Die Schild-Bürger von Haltern am See

Die Schild-Bürger von Haltern am See
von Josef Lehmkuhl
In Haltern am See gibt es 484 Straßen mit namentlicher Kennzeichnung. Viele Straßen tragen Namen wie Ringstraße, Seestraße oder
Wiesenweg, manche haben Namen nach Pflanzen, Blumen oder nach
Tieren, oder sie reflektieren Halterns Nachbarorte. Doch 80 Straßen tragen Namen von Menschen, die man kennt oder auch nicht kennt und die
zumeist ungewollt Halterner Schild-Bürger geworden sind.
Es gibt wohl keine Stadt in Deutschland, in der so viele Archäologen zu
Ehrenbürgern und Schild-Bürgern ernannt worden sind, wie in Haltern
am See. Aber auch andere Schild-Bürger sind interessant. Was haben
beispielsweise Anna, Goethe, Bach, Kleist, Kopernikus oder Napoleon
mit Haltern zu tun? Wer kennt Adolf Kallhoff, Heinrich Rumpf, Pitter Bey,
Franz Pohlmann oder Johann Trage? Welche Stadt hat schon ein
Römerviertel, in dem das augusteische Zeitalter mit solch hochinteressanten Protagonisten wie Arminius, Drusus, Flavus, Tiberius oder Thusnelda lebendig wird. Hat Immanuel Kant Haltern gekannt? Wieso ist
Haltern Hansestadt? Wer kennt Augusta Westfalica? Und was bedeutet
der heilige St. Antonius für die Halterner?
Fasst man die Schild-Bürger Halterns in Gruppen zusammen, so fällt
auf, dass neben den üblichen Bürgermeistern, Dichtern, Denkern und
Künstlern viele Namen existieren, die mit der Geschichte der Römer und
Germanen, und mit der Archäologie zu tun haben. Zu dieser Gruppe
zählen über 20 Namen (allein 10 Archäologen), die der Stadt somit eine
unverwechselbare und in Deutschland einmalige Visitenkarte geben.
Böse Zungen behaupten ja sogar: „Hast du in Haltern nach Scherben
gegraben, trägt eine Straße bald deinen Namen“.
Römer-, Germanen- und Archäologen-Schild-Bürger in Haltern sind:
Arminius: Der durch List und Tücke gewann und verlor
Augustus: Der Gottkaiser, der in Haltern einen Tempel bauen wollte
Bey, Pitter und Wilhelm Fackert: die „Ackerer“ am Annaberg
Conrads, Alexander: Der Hobbyarchäologe, der alles ins Rollen brachte
Conze, Alexander: Der Top-Archäologe, der in Berlin die Fäden zog
Dragendorff, Hans: Der Spezialist für römisches Tafelgeschirr
Drusus: Der Draufgänger, der vom Pferd fiel
Flavus: Der einäugige Bruder des Arminius
Germanicus: Der Varusrächer und Entführer von Thusnelda
Koepp, Friedrich: Archäologe, Bücher und Halternfreund
Philippi, Friedrich: Der erste Altertumskommissar in Münster
Ritterling, Emil: Der Limeswall-Streckenkommissar
Schmedding, Johann Heinrich: Der Museumsbaumeister
Schuchardt, Carl: Der ALISO-Fan
Stieren, August: Der Altertumskommissions-Vorsitzende
Thusnelda: Das geraubte Thus’chen von Arminius
Tiberius: Kaiser und Statthalter in Haltern
Varus: Der traurige Held von Haltern
Viktor: Der christliche Römer aus Xanten
Widukind: Das „Waldkind“ und der letzter Germane
In Haltern am See hat man nach Varus nicht nur eine Straße benannt,
sondern ihm europaweit das einzige Denkmal aufgestellt. Es ist die
Bronzestatue des Rietberger Künstlers Wilfried Koch, die durch Initiative der Kulturstiftung Masthoff errichtet wurde und den geschlagenen
Feldherrn darstellt. Vielleicht drückt die eindrucksvolle Statue in der
Stadtmitte von Haltern auf den zweiten Blick ja etwas ganz anderes aus,
als man gemeinhin meinen soll:
„Mensch Arminius, warum hast du mich und
meine Soldaten so hintergangen, warum
hast du nicht mit uns kooperiert, warum hast
du dein Volk so ins Unglück gestürzt, in ein
tiefes Mittelalter. Alles hätte so gut laufen
können, ganz Germanien wäre römisch
geworden, in Aliso an der Lupia hätten wir
ein zweites Rom gebaut, Augusta Westfalica
hätte man die Stadt genannt, sie hätte in
2000 Jahren noch zu meinem und zu
deinem Ruhme als Hauptstadt Germaniens
gestanden. Nun steh ich hier in Bronze auf
einem Sockel, mit ungläubigem Blick auf
einen Teufelsturm, mit übergroßen Händen
und zerfetztem Gewande, als der berühmteste Verlierer der Weltgeschichte und angeblich gescheitert. Dabei bist ja vor allem
du, Arminius, gescheitert, und hast dieser
schönen Stadt, die sich heute Haltern nennt,
die Zukunft als überragende Römerstadt
vermasselt.
Mensch Arminius, du Versager!“
Eine schöne „Schild-Bürger-Geschichte“ ist auch die von Johannes
Terwellen, der vor etwa 100 Jahren Pfarrer in Hullern war und einen
„sagenhaften Schatz“ hinterlassen hat.
Im Jahre 1837 zählte man im „Kirchspiel“ Hullern 35 Pferde, 175 Rinder,
846 Schafe, 89 Schweine und 414 Menschen. So ähnlich war das schon
im Mittelalter, denn Hullern war bis zur Eingemeindung nach Haltern
(01.01.1975) ein Dorf zwischen Stever und Lippe, mit einer Kirche im
Mittelpunkt. Bereits um 900 wird in den Annalen des Klosters EssenWerden eine Siedlung an der Stever erwähnt, die damals noch als
„Hulluron“ bezeichnet wurde. 1313 ist in den Annalen der Diözese
Münster die Pfarre Hullern erstmals erwähnt, die ihre Kirche dem
Schutzpatron St. Andreas (einem Bruder des Petrus) anvertraut hatte.
Als die alte Kirche baufällig war, baute man eine neue, die 1897
eingeweiht wurde. Die bäuerliche Gemeinde muss wohl nicht gerade
arm gewesen sein, denn die Kirche zeugt noch heute mit einem weithin
sichtbaren 65 Meter hohen Kirchturm von einem gewissen Wohlstand
und einem stolzem Bürgertum.
Wenig später ist Johannes Terwellen Pfarrer in Hullern geworden
und führte die Gemeinde über 30 Jahre. In den Andreas-Annalen ist
festgehalten, dass die Kirche ihm eine „schöne Innenausstattung“ und
eine kunstvolle Kanzel zu verdanken hat. Die Gemeinde bedankte sich
mit dem „Terwellenweg“.
Pfarrer Terwellen soll ein bescheidener, hilfsbereiter und eher weltfremder Mann gewesen sein, der noch auf Stroh geschlafen hat. Umso
erstaunlicher war Bauer Möllmann, als seine spielenden Kinder in der
Schublade des alten eichernen Sekretärs, den er 1930 aus dem
Nachlass des Pfarrers für 80 Mark erstanden hatte, einen Schatz hoben.
In der Schublade fand man die stolze Summe von über 20.000 Mark in
Goldmünzen (nach heutiger Kaufkraft gleichzusetzen mit etwa 100.000
Euro). Wie kam der kauzige Pfarrer Terwellen an den Schatz? Hatte er
ihn geerbt? Hatte er ihn in der unruhigen Zeit des Ersten Weltkrieges für
jemanden aufbewahrt und ihn dann später einfach vergessen? Man weiß
es bis heute nicht und ist in der Gemeinde zu der weisen Erkenntnis
gekommen:
„Den Seligen gibt es der Herr im Schlaf“