Politik & Wirtschaft 5 23. August 2015 Ostschweiz am Sonntag Acht Wochen noch, dann wählt die Schweiz ihr neues Parlament. Der Meinungsforscher Claude Longchamp hat für die Ostschweiz am Sonntag analysiert, welche Parteien sich sputen müssen, wenn sie ihren Wähleranteil halten wollen. Der grosse Parteien-Formcheck DOMINIC WIRTH BERN. Wenn am 18. Oktober das neue Schweizer Parlament bestellt wird, geht es nicht nur darum, welche 246 Politiker künftig im National- und Ständerat sitzen. Die Sitzverteilung wird auch darüber entscheiden, ob Eveline Widmer-Schlumpf weiterhin Bundesrätin bleiben kann – oder ob die SVP zu einem zweiten Sitz kommt. Auch für die Stossrichtung bei Grossprojekten wie der Energiestrategie 2050 oder der Rentenreform Partei können einige wenige Sitzverschiebungen grosse Folgen haben. Acht Wochen vor den Wahlen analysiert der Politikwissenschafter Claude Longchamp für die Ostschweiz am Sonntag die Aussichten der Parteien. Longchamp, der auch für das Schweizer Fernsehen Umfragen erstellt und Ergebnisse analysiert, hat sich an den folgenden Kriterien orientiert: Themenkonjunktur: Welche aktuellen Themen beschäftigen die Schweizer Wähler derzeit, und inwiefern kommt das den einzelnen Parteien entgegen, weil sie für Kompetenz und klare Lösungen in diesen Themenbereichen stehen? Kampagne/Mittel: Wie viele Mittel haben die Parteien für den Wahlkampf zur Verfügung? Wie verläuft ihre Kampagne bisher, und was ist noch zu erwarten? Claude Longchamp Politikwissenschafter Bild: ky/Gaëtan Bally Personal/Kandidaten: Welche Wirkung entfalten die Präsidenten als Gesicht der Partei bei der Wähler- schaft? Wie gut sind die Parteien in den einzelnen Kantonen aufgestellt? Umfragen/Wahlen: Welche Hinweise geben die jüngsten Umfragen? Was lässt sich aus den Ergebnissen der kantonalen Wahlen der letzten vier Jahre schliessen? Zu guter Letzt hat Longchamp seine Analyse in einem Trend zusammengefasst, der auf einen Blick zeigt, welche Richtung er den sieben grössten Parteien im Oktober prophezeit. Themenkonjunktur Kampagne/Mittel Personal/Kandidaten Umfragen/Wahlen Migrationsthemen sind derzeit das Hauptproblem aus Bürgersicht, die SVP nutzt das. Der Aufruf zum Widerstand durch Toni Brunner war am Rande des Erlaubten, für die Themensetzung im Sommerloch aber wirksam. Adrian Amstutz als «Asylminister» ist zwar umstritten, aber die Debatte über den zweiten SVPBundesratssitz wurde so lanciert. Es ist ein hoher finanzieller Mitteleinsatz vor allem für Personenwerbung zu erwarten. Die Partei ist seit den Zürcher Wahlen im Kampagnenmodus. Die angekündigte Volksinitiative zum Vorrang des Landesrechts mobilisiert weniger als frühere Volksinitiativen. Ist die einzige Partei mit einem wirklich populären Video und meist stark in der Schlussmobilisierung. Parteipräsident Brunner wirkt nach innen stark, nach aussen polarisiert er indes zu sehr. Die generell hohe Medienpräsenz der Partei wurde durch prominente Quereinsteiger noch erhöht, parteiintern sind diese aber nicht unumstritten. Die Partei hat akute Personalprobleme in der Waadt und mit Aktivisten ganz am rechten Rand. Die Umfragen sehen die SVP etwas uneinheitlich, im Schnitt aber stabil auf dem Stand von 2011. Die kantonalen Wahlergebnisse bestätigen das, allerdings mit einem steigenden Trend seit der Volksabstimmung über die Masseneinwanderungs-Initiative. Prognosen zu Sitzveränderungen sind entsprechend schwierig. Kleine Gewinne scheinen möglich. Die Sozialpolitik liegt aktuell aus Bürgersicht nur an vierter Stelle. Mit der abgesagten Familien-Initiative hat die SP es versäumt, ihr Profil zu schärfen. Hinzu kommt die Abstimmungsniederlage mit der Erbschaftssteuer. Die AHV bleibt dagegen ein geeignetes Profilierungsfeld, da SP und Gewerkschaft hier glaubwürdige Verteidiger sind. Experimentiert mit Telefonmarketing zur inneren Mobilisierung. Im urbanen Umfeld erfolgversprechend, ausserhalb nicht. Die Treffen an Küchentischen sind eine moderne Form des Stammtisches, erreichen aber nur Überzeugte. Der finanzielle Mitteleinsatz ist durchschnittlich. Die SP verzichtet auf eine Kampagne gegen die SVP, ist von der FDP unter Druck. Der Parteipräsident Christian Levrat wirkt nach innen stark, nach aussen polarisiert er bisweilen. Der Diplomat Tim Guldimann, der in Zürich kandidiert, ist ein Europa-Fachmann und der prominenteste Quereinsteiger. Die Partei hat dank der aktiven Juso viele junge Kandidaten, kann von ihrem Frauenanteil aber nicht mehr so profitieren wie auch schon. Die Umfragen prophezeien der SP ein leichtes Plus, allerdings war die Tendenz zuletzt mit jeder neuen Umfrage sinkend. Die kantonalen Wahlergebnisse legen daher Stabilität nahe. Die Erfolgsaussichten sind auf dem konservativen Land schwieriger geworden. Es ist davon auszugehen, dass die Sitzzahl der SP in National- und Ständerat stabil bleibt. Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist ein diffuses, aber zentrales Thema. Mit der Aufhebung der Eurountergrenze sind Konjunktur und Arbeitsplätze schlagartig zum denkbaren Hauptthema geworden. Die FDP hat dies mit der Sicherung des Erfolgsmodells Schweiz schnell und gut aufgenommen. Bei negativem Konjunkturverlauf droht ein Bumerang. Die Mobilisierungsschwäche bleibt die Herausforderung der FDP. Der Mitteleinsatz ist diesmal hoch; er wird gezielt für Parteiwerbung verwendet. Dank Wahlgewinnen 2015 in den Kantonen ist die Stimmung in der Partei sehr gut. Die Partei geht offensiv gegen die SP vor und grenzt sich moderat von der SVP ab. In der Asylfrage jedoch in Defensive geraten. Parteipräsident Philipp Müller ist in der Partei ein starker Motivator. Als Ständeratskandidat sind seine Aktionsmöglichkeiten aber begrenzt. Ruedi Noser transportiert als Ständeratskandidat mit Innovation und Unternehmertum zentrale Werte. Zudem hat die FDP erstmals seit langem wieder interessante Junge. Seit dem Herbst 2014 zeigen die Umfragen die FDP im Hoch. Nicht einmal die Kontroverse um Christa Markwalder und Walter Müller hat ihr geschadet. Die kantonalen Wahlen liessen lange Verluste erwarten, seit Anfang 2015 aber starke Gewinne. Die Sitzprognosen sind durchwegs positiv. Die FDP ist der eigentliche Favorit der Wahlen. Themenprofile sind für Mitteparteien schwer zu definieren. Der sinnvolle Versuch, die CVP zur Retterin der Bilateralen Verträge zu machen, ist früh gescheitert. Ebenso ist die Familien-Initiative der Partei versenkt worden. Die Energiewende ist die Chance der Partei, um ihre Rolle als Mehrheitsbeschafferin zu demonstrieren. Der Ausgang ist offen. Der finanzielle Mitteleinsatz der CVP bewegt sich im Durchschnitt, daher verzichtet sie auf eine Vorkampagne. Die Hauptkampagne ist auf bevölkerungsstarke Kantone ausgerichtet. Die CVP versucht die Profilierung bei Secondos und Auslandschweizern. Wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen entscheiden die Kantonalparteien über den Wahlerfolg. Parteipräsident Christophe Darbellay ist sehr breit akzeptiert, auch wenn er nicht mehr kandidiert. Er hat unverhohlene Ambitionen auf ein späteres Bundesratsmandat. Die unterschiedlichen Aussagen zur Wiederwahl von Widmer-Schlumpf von Parteipräsident und Fraktionspräsident war negativ. Die Miss Kosovo als Kandidatin in Bern bringt ein bisschen Glamour. Die Umfragen deuten auf ein leichtes Minus. Die kantonalen Wahlen ebenso, vor allem in der Romandie waren sie teilweise stark negativ. 2015 hat sich die Partei stabilisiert. Die Sitzprognosen sind eher besser, deuten auf weitgehende Stabilität hin. Politisch massgeblich, ob Mitte- oder bürgerliche Kandidaten gewählt werden. Im Ständerat weitgehend stabil. Umweltfragen sind aus Bürgersicht aktuell von dritter Priorität. Gegenüber 2011 resultiert ein deutlicher Relevanzverlust beim Thema, das klar den Grünen zugeschrieben wird. Die Verschiebung der Gotthard-Volksabstimmung auf nach den Wahlen ist für die Grünen negativ. Die Jungen Grünen greifen mit ihrer Zersiedelungs-Initiative ein gutes Thema auf. Die Partei experimentiert erstmals mit einer Onlinekampagne. Sie trägt so den knappen finanziellen Mitteln Rechnung. Die Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken für die Kampagne ist hoch, ob sie mobilisiert, bleibt aber abzuwarten. Die Kampagne leidet unter den Wahlniederlagen in den Kantonen, die zur Demobilisierung beigetragen haben. Starke mediale Präsenz durch die Zürcher Männer, die das Parteibild wesentlich bestimmen. Bastien Girod ist als Kandidat für die Zürcher Ständeratswahlen vorteilhaft, da er als Umweltexperte anerkannt ist. Die Co-Präsidentinnen Adèle Thorens und Regula Rytz haben an Statur gewonnen und sind im Wahlkampf daran, aufzuholen. Für die Grünen sieht es nicht gut aus; sie liegen bei Umfragen durchwegs im Minus. Dasselbe Bild zeigt sich bei den vergangenen kantonalen Wahlen. Vor allem die herben Niederlagen im Kanton Genf und im Wahljahr waren erheblich. Leicht negative Sitzprognosen bestätigen den Eindruck. Die Partei riskiert, als Verliererin beim Wähleranteil dazustehen. Die GLP hat in Umweltfragen linke Konkurrenz. Ihr Vorteil besteht in der Verbindung von ökologischem und liberalem Ansatz. Die herbe Niederlage mit der eigenen Initiative wirkt nach. Das ökoliberale Profil als Alternative zu FDP kam nur beschränkt in Fahrt. Der Vorschlag der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare bringt gesellschaftsliberale Ausstrahlung. Die Parteikampagne ist noch wenig entwickelt, dafür sind die Kandidaten teils sehr aktiv. Die GLP versucht, sich als Wirtschaftspartei zu profilieren, um sich gegen die FDP zu wehren. Die öffentlich Präsenz steht und fällt mit Präsident Martin Bäumle, der sich aus gesundheitlichen Gründen zurückhalten muss. Finanzieller Mitteleinsatz liegt wohl im Schnitt. Die Partei ist bei verschiedenen Ständeratswahlen in den Kantonen aktiv, allerdings kaum mit Aussichten auf Erfolg. Der Parteipräsident Martin Bäumle ist als Panaschierkönig der einzige starke Kandidat für einen Ständeratssitz. Verschiedene Spitzenkandidaten für den Nationalrat müssen eine Abwahl akut befürchten. Die Umfragen sahen die Partei lange als mögliche Wahlsiegerin, die kantonalen Wahlen ebenso. Die Zürcher Wahlen haben den Eindruck allerdings umgekehrt. Seither geht es für die GLP nur noch darum, den Wähleranteil zu halten. Sitzverluste im Ständerat sind sicher, im Nationalrat wegen veränderter Listenverbindungen ziemlich wahrscheinlich. Ein Themenprofil für eine junge Mittepartei zu finden, ist besonders schwer. Die Schutzklausel zur Rettung der Bilateralen brachte vorübergehend Schub. Bilaterale, Energiewende und Frauenpower sind aber kaum geeignet, um sich abzugrenzen. Der Verbleib von Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat ist zentral für die Zukunft der Partei. Die abgelehnte Union mit der CVP hat die hohen Erwartungen an neue Geldzuflüsse stark gedämpft. Parteipräsident Landolt ist medial sehr präsent und treibt auch die Kantonalparteien bienenfleissig an. Der Mitteleinsatz ist wohl eher gering. Die Partei verzichtete auf Vorkampagnen, sie hofft ganz auf eine erfolgreiche Schlussmobilisierung. Die Partei hat in der Romandie durch die Kandidatur von Christine Bussat, die erfolgreich eine Initiative gegen Pädophilie lancierte, an Prestige gewonnen. Bussat könnte die erste BDP-Nationalrätin in der Westschweiz werden. Parteipräsident Landolt ist in Glarus so gut wie gewählt. Er kann sich deshalb ganz auf den Wahlkampf der Partei konzentrieren. Seit den Berner Wahlen ist in den Umfragen und bei den kantonalen Wahlen der Wurm drin. Wählerverluste sind gut möglich, das Ergebnis bei den Sitzen könnte jedoch besser ausfallen. Letztlich werden die BDPErgebnisse darüber entscheiden, ob Eveline Widmer-Schlumpf eine Legitimation für eine weitere Kandidatur hat. Trend
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