Leseprobe - Metanoia

Maria-Gabriele Wosien
Die Sufis und Das Gebet in Bewegung
Umschlag: Grafiken von Bernhard Wosien
2. überarbeitete Auflage 2006
© Maria-Gabriele Wosien 1998
ISBN 3-907038-56-2
Maria-Gabriele Wosien
Die Sufis
und
Das Gebet in Bewegung
Metanoia-Verlag
Münir Celebi
in Dankbarkeit
Inhalt
Die Sufis
Christen und Sufis begegnen sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Die Sufis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Mevlana Dschelaleddin Rumi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Das Gebet in Bewegung
«Stirb bevor du stirbst»:
Sema – der Tanzreigen der Mevlevi Derwische . . . . 73
Einweisung in den Drehtanz
(Bernhard Wosien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
Die Sikke – ein Derwisch Hut entsteht . . . . . . . . . . . . . 99
Anhang
Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Wörterverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
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Die Sufis
Christen und Sufis
begegnen sich
Für die Sufi Mystiker ist der Wandernde der Prototyp des
wahren Gläubigen. Mit ihren Wurzeln ist diese Mystik tief
mit den nomadischen Völkern der Steppe verbunden, aus denen sie ihren Ursprung nahm. Im Wechsel der Jahreszeiten
zogen die Nomaden, ihre Herden begleitend, über das Land.
Dabei erlebten sie den Kreislauf der Sterne und der Natur als einen von unsichtbarer Hand gelenkten Bewegungsablauf. Das Mass ihrer Schritte passten sie dem Rhythmus
der Gezeiten an und waren so eng mit dem Pulsschlag des
Lebens verbunden.
In der Dichtung Rumis (1207–1273) wird der Wandernde zum «ewig Suchenden», der immer unterwegs ist, offen
für alle Religionen und spirituellen Richtungen. In der mystischen Praxis führte das kontinuierliche Gottgedenken, das
Beten der Gottesnamen in Bewegung zur Erkenntnis der
«Einheit allen Seins», welche das Fremde, das einem begegnet, immer neu als das Eigene erleben lässt.
Auch Jesus, von den Sufis als Prophet des einen Gottes verehrt, war ein Wandernder, der seine Jünger ermahnte: «Werdet Vorübergehende» (Thomasevangelium, Logion
42). Die Begegnung von Sufis und Christen, ihre gegenseitige Hochachtung und Verehrung hat Tradition. Faruddin
Attar (1165 – ca. 1240), der Autor der «Vogelgespräche»,
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weist in einer Parabel seines Werkes «Das göttliche Buch»
auf den höchsten Gottesnamen hin: Jesus.
In einer christlich-sufistischen Begegnung unserer Zeit,
erzählt von Nikos Kazantzakis, erkennt der christliche Abt
in der Lebens- und Glaubensform der Mevlevi Derwische
die Wegspuren des Franziskus von Assisi – Tänzer zu sein
vor Gott:
Wir hielten vor einem kleinen türkischen Kloster, in dem
Derwische lebten und jeden Freitag tanzten.1 Wir traten in
den Hof. Aus einer Zelle kam ein Derwisch auf uns zu. Er
begann über den Tanz zu sprechen: «Wenn ich nicht tanzen
kann, kann ich nicht beten. Die Engel haben zwar einen
Mund, aber sie reden nicht, sie sprechen durch den Tanz
zu Gott.» – «Was für einen Namen gebt ihr Gott, Ehrwürden?» fragte der Abbé. «Er hat keinen Namen», antwortete
der Derwisch. «Gott kann man nicht in einen Namen pressen. Der Name ist ein Gefängnis; Gott ist frei.»
«Wenn ihr ihn aber rufen wollt», beharrte der Abbé,
«wenn es notwendig ist, wie ruft ihr ihn?»
«Ach», antwortete er, «nicht Allah. Ach! werde ich ihn
rufen.»
Der Abbé erbebte. «Er hat recht …», murmelte er. […]
Wir fühlten uns so glücklich im Hof dieses Moslemklosters, dass wir es nicht über das Herz brachten, aufzubrechen. Da traten aus den umliegenden Zellen weitere Derwische. Die jüngeren waren blass, und ihre Augen loderten,
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Das verlassene Klostergebäude, unweit der kretischen Hauptstadt
Iraklion, war im Frühjahr 1969 noch ziemlich gut erhalten. Bei einem nächsten Besuch, zwanzig Jahre später, war die Anlage bereits
zur Ruine verfallen. (Anm. der Autorin)
als jagten sie verzweifelt Gott nach. Die alten, die vielleicht
Gott gefunden hatten, waren rosenfarbig; ihre Augen strahlten vor Licht. Sie hockten um uns herum, manche lösten den
Rosenkranz von ihrem Ledergürtel und spielten gelassen
mit den Glasperlen, während sie neugierig den christlichen
Mönch betrachteten. […]
«Was für ein Glück!» flüsterte der Abbé. «Wie leuchtet
auch hier hinter allen diesen Gesichtern das Antlitz Gottes!»
Er berührte meine Schulter.
«Bitte, frag sie, ob die Derwische ein religiöser Orden
sind und welche Regeln sie haben!»
Der Älteste legte seine Pfeife auf das Knie und antwortete: «Armut, Armut, nichts besitzen, auf dass uns nichts
belaste, auf dass wir uns Gott nähern auf blühendem Pfad;
Lachen, Tanz und Freude sind die drei Erzengel, die uns dabei geleiten.»
«Frag sie», bat mich abermals der Abbé, «wie sie sich
vorbereiten, vor Gott zu treten; durch Fasten?»
«Aber nein», antwortete ein junger Derwisch lachend,
«wir essen und trinken und loben Gott, der dem Menschen
Essen und Trinken geschenkt hat.»
«Und auf welche Weise?» beharrte der Abbé.
«Tanzend», antwortete der älteste Derwisch mit dem langen, weissen Bart.
«Tanzend?» fragte der Abbé. «Warum?»
«Weil Tanzen das Ich auslöscht», meinte der alte Derwisch. «Wenn das Ich erstorben ist, gibt es kein Hindernis,
sich mit Gott zu vereinen.»
Das Auge des Abbé blitzte auf. «Der Orden des heiligen
Franziskus», rief er aus und drückte die Hand des alten Derwischs, «genauso ist der heilige Franziskus tanzend über die
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Erde gegangen und in den Himmel gestiegen. Was sind denn
wir? Nichts anderes als Possenreisser Gottes, die geboren
wurden, um die Herzen der Menschen zu erfreuen.
Da siehst du es wieder, mein junger Freund, immer stösst
man auf denselben Gott.»
aus: Rechenschaft vor El Greco,
Nikos Kazantzakis
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Die Sufis
Es fragte einer: Was ist Sufismus?
Rumi antwortete: Freude finden im Herzen,
wenn die Zeit des Kummers kommt.
Der Sufismus lehrt die wesenhafte Einheit aller Religionen
und das Vertrauen in die Zukunft der Menschheit. Diese
Lehre ist uralt und meint den Prozess des Erweckens und
Entwickelns latenter Fähigkeiten als Reifungsprozess, als
unendliche Ausformungen der Einheit des Seins:
Siehe, ich starb als Stein und ging als Pflanze auf,
starb als Pflanze, nahm darauf als Tier den Lauf,
starb als Tier und ward ein Mensch. Was fürcht ich
dann,
da durch Sterben ich nicht minder werden kann?
Wieder, wann ich werd’ als Mensch gestorben sein,
wird ein Engelsflügel mir erworben sein,
und als Engel muss geopfert sein ich auch,
werden, was ich nicht begreif, – ein Gotteshauch.
(Mathnawi III)
Die mühselige Arbeit der Läuterung wird in den bildhaften
Erzählungen der Sufis auch verglichen mit der kreisenden
Bewegung des Mühlsteins:
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Abb. 1: Mühle an den Band-i-Amin Seen, Afghanistan
Wisst ihr, was die Mühle erzählt? «Ich bin das Gleichnis des Derwischs», sagt sie, «ich empfange Grobes
und gebe Feines zurück.»
So endet das Gedicht Rumis auch mit den Zeilen, welche
die Sehnsucht nach dem letztlichen «Entwerden», der Rückkehr zum Ursprung, besingen:
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O, lass mich nicht-sein!
Denn das Nichtsein ruft
mit süsser Melodie der Flöte:
Zu Ihm kehren wir zurück!
Die Sufis, die sich auch «Gottesfreunde» nennen, sagen,
dass der Sufismus wie ein Meer ohne Ufer ist, in das die
verschiedenen Orden wie Flüsse einmünden.
Der Anfang der Sufi Lehre verliert sich in einer zeitlich
nicht erfassbaren Vorzeit. Eine traditionelle Überlieferung
(hadith) formuliert es so:
Die Saat des Sufismus wurde gesät in der Zeit
Adams,
keimte in der Zeit Noahs,
entfaltete sich in der Zeit Abrahams,
begann zu reifen in der Zeit des Moses,
erreichte volle Reife in der Zeit des Jesus
und brachte in der Zeit Mohammeds den reinen
Wein hervor.
Mohammed ist das Vorbild für alle Sufi Orden und wird verehrt als der grösste der Mystiker. Als das Vorbild für Gottesfurcht, Askese und Liebe fand er im Gebet zur Vereinigung mit Gott.
Im Laufe seiner Existenz in Abertausenden von Jahren, so
sagen die Sufis, sind dem Menschen viele ursprüngliche
Fähigkeiten verloren gegangen wie der Sehsinn als geistige
Schau, der Tastsinn, der das Wesen der Dinge erspürt und
der sichere Instinkt, über den er sich in seiner Wahrnehmung
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Abb. 2: Beduine in der Wüste betend
mit dem Leben verbunden wusste. Das sufistische Ziel ist
es, Gott im Menschen vollständig zu aktivieren, d. h. alle
verloren gegangenen und alle noch nicht entwickelten Fähigkeiten zu entfalten – ganz im Sinne auch der Jesusworte:
Jeder kann dies tun, auch ihr, sogar grössere Dinge,
als ich sie vollbracht habe … (vgl. Joh. 14, 12)
und: Ich muss gehen, damit der Grössere zu euch
kommen kann … (vgl. Joh. 16, 7)
Hingabe, Überantwortung an den Geist Gottes, «Dein Wille
geschehe» ist der eigentliche Inhalt des Islam. Die Sufis ergänzen, dass wer den Zustand der totalen Hingabe erreicht
hat, unsterblich wird.
Der Islam wurde so, zusammen mit der heiligen Schrift
des Koran, zum Medium der Übermittlung der sufistischen
philosophia perennis. Durch das Üben der Hingabe entsteht
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ein Vakuum, gross genug, um Gott aufzunehmen. Diesen
Geist erlebt der Sufi als in der ganzen Schöpfung präsent.
Abb. 3: Wandernde Derwische. Persische Miniatur, 17. Jh.
Sufis sind Leute des Weges, Sufismus das Bekenntnis zur
Liebe. Einer der grössten Sufi Mystiker, Hallaj, den man
im 13. Jh. als Ketzer hinrichtete, wurde im Gefängnis von
einem Derwisch gefragt: «Was ist Liebe?» Er sprach: «Du
wirst es heute sehen, und morgen sehen, und übermorgen
sehen.» An jenem Tage töteten sie ihn, am nächsten Tag verbrannten sie ihn, und am dritten Tag gaben sie seine Asche
dem Wind.
Ähnlich den mittelalterlich-monastischen Stadien der via
purgativa, via contemplativa und via illuminativa ist der Sufi
Weg ein dreifacher, nämlich:
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