Der Mond dringt in die finstern Räume ein zur Erderneuerung Haiku Da sitzt er nun auf einer staubigen Kiste. Eingesperrt in den dunklen, muffigen Keller seines eigenen Hauses. Zwischen Spinnweben, abgelegten Spielsachen, einem Weingestell, Essensvorrat, Grossmutters Geschirrschrank, irgendwelchem Gerümpel und Mäusedreck. Ausgerechnet jetzt, wo sowohl der Jahresabschluss als auch die Abwicklung neuer Aufträge zu bewältigen sind. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätten in der Uhrenbranche, mit der Konkurrenz, dem Personal und den verschiedenen familiären Angelegenheiten inklusive Januarfrust nach den Festtagen. Jetzt, wo seine Anwesenheit als Chef jede Minute besonders zählt, schliesst er sich selber in den Keller ein, selbstverschuldet durch eine kleine Unachtsamkeit. Diese Enge hier, das ganz Drum und Dran sind ja nicht auszuhalten. Haltla, Köpfchen Mann! John kommt zur Besinnung Er versucht ganz ruhig zu werden. Er überlegt sich mal, was denn überhaupt genau passiert ist. Und was er tun kann, um hier so schnell wie möglich wieder hinauszukommen. Seine Frau Irene hat ihrer Tochter Elsa kurzfristig angeboten, die Kinder zu hüten, damit sie und ihr Mann Klaus eine spontane Einladung, wo es voraussichtlich spät wird, annehmen können. Bei solchen Vorgängen übernachtet Oma jeweils bei den Jungen im Gästezimmer. John nutzt die Gelegenheit, in Ruhe am Computer zu arbeiten. Zu Hause ist er ungestörter als im Büro, wo die Spannungen zwischen ihm und dem Schwiegersohn Klaus in letzter Zeit zugenommen haben. Nun, gerade als John erfreulicherweise den Bereich von schwarzen Zahlen feststellt, versagt der Computer. Das hat ihm gerade noch gefehlt. Hoffentlich ist der Kasten mit all den Daten nicht auch noch abgestürzt. Zudem ist das Licht ausgegangen. Das sieht nach einem Kurzschluss aus. John tastet sich durchs Büro zur Türe hin. Er versucht, im Vorraum das Licht anzuzünden. Erfolglos. Das ganze Haus steht im Dunkel. Nachdem er zweimal das Knie an einem Möbelstück angeschlagen hat, findet er den Schaft mit den Taschenlampen. Damit kann er sich wenigsten orientieren. Er überlegt. Der Sicherungskasten befindet sich im Kellerraum. Er nimmt zwei, drei Reservestücke und den Schlüsselbund und flüchtet ins Erdgeschoss. Auch hier reagiert kein einziger Lichtschalter. Die Kellertür ist geschlossen. Es ist ganz schön anstrengend, mit Hilfe der Taschenpfunzel das Schlüsselloch zu bedienen. Dazu könnte man locker vier Hände gebrauchen. Mit einem Ruck öffnet sich die Türe. John richtet seine Aufmerksamkeit unmittelbar auf den Sicherungskasten. Dabei übersieht er den Schlüsselbund. Die Türe schnappt automatisch zu und bleibt geschlossen. Bei diesem System kann die zugeknallte Türe von innen nicht ohne Schlüssel geöffnet werden. Der Schlüsselbund hängt ja an der der Aussenseite der Tür. So ein Mist. Schon lange wollte er diese verdammte Einrichtung ändern. Der Sicherungskasten hängt ziemlich hoch oben an der Wand. John muss auf die Zehenspitzen stehen, um zu den Sicherungen zu gelangen. Die Ersatzteile passen nicht. Er hat aus Versehen die alten Modelle erwischt. Warum nur haben sie diese nicht entsorgt? Intelligenterweise versucht er es noch einmal und noch einmal. Vergebens. Da ist er nun eingekerkert, der Finsternis ausgesetzt. Er untersucht seine Tasche: kein Handy, kein I-Phone, kein Zweitschlüssel, keine neue Sicherung. Shit. Irene wird erst im Verlauf den morgigen Tages nach Hause kommen. Wann sie ihn dann hier unten sucht, weiss niemand. Da ist noch das Fensterchen. John versucht, es zu öffnen. Der Ausschnitt ist zu kleink, damit ein Mensch durchschlüpfen könnte. John ruft hinaus: „Hallo, ist da jemand?“ Ich bin eingesperrt. Hilfe!“ Nichts. Totenstille Nacht. Nur der Mond schickt ein wenig von seinem silbernen Schein in den Keller hinein. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Johns Fantasie richtet sich nun auf das Nordlicht. Dahin wollte er schon immer mal. Vielleicht sollte er sich diesen Wunsch wirklich erfüllen. Den Norden bereisen, die Menschen, ihre Kultur, Städte besuchen, Landschaften erleben, Schneegänse beobachten, Heilsteine für Geschenke sammeln. Als konkrete Perspektive gefällt ihm der Gedanke immer besser. Er sieht jetzt seinen Weg klarer vor sich: Sofortige Übergabe der Firma an Schwiegersohn Klaus und Tochter Elsa mit der Auflage, die Abteilung Kuckucksuhren weiterzuführen, im übrigen freie Hand zu haben für eigene Zukunftsperspektiven. Er, John, ein Meter achtzig gross, 75 Kilogramm schwer, noch kaum graue Haare, Fabrikbesitzer in der vierten Generation, wird sich in einem unbenutzten Nebengebäude eigenständig eine einfache Werkstatt einrichten für Notfall-Uhren zur Verhinderung von Unfällen, sozusagen als kleine leidenschaftliche Liebhaberei. Ein leises Rascheln unterbricht seine Schau. Wahrscheinlich Mäuse. Die leisten ihm Gesellschaft. Trotzdem will er gelegentlich Fallen aufstellen. Als Kind ekelte ihm vor diesen Grautieren. Sie gehörten zu den Feinden der Familie. Denn sie assen Mutters Vorräte auf. Etwa Johns Lieblingskonfitüre aus Erdbeeren, Opas Alpkäse oder seine Papiermaske aus der Kindergartenzeit. Später hat er die Schönheit der Tierchen gesehen: die lustigen Äuglein, das samtene Fall, die niedlichen Öhrchen, den eleganten Schwanz, die Leichtigkeit des Herumhuschens. John ist über sich erstaunt. Er fürchtet sich nicht vor den Mäusen. Vor der Finsternis auch nicht mehr. Und doch schaudert ihn da unten. Eine Angst ist schon da. Unbehagen überfällt ihn. Ein Monster scheint ihn anzuglotzen. Er leuchtet mit der Taschenlampe direkt in die Ecke der Kinderspielsachen. Das hölzerne Schaukelpferd steht ihm gegenüber, bewegungslos, vergessen, eingeklemmt zwischen Puppenhaus, Eisenbahnschienen, Teddybären, farbigen Schachteln. Seine Kinder haben sich eine Zeitlang um dieses Schaukelpferd gestritten. Er könnte es auffrischen lassen für seine Grosskinder. Seine Grosseltern schenkten ihm das wunderbare Pferd zum fünften Geburtstag. Das für ihn lebendige Pferd wurde sein Abenteuerfreund. Sie unternahmen Ausflüge ins elterliche Schlafzimmer, besiegten Räuber, flitzen über weite Prärien ins Land der Prinzessinnen und fanden Edelsteine. Das waren noch Zeiten! Wieder hört John das deutliche Rascheln. Er wandert mit dem Lichtstrahl den Geräuschen nach, sieht aber nichts. Omas Geschirrschrank, den seine Mutter übernommen hatte, fordert hingegen seine Aufmerksamkeit. Das weisse Sonntagsgeschirr mit den goldenen Rändern wurde hier drin versorgt. An einem Weihnachtsfest hat John drei dieser Teller fallen gelassen. Zu seinem Erstaunen gab es kein Donnerwetter, er bekam auch keine Strafe. An die näheren Umstände kann er sich nicht mehr erinnern. Dass er aber erschrak, sich schuldig fühlte, ist ihm geblieben. Der bemalte Kasten dient heute noch dazu, ordnungshalber Sachen zu versorgen. Das Weingestell nebenan ist neu. Das hat Irene gegen das alte, leere ausgetauscht zu seinem 60sten Geburtstag. Und wohlweislich gefüllt mit den besten Tropfen. Im Eichenfass gelagerter Italiener, ein besonders edler Bordeauxjahrgang, einige Flaschen Portwei. Vom Champagner schein nur noch eine einzige Flasche übrig zu sein. Die wir der mit Irene kosten, sobald er aus der Kellerhaft befreit ist. Neben dem Champagner haben sich einige Flaschen Birkenwasser eingeschlichen. Das Getränk ist gut gegen Gliederschmerzen, wovon in letzter Zeit sein rechtes Knie betroffen ist. Und da sich gerade auch noch der Durst meldet, nimmt er einen Schluck davon und noch einen und noch einen. Das tut gut. Nun meldet sich auch noch der Hunger. Johns Magen knurrt. Auf dem Essgestell stehen Reservebüchsen, Das weiss er. Im Glücksfall sind noch von den gelagerten Äpfeln übrig. Er tastet sich heran. Tatsächlich. Einige Glockenäpfel liegen da, allerdings zusammengeschrumpfelte. Was solls, Hauptsache was Essbares. Noch nie hat John einen Apfel so genossen. Ein bisschen Saft ist noch drin, auch v on dem erfrischenden Säuregehalt. Die süssliche Haut kaut er solange wie möglich. Sogar die bitter schmeckenden Kerne werden genussvoll gegessen. Er nimmt noch einen zweiten Apfel. Dessen Form erinnert ihn an eine Nase. Seine Kartoffelnase natürlich. Wie hat doch jahrelang seiner hässlichen Nase wegen gelitten. Die Rekruten damals gaben ihm den Namen „Kartoffelnase“. Da war er am Boden zerstört. Er setzte sich mit der Möglichkeit einer Operation auseinander. Als sich dann aber seine Freundin auch in seine Nase verliebte, kam er davon ab. Sie mochte ihn so, wie er eben war und fand „Kartoffelnase“ irgendwie lustig, Kartoffeln gehörten zu ihren Leibspeisen. Sie hatte also seine Nase zum Essen gern. Durch die Heirat vermochte auch er seine Nase zu akzeptieren. Ja, und er liebte Irene mit ihren leuchtend dunklen Augen. Und er liebt sie bis zum heutigen Tag. Nach dem Abstecher in die Vergangenheit kommt es John vor, als würden sich die unerledigten Angelegenheiten auflösen, sozusagen wegschwemmen. Er spürt Erleichterung. Er fühlt sich auf eine nicht gekannte Art befreit. Der Mond beleuchtet sein Antlitz, der erste Vollmond des Jahres. Die Batterien der Taschenlampe haben inzwischen ihren Geist aufgegeben. In der Morgendämmerung erwacht John nach einem dösend leichten Schlummerschlaf in den eigenen unterirdischen Gefilden. Wieder vernimmt er das Mäuserascheln. Beim näheren Hinhören erkennt er deutlich das nagende Geräusch. Der Kurzschluss. Ums Himmels Willen! Die niedlichen Tierchen haben eine Leitung durchgebissen. Das ist die Ursache des ganzen Desasters. Das hat er ja gerade noch rechtzeitig herausgefundens. Es ist an der Zeit, wieder einmal eine Katze anzuschaffen. Die wird hier mit Vergnügen auf die Jagd gehen um den Mäuseschicksalen gerecht zu werden. Bald wird Irene heimkommen. John kann den Augenblick der Befreiung kaum erwarten. Aus: Verena Spaeti: Aufwärtsbewegung. Mit farbigen Illustrationen der Autorin. Eigenverlag, Luzern 2014, 215 Seiten, Fr. 30.-, S. 9 – 20.
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