Ägyptens Derwische in der Vergangenheit und Gegenwart

Ägyptens Derwische in der Vergangenheit und Gegenwart
Ägyptens Derwische in
der Vergangenheit und
Gegenwart
Hartmut Schmidt
Abb. 1
Das Wort Derwisch (darwīsch) stammt aus Persien; die
deutsche Übersetzung lautet Bettler. Das ist aber nicht
wörtlich zu nehmen, sondern deutet vielmehr an, dass
für die Mitglieder eines Derwisch Ordens materieller
Besitz unerheblich ist. Es gibt eine Vielzahl
unterschiedlichster Richtungen; am bekanntesten sind
die heulenden (Abb. 2) und die tanzenden (Abb. 3)
Derwische. Beiden gemeinsam ist der Zikr, eine
spezielle Art des Gottesgedenkens. Mit Hilfe von Musik
und Tanz versetzen sie sich in Trance und in einen
mystischen Zustand.
Als die Europäer
sich im 19. Jahrhundert für Ägypten zu interessieren begannen,
suchten nicht nur Forscher das Land am Nil auf, sondern auch
der Tourismus entwickelte sich. Zahlreiche Reisende bestaunten
die pharaonischen Sehenswürdigkeiten und schrieben später ihre
Erlebnisse und Eindrücke vom ägyptischen Alltagsleben auf.
Dazu gehörten auch Darbietungen der heulenden und tanzenden
Derwische. Begegnete man den ersteren in der Literatur meistens
mit Unverständnis und Kopfschütteln, wurde die Sema, so die
Bezeichnung für den Tanz des Mevlevi-Ordens, differenzierter
betrachtet.
Abb. 2
Lassen wir einige Zeitzeugen zu Wort kommen. Die
englische Romanautorin Amelia Edwards bereiste
1893/1894 Ägypten und wohnte in Kairo einer Aufführung
der heulenden Derwische bei: „Am nächsten Tag […]
fuhren wir zu dem Kloster der heulenden Derwische, das
außerhalb der Stadtmauern an einem stillen Plätzchen
zwischen dem Flussufer und dem als Alt-Kairo bekannten
Stadtteil liegt. […] Nachdem wir uns zwischen den anderen
Zuschauern mit Stühlen versorgt hatten, warteten wir
darauf, was auch geschehen würde. [..] Alsbald jedoch
schmetterten die Trompeten lauter – die Stimmen wurden
heiserer – die Köpfe verneigten sich tiefer – der Name
Allahs erklang immer schneller und grimmiger. Der Chorleiter, der selbst kühl und gefasst war, begann,
den Takt des Chors merklich zu beschleunigen, und es wurde offensichtlich, dass die Teilnehmer von
einer zunehmenden Ektase besessen waren. Bald taumelte der ganze Kreis wie verrückt hin und her, die
Stimmen schwollen zu einem heiseren Geschrei an und nur die Trompeten übertönten den Lärm. […]
Noch immer wuchs die Ektase, noch immer wurde das Tempo schneller. Manche stießen schrille Schreie
aus – manche stöhnten – manche, unfähig, sich noch länger auf den Beinen zu halten, wurden von den
Umstehenden an ihrem Platz gehalten. Alle waren vorübergehend wie wahnsinnig. Schließlich schienen
sich unsere eigenen Köpfe zu drehen und mehr als eine der anwesenden Damen schaute sehnsüchtig zur
Türe.“1)
Abb. 3
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Ägyptens Derwische in der Vergangenheit und Gegenwart
Der französische Romancier Gustave Flaubert besuchte in den Jahren 1849-1850 Ägypten. Über eine
Aufführung der Derwische äußerte er sich nur kurz: „Am Abend vorher waren wir im Kloster der
Derwische gewesen. Wütende Tamburinschläge, am Boden wälzte sich ein Mann mit einem Messer. Wie
furchtbar die Tarabuks [Bechertrommeln] dröhnen! Die Kanone erreicht keine so schreckliche
Wirkung.“2)
Weitaus mehr interessierte Flaubert hingegen der erotische
Bienentanz. Hierbei handelt es sich um eine Art orientalischer
Striptease. In den Kleidern der Tänzerin hat sich eine Biene
verirrt. Beim Versuch sie zu finden, fallen nach und nach alle
Hüllen: „Kutschuk tanzte uns den Bienentanz vor. Damit die Tür
geschlossen werden kann, haben wir zuvor Fergalli und einen
anderen von der Schiffsmannschaft fortgeschickt; bis jetzt hatten
sie aus dem Hintergrunde den Tänzern zugesehen und waren das
groteske Element des Bildes; man legte dem Kinde einen kleinen
schwarzen Schleier über die Augen, und dem alten Musiker zieht
man seinen blauen Turban vors Gesicht. Kutschuk entledigte sich
während des Tanzens ihrer Kleider. Ist die Tänzerin nackt, so
behält sie nur ein Tuch und tut, als wolle sie sich dahinter
verbergen; schliesslich wird das Tuch fortgeworfen. Darin
besteht der Bienentanz.“3)
Bienentanz
Doch zurück zu den Derwischen. Der Berliner Franz Wilhelm
Theodor Körner unternahm um die Jahrhundertwende 1899/1900
„eine Fahrt ins Wunderland“ und publizierte seine Erlebnisse in einem schmalen Bändchen mit dem
gleichen Titel. Über eine Aufführung der tanzenden Derwische äußerte er sich wie folgt: „Wir begaben
uns also zu einer der an jedem Freitage stattfindenden Versammlung der tanzenden Derwische, so einer
Art mohammedanischen Mönchsorden. […] Nach längerem Warten erschien ein grünbeturbanter,
würdig aussehender Herr, offenbar ein Oberpriester, und hockte sich in der Arena nieder, und um ihn
herum lagerten sich zwölf Derwische in dunkelblauen, braunen und grünen Mänteln. Eine Koransure
wurde verlesen und alle lauschten voller Andacht den ihnen heiligen Worten. Darauf legten sie die
Mäntel ab, so daß ihre weißen blusenartigen Jacken und die weißen Röcke zum Vorschein kamen, und
bewegten sich, einen gelblich braunen Fez auf dem Haupte, unter feierlichen, gegenseitigen
Verbeugungen dreimal in gemessenem Schritt im Kreise herum. Dann aber begann ein wahrer
Hexentanz. Die Derwische warfen die Arme in die Luft und fingen an, sich mit rasender
Geschwindigkeit um ihre eigene Axe zu drehen, und das eine Viertelstunde lang! Mit einem plötzlichen
Ruck blieben sie sodann stehen, um von neuem herumzusausen. Viermal wiederholten sie diese
wahnsinnige Dreherei.“4)
Körner muss von der Darbietung nicht begeistert gewesen sein. Das beweisen seine Formulierungen
„Hexentanz“ und „wahnsinnige Dreherei“. Und er hatte offenbar nicht begriffen, dass er hier Zeuge
einer tief religiösen und gottesdienstähnlichen Veranstaltung gewesen war. Karl May, der am 29. Juni
1900 in Konstantinopel einer Aufführung des gleichen Ordens beiwohnte, urteilte wesentlicher
differenzierter: „Dann zu den ‚Tanzenden Derwischen‘. Schon der Raum war einer religiösen Andacht
angemessen. […] Sie hatten die dunklen Kaftans abgelegt und waren darunter weiß gekleidet. Ein Shawl
hielt das Gewand an den Hüften zusammen. Von ihnen abwärts blähte es sich zu einem rotierenden
Kreise auf. Die erst herabhängenden Hände wurden erhoben, zunächst hoch; dann breiteten sie sich bei
denen, die den äußeren Kreis bildeten, waagerecht aus. Indem sich Jeder um sich selbst drehte, bewegte
er sich im Kreise auch vorwärts […], nur den Einen ausgenommen, der genau im Mittelpunkte unter
dem Leuchter blieb und die Arme in nicht unschöner Haltung erhoben hielt, die eine Hand nach oben
geöffnet, die andere nach unten, halb geschlossen. […] Vielleicht begriff ich den Sinn des Tanzes,
vielleicht auch nicht; aber er war mir sympathisch, besonders der Schluß.“5)
Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte Carl Ninck, der 1884 „auf biblischen Pfaden“ im Orient
wandelte. Seine Reiseerinnerungen veröffentlichte er unter dem gleichen Titel im Jahre 1892. Im
Kapitel, das Kairo zum Inhalt hatte, kam Ninck zu einer ähnlich ausgewogenen Darstellung der
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tanzenden Derwische wie Karl May: „Wir begaben uns zuerst zu den tanzenden Derwischen, deren
etwa fünfzehn mit ihrem Scheich in einer kleinen Moschee versammelt sind. Unter den Klängen einer
jammervollen Flötenmusik und von einem ebenso kläglich näselnden Gesang begleitet, drehen sie sich
eine halbe Stunde lang in immer rapiderem Tempo auf ihren Absätzen herum, wobei sie zugleich eine
vorgeschriebene Kreisbahn verfolgen. Die Arme streckten sie wagerecht aus, eine Hand nach oben, die
andere nach unten geöffnet, die Augen geschlossen, den Kopf geneigt. Auf demselben tragen sie einen
spitzen, grauen Filz. Der untere Saum ihres weißen, faltigen Rocks ist mit Sand beschwert, wodurch das
Balancieren erleichtert wird. Der Gesamteindruck ist hier kein unangenehmer. Die Bewegungen sind
graziös und das Ganze, so verrückt an und für sich, entbehrt nicht einer gewissen Feierlichkeit.
Geradezu widerwärtig sind aber für uns die heulenden Derwische“6) Einmal abgesehen von der
Einschätzung der Musik – arabische Klänge sind eben gewöhnungsbedürftig für europäische Ohren –
vermittelt die Schilderung einen eher positiven Gesamteindruck der tanzenden Derwische.
Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Im
heutigen Ägypten sind Derwisch-Tänze reine Folklore
und weit verbreitet. Auf Hochzeiten, zu Geburtstagen
und anderen Festlichkeiten drehen sich die Tänzer in
bunten Kostümen um ihre eigene Achse. Auch
Touristen sind von ihnen begeistert. Auf keinem
Nilfahrtschiff fehlen sie und erfreuen gemeinsam mit
Bauchtänzerinnen die Reisenden. Bei meinem ersten
längeren Aufenthalt in Kairo im Sommer 2000 hatte
ich zwei Wochen lang Zeit, die Stadt kreuz und quer
auf eigene Faust zu durchstreifen. Hilfreich war bei
der Planung der
Reiseführer „Kairo, Luxor, Assuan“ von Wil & Sigrid Tondok. Auf Abb. 5
der Seite 113 fand ich den Hinweis auf „wirklich sehenswerte
Derwisch-Tänze […] in der El-Guri-Moschee“. Der Eintritt war
kostenlos; deshalb empfahlen die Autoren des Reiseführers, „besser
eine Stunde als eine halbe vor Beginn dort [zu] sein.“ Ich hatte
Derwisch-Aufführungen bereits in einem ehemaligen Klostergebäude
in Galata, dem europäisch geprägten Teil Istanbuls, erlebt und war
neugierig auf den Vergleich. Zunächst erwies sich der Hinweis auf das
rechtzeitige Erscheinen als wichtig, denn eine Stunde vor Beginn der
Vorstellung stand am Eingang bereits eine lange Schlange. Nach dem
Einlass fand ich mich in einem mit Ornamenten verzierten Saal wieder,
der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Zuerst spielten die Musiker
alleine (Abb. 4). Schon nach kurzer Zeit hatten die Trommel- und
Zimbelklänge die Zuschauer in ihren Bann geschlagen. Ähnlich wie
bei einer Big
Band
traten
dann einige Musiker hervor und glänzten mit
Soloeinlagen. Dabei überbot sich ein
weißgekleideter Zimbelspieler (Abb. 5). Mit
seinen virtuosen Stückchen begeisterte er das
Publikum und riss es zu Beifallsstürmen hin.
Danach begann der eigentliche Tanz. Auch hier
gab es Soloauftritte. Der Tänzer trug mehrere
Röcke, die er während seiner Drehung losband
und wirbelnd über seinen Kopf hob (Abb. 6),
wo sie wie ein Kreisel erschienen. Ein anderes
Abb. 6
Kunststück bestand darin, dass er mehrere
Tamburine auf seinem Kopf balancierte (Abb. 7). Und das alles bei permanenter Drehung des Körpers.
Den wohlverdienten Beifall nahmen Musiker und Tänzer am Ende der Vorstellung dankend entgegen.
Abb. 4
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Auch ich hatte mich von der Lebensfreude anstecken
lassen, stellte aber fest, dass zwischen den Aufführungen in
Istanbul und in Kairo Welten lagen. In Galata waren die
Tänzer in schlichtes Weiß gekleidet (Abb. 1); es gab keine
artistischen Einlagen, und am Ende gingen die Zuschauer
still aus dem Saal. Keine Hand regte sich zum Beifall; der
Sema hatte eindeutig einen religiösen Hintergrund. In
Kairo dann ganz anders. Schon die Kostüme waren bunter,
und die Tänzer heizten mit ihren Einlagen die Stimmung
im Saal an. Lebensfreude machte sich breit, und der
Tanura-Tanz, so wird die ägyptische Variante genannt,
hatte keinen religiösen Hintergrund, sondern war eindeutig
folkloristisch geprägt.
Abb. 7
Seit einigen Jahren findet der Tanura-Tanz in der Wakalat
el Guri, einer ehemaligen Karawanserei (Abb. 8), statt. Für
die Vorstellungen stellt das islamische Bauwerk mit seinen
prächtigen Mashrabiyas eine adäquate Kulisse dar.
Abb. 8
Anmerkungen:
1)
Amelia Edwards: Tausend Meilen auf dem Nil. Phoibos Verlag, Wien 2009, S. 38-40.
2)
Gustave Flaubert: Ägypten. Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1922, S. 105.
3)
Ebd., S. 131.
4)
F.W. Körner: Eine Fahrt ins Wunderland. Verlag von Thormann & Goetsch, Berlin 1904, S. 36-37.
5)
Lothar und Bernhard Schmid (Hrsg.): In fernen Zonen – Karl Mays Weltreisen. Karl-May-Verlag,
Bamberg/Radebeul 1999, S. 208-210.
6)
Carl Ninck: Auf Biblischen Pfaden. Verlag der Expedition des „Deutschen Kinderfreundes“. Hamburg 1892,
S.36.
Bildernachweis: Die Urheberrechte sämtlicher Bilder liegen beim Autor H. Schmidt
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