Wie Scheitern gelingen kann

F
ür Katja Kraus ging es fast immer nur
nach oben: Fußball-Bundesligaspielerin, Olympionikin, Pressesprecherin
von Eintracht Frankfurt- und schließlich sogar Vorstandsmitglied beim
Hamburger SV. Völlig unerwartet für sie wurde ihr
Vertrag 2011 nicht mehr verlängert.
Attila von Unruh verkaufte seine gutgehende Firma, als er 40 war. Weil der Kaufvertrag ihn nicht
absicherte, haftete er mit seinem Privatvermögen, als
der neue Eigentümer zwei Jahre später Insolvenz anmeldete. Er blieb auf 150000 Euro Schulden sitzen.
Sascha Schubert wollte 2012 mit seinem InternetStart-up Bondea, einem sozialen Netzwerk für Frauen, eine sichere Existenz aufbauen. Bondea floppte,
Schubert verlor 40 000 Euro.
Drei Geschichten des Scheiterns. Dreimal gefühlter freier Fall. Drei Ohrfeigen fürs Ego, der Aufprall
ganz unten. Und die Ahnung, von den anderen scheel
angeguckt, als Versager abgestempelt zu werden.
Scheitern? Geht gar nicht! Das steckt nun mal in
unseren Köpfen. Zusammen mit der Angst, es könnte auch uns mal erwischen. Denn wenn es um Misserfolge geht, bekommen wir schnell einen Tunnelblick. Wir können uns nicht vorstellen, dass es jemals
wieder bergauf geht. Jawohl - ein Flop wirft uns meist
zu Boden. Aber ob und wie lange wir dort liegenblieben, liegt unter anderem daran, ob wir uns von unseren Emotionen überrennen lassen.
Tatsächlich folgt der scheinbar ungezügelte Gefühlssturm, den wir durchmachen, wenn die Dinge
schiefgelaufen sind, einer Choreografie: „Scheitern
bedeutet für die Seele, einen Verlust zu erleiden. Deshalb macht man gefühlsmäßig häufig die gleichen
Phasen durch wie nach dem Tod einer nahestehenden
Person", erklärt Monika Gruhl, Resilienzcoach in
Osnabrück. Zuerst ist Verleugnung dran: „Man sagt
sich zum Beispiel: Das war doch jetzt nicht wirklich
eine Kündigung, das war sicher nur eine Ermahnung."
War doch nichts Schlimmes oder wenigstens nur ein
Irrtum, eine Petitesse ohne schwerwiegende Folgen.
Irgendwann aber bröckelt dieser erste innere Schutzwall, Erschrecken, Schmerz, Trauer, Verzweiflung
schlagen in Phase zwei unerbittlich zu. Und dann,
mit Phase drei, Wut, Aggression: „Das kann man mit
mir doch nicht machen!"
Besonders arg trifft es Perfektionisten: „Sie erleben Emotionen wie Scham, Schuld, Angst, Ärger und
depressive Verstimmungen sehr viel intensiver als
Nichtperfektionisten", sagt Joachim Stoeber, Psycho logieprofessor an der University of Kent Mit Phase
vier beruhigt sich der innere Sturm. „Man akzeptiert
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Wie Scheitern
gelingen kann
„Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten weitergehen". Postkarten mit solch
witzigen Sprüchen wollen uns
weismachen: Scheitern ist okay. Doch in
der Realität gehen wir mit Misserfolgen
alles andere als lässig um. Die Angst
vor dem Versagen ist groß.
Dabei sind Fehler eine tolle Gelegenheit,
Neues zu entdecken
VON SILKE PFERSDORF
PSYCHOLOGIE HEUTE
06/2015
Man kann der Bruchlandung schließlich auch etwas
Gutes abgewinnen - man hat offenbar Mut zum Risiko gezeigt, etwas ausprobiert, eigene Ideen entwickelt und umgesetzt. Wer sich jetzt noch klarmacht,
dass die Evolution selbst nur mit Versuch-und-Irrtum-Modellen vorankam und dass es in der freien
Wirtschaft überhaupt nur 5 bis 15 Prozent aller technischen Entwicklungen überhaupt in die Produktion schaffen, betrachtet den eigenen Fehlschlag vielleicht etwas gnädiger.
„Erfolg ist die Ausnahme", fasst es Technikhistoriker Reinhold Bauer sogar zusammen, „Scheitern
ist die Regel." Die Erfahrung zeigt, dass aus falschen
Entscheidungen oft erst der Fortschritt wächst, bestätigt Michael Frese, Arbeitspsychologe und Fehlerforscher der Leuphana-Universität in Lüneburg. „Wir
sollten Fehler nicht verteufeln. Sie sind ein wunderbares Rohmaterial, um Neues zu entdecken. Wer sie
zulässt, ist kreativer, innovativer und erfolgreicher."
Freses Team untersuchte das Fehlermanagement von
über 100 deutschen und niederländischen Unternehmen: „Diejenigen, die Fehler richtig managen, haben
einen enormen Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten, die das nicht tun", fasst er zusammen.
„Sie reden mehr über Fehler, sie analysieren Fehler
und deren Gründe genauer." Misslingen als Leistungsbooster. Wer die Dinge einmal auf diese Weise
betrachtet, stempelt Menschen nach einem Fehlschlag
nicht automatisch als Loser ab.
In anderen Ländern hat man mit eigenen Fehlern
und denen der anderen schon seinen Frieden gemacht
die Realität, versöhnt sich mit ihr", beschreibt Gruhl. - in Japan zum Beispiel: Wenn sich auch immer noch
Dann erst ist man bereit, sich selbst aus den Fängen hartnäckig Geschichten halten von Firmenmanagern,
der eigenen Gefühle zu befreien, dann erst schafft die aus Schmach über einen Misserfolg Selbstmord
man es wieder an die Oberfläche. Wer vor Phase vier begingen, ermutigt man in Nippon bereits Schüler,
handelt, zu früh nach Instantlösungen sucht und da- Fehler offen zuzugeben, um allen die Möglichkeit zu
bei womöglich wild um sich schlägt, macht alles nur geben, daraus zu lernen. „Kaizen" nennt sich die Phinoch schlimmer. Wer dagegen abwartet, bis sich das losophie, bei der es einzig und allein um VerbesseChaos in Bauch und Kopf gelegt hat, hat gute Chan- rung geht - ohne Scham, ohne Ärger über Dinge, die
cen, mit ein paar Blessuren davonzukommen. Schei- sich ohnehin nicht ändern lassen. Mit Blick nach vorn,
tern hat damit etwas von einem Unfall, bei dem man in die Richtung, wo es weitergeht.
mit dem Auto in einen See stürzt. Der einzige RetIn Amerika werden Niederlagen oft sogar völlig
tungsweg: auf den Grund sinken lassen, die Fenster umgedeutet: „Wenn man da als Unternehmer gerunterkurbeln, das Wageninnere voll Wasser strömen scheitert ist, schreibt man das groß in den Lebenslauf.
lassen, Luft anhalten - und dann erst rausschwim- Da kann jemand zwei Firmen kaputtgeritten haben
men.
und gilt trotzdem noch als toller Typ", beobachtet
Das Scheitern selbst ist also nicht das Ende. Es Arbeitspsychologe Frese. „In Deutschland wäre so
muss auch nicht die Hölle sein. Allenfalls das Fege- einer ein gebrochener Mann."
Frese, der sowohl von Singapur als auch von Lüfeuer. Und wie lange man darin schmort, bestimmt
die eigene Einstellung: Es liegt immer an unserer neburgausforscht,untersuchte mittlerweile die FehInterpretation eines negativen Ereignisses, ob wir lertoleranz in 61 Ländern: Deutschland und Singapur
daran wachsen oder uns davon niederdrücken lassen. landeten dabei auf den letzten Plätzen. Allerdings:
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Es tut sich was, ist Frese überzeugt. Als er Mitte der
1980er Jahre in Firmen mit seinen Forschungen begann, hörte er oft: „Fehler? Gibt's bei uns nicht." Inzwischen stößt er mit seinem Thema überall auf offene Ohren und Lernbereitschaft. Trotzdem ist in
Sachen Fehlerkultur noch viel zu tun: „Wenn ich
Amerikaner nach einem Fehler frage, der ihnen in
Erinnerung geblieben ist, erzählen sie ganz ehrlich
von ihrem Patzer. Deutsche Manager sagen eher: Mein
Fehler war, dass ich den Patzer eines Kollegen nicht
früh genug entdeckt habe."
Nicht nur Frese fordert hierzulande einen neuen
Umgang mit Misserfolgen und Fehlern. Auch Olaf
Morgenroth, Professor für Gesundheitspsychologie
an der Medical School Hamburg, ist überzeugt, dass
wir aus Angst vor Bauchlandungen schneller verzagen und jedes Risiko scheuen - und deshalb oft auf
der Stelle treten: „Wir betreiben Prävention statt Promotion", klagt Morgenroth. „Wir sichern uns nach
allen Seiten ab, statt uns unseren Zielen zu nähern."
Wir sind halt so - aber warum? „Beim Aufbau
nach dem Krieg kamen wir nur mit Beharrlichkeit
und Hartnäckigkeit weiter", glaubt die Kölner Psychiaterin Deirdre Mahkorn. „Auch deshalb tun wir
uns hier so schwer mit dem Scheitern." Mahkorn
betreibt die erste Lampenfieberambulanz in Deutschland, in der sie Musiker von der Angst vor dem Versagen auf offener Bühne zu kurieren versucht.
Und dann ist da ja noch der Zeitgeist, der das
Bloß-nicht-versagen-Klima ordentlich anheizt: „In
sozialen Netzwerken sind wir unsere eigenen PRManager und lassen uns permanent öffentlich evaluieren", stellt der Schriftsteller und Philosoph Stephan Thome, Autor des Buches Grenzgang (Suhrkamp 2010) fest. „Ich glaube, dass dadurch der Lebenserfolgsdruck enorm steigt und dass es immer
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Wir brauchen einen
Humanismus des
Scheiterns, der
Nachsicht und des
Nichtperfekten
schwieriger wird, sich ein Scheitern einzugestehen
und am Scheitern zu wachsen. In dem Sinne brauchen wir tatsächlich einen Humanismus des Scheiterns, der Nachsicht und des Nichtperfekten."
Postkarten und Poster mit dem Aufdruck „Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten - weitergehen",
die man seit ein paar Jahren in Dekogeschäften kaufen kann, wirken da als niedlicher Versuch, den lässigen Umgang mit weniger geglückten Situationen im
Leben zu propagieren. Es gibt auch mannigfaltige Bemühungen von Coachs und Wirtschaftsverbänden,
in Seminaren unermüdlich die Chancen zu thematisieren, die im Scheitern und in der Beschäftigung mit
den eigenen Fehlern liegen. Michael Frese wiederum
entwickelte für die freie Wirtschaft Fehlermanagementtrainings, die in verschiedenen Firmen messbare Leistungssteigerungen brachten und ganz nebenbei
das Betriebsklima entscheidend verbesserten.
Fehler können eine Chance sein - man sollte
sie aber nicht verharmlosen
Noch aber haben die Deutschen es noch nicht verinnerlicht, dass das Scheitern auch seine guten Seiten
hat, die Angst vorm Versagen ist hartnäckig. Kein
Wunder, sagt Mahkorn: „Gesellschaftliche Bewertungskulturen werden über Generationen hinweg
über die Familien weitergegeben. Letztlich werden
nur viel Zeit und die Globalisierung etwas daran ändern, wie wir hier mit dem Scheitern umgehen." Auch
Frese warnt vor einem verfrühten Jubelschrei über
eine verbesserte Fehlerkultur: „Wenn man die Leute
einzeln fragt, wie sie mit Fehlern umgehen, hat man
das Gefühl, das Denken habe sich verändert. Gesellschaftliche Bewegungen jedoch sind sehr langsam."
Gut, wenn die Botschaft irgendwann einmal flächendeckend angekommen ist - nicht gut aber, wenn
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sie im Eifer des Gefechts missverstanden wird: Olaf
Morgenroth warnt bereits davor, die Deutschen könnten beim Umdenken irgendwann womöglich übers
Ziel hinausschießen: „Natürlich können Fehler eine
Chance sein, aber man darf nicht nur die positiven
Aspekte betonen", sagt der Gesundheitspsychologe.
„Es gibt Fehler, aus denen kann man nichts lernen:
Dinge zu verwechseln oder schlichtweg zu vergessen
zum Beispiel hat wesentlich etwas mit unserer kognitiven Architektur zu tun. Und in einem Klima extremer Fehlertoleranz sind die Anreize gering, Fehler zu vermeiden oder aus ihnen zu lernen." Eine
Studie des Harvard-Ökonomen Paul Gompers gibt
Morgenroths Bedenken Nahrung: Gescheiterte Unternehmer waren beim zweiten Anlauf mit einer neuen Firma, einem neuen Projekt keineswegs erfolgreicher - sondern legten oft wieder eine Bauchlandung hin. Fehler machen ist eine Sache - daraus lernen eine zweite, die man bewusst in Angriff nehmen
muss. Der beste Weg ist wohl mal wieder der durch
die Mitte: Keine Angst vor Fehlern schüren, sie aber
auch nicht verniedlichen. Und wenn sie passieren,
sich ernsthaft damit auseinandersetzen.
Umwege erhöhen die Ortskenntnis
Und wie gehen wir am geschicktesten mit der Situation um, wenn wir uns im Job oder auch im Privatleben eine Schlappe einhandeln? Bei allen Menschen
ist die wichtigste Voraussetzung für ein gelungenes
Scheitern offenbar die Verarbeitung von negativen
Gefühlen, fand Holger Patzelt heraus, Betriebswirtschaftsprofessor an der Technischen Universität
München. Das bedeutet vor allem, richtig zu trauern
- um sein Projekt, sein Ziel, eine Idee, einen Zukunftsplan. Ganz konkret rät Coach Monika Gruhl
dazu, sich erst mal ausdauernd die eigenen Wunden
zu lecken, aber mit allen wichtigen Entscheidungen
bis zur Phase vier zu warten, wenn sich der Realitätssinn wieder durch den Gefühlswust gekämpft
hat. Zwischendurch gilt: Sport machen, um die körperliche Anspannung abzubauen. Und sich immer
mal wieder sagen: Scheitern gehört zu einem gelungenen Leben und zur Persönlichkeitsentwicklung
dazu, oder auch: Umwege erhöhen die Ortskenntnis.
„Eine Möglichkeit", regt Psychologieprofessor Stoeber an, „ist auch die Anwendung adaptiver Bewältigungsstrategien: indem man zum Beispiel Misserfolge positiv umdeutet oder den Fokus auf die positiven Aspekte verschiebt." Die Kündigung geht vielleicht auch mit einer neuen Freiheit, sich umzuorientieren, daher; die Trennung vom Partner mit dem
Ende gegenseitiger Beschuldigungen.
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Zu sehr schönreden sollte man sich die Situation
natürlich nicht - sonst versteigt man sich womöglich
in unrealistische Pläne, und die taugen allenfalls als
Basis für eine weitere Bruchlandung. Man kann sich
aber durchaus damit trösten zu sagen: Die Karten
sind jetzt neu gemischt, und ich habe die Chance, in
neue Richtungen zu denken, neue Entscheidungen
für mein Leben zu fällen. Kleiner Tipp: Das Wort
Scheitern durch die Variante Misserfolg ersetzen da steckt der Erfolg wenigstens noch in den Buchstaben.
Ein wenig Lebenshilfe könnte man sogar aus Stephan Thomes Roman Grenzgang beziehen: „Meine
Figuren empfinden ihr Scheitern zunächst vor allem
als Makel, aber irgendwie spüren sie, dass er eben
nur so lange ein Makel bleibt, wie sie ihn als solchen
empfinden, das heißt solange sie eben nicht zu einem
neuen Selbst- und Lebensentwurf fortschreiten, sondern an dem gescheiterten festhalten", erklärt Thome.
„Irgendwie ahnen sie, dass prinzipiell die Möglichkeit
besteht, die Sache anders zu sehen, einen Schritt weiter zu gehen: am Scheitern wachsen kann man wahrscheinlich nur, wenn man es gewissermaßen als Eigenleistung sieht." Scheitern als Variante, als Möglichkeit, die man am besten von vorneherein einkalkuliert: „Ohne die Erfahrung des Scheiterns würden
wir zu flachen und geistlosen Erfolgsoptimisten verkümmern, über die sich keine Geschichten mehr erzählen ließen. Zu Ende gedacht, gäbe es dann nur
noch die Langeweile des ewigen Gelingens, die allenfalls für einen Werbespot reicht."
Vielleicht zählt am Ende auch nicht nur, aus dem
einen gravierenden Fehler gelernt zu haben - sondern
sich selbst besser kennengelernt zu haben. Sich mehr
zu vertrauen, auch mit einer nächsten Krise fertig zu
werden. Viele Menschen, die mit ihrem Scheitern in
einer bestimmten Lebenslage fertig werden mussten,
berichten davon, danach gelassener geworden zu sein.
Umgekehrtbetrachtet: Wer noch nie echte Schlappen
erfahren durfte, weist ein echtes Defizit an Misserfolgen auf- die für die Ausbildung der Resilienz, der
Fähigkeit also, Krisen zu überstehen, wichtig wären.
Übrigens: Attila von Unruh, der in die Zahlungsunfähigkeit gestürzte Unternehmer aus Köln, gründete einen Gesprächskreis für „Anonyme Insolvenzler". Sein Motto: „Gerade in dem Moment, als die
Raupe dachte, die Welt gehe unter, wurde sie zum
Schmetterling."
PH
Katja Kraus sprach mit Prominenten, die selbst einmal tief gefallen waren, und schrieb ein Buch: Macht - Geschichten von
Erfolg und Scheitern (Fischer-TB, Frankfurt a.M. 2014).