DE Joseph Cornell 20. Oktober 2015 bis 10. jänner 2016 »Was ist das für ein Mensch, der mithilfe alter brauner Fotografien auf Karton, die er in Antiquariaten gefunden hat, die Grand Tour des 19. Jahrhunderts durch Europa lebendiger vor seinem geistigen Auge entstehen lassen kann als jene, die tatsächlich eine solche Reise unternommen haben, der nicht in jener Zeit geboren wurde und nie im Ausland war und dennoch weiß, wie sich der Vesuv an einem bestimmten Morgen des Jahres 1879 ausnahm, und die Schmiedeeisenbalkone eines bestimmten Hotels in Luzern kennt? Wie konnte er unter den Bedingungen, unter denen er das tat, ein solches Werk zustande bringen? Es ist ein echtes Wunder. Seine Arbeit zwingt einen dazu, das Wort ›schön‹ zu gebrauchen. Was will man mehr?« Der Künstler Robert Motherwell über Joseph Cornell, New York, 1953 Einleitung zur ausstellung Joseph Cornell war einer der außergewöhn- dierten Kenntnissen und seinem tiefen Ver- lichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Diese ständnis der Kultur, Geschichte und Geogra- Ausstellung, die erste seines Œuvres in Öster- fie Europas nach und widmet sich seinem reich, zeichnet den gesamten Bogen seines be- Verhältnis in Hinblick auf viele dort auf dem merkenswerten Lebens und Schaffens nach. Gebiet der Wissenschaft, Naturgeschichte, Phi- Sie präsentiert viele seiner wichtigen Arbei- losophie und Astronomie, der Literatur, des ten aus Museen und Privatsammlungen, dar- Balletts, der Oper, des Theaters, der Musik, unter auch Werke, die noch nie in Europa zu des Films und der Kunst maßgeblichen sehen waren. Personen. Cornell, 1903 geboren, lernte weder zu zeichnen, Durch die Präsentation im Kunsthistorischen noch zu malen, noch bildhauerisch zu arbeiten. Museum Wien treten die Werke Joseph Cornells Er genoss keine künstlerische Ausbildung und in einen faszinierenden Dialog mit den Renais- war für eine Reihe von Firmen tätig, um seine sancegemälden des Hauses, dessen Münzen- und Mutter und seinen behinderten Bruder unter- Medaillensammlung und den Beständen alt- stützen zu können. Nur selten entfernte er sich ägyptischer Grabbeigaben. Am intensivsten ent- weit vom Haus der Familie in Flushing, New faltet sich der Dialog mit der Kunstkammer des York. Dennoch gelang es ihm im Lauf seiner Museums (eine Beziehung, von der in dieser Pu- nächtlichen Arbeit in Küche und Keller, eines blikation noch die Rede sein wird). In der Kunst- der bemerkenswertesten und originellsten Wer- kammer, dem Ort des letzten Abschnitts der Aus- ke der jüngeren Vergangenheit zu schaffen. Sei- stellung, ist eine kleine Gruppe von Werken Cor- ne Collagen, Filme, Assemblagen und Schaukäs- nells versammelt. Ein eigener Parcours durch ten haben ganze Künstlergenerationen von Ro- die Kunstkammer betont und ergründet diese bert Rauschenberg über Andy Warhol und Jasper Affinität: Die Besucher werden auf historische Johns bis zu Sol LeWitt und vielen, die heute Objekte aus der Sammlung des Museums auf- noch produktiv sind, tief und nachhaltig geprägt. merksam gemacht, deren Widerhall in Cornells Cornell hat in seinem Leben kein anderes Land Arbeiten besonders eindringlich ist. betreten und sich nur selten über New York hinausgewagt. Sein Wissen über die Welt war Kuratiert wird die Ausstellung von Jasper jedoch erstaunlich. Die Ausstellung geht Cor- Sharp gemeinsam mit Sarah Lea von der nells Beziehung zu Europa sowie seinen fun- Royal Academy in London. Joseph Cornell: Biographie Joseph Cornell wurde am 24. Dezember 1903 arbeiten. Als Levy die Collagen sah, lud er Cor- in Nyack im Bundesstaat New York geboren. nell ein, an einer surrealistischer Kunst gewid- Er war das älteste von vier Kindern, deren El- meten Gruppenausstellung teilzunehmen, und tern beide aus in der Gesellschaft bekannten bot ihm dann 1932 seine erste Einzelausstellung Familien holländischer Herkunft stammten. in der Galerie an. Nur wenige Jahre später zeig- Sein jüngerer Bruder Robert litt an einer Ge- te Cornell einige seiner Arbeiten bei der legen- hirnlähmung und sollte sein ganzes Leben dären Schau »Fantastic Art, Dada, Surrealism« hindurch von Joseph betreut werden. Schon im MoMA. 1940 hörte er endlich zu arbeiten auf, als Kind war Cornell ein begeisterter Leser, um sich ganz der Kunst zu widmen, und richte- den die Märchen Hans Christian Andersens te sich im Untergeschoss des Hauses der Fami- und der Gebrüder Grimm faszinierten. 1917 lie ein Atelier ein. Zwei Jahre später stellte er starb sein Vater an Leukämie, und Cornell gemeinsam mit seinem Freund Marcel Duchamp trat in die angesehene Phillips Academy in in Peggy Guggenheims Museum »Art of This Andover in Massachusetts ein. Er ließ keine Century« aus, das gleichzeitig als Galerie fun- besonderen akademischen Neigungen erken- gierte und von dem Architekten Frederick Kies- nen, verließ 1921 ohne Abschluss die Schule ler entworfen worden war. und fing als Textilvertreter in Manhattan zu Cornell zeigte seine Arbeiten gemeinsam mit arbeiten an. Auf seinen Wegen durch die Stadt Willem de Kooning, Franz Kline und Philip suchte er Antiquariate und Antiquitätenläden Guston in der Charles Egan Gallery und stell- auf und begann Dinge zu sammeln, auf die er te später in der Stable Gallery aus, zu deren dort stieß. Er besuchte auch Museen und ent- Künstlern Robert Rauschenberg, Cy Twombly wickelte ein Interesse für das Theater, das und Joan Mitchell zählten. Anfang der 1960er- Kino und das Ballett. Im Mai 1929 übersiedel- Jahre begann Cornell mit Avantgardefilmema- te seine Familie in ein Haus am Utopia Park- chern zusammenzuarbeiten und empfing eine way in Queens, wo Cornell, seine Mutter und ganze Reihe junger Künstler in seinem Atelier, sein Bruder bis ans Ende ihrer Tage leben darunter auch Andy Warhol, Robert Indiana sollten. und James Rosenquist. Am 29. Dezember 1971, Um 1931 begann Cornell nach einem Besuch der fünf Tage nach seinem 69. Geburtstag, starb Jo- Julien Levy Gallery zu Hause am Küchentisch seph Cornell vermutlich an einem Herzinfarkt der Familie an einer Serie kleiner Collagen zu bei sich zu Hause. 1 Diese Collagen sind für die ersten Arbeiten Cornells aus den 1930er-Jahren charakteristisch. Er 3 1930er-Jahre Collage auf Papier Osaka City Museum of Modern Art während seine Mutter und sein Bruder schlie- Untitled (Story Mitte der 1930er-Jahre schuf Cornell eine Grup- fen, und verwendete dabei Reproduktionen von without a Name – pe von sechzehn für sich stehenden Collagen, die Stichen des 19. Jahrhunderts aus viktorianischen for Max Ernst) er dem deutschen Künstler Max Ernst widmete, senschaftlichen Zeitschriften und NaturmagaCornell verfügte über einen großen Vorrat an en Levy kennengelernt hatte. Formal verdanken die Arbeiten Ernst und seinen Collageromanen insofern etwas, als sie in ihren surrealistischen Konfrontationen unerwarteter Gegenstände und rere Jahre zuvor auf seinen Streifzügen durch Schauplätze mit ähnlichen Maßstab- und Schritt- die Buchläden und Antiquitätenmärkte von Lo- 4 begonnen. Die Collagen belegen Cornells Leichtigkeit im 1930er-Jahre Collage auf Papier New York, Daniel and Lauren Long, Courtesy James Corcoran Gallery, Los Angeles 1930er-Jahre Collage auf Karton Privatsammlung solchen Materialien, hatte er doch bereits meh- wer Manhattan Dinge dieser Art zu sammeln Untitled dessen Werk Cornell durch den Galeristen Juli- Romanen sowie Illustrationen aus populärwiszinen, die er zerschnitt und zusammenklebte. 2 Jahr 1869, das André Breton und den Surrealisten sehr gefiel. arbeitete nachts am Küchentisch der Familie, Untitled Regenschirms auf einem Seziertisch« aus dem nen elegant gekleideten Mann, der sich, von einer sich drehenden Münze gebannt, über ei- sie die Profanität und Gewalt, die Ernsts dunkler Kritik der menschlichen Natur oft eigen ist, Untitled Umgang mit dem Material und seinen Sinn für absurden Humor. Eine (Objekt 2) zeigt ei- wechseln operieren. Inhaltlich jedoch vermeiden zugunsten einer eher spielerischen und wundersamen Abfolge von Charakteren und Situatio- Um 1930 Pappkasten mit Stich London, The Mayor Gallery nen. Die hier gezeigte Storyboardtafel (Objekt 3) zeigt Verkleinerungen der ursprünglichen Collagen, die Cornell mit einem Kopiergerät herstell- nen Tisch beugt. Der Mann trägt ein Sieb auf te, das in seiner Arbeit eine wichtige Rolle dem Kopf – wie ein Kind, das die Küchenkäs- spielte. ten geplündert hat, um sich als Ritter zu ver- Man nimmt an, dass Cornell in den 1930er- kleiden. Aus den Löchern des Siebs ragen Jahren, als die Collage in amerikanischen mehrere Pfeile hervor, die andeuten könnten, Avantgardekreisen noch so gut wie unbekannt dass es bereits zum Kampf gekommen ist. Eine war, 120 Arbeiten dieser Art schuf. Insgesamt andere Arbeit (Objekt 1) erinnert an das be- betrachtet zeugen die Werke von seiner Be- rühmte Wort des französischen Dichters geisterung für fiktionale Erzählungen, Bild- Comte de Lautréamont vom »zufälligen Zu- und Wortspiele, für Nebeneinanderstellung sammentreffen einer Nähmaschine und eines und Bewegung. 5 Als Anhänger der Christian Science nahm Cornell keine Medikamente zu sich, was ihn 6 in der Sixth Avenue, die angeblich älteste Apo- (Minutiae Objects) theke Amerikas, zu besuchen, um ihre Vitri- Etwa frühe 1930er-Jahre Quaderförmige Kartonschachtel mit fünf zylindrischen Kartondöschen als Inhalt, marmoriertes Papier, Collage aus bedrucktem Papier, Bällchen, Metallschrauben, Glas Wassenaar, Caldic Collectie nen und Regale zu bewundern. Die »Minutiae Objects«, die Cornell unter Verwendung kommerziell produzierter Pillendöschen herstellte, gehören zu seinen frühesten Assemblagen. Bis etwa 1940 schuf er weitere Objekte dieser Art, von denen einige etwas größer sind vollendetsten Arbeiten aus Cornells Frühzeit. Es ist eine Abenteuergeschichte, deren Held das aber nicht daran hinderte, »C. O. Bigelow« Untitled Diese wunderbare Leporellocollage zählt zu den Panorama Um 1934 Collage mit Tusche auf gefaltetem und gesäumtem Papier Tokio, Privatsammlung, Courtesy Shigeru Yokota, Inc. Sternbild Ursa Minor, der Kleine Bär, ist. Das Geschöpf unternimmt eine Reise durch »chinesische Sternbilder«, die »teilweise Finsternis« einer »Siesta«, eine »Fünf-Uhr«-Teestunde und einen Sonnenuntergang in Portugal, bevor es den Schiefen Turm von Pisa besucht und in der »Schale des Großen Bären« anlangt, wobei alltägliche häusliche Arbeitsabläufe und kosmische (siehe die Objekte 26 und 29). Die Arbeit »Mi- Abenteuer ineinanderlaufen. Die Bilderwelt von nutiae Objects« verknüpft Natur (Illustratio- Astronomie und Reise verbindet Cornell mit Ele- nen vier verschiedener fliegender Insektenar- menten wie Spielkarten und Formen in leuch- ten) und von Menschen Hergestelltes (zwei tenden Farben, die an Illustrationen für Kinder Metallschrauben). Der Spiralform der Schrau- und Spiele erinnern. ben, die Cornell mit der Entfaltung der Zeit Weit ausklappbare Darstellungen von Land- verband, begegnet man in seinem gesamten schaften und Städten waren ein Bestandteil Werk als Hinweis auf die verborgene Ordnung der Reiseführer des 19. Jahrhunderts, die Cor- hinter den Gesetzmäßigkeiten und Wachs- nell so eifrig sammelte. Durch seine händi- tumskreisläufen der Natur immer wieder. Die sche Arbeit mit Papier, die in seiner künstle- Perlen und Glassplitter in den anderen Dös- rischen Tätigkeit eine Schlüsselrolle spielte, chen lassen sich vielleicht als Eier oder Lar- entwickelte Cornell ein Interesse an Anima- ven deuten. Cornell war ein eifriger Sammler tion. »Panorama« lässt sich Seite für Seite wie marmorierter Vorsatzpapiere aus alten Bü- ein Buch lesen oder sich ziehharmonikaartig chern. In diesem Fall verwendete er das Ma- geöffnet zeigen und bietet je nach Gesichts- terial dazu, die Musterkiste zu bekleben, in punkt des Betrachters zahllose verschiedene der er die Döschen unterbrachte. Text-Bild-Kombinationen. 7 Die erste Arbeit, die Cornell im Januar 1932 ausstellte, war eine Glasglocke, die größer war 8 Um 1932 Glasglocke, Holz, Farbe und Collage aus bedrucktem Papier New York, Sammlung Timothy Baum le von Cornells zentralen Interessen ein: Reisen, Bücher, Museen, historische Kunst, Spra- als die hier gezeigte und eine Assemblage von Untitled In diese kleine spielerische Arbeit flossen vie- Fundstücken enthielt. In seinen frühen expe- Object (Tower che, Spiele, Kindheit. Cornell hat einen Karton rimentellen Jahren schuf Cornell eine Reihe of Babel and mit Architekturzeichnungen überzogen und solcher Werke. Sie wurden häufig von Gale- Children of ausgekleidet: die eine Hälfte mit einer Karte rien und Museen zusammen mit Arbeiten der Israel) des Berliner Museumsviertels mit dem Alten europäischen Surrealisten ausgestellt, obgleich sich Cornell von dieser Verbindung zu distanzieren suchte. Hier erweitert Cornell die Idee der Collage zu einer dreidimensionalen Skulptur. Im Inneren der Glasglocke – im 19. Jahrhundert hatte man Glasglocken zusehends dafür zu verwenden begonnen, ausgestopfte Vögel, Modellschiffe oder Arrangements getrockneter Blumen zur Schau zu stellen – hat Cornell ein Pferd mit einem Reiter platziert. Mit Papier collagierter Karton, Holzperlen, Klötzchen und Spielmarken, Kartonund Papierkarte Washington, D.C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation Museum und dem Pergamonmuseum, die andere mit Plänen der Innenräume der Alten Nationalgalerie derselben Stadt. Cornell muss diese Gebäude durch seine Sammlung von Baedeker-Reiseführern gekannt haben, von deren Umschlägen er Lettern auf den Karton und dessen Inhalte collagierte. Das Werk bezieht sich auf die biblische Geschichte, die den Ursprung verschiedener Sprachen erklärt und zum Thema eines gefeierten, 1563 entstandenen Gemäl- Wie mit einem Augenzwinkern in Richtung des von Pieter Bruegel dem Älteren im Kunst- der heroischen Reiterstandbilder auf öffentli- historischen Museum in Wien wurde, das chen Plätzen in Städten der ganzen Welt ist Cornell als Reproduktion in Form einer das Paar mitten im Sprung über dem kleinen Ansichtskarte besaß. Im Inneren des Kartons roten Kegelstumpf erstarrt, der die beiden findet sich eine Reihe von Anweisungen Cor- trägt – ein Miniaturdenkmal für beständige nells für den Betrachter oder »Spieler«: »Man Bewegung. Wir können nur raten, um wen es stelle den Turm auf den weißen Kreisschatten sich handeln mag: Stammen Reiter und Pferd (rote Scheibe) in den rot gekennzeichneten Be- vielleicht aus einem der vielen Märchen, die reich. Man platziere die Kinder Israels (rote Cornell kannte und liebte, oder sehen wir Lan- Kugeln) gegenüber. Man versuche, die Kinder zelot auf dem Weg nach Camelot an uns vor- Israels am Turm von Babel vorbei auf die ge- beispringen? genüberliegende Seite zu bringen, ohne dass der Turm den weißen Kreis verlässt.« 9 Die Ikonografie der Kindheit zieht sich wie ein roter Faden durch Cornells Werk. Wie er 11 1933 Collage auf Papier Osaka City Museum of Modern Art um sich mit diesem Thema auseinanderzuset- Object (Soap ten beschäftigte. Alle Arbeiten greifen mit der zen, so verwendete er in seinen Collagen der Bubble Set) Seifenblase eine der komplexesten und reichs- 1930er-Jahre auch fotografisch reproduzierte Bilder, die er aus Magazinen und Büchern ausschnitt. Cornell war in den New Yorker Galerien von Julien Levy und Alfred Stieglitz mit Avantgardefotografien in Berührung ge- 10 kommen und begann Street-Photography-Arbeiten zu sammeln, die poetische Momente des städtischen Alltags festhalten. Besonders Untitled 1934 Collage auf Papier Washington, D.C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation als zwanzig Jahren entstanden, gehören zu den Serien, mit denen sich Cornell am längs- sich häufig viktorianischer Stiche bediente, Untitled Die Seifenblasensets, die im Lauf von mehr verbunden fühlte sich Cornell den Arbeiten ten Metaphern auf. Das Motiv verbindet die 1941 Verglaster Holzkastenrahmen, Farbe, Tonpfeife, Glasscheiben, Papiercollage The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman Ikonografie der europäischen Malerei des 18. Jahrhunderts – in der seifenblasende Kinder die Vergänglichkeit der Unschuld verkörpern – mit der Faszination des Wissenschaftlers für die materielle Welt. In diesem Fall nehmen die Seifenblasen die Form einander überlappender Glasscheiben an, was an die Vorbereitung von Proben und Objektträgern Eugène Atgets, und sein Archiv umfasst meh- für Mikroskope denken lässt; sie zeigen durch- rere Abzüge Henri Cartier-Bressons, darunter sichtig wirkende, fast Röntgenaufnahmen glei- auch Bilder von spielenden Kindern, die den chende Bilder von Muscheln oder Fossilien. für diese Collage ausgesuchten ähnlich sind Cornell schließt das nicht länger als ein Au- (Objekt 10). Dass Cornell die Collage dane- genzwinkern währende Leben einer Seifen- ben (Objekt 9) händisch bemalt hat, stellt eine blase mit dem Maßstab geologischer Zeit kurz. Abweichung von den sonst schwarz-weißen Wie bei vielen seiner Werke ist das Bild eben- Kompositionen dieser Periode dar. Die bemal- so verspielt wie ernsthaft, bewegt sich zwi- ten Wollbälle sind Abbildungen sogenannter schen Zaubertrick und gewichtiger wissen- »Spielgaben«, von Lernspielzeugen verschie- schaftlicher Forschung. Die Sammlung von dener geometrischer Form, die der deutsche Tonpfeifen, die Cornell vom holländischen Pädagoge Friedrich Fröbel (1782–1852) entwi- Pavillon auf der Weltausstellung in New York ckelte. Fröbels Gedanken über die Rolle des 1939 erwarb, symbolisierte für ihn seine Vor- Spiels beim Lernen gewannen nach seinem fahren, waren doch beide Eltern holländischer Tod an Einfluss und führten zur Entwicklung Herkunft. des Kindergartens. 12 Diese Arbeit ist eine von vier einander ähnlichen Collagen, die Cornell um 1940/41 schuf 13 und zu denen ihn die international gefeierte »Untitled (M’lle Faretti)« ist einer der ersten von Cornell zusammengestellten Kästen. Die Arbeit entstand kurz nach seiner ersten Ein- Untitled (Tamara russische Ballerina Tamara Toumanova (1919– Untitled zelausstellung in der Julien Levy Gallery in Toumanova) 1996) anregte. Cornell hatte Toumanova wäh- (M’lle Faretti) New York. Den verwendeten Kasten hatte er rend seiner Mittagspausen im 51 Street Thest Um 1940 Collage und Tempera auf Pappe Washington, D.C., Smithsonian American Art Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation ater proben sehen, als er für ein nahegelegenes Textilstudio arbeitete, bevor er ihr im November 1940 offiziell vorgestellt wurde. Cornell war bei vielen ihrer Auftritte zugegen, und Toumanova besuchte ihn im Haus der Familie am Utopia Parkway. Ihre Verbindung 1933 Verglaster Holzkasten, Kabinettkarte, antikisierende Spiegel, Fäden und handgefertigte Ornamente Privatsammlung wahrscheinlich gekauft; es handelt sich um ein vorgefertigtes Stück, das zur Aufbewahrung und Präsentation von Sammlerstücken gedacht war. Sobald Cornell sich dann nur wenige Jahre später grundsätzliche Fertigkeiten im Tischlern angeeignet hatte, begann er die Kästen selbst herzustellen. Trotz der frü- bestand vor allem aus kurzen Begegnungen hen Entstehungszeit der Arbeit fallen bereits hinter der Bühne, wo Cornell der Ballerina zahlreiche formale Charakteristika seiner spä- auch manchmal ihr huldigende Arbeiten teren, reiferen Werke ins Auge: die Reproduk- schenkte. In diesem Fall ist die märchenhaf- tion einer jungen protagonistischen Figur, in te Figur Toumanovas, deren spiralförmige diesem Fall einer Ballerina hinter einem Vor- Kopfbedeckung dem Horn eines Einhorns hang rosafarbener und weißer Baumwollfä- gleicht, von nicht zu benennenden Kreaturen den, die über dem zentralen Abteil der Arbeit und Muscheln umgeben. Die fantastische, einen Raster aufspannen, die symmetrische schwerelose Szene, die durch einen Nebel zar- Platzierung mehrerer gleicher Gegenstände ter weißer Farbtupfen zusammengehalten in den Nischen des Sturzes darüber und die wird, verschmilzt Tiefsee und Tiefen des beiden flankierenden Spiegelsäulen links und Weltalls. rechts. Cornell befasste sich eingehend mit Ballett, mit seiner Geschichte sowie Darstellerinnen und Darstellern. Er lernte zahlreiche führende Tänzerinnen kennen, denen er oft Werke widmete, die ähnliche Andenken und Erinnerungsbilder enthielten wie die in diesen Kasten aufgenommenen. 14 Für diese Arbeit adaptierte Cornell ein beliebtes, an das Thaumatrop des 19. Jahrhunderts 15 angelehntes Kinderspielzeug. Unter Thauma»Le Voyageur trop versteht man eine optische Vorrichtung, dans les Glaces«: die vor den Tagen des modernen Kinos durch Jouet Surréaliste eine Form der Animation für Unterhaltung sorg- 1935 Kartonschachtel mit einer Metallapparatur und sieben beidseitig mit einer Papiercollage versehenen Scheiben New York, Mark Kelman te. Cornell hat die ursprünglichen Darstellungen auf den Scheiben mit seinen collagierten Bildern überklebt, die Schwarz-Weiß-Abbildungen des Nachthimmels und Fotografien von menschlichen Figuren in Bewegung zei- Schon früh interessierte sich Cornell für Bewegung und deren Darstellung. Optische Vorrichtungen, welche die Illusion filmischer Bewe- Object Fenêtre 1937 Assemblage mit Fotokopien, marmoriertem Papier und gedruckter Beschriftung auf KartonNew York, Mark Kelman gung hervorrufen, faszinierten ihn bereits als Kind, und bald begeisterte er sich für den Film selbst. »Object Fenêtre« ist eine in den ersten Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit entstandene Arbeit, die sich genau diesen Themen widmet. Es handelt sich um ein kleines Buch, dessen winzige Seiten wie eine Ziehharmonika gefaltet sind. Auf jede Tafel hat Cornell ein Bild gen. Die nicht nur männlichen Gymnasten und eines Fensters geklebt. Das Fenster scheint stets Athleten erinnern an die Bewegungsstudien dasselbe zu sein, auch wenn sich jedes Bild ge- der bahnbrechenden Fotografen des 19. Jahr- ringfügig vom vorhergehenden unterscheidet. hunderts Étienne-Jules Marey and Eadweard Es ist fast so, als ob man aufeinanderfolgende Muybridge (denen sie teils entstammen). Wie Kader einer kurzen Filmsalve vor sich hätte. diese Fotografen Bilder aneinanderzureihen Cornell hat im Lauf seiner künstlerischen Tä- beziehungsweise seriell zu arbeiten war ein tigkeit immer wieder mit der Form des Buchs Zugang, den Cornell sich bereits in frühen Jah- experimentiert, indem er landwirtschaftliche ren zu eigen machte und dann später bei vie- oder medizinische Zeitschriftenbände entwe- len seiner wichtigsten Projekte verfolgte (sie- der so bearbeitet hat, dass sie Gruppen kleiner he Objekt 17). Bewegung – ob implizit oder Objekte aufnehmen konnten, oder diese um tatsächlich – ist ein integraler Bestandteil sei- collagierte Elemente ergänzt und so verändert ner Arbeit, der oft die Teilnahme des Betrach- hat. Die Leporelloform taucht in seinem Œu- ters einschließt. Der ursprüngliche Besitzer vre ebenso wiederholt auf – beispielsweise im dieses Werks wird sich wohl dazu ermutigt ge- Fall der nur ein paar Jahre zuvor entstandenen fühlt haben, damit zu spielen. Arbeit »Panorama« (Objekt 6) – wie das Motiv des Fensters, das ihm zeit seines Lebens als Quelle und Zeichen physischen und geistigen Entrinnens galt. 16 17 Monsieur Phot ist der fiktive Protagonist ei- und manchmal sogar um Unikate handelte. Object: Hotel handelt, der die Lebendigkeit seiner Erfah- Die Sammlung entwickelte sich zu einer der Theatricals by rungen durch Standbilder zu vermitteln ver- größten und umfangreichsten in New York, the Grandson of sucht. Die Bildfolgen der hier gezeigten Kas- und Cornell wandte sich an Fachleute wie Monsieur Phot tenkonstruktion, die Cornell 1940, sieben Jah- Francis Doublier, der einmal als Kameramann Sunday After- re später, schuf, bedienen sich des Carte- für die Brüder Lumière gearbeitet hatte, um noons de-visite-Formats, einer frühen Form des fo- In den 1930er-Jahren begann Cornell frühe französische und amerikanische Filme zu sam- Thimble Theater Joseph Cornell and Lawrence Jordan Etwa 1938–1949 16 mm-Film, schwarzweiß, mit Ton, ca. 6 Minuten Lawrence Jordan sich im Hinblick auf die Betreuung der Bestände beraten zu lassen. Noch in den 1930er-Jahren begann Cornell dann, selbst Filme zu machen. Indem er radikal von etablierten Verfahrensweisen abwich, schuf er Montagen aus Ausschnitten gefundenen Materials. Der hier gezeigte Film »Thimble Theater (Daumentheater)« ist eine von mehreren Arbeiten, die Cornell in den 1960er-Jahren dem Filmemacher Lawrence Jordan, einem seiner Assistenten im Atelier am Utopia Parkway, übergab. nes Filmdrehbuchs, das Cornell 1933 schrieb und das von den Kämpfen eines Fotografen meln, bei denen es sich häufig um Raritäten 1940 Verglaster, mit Scharnieren ausgestatteter Holzschrank; fotografische Reproduktionen, rote, grüne, blaue und schwarze Glasperlen, Holz, Papiercollage, Stoffe Yokohama Museum of Art tografischen Kontaktabzugs, die Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstand. Die unter jeder Bildreihe gedruckten Texte verweisen auf Themen der Historienmalerei wie »Jakob ringt mit dem Engel« oder »Der Triumph der Galatea«. In der frühen Studiofotografie mussten die Porträtierten ganz still sitzen, gleichsam zu Statuen erstarren, um Unschärfen zu vermeiden, und wurden oft inmitten von Requisiten wie Säulen und vor Landschaftshintergründen positioniert, die Jordan änderte nichts an der Struktur des mit klassischen Gemälden wetteiferten. Im Schnitts, bearbeitete aber die Filme so, dass Filmstreifencharakter dieser Arbeit verdich- man Kopien davon ziehen konnte, und ergänz- tet sich Cornells umfassendes Wissen über die te sie Cornells Anleitungen folgend um Ton- Geschichte der frühen Fotografie und die An- spuren wie in diesem Fall um die Musik einer fänge des Kinos im Kontext der längeren Tra- Jahrmarktsorgel. »Thimble Theater« zeigt dition westlicher Kunst. Die Glasperlen, die Cornells gezieltes Manipulieren von Geschwin- frei auf jedem der mit einem Teppich ausge- digkeit, Richtung und Lesbarkeit der Bilder. statteten Regale hin und her rollen, verkör- Heute wird Cornell als Pionier des Avantgar- pern die Bewegung, derer Monsieur Phot nicht defilms angesehen. habhaft zu werden vermag. 18 Für diese Arbeit wurde das Innere eines Buchs ausgehöhlt, wie um ein Geheimversteck für ein 19 Familienerbstück zu schaffen oder einen raffi- Dieses kunstvolle »Flaschenmuseum« ist der für ihre Schönheit und ihr Talent gleichermaßen berühmten französischen Tänzerin Cléo Untitled (To Mar- nierten Gefängnisausbruch in die Wege zu lei- L’Égypte de Mlle de Mérode (1875–1966) gewidmet. Im späten guerite Blachas) ten. Es handelt sich, typisch für Cornell, nicht Cléo de Mérode: 19. Jahrhundert war ihr auf allen möglichen um ein gewöhnliches Buch, sondern um einen cours élémen- Dingen von Post- bis Spielkarten anzutreffen- Band des Journal d’agriculture pratique, eines taire d’histoire des Bild in Frankreich allgegenwärtig. Sie trat 1911 in Paris erschienenen landwirtschaftlichen naturelle vor König Eduard VII., dem russischen Zaren 1940 Buch mit Papier, Seide, Samt, Maschendraht, Metall, Kunsthaar und Perlmutt Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía Almanachs, den Cornell vermutlich auf einem seiner Streifzüge durch die Buchhandlungen von Lower Manhattan entdeckte. Der Inhalt ist nicht weniger bemerkenswert: eine kleine Karte, die ein Stück einer Küste zeigt und an einen Plan denken lässt, der den Ort eines vergrabenen Schatzes verzeichnet, ein Stück burgunderroten Samts, ein Kunsthaarbüschel, eine Fotografie einer weißen Katze wie aus einem Märchen von Madame d’Aulnoy, das Porträt eines jungen Mädchens und andere Dinge. Es sowie dem Vizekönig von Ägypten auf, und 1940 Bestehender Eichenholzkasten aus dem 19. Jahrhundert mit Scharnieren, marmoriertes Papier, Glasflaschen, Kork, Glas, Papiercollage The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman ihre angebliche Affäre mit König Leopold II. von Belgien, der sie in Verdis ägyptischer Oper »Aida« um 1895 in Paris gesehen hatte, trug noch zu ihrem Ruhm bei. Als Cornell dieses Werk schuf, war Cléo de Mérode, die 1924 zum letzten Mal öffentlich aufgetreten war, bereits fast vergessen. Galant lässt er damit ihren Nimbus wiedererstehen, indem er für die Tänzerin eine edle, mit ihrer Namensschwester Kleopatra von Ägypten verbundene Abstam- sind fiktive Andenken, angebliche Relikte aus mung ins Auge fasst. Auf diese Weise ver- dem Leben jener unbekannten Dame, der das knüpft er den altägyptischen Glauben an ein Werk gewidmet ist: in einem vorgefundenen Leben im Jenseits mit der durch weltweiten Objekt untergebrachte Fundstücke, denen Cor- Ruhm gewährten Unsterblichkeit. Die Inhal- nells überzeugende und poetische Alchimie Le- te des sich teils als naturwissenschaftliches ben und eine Geschichte einhaucht. Insofern Musterset, teils als Schmuckschatulle präsen- stellt die Arbeit eines der ersten Beispiele für tierenden Objekts vermitteln eine Reihe von Cornells Neigung dar, Werke bestimmten Per- Bezügen, deren Bogen sich von Topografie, sonen zuzueignen. Landwirtschaft, Flora und Fauna bis zu Wetter, Kleidung und Ritualen spannt. 20 Dieses ausladende, im Lauf von über dreißig Jahren angelegte Dossier umfasst Ephemera 21 aus Papier und eine Collage in einem innen Untitled (The mit Papier beklebten Koffer aus Holz. Seine Crystal Cage: der Arbeit zugrundeliegenden Gedanken for- Portrait of mulierte Cornell 1943 in einer siebenseitigen Berenice) Konzeptskizze für die Avantgardezeitschrift c. 1934–67 Mit Papieren beklebter Holzkoffer, Fotografien, gedruckte und fotografische Reproduktionen, Ausschnitte aus Zeitungen, Büchern und Magazinen, getippte und mit Anmerkungen versehene Notizen, Ephemera aus Papier, Papiercollage Richard L. Feigen View. Der Essay, der den Titel »The Crystal Cage: Portrait of Berenice« trägt, vermischt Realität und Fiktion und präsentiert in Form von Text und Bildern eine Montage der »Recherche«. Es geht um die Geschichte eines amerikanischen Mädchens, das während eines Besuchs von Europa so sehr von der Pagode de Chanteloup – einem Prachtbau des 18. Jahrhunderts, der noch heute im Loiretal steht – in den Bann gezogen wurde, dass seine Eltern den Turm nach Neuengland bringen ließen, damit ihre Tochter darin leben konnte. Über die fiktive Figur Berenices, die für den Künstler das Ideal eines universellen jungen Geists und eine Art Alter Ego verkörpert, nehmen wir an Cornells Entdeckungen im Bereich der Natur, Kunst und Wissenschaft teil. Das Bild der Pagode taucht in der Zeitschrift als konkretes Gedicht auf, das ein Inventar seiner vielfältigen Interessen bietet. Von Cornells Apothekenserie sind sechs Arbeiten bekannt, von denen diese als die erste gilt. Ihre Form erinnert an historische Apothe- Pharmacy 1943 Verglaster Holzkasten mit Scharnieren; marmoriertes Papier, Spiegel, Glasscheiben; zwanzig Glasfläschchen mit verschiedenen Ausschnitten bedruckten Papiers (Krepp, Seidenpapier, gedruckte Stiche, Landkarten), gefärbtem Sand, Pigment, gefärbter Aluminiumfolie, einer Feder, einem Schmetterlingsflügel aus Papier, einem getrockneten Blatt, einer blauen Glasmurmel, Fasern, Treibholz, Holzmurmeln, Glasstäben, Perlen, einer Meeresmuschel, durchsichtigen Kristallen, Stein, Holzspänen, Sägemehl, Sulfat, Kupfer, Draht, Obstkernen, Goldfarbe, Wasser, Kork Sammlung Paul Schärer kerschränke, die vor der Entstehung moderner Apotheken zur Aufbewahrung von Arzneien dienten. Zwanzig mit wertvollen Ingredienzien gefüllte Glasfläschchen sind in schimmernden Reihen angeordnet. Es könnte sich um Zaubermittel handeln, die eher Seelenkummer als körperliche Gebrechen heilen (Cornell waren als Anhänger der Christian Science alle Arten von Arzneimitteln verboten). Die Arbeit verweist jedoch auch auf die Verwandlung von Stoffen: Was wie Schwefel oder Salz anmutet, könnte auch ein Katalysator sein, wie ihn Alchimisten verwendeten, um aus unedlen Metallen Gold zu machen. »Pharmacy« wurde von Cornell geschaffen, als er in regelmäßiger Verbindung mit seinem Freund Marcel Duchamp stand. Durch eine Fügung des Schicksals wurde Duchamp aus nächster Nähe mit dieser Arbeit vertraut. Ihr erster Besitzer war der Kunsthändler Pierre Matisse, der Sohn des Malers Henri Matisse; das Werk verblieb in der Sammlung seiner Frau Teeny, nachdem sie sich 1949 hatten scheiden lassen. Als Teeny und Duchamp später heirateten, ging das Werk in den gemeinsamen Haushalt ein. 22 In den 1940er-Jahren schuf Cornell eine Reihe von »Museen«. Er baute dafür bestehen- 24 de, mit Scharnieren ausgestattete Holzkästen Museum 1949 Bestehender Kasten aus Holz mit Schmuckeinlage, Fotokopie, Papiercollage, farbige Baumwollfäden, Pappzylinder verschiedenen Inhalts Privatsammlung um und füllte sie mit Glasfläschchen oder an- Kasten und sind mit einem zusammengerollten Papierstreifen verschlossen, der an frühe historische Dokumente alter Zivilisationen denken lässt. Man kann sie öffnen: Sie sind mit marmoriertem Papier und collagierten Bildern ausgekleidet und enthalten Kleinigkeiten und Spielsachen, die an den Sammeltrieb von Kindern erinnern (Holzperlen, Kork- und schichte getränkten fernen Städte, von denen Cornell träumte. Diese Stadt war der Geburts- Naples deren Behältnissen. In diesem Fall handelt es sich um Zylinder. Zehn stehen senkrecht im Neapel war eine jener von Kultur und Ge- ort Fanny Cerritos, der winzigen Ballerina, die ihm die liebste unter den romantischen c. 1942 Verglaster Holzkasten, Metallgriff, Weinglas, Farbe, Fotografie, Muschel, Spiegel, Faden, Stoff, Papiercollage, Kork The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman Tänzerinnen war, die im 19. Jahrhundert durch Europa tourten. Die Muschel, die hier in einer Ecke des Kastens lehnt, der einen meergrün bemalten Rahmen aufweist, steht für die Legende der Ondine, eine erstmals 1843 von Cerrito am Her Majesty’s Theatre in London verkörperte Rolle. Neapel war auch jene Stadt, in der die von Cornell geliebten Diven des 19. Jahrhunderts Giuditta Pasta und Maria Gummibälle, Federn, Kreisel, Muscheln usw.). Malibran regelmäßig auftraten. Dieses Mini- Zehn weitere, waagrecht angeordnete Zylin- aturdiorama mit Wäscheleine, Gepäckschild der sind verschlossen. Die Enden sind mit Zif- und einer fotografischen Reproduktion einer ferblattcollagen versehen – ein Hinweis auf der berühmten engen Straßen Neapels ist eine die Museen zugrunde liegende Idee, die Zeit Hommage Cornells auf die Stadt. Viele Jahre anzuhalten. Jeder Zylinder ist mit den Mög- lang führte er ein Dossier mit dem Titel »Die lichkeiten eines ungeöffneten Pakets aufgela- Bucht von Neapel«, das Zeitungsausschnitte, den. Schüttelt man die Zylinder, erzeugen die alte Mezzotinti, Ansichten des Vesuvs, Stiche unbekannten Inhalte in jedem unterschiedli- von Cerrito und Reproduktionen des italieni- che Geräusche; einer enthält nur Stille. Wahr- schen Künstlers Giorgio de Chirico enthielt. scheinlich kannte Cornell den amerikanischen Zutiefst verstört zeigte sich Cornell, der ein experimentellen Komponisten John Cage, des- leidenschaftlicher Pazifist war, von der Ver- sen 1947 entstandenes umstrittenes »stummes« wüstung der Stadt durch Bombenangriffe der Stück »4’33”« im August 1952 uraufgeführt Alliierten im Zweiten Weltkrieg, die etwa wurde. um die Zeit der Entstehung dieses Werks stattfanden. 25 Dieses Objekt ist eines der rätselhaftesten in Cornells Œuvre. Einen wie ein Paket verpack- 26 ten Karton überzieht ein Palimpsest collagierUntitled ter Texte, Landkarten und farbenfroher Brief- (Music Box) marken verschiedener geografischer Provenienz – als befände sich die Sendung auf halbem Um 1947 Kartonkiste, Collage mit bedrucktem Papier, Briefmarken, Landkarten, Glocken und Rasseln New York, Sammlung Timothy Baum Weg einer epischen Reise zwischen einer Gemeinde anonymer Absender und Empfänger Kreismotiven begegnen wir im Werk Cornells immer wieder. In diesen beiden Werken geht es um die Erde und deren Atmosphäre. Die Untitled Etwa 1939/40, um 1957 Zylindrische Dose aus Pappe, Papiercollage Schweiz, Beda Jedlicka runde Form des Behältnisses der ersten Arbeit (Objekt 26) entspricht dem Thema: einer fiktiven Reise um die Welt. Jede Papierscheibe zeigt andere fotografische oder gedruckte Bilder touristischer Sehenswürdigkeiten und und versäumte stets knapp den ihr zugedach- Landkarten, die in Summe eine lange Route ten flüchtigen Adressaten. Darin verschlossen exotischer Destinationen abstecken. Die Dose sind eine unbekannte Zahl kleiner Glocken selbst ist innen und außen mit Landkarten und Rasseln, die läuten und klappern, wenn von Italien, Mitteleuropa und dem Nil über- man die Arbeit bewegt. Der Karton ist ein Musikinstrument im eigentlichen Sinn des Worts, 30 Cornells Interessen kurz, für die er sich am leidenschaftlichsten begeisterte: Reisen – in Form der Briefmarken, die er als Junge sammelte und die für ihn die Exotik ferner Orte symbolisierten, die er kannte, aber nie zu Gesicht bekommen würde – und die Dimension des Klangs, nisch-Guinea erinnern an die Kolonisierung Afrikas durch europäische Staaten. Die spä- wenn auch ausschließlich zum privaten Vergnügen bestimmt. Die Arbeit schließt zwei von zogen. Briefmarken von Angola, Ifni und Spa- Untitled 1952 Zylindrische Dose aus Pappe, Papiercollage, bemalte Glasscheiben New York, Mark Kelman ter entstandene zweite Arbeit (Objekt 30) setzt sich aus farbigen Magazinen entstammenden Bildern zusammen, denen Cornell teils Texte aus alten Enzyklopädien beigestellt hat, sowie zwei Glasscheiben, von denen eine mit weißer Farbe bespritzt ist. Diese lassen unmittelbar an die blauen Himmel der Gemälde mit der er experimentierte und die er ab Mitte Magrittes denken, den Cornell sehr bewun- der 1930er-Jahre in seine Arbeiten einbaute. derte (siehe die Objekte 63 und 65). Insgesamt betrachtet veranschaulichen die beiden Papierscheibenensembles Cornells Fähigkeit, Zeit und Raum durch täuschend einfache Mittel zu verdichten, und belegen das poetische Zusammenspiel von Reisen, Beobachten und Sammeln in seinem Werk. 27 Dieser Kasten war der erste von zwanzig Arbeiten, die Cornell dem spanischen kubisti- 28 schen Maler Juan Gris (1887–1927) widmete. A Parrot for Juan Die lebendige Komposition belegt Cornells in- Gris stinktives Verständnis der Sprache kubistischer Collagen, eines Stils, den Braque und Picasso 1953/54, am 24. Juni 1957 »verjüngt« Verglaster Holzkasten, Holzteile, Ausschnitt aus einem Mehrfarbensteindruck, Papiercollage, Tusche, Metallpflock und Metallring, Schnur, Korkball, gefaltete Notiz Sammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman berühmt gemacht hatten. Den Anstoß für diese Arbeiten erhielt Cornell durch ein Bild des Künstlers, das er in einer New Yorker Galerie sah und das einen Mann zeigt, der an einem Kaffeehaustisch Zeitung liest. Cornells Komposition ähnelt in gewissen Punkten jener von Gris’ Gemälde: in den Schattenwirkungen und 1907 in Wien geboren, begann Tilly Losch bereits im Alter von sechs Jahren Ballett zu lernen und tanzte bereits mit zwölf auf der Büh- Tilly Losch ne der Wiener Staatsoper. Sie arbeitete als Schauspielerin und Choreografin für den ös- Um 1935 Verglaster Holzkasten, marmoriertes Papier, Collage aus bedrucktem Papier, Bindfaden, Perle, Karton Sammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman terreichischen Theater- und Filmregisseur Max Reinhardt, bevor sie sich der Kompanie von George Balanchine anschloss. 1943 übersiedelte sie nach New York, wo sie bald darauf eine Ausstellung von Arbeiten Cornells in der Julien Levy Gallery besuchte. Cornell war hoch erfreut, als er davon erfuhr, und schuf als Geschenk für sie einen bezaubernden Col- Umrissen, der Konzentration auf die Mase- lagebrief (Objekt 29), den er am 21. Dezember rung des Holzes, den kreuzenden Diagonalen, 1943 persönlich im Ambassador Hotel abgab. der vertikalen und horizontalen Aufteilung und den aufblitzenden hellen Farben. Alle Ar- 29 beiten der Serie Cornells stellen die Darstel- Am Fuß eines großen Weihnachtsbaums sitzt die junge Tilly Losch; hebt man den Text ab, kommt darunter der Baum mit kleinen ver- lung eines Kakadus in den Mittelpunkt, der in Letter from Jo- packten Geschenken zum Vorschein. Bald da- Gris’ ursprünglicher Komposition fehlt. Die seph Cornell to rauf trafen Cornell und Losch einander im Fe- beiden Künstler verband eine Liebe zu Tilly Losch bruar 1944 zum ersten Mal und wurden Freun- Schmuckpapieren. In diesem Fall hat Cornell gemusterte und farbige Stücke, Seiten aus einem alten französischen Geschichtsbuch, Zeitungen, Landkarten der Küste von Mozambique und eine portugiesische Briefmarke verwendet. de. Später erwarb Tilly Losch diesen kleinen Weihnachten 1943 Maschinschriftlicher Brief mit Collage, Aufklebern und Faden auf Papier State University of New York at Binghamton, Special Collections, Glen G. Bartle Library, Max Reinhardt Archive Kasten (Objekt 28), den Cornell einige Jahre zuvor geschaffen hatte und der ein an den zarten Fäden eines unsichtbaren Heißluftballons hängendes junges Mädchen über schneebedeckten Bergen zeigt. Das Mädchen schwebt wörtlich und im übertragenen Sinn: ein Wesen zeitloser Anmut und Unschuld. 32 In den 1940er- und 1950er-Jahren schuf Cor- Untitled (Com- che der legendären Familie der Medici gewid- partmented Box) nell eine Reihe von Kästen und Collagen, welmet waren, die vom 15. bis ins 18. Jahrhundert Florenz regierte. Als Förderer der italienischen c. 1954–56 Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) Stockholm, Moderna Museet Renaissance wurden die Medici Zeugen einer 33 disziplinärer Neugier und einer Begeisterung Epoche tiefgreifender Fortschritte im Bereich menschlichen Wissens und der Geburt der Vorstellung einer individuellen künstlerischen Identität. Cornell hätte sich in der von interfür mechanische Wunder bestimmten Zeit sehr 35 positionen bewunderte und dem Künstler 1963 Untitled (Medici Das zentrale Motiv jeder dieser Arbeiten ist eine Boy) junge Person, die Cornell einem Renaissancege- Um 1953 Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) Modern Art Museum of Fort Worth hat. Von links nach rechts (32–36) sind das: der 36 ter); Bronzinos »Bildnis der Bia de’ Medici« (um zu Hause gefühlt. Untitled (Pinturicchio Boy) 1942–1952 Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) Glenstone 34 Untitled (Medici Princess) Um 1948 Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) New York, Privatsammlung in seinem Atelier einen Besuch abstattete. mälde entnommen und als Kopie reproduziert »Kopf eines Knaben« von einem Schüler Caravaggios (Hartford, Wadsworth Atheneum); Bernardino Pinturicchios »Bildnis eines Knaben« (1480–1485; Dresden, Gemäldegalerie Alte Meis1542; Florenz, Uffizien); Sofonisba Anguissolas »Bildnis des Marchese Massimiliano Stampa« In diesen Arbeiten verband Cornell die Untitled (Medici (1557; Baltimore, Walters Art Museum) und »hohe« Kunst der Renaissance mit der Popu- Variant) schließlich abermals der »Kopf eines Knaben«. lärkultur der Spielsalons, die er als Kind in den Vergnügungsparks von Coney Island kennengelernt hatte. Zwei der Werke (Objekte 33 und 34) haben die Form eines Altartriptychons; in ihrer Ähnlichkeit mit Filmstreifen oder Szenen aus dem Leben Heiliger weisen ihre Seitenteile etwas Erzählerisches auf. Cor- c. 1955 Um 1955 Box (für eine genauere Beschreibung siehe Katalog) Wassenaar, Caldic Collectie Zwei der Arbeiten haben einen blauen Ton, wodurch sie in Anmutung und Atmosphäre an die Frühzeit des Kinos erinnern. Eine andere wird hinter bernsteinfarbenem Glas präsentiert und wirkt daher wie ein früher Sepiaabzug. Mehrere Werke sind innen mit Baedeker-Karten und Architekturplänen beklebt, die auf Reichtum, nells Interesse an Bilderfolgen und Raster- Einfluss und ein bequemes Leben schließen las- strukturen kommt am klarsten in »Untitled sen. Diese Hinweise werden jedoch durch die (Compartmented Box)« zum Ausdruck, einer Erinnerung daran gedämpft, dass auch die dar- Arbeit, welche die Tradition der Porträtmini- gestellten jungen Menschen der Gunst des atur in Erinnerung ruft, die auf die Renais- Schicksals und des Zufalls unterlagen: Wir ent- sance zurückgeht. Dieses Werk scheint die ein decken würfelartige Formen, Bälle und Linien Jahrzehnt später entstandenen Arbeiten Andy auf dem Glas, die uns an das Fadenkreuz eines Warhols vorwegzunehmen, der Cornells Kom- Gewehrzielfernrohrs denken lassen. 37 Zeit seines Lebens stellte Cornell akribische Dossiers über Personen oder für ihn besonders wich- 39 tige Orte zusammen, die häufig der Welt der LiUntitled (The teratur, des Balletts, des Films oder der Oper zu- Life of Ludwig II zurechnen sind. Eines der umfangreichsten und of Bavaria) als eigenständige Arbeit präsentierten Dossiers Etwa 1941–1952 Mit Papier ausgeklebter Holzkoffer mit einer Sepiafotografie am Innendeckel; enthält ein Buch, eine bedruckte Mappe mit fotografischen Reproduktionen, zwei rechteckige Kästchen mit kleinen Schwänen aus durchsichtigem Glas sowie zwei zylindrische Behälter mit zerbrochenen Glassachen und Steingutscherben Philadelphia Museum of Art, Gift of The Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation, 1996 ist eine Sammlung von Druckwerken und Objekten, die sich mit dem abwechslungsreichen Leben König Ludwigs II. von Bayern (1845–1886) befassen, den man seiner Liebe zu dem königlichen Vogel wegen »Schwanenkönig« nannte. In einem Koffer sind eine Biografie des exzentrischen Monarchen, Originalfotografien des Königs und seines Märchenschlosses Neuschwan- Vor einer kahlen Winterlandschaft ragt ein gewaltiger weißer Palast auf. Der verlorene Glanz europäischen höfischen Lebens ist erstarrt, für Palace 1943 Verglaster und bemalter Holzkasten, fotografische Reproduktion, Spiegel, Holz, verkohlte Rinde, mit Farbe besprühte Zweige Houston, The Menil Collection, früher in der Sammlung von Christophe de Menil immer als eine Welt en miniature bewahrt, welche Erinnerungen an Märchen und Puppenhäuser von Kindern heraufbeschwört. Hans Christian Andersen, ein Geistesverwandter Cornells, der, wie wir wissen, mit Papiertheatern spielte, kommt einem beim Anblick dieser Arbeit ebenso in den Sinn wie Charles Perraults »Dornröschen«-Geschichte aus dem Jahr 1696, in der eine Prinzessin in ihrem Schloss in einen Schlaf versetzt wird, der hundert Jahre dauert, während derer der Palast von einer un- stein, eine Reihe von kleinen Schwänen aus durchdringlichen Dornenhecke überwuchert Glas, ein Briefumschlag mit einer blonden Haar- wird. locke, zerbrochene Glassachen und Steingut- »Palace« gehört zu einer Reihe von Arbeiten, scherben sowie zwei Schwanknochen unterge- die Cornell zwischen 1942 und Mitte der bracht. Schloss und Schwäne haben Cornell als 1950er-Jahre schuf und für die er fotokopier- Ballettliebhaber sicher gefallen. Das Dossier zu- te Reproduktionen historischer Stiche ver- sammenzustellen begonnen hatte Cornell wahr- wendete, die er in einem Dossier in seinem scheinlich nach einem Besuch von Léonide Mas- Atelier aufbewahrte. Manche Bauwerke sind sines Inszenierung der »Bacchanale« in New real, andere imaginär. Die Kästen, die er da- York 1939, einem einaktigen, die Träume Lud- raus herstellte, gehören zu den theaterhaftes- wigs II. schildernden Ballett, für dessen Libret- ten seines Œuvres – eine Qualität, die Cor- to und Bühnenbild Salvador Dalí verantwort- nell durch verspiegelte Fenster unterstrich, lich zeichnete. die den Betrachter in die Szene hineinziehen, indem sie ihn zu einem unfreiwilligen Darsteller im Schauspiel seiner eigenen Fantasie machen. 40 Späht man durch das winzige Loch an der Seite der Sperrholzbüchse, sieht man einen Fin- 41 gerhut. In seiner Nähe sitzen vier weitere gleiBeehive 1940–1948 Bestehender Behälter aus Holz im Shakerstil, Spiegel, Kork, Papiercollage, Fingerhüte aus Metall, Glasperlen Richard L. Feigen In dieser Arbeit befasst sich Cornell mit der zur Ikone gewordenen Commedia dell’Arte-Figur des Pierrot, wie ihn das bekannte, 1718/19 che Fingerhüte, von denen jeder sich in den A Dressing Room entstandene Gemälde Antoine Watteaus im Plättchen, die das Innere der Büchse ausklei- for Gille Louvre zeigt, das früher den Titel »Gilles« trug. den, bis ins Unendliche spiegelt, was an Bäume in einem Wald denken lässt. Von oben betrachtet erinnert die Anordnung der Fingerhüte an das geometrische Muster eines Bienenstocks. Cornell hat eine Miniaturwelt geschaffen, die den 1865 erschienenen Roman »Alice’s Adventures in Wonderland« von Lewis Carroll ins Gedächtnis ruft. Und tatsächlich wurde eine 1939 Verglaster Holzkasten, Holztafelabdeckung, Farbe, Spiegel, Kork, Collage von bedruckten Papieren, Baumwollfaden, Stoffe, Klebeband Richard L. Feigen Auch wenn Cornell das Bild nie im Original gesehen hatte, übte es einen besonderen Zauber auf ihn aus, weil er im rührenden, linkischen Wesen der Figur und ihrer verträumten romantischen Befangenheit eine verwandte Seele spürte. Der Pierrot lässt sich fast als eine Art Selbstporträt sehen. Er war das Opfer seiner Liebesträume, und Cornell hat die ausgeschnit- Ausstellung mehrerer solcher Arbeiten im Jahr tene Papierfigur in drei Teile zerlegt, die von 1948 von einer Beschreibung begleitet, in wel- einem Stoffband zusammengehalten werden cher der Künstler von »einer Welt der Spiegel« und am oberen Teil des Kasten hängen: So lässt spricht, »in der man sich wie Alice auf die Grö- sich die Figur wie eine Marionette bewegen. ße eines Insekts geschrumpft fühlt«. In einem Cornell hat sie aus der französischen Land- Cornell gewidmeten Gedicht aus dem Jahr 1974 schaft herausgenommen und in eine Gardero- bietet der große mexikanische Dichter Octavio be hinter der Bühne versetzt, mit Sägespänen Paz auf Hans Christian Andersen Bezug neh- am Boden, Theaterspiegelwänden und einem mend einen anderen Vergleich an: »Däumelin- Rautenmuster als Hintergrund, das an ein Har- chen in Spiegelgärten«. lekinkostüm erinnert. Im Unterschied zur Über- Die Architektur dieses Werks verweist auf frü- arbeitung der »Mona Lisa« durch seinen he optische Geräte, die, wie man weiß, Cor- Freund Marcel Duchamp setzt sich Cornells nell faszinierten: etwa auf das viktorianische Arbeit mit der Kunst der Vergangenheit ausei- Zoetrop und das Praxinoskop, zylindrische nander, um einen ganz persönlichen Bezug zu Trommeln mit Bildern an der Innenwand, die jenem melancholischen Wesen herzustellen, sich zu bewegen scheinen, wenn man die das ein integraler Bestandteil seines eigenen Trommel dreht. künstlerischen Empfindens war. 42 Cornell schuf mehr als zwanzig Werke, zu denen ihn die russische Ballerina Tamara Tou- 46 manova inspirierte, die er 1940 kennengelernt Diese drei Kästen (Objekte 46, 48, 49) veranschaulichen Cornells Interesse für die Welt und das Universum – Themen, die ihn bereits seit Untitled hatte und mit der er nach ihrer Übersiedlung Planet Set, Tête frühester Kindheit faszinierten und beunruhig- (Fortune) nach Hollywood 1942 korrespondierte. In Cor- Étoilée, Giuditta ten. Die Arbeit in der Mitte, »Soap Bubble Set« nells Vorstellung bestand eine starke Verbin- Pasta (dédicace) (Objekt 48), gehört zu einer Serie, die im Lauf Um 1967 oder früher Metallspiegel mit Stoffverstärkung, Plastikschwan und Papieretikett mit der Aufschrift »fortune« (Glück) New York, Sammlung Timothy Baum dung zwischen der anmutigen Tänzerin und einer ihrer wichtigsten Rollen: die der Odette in Tschaikowskis Ballett »Schwanensee« (1876), in dem eine Prinzessin Opfer eines bösen Zauberers wird, der sie in einen Schwan Um 1945 Holzkasten, blaues Glas, Rheinkiesel, Collage aus bedrucktem Papier, Farbe The Collection of Marguerite and Robert Hoffman rer Werke findet sich eines der komplexesten und an Metaphorik reichsten Bilder Cornells: eine Seifenblase – hier in Form eines den Mond zeigenden Drucks aus dem 19. Jahrhundert. Das Motiv der Seifenblase verbindet die Ikonogra- hen. Für »Untitled (Fortune)« scheint Cornell fie der Vanitasgemälde Alter Meister, auf denen dene Ebenen verteilt zu haben; tatsächlich handelt es sich aber um Kopien von mindes- 48 se so aufeinander abgestimmt sind, dass sie ein puzzleartiges Bühnenbild in Miniaturform ergeben. Für die zweite Arbeit (Objekt 43) entwarf Cornell eine ähnliche Szenerie, indem er zwei einfache, unspektakuläre Gegenstände verband, um ein zutiefst romantisches Gefühl zu vermitteln. Ein Schwan aus Plastik, wie man ihn Knallbonbons beigegeben hat oder in billigen Läden in Manhattan finden mag, seifenblasende Kinder die Kurzlebigkeit der Unschuld verkörpern und Pfeifen und Trinkgläser für das irdische Leben und dessen vergängliche Freuden stehen, mit der Begeisterung des Wis- tens drei Stichen, deren Maßstab und UmrisUntitled von über zwanzig Jahren entstand. In jedem ih- verwandelt, um sie ihrem Geliebten zu entzieein einziges Bild zerschnitten und auf verschie- 43 1950 Verglaster Holzkasten, Likörgläser, Kristalle, Holz- und Papiercollage London, Tate Soap Bubble Set 1948 Verglaster Holzkasten, gedruckte Karte, bemaltes Objekt, Likörglas, Samt, Metall, Glasscheiben, Tonpfeifen Mr and Mrs John Stravinsky senschaftlers für die materielle Welt. Linker Hand dieses Kastens findet sich eine zwei Jahre später entstandene Arbeit (Objekt 46), die Cornell der italienischen Sopranistin Giuditta Pasta (1797–1865) gewidmet hat, deren Stimme der Zeit zum Opfer gefallen ist, weil die Sängerin vor dem Aufkommen von Tonaufnahmen verstarb. Cornell war 1942 auf eine Lithografie mit ihrem Porträt gestoßen, die sein Interesse ist auf einem Handspiegel platziert, um die Il- entfachte, und die große Primadonna wurde zum lusion eines Gewässers zu erzeugen. Dieses Gegenstand eines umfangreichen vom Künstler Werk gehörte ursprünglich Toumanova. zusammengestellten Dossiers. Die Verbindung zwischen der hinreißenden Erfahrung von Pas- 49 tas Gesang und der Betrachtung des Nachthimmels ist vielleicht auf Cornells Lektüre des Be- 51 richts eines ihrer Zeitgenossen, des französi- In Cornells späten Collagen tauchen bestimmte Motive oft in mehreren Werken auf. Den beiden hier gezeigten Arbeiten ist das Bild einer Untitled schen Schriftstellers Stendhal, aus dem Jahr 1823 Weather Glasglocke gemeinsam, das von einem Um- (Celestial zurückzuführen: »Wo sollte ich geeignete Wor- Satellites schlag der Januarausgabe 1953 des »Scientific Navigation) te finden, um die Erscheinung himmlischer Etwa 1956–1958 Verglaster Holzkasten, verschiedene Papiercollagen, Likörgläser, zwei blaue Murmeln, Treibholz, Landkartennadeln, collagierte Holzzylinder, Metallstab, Lade, weißer Sand, Muscheln, Wälzlager The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman Schönheit zu beschreiben, die sich uns in blendendem Glanz darbietet, wenn Madame Pasta singt, oder die seltsamen Einblicke in die Geheimnisse erhabener und fantastischer Leidenschaften, die ihre Kunst uns gewährt?« Der dritte Kasten, »Untitled (Celestial Navigation)«, stammt aus den 1950er-Jahren, einem Jahrzehnt, in dem sich die Grenzen der Wissenschaft verschoben: nach außen in den Weltraum und nach innen in die Struktur des Atoms. Die Aussicht auf Reisen durch das All und atomare Energie verlangte nach einer Neubestimmung des Orts, der dem Menschen im Um 1965 Collage auf Papier New York, Whitney Museum of American Art, Erwerbung mit Unterstützung von The Lily Auchincloss Foundation, Richard Brown Baker, dem John I. H. Baur Purchase Fund, dem Felicia Meyer March Purchase Fund, Mr. und Mrs William A. Marsteller sowie einem anonymen Spender Universum zukam. In diesem Fall konfrontiert uns Cornell mit einem Fenster im Fenster: Es ist, als ob die Himmelskarte an der Rückwand American« stammt; er zeigt einen Artikel über den Metabolismus des Kolibris an, der dem Vogel die Reise über den Golf von Mexiko ermöglicht. In beiden Glasglocken sehen wir rechts oben das Spiegelbild einer mit einem Korken verschlossenen Glasflasche. Da die Flasche zu schwimmen scheint, erinnert sie an eine Flaschenpost und die zahlreichen mit diesem Bild verbundenen metaphorischen Vorstellungen: einen Seenotruf, eine letzte Hoffnung, ein Aufflackern des Glaubens. Ein glitzernder grüner Ikosaeder, den Cornell aus einem Mathematikbuch seiner Bibliothek ausgeschnitten hat, hängt geheimnisvoll an einem leuchtend blauen Himmel. Man hat das 52 Gefühl, dass die Glocken auf der Oberfläche eines fremden Planeten gelandet sind und ihren Insassen die Luft bieten, die sie zum At- den Blick aus dem Cockpit eines Raumschiffs oder das Bild eines Radarverfolgungsbild- Observations of a men brauchen. Eine Glocke enthält eine jun- schirms in einem Kontrollturm wiedergeben Satellite I ge Prinzessin, die Cornell per Teleportation würde. Die Lade darunter ist mit einer tiefblauen Karte des Nachthimmels ausgekleidet und mit weißem Sand, Wälzlagern und spitz zulaufenden spiralförmigen Muscheln gefüllt. Um 1960 Collage auf Papier Tokio, Privatsammlung aus dem Spanien des 17. Jahrhunderts hierher versetzt hat: die Infantin aus Diego Velázquez’ Gemälde »Las Meninas«, die andere verschiedene Gesteinsproben. 53 1949 wurde in der Egan Gallery in New York eine Ausstellung Cornells mit dem Titel »Avia- 54 In den 1930er-Jahren hatte Cornell in einem Tiergeschäft eine Offenbarung: Die Begegnung mit einer Präsentation tropischer Vögel in Käfigen ry« (»Vogelhaus«) gezeigt. Sie versammelte Untitled (Aviary 26 Kastenkonstruktionen, von denen die meisten Habitat Group hinterließ bei ihm einen tiefen Eindruck. In die- with Parrot and in jenem Jahr entstanden. Cornell hatte die for a Shooting sem Fall sind reich detaillierte Farblithografien Drawers) Schau als Gesamterlebnis für die Besucher kon- Gallery von zwei Aras, einem Papagei und einem Kaka- 1949 Holzkasten, verglastes Mittelfach, bearbeitete bestehende Laden aus Holz, Farblithografie, Holzstücke, Uhrfedern The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman zipiert und präsentierte die Arbeiten in einem hell erleuchteten Raum auf verschiedenen Höhen. In seinem Vorwort zu der die Schau begleitenden Broschüre schrieb der amerikanische Romancier Donald Windham: »Bemerkenswert sind Vögel wegen der großen Entfernungen, die sie zurücklegen können, wegen […] ihres Wissens um die Beziehungen zwischen fernen Orten. Auch der Kern von Joseph Cornells Kunst liegt in dieser Gabe, die Verbindung zwischen einander scheinbar fernen Ideen zu erspüren.« Cornell mochte alle Vögel, vor allem aber liebte er Papageien, die durch ihre Fähigkeit, sprachliche Äußerungen nachzuahmen, den Menschen sehr nahe sind. Historisch betrachtet wurden exotische Vögel von Herrschern als ihr Ansehen repräsentierende Haustiere gehalten oder fan- 1943 Holzkasten mit Scharnieren, Glas (vom Künstler zerstört), Holz, Farbe, bedruckte Ausschnitte, ausgeschnittene Farblithografien, Stücke von Zeitungen, getrocknetes Pflanzenmaterial, Federn Iowa, Des Moines Art Center, erworben mit Unterstützung des Coffin Fine Arts Trust; Nathan Emory Coffin Collection of the Des Moines Art Center, 1975.27 du in einer unruhigen Komposition verspritzter Farbe und zerbrochenen Glases angeordnet, die durch plötzliche kühne Gesten zustande gekommen zu sein scheint. Spielkärtchen mit Ziffern werden zu Zielen, und die ausgeschnittenen flachen Vögel erinnern an die von Cornell in seiner Kindheit besuchten Schießbuden in den Vergnügungsparks von Coney Island, wo es Wahrsager gab, die Papageien hielten. Das Werk ist eine unmittelbare Antwort auf die verheerende Gewalt des Zweiten Weltkriegs, die Cornell sehr bedrückte. Die auf die Innenwände der Konstruktion geklebten französischen Ausschnitte, von denen einer eine Reiterstatue auf einem Platz zeigt, legen einen europäischen Zusammenhang nahe. Cornell, ein eifriger Amateurnaturforscher und begeisterter Vogelbeobachter, den als geschätzte Trophäen von Reisen an das betrachtete fliegende Geschöpfe als positive Sym- Ende der Welt in den europäischen Wunderkam- bole, als reine Geister, die nach Belieben weite mern des 17. Jahrhunderts Platz. In dieser Arbeit Strecken zurücklegen können. In diesem Fall scheint der beeindruckende, farbenfrohe Vogel stehen die Vögel für menschliche Opfer, womit über die abgenutzten, an Möglichkeiten reichen die Arbeit zu einer treffenden Reflexion der Zer- Ladenreihen zu herrschen und unergründlich störung von Leben, Kultur und Freiheit durch über das Geheimnis ihrer Inhalte zu wachen. den Krieg wird. 55 Diese Arbeit gehört zu einer Serie von Habitaten, in denen Eulen, Spechte, Zaunkönige 57 und Spatzen, gelegentlich auch ein Kaninchen, Diese Arbeit ist einer der theaterhaftesten Kästen Cornells: ein Miniaturdrama, das an die Marionettentheater seiner Kindheit erinnert. Man Untitled (Owl ein Schmetterling oder eine Spinne im Mittel- Object: Les sieht eine Gruppe von durch einen Wald het- Habitat) punkt stehen. Im Unterschied zu jenen Wer- abeilles ont zenden Männern in französischen Kleidern des ken, die mit der Sprache von Käfigen für als attaqué le bleu 17. Jahrhunderts. Manche sind wie Figuren in Haustiere gehaltene Vögel und Tierhandlun- céleste pâle Alexandre Dumas’ 1844 erschienenem Roman Mitte bis Ende der 1940er-Jahre Holzkastenkonstruktion mit blauem Glas, Farbdruckausschnitt, Rinde, Holz, pulverisiertes Pflanzenmaterial, bemalte Flechte Sammlung Jasper Johns gen spielen (Objekte 53 und 54), sind die Habitats als Nachschöpfungen natürlicher Umgebungen angelegt. In den 1930er-Jahren war Cornell verschiedenen Brotberufen nachgegangen und hatte seine künstlerische Tätigkeit auf die Stunden der Dämmerung beschränken müssen. Die Nachteule war daher ein Geschöpf, mit dem er sich identifizierte. In sei- 1940 Verglaster Holzkasten, Stich, Rheinkiesel, Kork, Farbe und Papierausschnitt Sammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman »Die drei Musketiere« beritten. Aus dem Stahlstich ist eine Form ausgeschnitten, um einem telegrammartigen Strom von französischen Worten Platz einzuräumen, die von der sich hinter einem Baum verbergenden Figur gesprochen werden und auf die blaue Landschaft im Hintergrund geklebt sind: »Die Bienen griffen das blasse Himmelblau an.« Dargestellt werden die nen Tagebüchern erinnert sich Cornell an das den Baum umschwirrenden Bienen von glitzern- Vergnügen der Radtouren, die er unternahm, den Rheinkieseln. Die Worte sind auf verschie- um die für seine Kästen notwendigen organi- denste Weise gedeutet worden, unter anderem schen Materialien zu sammeln. Obgleich Cor- als verschlüsselter Hinweis auf den zur Entste- nells Habitats den Dioramen naturgeschicht- hungszeit der Arbeit stattfindenden Einmarsch licher Museen in gewissen Aspekten gleichen, deutscher Truppen in Frankreich. Cornell hör- verdankt sich ihre ätherische Qualität maß- te beim Arbeiten immer Radio, und man kann geblich der großen Symbolkraft der Eule. Eu- sich die Beklemmung vorstellen, die solche len gelten in verschiedenen Kulturen als Iko- Nachrichten über Gewalt und Zerstörung in fer- nen der Weisheit, des Scharfblicks, der Weit- nen Ländern auslösten. Das Wechselspiel von sicht und des Todes, als Botschafter zwischen Wort und Bild ist ein typisch europäischer Zug irdischen und übernatürlichen Welten oder, von Cornells Arbeiten, den er mit Künstlern wie wie Cornell einmal Freunden erklärte, als Sym- Marcel Duchamp und René Magritte gemein- bole des Glücks von Schauspielerinnen. sam hat. 58 Vor dem Hintergrund einer Magazindoppelseite sieht man das – einem nicht identifizierten 59 Gemälde entstammende – Bild eines Knaben, Sorrows of der einen weißen Hund an der Leine hält. Der Young Werther hohe Blickpunkt – wir schauen auf eine nackt Um 1966 Collage mit fotomechanischer Reproduktion, Papier, Gouache und Tusche auf Holzfaserplatte Washington, D.C., Smithsonian Institution, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Geschenk von Joseph H. Hirshhorn, 1972 im Wald liegende Frau hinunter – verleiht der Darstellung eine voyeuristische Note. Die Kleider der Frau liegen im Wald verstreut. Auch sie hat einen Hund zur Seite gestellt bekommen, der sich am Stamm des Baums ganz links zusammengerollt hat. Die Augen beider Figuren sind direkt auf den Betrachter gerichtet, als ob sie ihn aus getrennten, doch irgendwie geheim- Ein kleiner Holzkasten öffnet sich wie ein Reliquienschrein, um den Blick auf seinen Inhalt freizugeben: ein altes, sorgfältig mit Bindfaden Hölderlin Object 1944–1946 Bestehender Holzkasten, blaues Glas, marmoriertes Papier, Samt, Eichenblatt, Buch, Faden Privatsammlung, Courtesy Pavel Zoubok Gallery umwickeltes Buch unter einer blauen Glasscheibe mit einem in den Deckel eingelassenen Eichenblatt, einem traditionellen Symbol der Macht, der Erhabenheit und der deutschen Nation. Von blauem Samt und Streifen feinfühlig eingesetzten marmorierten Papiers gerahmt, verbinden sich die beiden Gegenstände zu einer symbolischen Hommage Cornells an den großen deutschen Dichter der Romantik Friedrich Hölderlin (1770–1843). Das blaue Glas – ein for- nisvoll miteinander verbundenen zeitlichen Per- males Mittel, dessen sich Cornell häufig bedien- spektiven fixieren würden. Der blaue Rock des te – verleiht der Arbeit eine geheimnisvolle, jen- Knaben weist ihn gemeinsam mit dem Titel der seitige Qualität und vermittelt ein Gefühl des- Arbeit als Werther, den Helden des teils auto- sen, was Hölderlin Sehnsucht nannte. Cornell biografischen Romans, aus, dessen Erscheinen war ein großer Bewunderer der romantischen im Jahr 1774 seinen 24-jährigen Autor, Johann Epoche und des Balletts, der Musik, der Litera- Wolfgang von Goethe, berühmt machte. Die tra- tur, der wissenschaftlichen Forschung und der gische Geschichte zum Scheitern verurteilter Philosophie jener Zeit. Es war eine Ära, der er Liebe wird in Form einer Reihe von Briefen der »mehr Einheit« zuschrieb. Deutsche Autoren leidenschaftlichen und äußerst empfindsamen wie Goethe, Novalis und Hölderlin zählten zu Titelfigur an seinen Freund Wilhelm erzählt. seinen Lieblingsschriftstellern. Im Lauf seiner Werther begeht schließlich Selbstmord und tut künstlerischen Tätigkeit hat Cornell ihnen allen dies mit einem blauen Rock bekleidet, der für mit individuellen Arbeiten Reverenz erwiesen. ihn etwas Besonderes darstellt, weil er ihn beim Tanz mit der von ihm angebeteten Charlotte getragen hat. 60 Zwei verhüllte Figuren sitzen auf eine Gartenbank gekauert im Mondlicht und lesen in einem 61 Buch. Es handelt sich um ein italienisches Paar Auf die Innenseite des Deckels von »Untitled Object (Mona Lisa)« hat Cornell zwei ausgeschnittene Details des so bewunderten und im- Paolo and des 13. Jahrhunderts, um Paolo Malatesta und Untitled Object mer wieder diskutierten Brustbilds einer Frau Francesca Francesca da Rimini, die sich ineinander ver- (Mona Lisa) von Leonardo da Vinci geklebt. Wenn die Ar- 1943–1948 Kastenkonstruktion mit Papierausschnitt, Samt, blaues Glas und Rheinkiesel The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman liebten, obwohl beide verheiratet waren (sie mit seinem älteren Bruder, Gianciotto, der sie beide tötete, als er ihre Beziehung entdeckte). Im ersten Band der 1320 fertiggestellten Göttlichen Komödie ihres Zeitgenossen Dante Alighieri begegnen wir ihnen als Gefangenen eines ewigen Wirbelwinds im zweiten Kreis der Hölle, der den Wollüstigen und anderen tragischen Liebenden vorbehalten ist. Das Buch, das sie lesen, erzählt die Geschichte des Artusritters Lancelot und der Königin Guinevere und deren ebenfalls ehebrecherischer Liebe. Cornell stellt die Lie- Etwa 1940–1942 Mit bemaltem durchsichtigem Glas verschlossene zylindrische Kartondose, die fotografische Reproduktionen, Pailletten, eine Haarnadel, Glasperlen und ein schwarzes Stück Papier enthält The Collection of Marguerite and Robert Hoffman beit auch zweifellos als Hinweis auf einen der größten Künstler der Vergangenheit gelesen werden kann, ist doch weitaus wahrscheinlicher, dass sie als Hommage an Cornells Freund und Zeitgenossen Marcel Duchamp gedacht war. 1919, mehr als zwanzig Jahre zuvor, hatte Duchamp bekanntlich eine Reproduktion von Leonardos Meisterwerk durch die respektlose Hinzufügung eines Schnurr- und Spitzbarts entweiht. Cornell und Duchamp waren einander erstmals 1933 begegnet. Etwa um die Zeit, in der »Un- benden allerdings in einem Moment der Ruhe titled Object (Mona Lisa)« fertiggestellt wurde, entweder vor ihrer Entdeckung oder in einem bat Duchamp Cornell, ihm bei der Herstellung romantischen, blau getönten Jenseits dar. Man seiner Boîtes-en-valises zur Hand zu gehen, ei- hat vermutet, dass die beiden für die Eltern des ner Edition tragbarer Kästen, die Miniaturrepro- Künstlern stehen könnten, die durch den frühen duktionen seiner eigenen Werke enthielten. Et- Tod von Cornells Vater 1917 auf tragische Weise was mehr als zwanzig Jahre nach der Entste- voneinander getrennt wurden, gerade als die hung dieses Objekts, im Februar 1963, war Oper »Francesca da Rimini« nach einem Text Cornell unter den mehr als eine Million Besu- Gabriele D’Annunzios an der Metropolitan Ope- chern, welche die »Mona Lisa« während ihrer ra in New York zur Aufführung gelangte. dreieinhalbwöchigen Präsentation im Metropolitan Museum of Art in New York sahen. 62 Jedes Werk dieser Gruppe später Collagen ver- Untitled (Portrait te und seine Auseinandersetzung mit diesem Ge- of Leila in Letters) Späte 1960er-Jahre Collage New York, Sammlung Timothy Baum weist auf Cornells Interesse an Kunstgeschichbiet. Die erste Arbeit, »Untitled (Portrait of Leila in Letters)«, verbindet Farbreproduktionen zweier Gemälde des aus Deutschland gebürtigen altmeisterlichen Malers Hans Memling. Die Frau, deren Gesicht einem die »Madonna mit Kind« darstellenden Werk von 1487 entstammt, 63 Mica Magritte II: Time Transfixed starrt in eine Leere, die sowohl durch Cornells Weglassen des Christuskinds als auch durch die Anordnung zweier verschränkter L-Formen zustande kommt, die er der zentralen Tafel von Memlings 1484 geschaffenem Triptychon ent- Um 1965 Collage The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman nommen hat; sie zeigt den heiligen Christopho- 64 gen (Objekte 63 und 65) belegen. Für »Untitled Untitled (Penny Arcade, Pascal’s Triangle) Um 1965 Collage Sammlung Robert Lehrman, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman 65 gnardée« aus dem Jahr 1938 handelt. Die Colla- Untitled (After ke, die Cornell seinem verstorbenen Bruder wid- René Magritte, La torische Quellen, wie die beiden dem belgischen Surrealisten René Magritte gewidmeten Colla- mete, der eine Zeit lang an das Wohnzimmer clef de verre, 1959) des Hauses am Utopia Parkway gefesselt war, Um 1965 Collage Salem, Massachusetts, Peabody Essex Museum, Gift of the Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation, 2005 aufbewahrte. 66 wobei die vertikale Anordnung der Herzen und rus, den Schutzpatron der Reisenden. Cornell zitierte Zeitgenossen nicht weniger gern als his- ge gehört zu einer Reihe eng verwandter Wer- wo er seine Sammlung von Modelleisenbahnen Die in der Nähe hängende Arbeit »Untitled (Penny Arcade, Pascal’s Triangle)« erinnert an das Werk eines jüngeren Zeitgenossen, nämlich des amerikanischen Künstlers Jasper Johns. Die Silhouette eines springenden Pferdes beschwört die Schaukelpferde und Karusselle im Central Park herauf, der Stern auf blauem Grund die Achse und die konzentrischen Kreise die Drehbewegung andeu- Andromeda 1956 Collage Privatsammlung ten könnten. Abgerundet wird die Werkgruppe von »Andromeda«, einer Arbeit, die auf wunderbare Weise eine Landschaft aus dem Magazin »Arizona (After René Magritte, La clef de verre)«, 1959, Highways«, eine weibliche Figur (die englische hat Cornell Magrittes rätselhaftes Bild eines auf Schauspielerin Jackie Lane) und ein Detail von einem Gebirgskamm balancierenden Felsens mit Peter Paul Rubens’ Gemälde »Die vier Konti- einem Rahmen versehen und es über dem Luft- nente« in der Sammlung des Kunsthistorischen bild einer Landschaft angebracht, die eine Küs- Museums in Wien zusammenführt. In seiner In- te zu sein scheint. In Cornells Komposition terpretation der Geschichte übertrug Cornell »Mica Magritte II: Time Transfixed« begegnen den Part der Andromeda Jackie Lane, weil ihn wir ebenfalls einer solchen fensterartigen Rah- ihre Pose auf der Fotografie wahrscheinlich an mung, wobei es sich in diesem Fall um ein Bild seine Lieblingsdarstellung des Sternbilds (siehe des ikonischen Gemäldes »La Durée poi- Objekt 67) erinnerte. 67 Auf einem teils geweißten Ausschnitt links unten im Kasten steht »Grand Hôtel de l’Univers«. 68 Cornell galten Bilder von Hotels als Inbegriff der Romantik des Reisens. Sie erinnerten ihn an hôtels particuliers, die verschwenderisch Unter Cornells Händen wird das Hotel zu einer Andromeda: Metapher für Zeit und Raum, die durch den An- Untitled (Hotel ausgestatteten privaten französischen Villen Grand Hôtel de dromeda-Mythos mit der Romantik der Sterne Family, Parmi- des 18. Jahrhunderts, und das kosmopolitische l’Observatoire verschmilzt. Cornell hat die Abbildung des Stern- gianino, Bel Leben der durch die Lande reisenden Balleri- bilds, die ursprünglich 1690 in Johannes Heve- Antea Variant) nen des 19. Jahrhunderts. Cornells Hotels wer- 1954 Verglaster Holzkasten, bemaltes und mit Papier überzogenes Holz, Metallstange, Metallkette, Papiercollage aus Fotokopien New York, Solomon R. Guggenheim Museum, Partial gift, C. and B. Foundation, by exchange, 1980 lius’ Firmamentum Sobiescianum, sive Uranographia erschien, wiederholt verwendet. Dieses Werk zeigt die Himmelskugel wie von außen gesehen, weshalb wir auch Andromedas Rücken vor uns haben. Von den in die wolkenartige Textur der inneren Wand eingeritzten Linien wird ein kartografischer Um 1950 Verglaster Holzkasten, Holzlatten, Farbe, fotografische Drucke, Buchseiten Houston, The Menil Collection den manchmal von Vögeln, manchmal von Tänzerinnen, manchmal von Figuren aus Werken Alter Meister bewohnt. Seine Begeisterung für historische Topografie zeigt sich an der Verwendung von Anzeigen für europäische Hotels, die er aus den von ihm in großer Zahl gesammelten Reiseführern ausschnitt Raster evoziert, auf dem die Figur der Androme- oder kopierte. In diesem Fall konfrontiert uns da wie eine Akrobatin auf einem Hochseil balan- Cornell mit der gespenstischen Präsenz von ciert. Die frei herabhängende Kette verweist auf Parmigianinos »Antea« (um 1531/34; Neapel, ihre Befreiung sowie auf die Schwerkraft, die das Museo di Capodimonte). Er hat das ursprüng- Universum zusammenhält und sicherstellt, dass liche Bild sorgfältig beschnitten, sich des kunst- sich die Sternbilder nicht verschieben. voll geflochtenen Haars, der Ohrringe und des Cornell verfolgte die wissenschaftlichen Fort- üppigen Pelzes der Dargestellten entledigt, um schritte seiner Zeit sehr genau. 1948 wurde mit ein zeitloses, anonymes Gesicht zu zeigen, das dem neuen Hale-Teleskop am Mount Palomar – von waagrechten und senkrechten Latten das damals und für einige Zeit größte optische und deren sich verschiebenden Schatten ge- Teleskop fertiggestellt; 1953 richteten es Astro- rahmt – in einem gleichermaßen zeitlosen nomen auf die Andromedagalaxie, das fernste Raum schwebt. In den 1950er-Jahren entwi- Objekt, das von der Erde aus mit bloßem Auge ckelte Cornell Techniken, Gesso und Farbe in sichtbar ist. Cornell wusste genau, dass das Licht Schichten übereinander aufzutragen, und buk eines Sterns zu sehen in die Vergangenheit zu sogar Kästen im Ofen der Familie, um ihre schauen heißt. Struktur stärker hervortreten zu lassen. 69 Mit dieser Arbeit wandte sich Cornell von seinen früheren Kastenkonstruktionen ab. Die formale 70 Disziplin und das Spiel mit Wiederholung nehmen In seiner Serie von Observatorien entwickelt Cornell die Bildsprache seiner Vogelhäuser und Hotels weiter. In diesem Fall hängt ein Untitled die Skulptur des Minimalismus vorweg. Der Künst- Observatory: einsamer Metallring an einer Stange: Der Be- (Multiple Cubes) ler Sol LeWitt hat angemerkt, dass »Cornell sei- Corona Borealis wohner hat seinen Platz verlassen und ist weg- ner Zeit voraus war, indem er einen solchen redu- Casement geflogen, hinein in eine unendliche Weite, 1946–1948 Verglaster Holzschrank mit Scharnieren und Riegel, Holz, weiße Farbe Chicago, Robert H. Bergman zierten Ansatz verfolgte. Damals hat das niemand gemacht«. Cornell reagierte mit dieser Arbeit allerdings auf einen Präzedenzfall, wenn auch auf keinen im Bereich der Skulptur. Etwa zur Zeit der Entstehung der Arbeit hielt er ein »starkes Mondrian-Gefühl« fest. Er beschreibt auch, wie er die sich gleichenden Blöcke zu einem Turm übereinanderstapelte, bevor er sie in dem Kasten platzierte, wobei er ihre Anordnung zu einer Art Ritual machte. Obgleich Mondrians rein abstrakte Ge- 1950 Verglaster Holzkasten, Drahtgeflecht, Holzkomponenten, weiße, blaue und gelbe Farbe, zusätzliches Fach aus Holz an der Rückseite, zwei wendbare Holztafeln Chicago, Robert H. Bergman während der Betrachter die Imagination entwickeln soll, den vorgestellten Raum an seiner Stelle zu bewohnen: Die architektonischen Verhältnisse der Öffnung lassen an ein Hotelbalkonfenster denken, während die horizontalen Stangen an eine Balustrade erinnern. Das hochformatige Stück Himmel gleicht der Öffnung in der Kuppel eines modernen Observatoriums – ein Bezug, der in der Form des Bogens darüber aufgenommen mälde nichts von Cornells Beschäftigung mit Ob- wird. Drahtgeflecht und Gitterstrukturen an jekten gemein haben, bedienten sich doch beide den Wänden lassen dem Betrachter Bilder von Künstler der Methode, ihre Kompositionen durch Flugaufnahmen der Blöcke Manhattans und das Platzieren von Elementen und die Überprü- Wolkenkratzergliederungen in den Sinn kom- fung der Ergebnisse Schritt für Schritt weiterzu- men, auch wenn die Enge der geweißten Zel- entwickeln, wobei Mondrian mit Quadraten und le und die kontemplative Stimmung etwas Rechtecken aus Papier und Klebeband arbeitete. Klösterliches ausstrahlen. An der Rückseite Cornells Arbeit spiegelt die visuellen Rhythmen des Kastens befindet sich ein Fach, in das zwei der Fassaden der Stadt New York wider und wendbare Tafeln eingesetzt werden können, lässt sich als Strukturstudie verstehen. Die kleins- die Blau, Gelb oder eine Himmelskarte des te Bewegung des Betrachters vor der Arbeit Sternbilds der Corona Borealis zeigen und an bringt den extremen Gegensatz zwischen den den von Reisenden erlebten Wechsel der Land- hellen weißen Strukturen und den dunklen schaft anzuknüpfen scheinen. Schatten zur Wirkung. 71 Dieser Kasten, einer der reduziertesten im Gesamtwerk Cornells, zollt dem großen französi- 72 schen Piloten, Erfinder und Ingenieur Louis BlériBlériot #2 Um 1956 Verglaster Holzkasten, Holzteile und Metallspirale Leihgabe der Privatsammlung der Familie Buckingham Dieses Werk gehört zu einer Serie rein weißer, abstrakter Kästen, die Cornell als »Taubenschläge« bezeichnete. In diesem Fall ist in dreißig, ot (1872–1936) Tribut, der 1909 als Erster mit ei- Untitled (»Dove- teils überwölbten Fächern, die in einem Raster nem Motorflugzeug den Ärmelkanal überquerte. cote« American angeordnet sind, eine Sammlung von kleinen Sein 37-minütiger Flug in einer zerbrechlichen, Gothic) Holzkugeln untergebracht, die für Tauben ste- von ihm selbst entworfenen Maschine aus Holz und Leinwand brachte ihm den von der Daily Mail ausgelobten Geldpreis von 1000 Pfund Sterling ein. Die Arbeit veranschaulicht einen oft übersehenen Aspekt der künstlerischen Tätigkeit Cornells: seine Fähigkeit zu einer verblüffenden Ökonomie der Konstruktion. Bewegt man den Kasten, beginnt die gewundene Feder in seinem Zentrum Etwa 1954–1956 Verglaster Holzkasten, gebeizt; Farbe, Holzfächer, 24 Holzkugeln The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman hen. Bewegt man den Kasten, rollen die Kugeln in ihren Fächern hin und her. Cornell hat eine umfangreiche Sammlung von Materialien – Fotografien, Zeitschriftenbeiträgen, Postkarten und anderen gedruckten Bildern – über die Geschichte von Taubenschlägen zusammengestellt, die bis ins Mittelalter zurückreicht, in dem sie von Rittern und Adeligen als Zeichen ihrer Stellung leicht zu zittern, was an das fragile Gleichgewicht und Macht gebaut wurden. Häufig äußerte er der zum Fliegen erforderlichen Kräfte erinnert. Besuchern seines Ateliers gegenüber sein Bedau- Mit geringstem Aufwand gelingt es Cornell, uns ern über den Verfall der Taubenhaltung in New Geist und Errungenschaften Blériots vor Augen York: Durch italienische Einwanderer im frü- zu stellen. Die Maserung des blau gebeizten Hol- hen 20. Jahrhundert in der Stadt heimisch ge- zes vermittelt uns eine Vorstellung davon, wie macht, erlebte die Haltung von Tauben bald ei- sich die gekräuselte Oberfläche des Meers aus nen Niedergang. Wie die nüchterne Darstellung der Luft ausgenommen haben mag. Cornell schuf des Taubenschlags erinnert auch die geometri- Mitte der 1950er-Jahre – gerade als sich der Wett- sche Architektur dieses Kastens an die Gemäl- lauf zwischen den Vereinigten Staaten und der de, die Piet Mondrian in seiner New Yorker Zeit Sowjetunion, den ersten Menschen ins All zu be- schuf, und sie bestätigt Cornells Einfluss auf die fördern, verschärfte – zwei Fassungen dieses Generation minimalistischer Künstler, die in Werks. Obgleich Cornell nie mit einem Flugzeug den Vereinigten Staaten bald berühmt werden geflogen war, faszinierte ihn, wie zahlreiche sei- sollten. ner Werke belegen, die Vorstellung des Fliegens und Entdeckens. 73 Dieser poetische Kasten ist der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson (1830–1886) gewid- 74 met. Dickinson, die immer Weiß trug, war ein Toward the Blue stiller, zurückgezogener und zutiefst intellektu- Peninsula: For eller Mensch. Obgleich sie starb, ehe er geboren Emily Dickinson wurde, sah Cornell in ihr eine ihm in gewisser Um 1953 Mit Glasscheiben versehener Holzkasten, Holzstange, Holzteile, Drahtgeflecht, Farbe, Stücke einer Zeitung The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman Weise verwandte Seele. Keiner der beiden heiratete je, beide unternahmen keine weiten Reisen (obgleich sie sich nach fernen Orten sehnten), und beide lebten im Kreis ihrer Familie. Gemeinsam betrachtet werfen die beiden Filme Licht auf Cornells Alltag und Gewohnheiten. Der erste Film, »Gnir Rednow«, wurde 1955 pro- Gnir Rednow 1955, 1960er-Jahre 16 mm-Film (Kodachrome), Farbe, stumm, 6 Min. Courtesy of the Estate of Stan Brakhage duziert. Cornell beauftragte den damals unbekannten jungen Filmemacher Stan Brakhage, die Third Avenue Elevated zu dokumentieren, kurz bevor diese demontiert wurde. Es war eine Strecke, die Cornell im Lauf der Jahre oft befahren hatte. Die Hochbahnen New Yorks bieten ungewöhnliche Perspektiven auf die Stadt: Fahr- Cornell kannte Dickinsons Werk seit den 1920er- gäste können in die Straßen hinunter- oder di- Jahren, entdeckte es aber in einer Periode inten- rekt in die verblüffend nahen Fenster der obe- siver Recherchen wieder für sich, kurz bevor er ren Stockwerke anliegender Gebäude hinein- an diesem Kasten zu arbeiten begann. Cornell entschloss sich, eine Stelle aus einem 1862 ent- 75 standenen Gedicht für den Titel seiner Arbeit zu verwenden: »It might be easier / To fail – with Land in Sight – / Than gain – My Blue Peninsula – / To perish – of Delight« (Mit Land in Sicht zu scheitern mag leichter sein als Meine Blaue Halbinsel zu erreichen und vor Entzücken zu vergehen). Mit dem offenen Fenster, durch das man einen strahlend blauen Himmel sieht, schauen. Brakhage traf Cornell, um das Projekt zu besprechen, und erhielt dann per Post Fahrkarten und Farbfilm. Er fotografierte und schnitt Cornell, 1965 Lawrence Jordan Cornell, 1965 1965‒1979 16 mm-Film mit Ton, ca. 9 Min. Lawrence Jordan den Film, der den Titel »The Wonder Ring« bekam, im Frühsommer 1955. Da das Ergebnis Cornells Erwartungen nicht entsprach, fertigte dieser eine eigene Fassung an, für die er von Brakhage weggelassenes Material verwendete, und drehte den Titel um: »Gnir Rednow«. Die zweite Arbeit, »Cornell« (1965), wurde im Sommer bietet Cornell ihr einen Ausweg aus dem, was und Herbst des Jahres von Lawrence Jordan, er in seinem Tagebuch einfühlsam als „quälen- dem damaligen Assistenten des Künstlers, auf de Zurückgezogenheit“ bezeichnet hat. Ähnlich vier Rollen 16 mm-Kodachrome-Film gedreht. wie beim Porträt Paolos und Francescas (Ob- Der Film umfasst kurze Aufnahmen des Künst- jekt 60) versucht Cornell eine zutiefst schmerz- lers bei der Arbeit im Garten und im Kellerate- volle Situation zu überwinden und einen Weg lier am Utopia Parkway (die einzigen bekann- der Heilung zu eröffnen. ten Filmbilder Cornells). Cornell und die Kunstkammer Die im Kunsthistorischen Museum präsentier- ten, die sie erzählen. Wie sie versuchte er die ten Werke Joseph Cornells treten in faszinie- Welt in einen Kasten zu bannen, um zu verste- rende Dialoge mit den verschiedensten histo- hen, wie sie funktioniert und welcher Platz dem rischen Objekten, deren Bogen sich von Ge- Menschen darin zukommt. Und wie sie ver- mälden der Renaissance bis zu altägyptischen schenkte er besondere Gegenstände an beson- Grabbeigaben spannt. Am intensivsten ist der dere Menschen. Der einzige Unterschied lag im Dialog mit der Kunstkammer des Museums und materiellen Wert dieser Geschenke. Cornell war deren Beständen an Mirabilia, Naturalia, Arti- es nicht um teure oder extravagante Dinge zu ficialia und Scientifica. tun: Seine Welt war eine Welt schlichter Schät- Cornell war nicht nur Künstler, sondern auch ze, aus denen er die wunder- und kostbarsten einer der größten Sammler des 20. Jahrhun- Schöpfungen zu machen verstand. Er war, wie derts. Zur Herstellung seiner Werke griff er auf es einmal ein Freund formulierte, »der Benve- die zahllosen kleinen Dinge zurück, auf die er nuto Cellini des Strandgutes«. in Antiquariaten, auf Flohmärkten und in Bil- Aus diesem Grund wird das letzte Kapitel der ligläden stieß oder die er an den Stränden von Ausstellung »Joseph Cornell: Fernweh« in der Long Island angeschwemmt fand: Murmeln, Kunstkammer selbst aufgeschlagen, wo vorü- Muscheln, Vogelnester, vergriffene Bücher und bergehend eine kleine Gruppe von Objekten jede Menge Ephemera aus Papier wie Briefmar- Cornells gezeigt wird. Um die Affinität zu un- ken, Landkarten, Stadtpläne, Reiseführer, terstreichen und weiter zu ergründen, können Schiff- und Eisenbahnfahrpläne. Andenken, Re- Besucher einem speziellen Parcours durch die likt und Muster in einem, scheinen Cornells Kunstkammer folgen, der sie diese mit den Au- Werke imaginäre Entdeckungsreisen um die gen Cornells betrachten lässt. In jedem der Säle Welt zu dokumentieren und dabei mit der Spra- ist ein historisches Objekt aus der Sammlung che von Museen zu spielen. des Museums zu sehen, das in Cornells Arbeit Über vierzig Jahre lang hat Cornell sein eigenes einen besonderen Widerhall findet. Cornell hat privates Kuriositätenkabinett geschaffen, das uns die Vereinigten Staaten nicht einmal verlassen nicht weniger erstaunlich erscheint als die Kunst- und daher auch Wien keinen Besuch abgestat- kammern der europäischen Könige, Kaiser und tet: Hätte er das getan, wären das die Gegen- Adeligen der Renaissance. Wie sie erfreute sich stände gewesen, die ihm, so meinen wir, gefal- Cornell an kleine Dingen – und an den Geschich- len hätten. 76 Diese vier Objekte Cornells werden vom Rest der Ausstellung getrennt im Herzen der bemerkens- 78 werten Kunstkammer des Kunsthistorischen MuUntitled (aviary seums präsentiert. Die auf die unterschiedlichen with cockatoo Arten von Werken verweisenden Arbeiten zeigen and corks) Cornells wahren Geist: den Geist eines Samm- Um 1948 Holzkasten mit Scharnieren und Sperrvorrichtung, Glasscheiben, Farbe, Farblithografieausschnitt, Faden, Treibholz, Unterteilungen und Objekte aus Holz, Korken, Papierschächtelchen, Teile einer Spieldose Privatsammlung 77 lers, eines Naturhistorikers und eines Dichters, der einfache, alltägliche Gegenstände in kleine Schätze zu verwandeln verstand. Für die früheste Arbeit (Objekt 78) hat Cornell ein kleines, kommerziell hergestelltes Pillendöschen verwendet Um 1940 Bestehende zylindrische Pappdose, Papiercollage, aufgewickelte Papierrollen, farbiger Baumwollfaden The Collection of Marguerite and Robert Hoffman Glasfläschchen sind in einem mit Scharnieren ausgestatteten Kasten aus Holz angeordnet. Untitled 1933 Zylindrisches Kartondöschen mit Papiercollage, Muschel, Kugellager und Metallfedern New York, Mark Kelman Dem Betrachter bietet sich ein Kuriositätenkabinett en miniature mit verschiedensten Überraschungen von Sand über Federn und Muscheln bis hin zu Teilen von Landkarten und Architekturzeichnungen. Die sorgfältig gewählten Elemente – teils Muster, teils Relikte, teils Andenken – evozieren sowohl reale als auch imaginäre Welten. »Untitled (Aviary with Co- und es mit zwei winzigen Spiralobjekten bestückt: ckatoo and Corks)«, die größte der Arbeiten, einer gemusterten schillernden Muschel und ei- gleicht einem historischen Automaten, der nur ner Metallfeder. Unterhalb davon beschwört das Bild eines vergrößerten Zellmusters in Form ei- 80 darauf zu warten scheint, sich im nächsten Augenblick in Gang zu setzen. Das mittlere untere Fach enthält Teile des Werks einer Spieldo- nes Drucks die den Dingen zugrunde liegende Struktur, die Cornell stets faszinierte. Auch im Untitled se, das mit Glas abgeschirmt ist und mit einem Fall von »Le Caire« (Objekt 77) hat sich Cornell (Museum) Schlüssel an der Rückseite der Konstruktion einer zylindrischen Dose bedient. Im Inneren finden sich straff aufgewickelte Papierrollen, die an altägyptische Papyri und Hieroglyphen erinnern. Le Caire Klassifizieren. 28 mit rotem Wachs versiegelte Die seitlich außen an der Dose klebende Briefmarke ist französisch und arabisch beschriftet. In der Zeit der kolonialen Eroberung Afrikas durch Europa im 19. Jahrhundert beschäftigte Ägypten die Fantasie vieler Schriftsteller, Komponisten und Künstler. Es ist dieses Ägypten, das Cornell am meisten ansprach. »Untitled (Museum)« veranschaulicht Cornells erweitertes Interesse am Reisen, Sammeln und Etwa 1940–1950 Bestehender Holzkasten, Glasflaschen mit Wachssiegeln und verschiedenen Inhalten wie gefärbter Sand, Muscheln, Federn, Perlen, Glasstücke, Drucke von Sternbildern, Landkarten und Architekturzeichnungen The Robert Lehrman Art Trust, Courtesy of Aimee and Robert Lehrman aufgezogen werden kann. Nur verständlich, dass einem hier eine Melodie in den Sinn kommt, soll es doch Kakadus geben, die ganze Arien nachsingen können. Cornell assoziierte Sängerinnen mit Singvögeln und verband Kakadus vor allem mit Giuditta Pasta. Das Exotische, das Wissenschaftliche, das Natürliche und das Künstliche – dies sind die vier Ecksteine historischer Kunstkammern wie des Werks von Joseph Cornell. VORTRÄGE UND Mo, 2. November, 19 Uhr* GESPRÄCHE Kuppelhalle, KHM KUNSTKONTEXT * 15.30 Uhr Containing Wonder: Joseph Cornell’s Vortragsraum, KHM Cabinets of Curiosity Joseph Cornell: Überblick und Einblicke Kirsten Hoving Andreas Zimmermann Di, 27. Oktober und 17. November In englischer Sprache Do, 5. November, 19 Uhr* KURATOREN- Di, 3. November FÜHRUNGEN * Do, 12. November Bassano-Saal, KHM Di, 24. November The Enchanting Life of Joseph Cornell: Do, 3. Dezember An Illustrated Lecture jeweils 16 Uhr Deborah Solomon (Biographin von mit Jasper Sharp Joseph Cornell) In englischer Sprache In englischer Sprache Mo, 16. November, 19 Uhr** ÜBERBLICKS- Do, 19 Uhr FÜHRUNGEN Sa/So 11 und 15 Uhr Kuppelhalle, KHM (außer 24. und 31. Dezember) Roberta Smith und Jerry Saltz im Gespräch Dauer: ca. 60 Min. mit Jasper Sharp Teilnahme € 3 Chefkunstkritikerin, The New York Times und Treffpunkt: Vestibül Chefkunstkritiker, New York Magazine In englischer Sprache Di, 15. Dezember, 19 Uhr*** Kuppelhalle Orhan Pamuk im Gespräch mit Philipp Blom Nobelpreisträger für Literatur 2006 In englischer Sprache * Teilnahme frei mit gültigem Museumsticket, keine Anmeldung erforderlich ** Teilnahme frei, Anmeldung unter [email protected] *** Teilnahme frei, Anmeldung unter [email protected] filme Zwei Abende mit Filmen von Joseph Cornell PRIVATE Wünschen Sie eine private FÜHRUNGEN Führung in der Sonderausstellung Mi 11.11. 20.30 Uhr oder in unseren Sammlungen? Einführung: Naoko Kaltschmidt T +43 1 525 24 - 5202 Mo–Fr, 9–16 Uhr [email protected] Do 12.11., 20.30 Uhr Einführung: Jasper Sharp gemeinsam mit Alexander Horwath Ausstellungs- Sarah Lea, Sabine Haag and Jasper Sharp Österreichisches Filmmuseum, Albertinaplatz katalog (eds.), Joseph Cornell: Fernweh ISBN 978-3-99020-096-4; deutsche Tickets: Reservierung unter T +43 1 533 70 54 Übersetzung: ISBN 978-3-99020-106-0 oder [email protected] Kauf an der Abendkassa (ab 17.30 Uhr) öffnungszeiten 20. Oktober 2015 bis 10. Jänner 2016 Di–So, 10 bis 18 Uhr Do bis 21 Uhr KINDERWORKSHOP Mit Unterstützung von: 6 – 12 Jahre Da steckt die ganze Welt drinnen! – T +43 1 525 24 - 6904 Josephs wunderbares Sammelsurium www.khm.at/unterstuetzen/freunde-des-khm Sonntag 8. und 22. November, 6. und Dieses Booklet erscheint mit freundlicher Un- 20. Dezember, 3. Jänner 2016 terstützung des Vereins der Freunde des KHM Jeweils 14.00 bis 16.30 Eintritt für Kinder frei, für begleitende GrüSSe aus dem Wir verschicken die Karte innerhalb der EU Erwachsene ermäßigt kunsthistori- für Sie. Einwurf in der Ausstellung oder im Materialkosten: 4 € schen museum Shop! Anmeldung erbeten: +43 1 525 24 5202, [email protected] Cover: Joseph Cornell, Untitled (Pinturicchio Boy), 1942–1952, Glenstone // Cover-Innenseite: Joseph Cornell, Habitat Group for a Shooting Gallery, 1943, Des Moines Art Center, Iowa // Beide: © The Joseph and Robert Cornell Memorial Foundation, Bildrecht, Wien, 2015 Herausgeber Dr. Sabine Haag, Generaldirektorin Kunsthistorisches Museum Wien Burgring 5, 1010 Wien © KHM-Museumsverband Kuratoren Jasper Sharp (KHM, Wien) Sarah Lea (Royal Academy, London) Autoren Jasper Sharp Sarah Lea Lektorat Elisabeth Herrmann grafik Nina Fuchs Partner mit unterstützung von sponsor Kooperationspartner The Joseph Cornell Leadership Circle Contemporary Patrons Kunsthistorisches Museum Wien
© Copyright 2024 ExpyDoc