto moshet byt. Schto rasruschil by wosmoshnost wsego togo sla, kotoroje osuschestwljajetsja tschasche wsego wnutri semi. Mnje takaja ideja otschen bliska i ja stschitaju, schto eto wychod i takaja laboratorija, kotoraja moshet sformirowat nowyje formy otnoschenii meshdu ljudmi. Ja werju w tot, kotory byl w 20ije gody, kogda mnogogo dobilis feministki. Alexandra Kollontai. Byl kurs destwitelno na rawenstwo praw. Sprecherin: Ich begeistere mich sehr für die Idee der Kommune. Das ist das Beste, was man sich denken kann. Es zerstört all das Böse, das vor allem innerhalb der Familie passiert. Die Kommune-Idee ist mir sehr nahe und ich denke, sie ist ein Ausweg. Ein Laboratorium, das neue Formen der menschlichen Beziehungen erzeugt. Solche Versuche hat es schon in der frühen zwanziger Jahren in der Sowjetunion gegeben, als Feministinnen und Revolutionärinnen wie Alexandra Kollontai sich für die Befreiung der Frau einsetzten. Für eine Gleichberechtigung und Befreiung aller Menschen. MUSIK: Gruppe „Arkadi Koc“ mit Song „Steny“. ZITATOR: Lass uns das Gefängnis zerstören. Die Mauern sollen fallen. Sie sind längst morsch. Und wenn Du mit der Schulter dagegen drückst. Und wenn wir zu zweit dagegen drücken. Dann reißen wir die Mauern ein. Und atmen frei auf. 22 ATMO: Song „Steny“ mit Zugatmo ERZÄHLERIN: Ich fahre weg aus Nischni Nowgorod. Ich verlasse Russland. Zurück in Berlin schaue ich manchmal bei „anticapitalist.ru“ rein. Alexander Busgalin war auf einer internationalen Konferenz über Marxismus in Peking. Andrej Rudoi hat einen vieldiskutierten Aufsatz über Trotzki veröffentlicht, Iwan Owsjannikow trat auf einer Veranstaltung der Ford-Arbeiter in Petersburg auf und die Gruppe „Arkadi Koc“ hat ein neues Album veröffentlicht. Ich denke an Lena und Karina. In meiner Vorstellung sind sie wie zwei Schwestern – die eine älter, die andere jünger. Die ältere ist lebenserfahren und nachdenklich, manchmal verzagt. Die jüngere unbeschwert und beflügelt von der Idee, ein neues Lebensmodell zu schaffen. Ihr Lachen klingt mir noch im Ohr: O-TON KARINA: Lachen. Wot, Bylo otschen sdorowo. Wremja, kogda k nam prijeshalo mnogo towarischej. Prosto takaja forma shisni, ona na kornju unitschtoshajet ljuboi individualism. Takaja forma shisni eto prosto rasruschajet i eto prekrasno. Sprecherin: Wir laden alle ein bei uns zu wohnen. Als unser Kamerad. Das wäre toll! Die Lebensform der Kommune rottet den Individualismus mit der Wurzel aus. Und das ist wunderbar! Atmoakzent Theremin „Internationale“ Absage: anticapitalist.ru Junge Linke in Russland Ein Feature von Antje Leetz Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016. Es sprachen: Frauke Poolman, Claudia Mischke, Matthias Haase, Gregor Höppner, Louis Friedemann Thiele, Hendrik Stickan und Camilla Renschke Ton und Technik: Gunther Rose und Caroline Thon Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Karin Beindorff 23
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