Henning Fülle Interview mit Werner Rosemeyer, Der kleine Nazareno e.V. Für Sonder-INFOLETTER 2_2015, 16. September 2015 Frage: Herr Rosemeyer, Sie und Ihr Bruder kümmern sich in Brasilien um Straßenkinder – wie ist es dazu gekommen und wie ging bei Ihnen der Übergang von der privaten Betroffenheit zum aktiven Engagement vonstatten? Die Arbeit mit Straßenkindern geht auf das Jahr 1986 zurück, als mein Bruder Bernardo im Alter von 25 Jahren, damals als Franziskanerbruder, nach Brasilien ging, um dort den Menschen zu helfen. Es vielen ihm sofort die Kinder und Jugendlichen auf, die auf der Straße lebten. Kinder, die schon mit 7/8 Jahren verwahrlost und klebstoffschnüffelnd auf den Straßen und Plätzen der Großstädte leben. Von der Gesellschaft ausgestoßen und missachtet. Entsetzt vom Elend der Kinder auf der Straße suchte er sich schon bald ein paar Leute, mit denen er versuchte abends und nachts den Kindern dort zu helfen. Den Kindern wurde Essen gebracht, sie wurden mit Medikamenten versorgt und ihnen wurde Trost und Zuneigung entgegen gebracht. 1988 besuchte ich meinen Bruder das erste Mal in Brasilien und war selbst geschockt und fassungslos von der Situation der ärmeren Bevölkerung in Brasilien. Zurück in Deutschland konnte ich nicht einfach mein Leben so weiterleben mit dem Gedanken, dass mein eigener Bruder in Brasilien sein Leben in den Dienst der Ärmsten der Armen stellt und ich würde in Deutschland so tun, als würde mich das nichts angehen. Ich habe dann mein Abitur auf einem von Franziskanern geleitetes Kolleg gemacht und leitete dort die Dritte Welt Gruppe. Irgendwann sprach mich eine Mitschülerin an, sie würde jemanden kennen, der gerne die Arbeit meines Bruders in Brasilien finanziell unterstützen würde. Er hätte nur gerne schriftliche Unterlagen, was mit dem Geld geschehen würde. Daraufhin rief ich Bernardo in Brasilien an und fragte ihn, wofür er denn Geld gebrauchen könne. Er sagte mir, dass es gut wäre, wenn wir ein Haus in Brasilien hätten, wo wir die Straßenkinder tagsüber betreuen könnten. Dieses Telefonat war die Geburtsstunde unseres Einsatzes für Straßenkinder. Ich machte mich daraufhin an die Arbeit und schrieb mir eine Broschüre über Straßenkinder zusammen, die ich anschließend drucken ließ. Die Informationen über Straßenkinder sammelte ich aus Büchern und Brasilieninfos. Das Internet gab es ja noch nicht. Die Broschüre wurde dann in Löningen an der Kirche im August 1992 verteilt und innerhalb von 3 Monaten hatte ich 30.000 DM zusammen mit dem wir in Fortaleza unser erstes Haus kaufen konnten. Da man als Franziskaner-Bruder ein Armuts-Gebot hat lief die ganze Finanzierung zu der Zeit über mich und auch das Haus wurde auf meinen Namen gekauft. 2 Jahre lang haben wir die Straßenkinderhilfe in dieser Art rein „privat“ gemacht. Ende 1993 ist mein Bruder Bernardo dann aus dem Franziskanerorden ausgeschieden und dadurch ist uns der Boden unter den Füßen weggezogen worden, da wir dann die Spendenquittungen auch nicht mehr über den Franziskanerorden ausstellen konnten. Also brauchten wir schnell eine neue rechtssichere Lösung um weiter Spendenquittungen ausstellen zu können. Der Verein „Der Kleine Nazareno e.V.“ ist dann in Deutschland mit mir als Vorsitzenden gegründet worden und der gleichnamige Verein „O Pequeno Nazareno“ ist in Brasilien von meinem Bruder gegründet worden. Somit waren wir für die Zukunft gerüstet und die Arbeit mit Straßenkindern wurde von Jahr zu Jahr professioneller und erfolgreicher. Frage: Was tun sie in Ihrem Verein konkret – hier in Deutschland und in Brasilien? Die Hauptarbeit findet natürlich in Brasilien statt. Wir arbeiten dort auf vielen unterschiedlichen Ebenen: auf der Straße, in unseren Kinderdörfern, in den Familien der Straßenkinder, in den Elendsvierteln und auf politischer Ebene. Derzeit sind wir in den Metropolen Fortaleza, Recife und Manaus vertreten. Unsere Streetworker gehen jeden Tag auf die Straße, sprechen mit den Kindern und Jugendlichen, die noch dort leben und gewinnen ihr Vertrauen. Ist das Vertrauen da, fragen wir irgendwann, ob sich das Kind vorstellen könne von der Straße weg zu gehen und bei uns in unseren Kinderdörfern zu leben. Bejaht das Kind die Frage, holen wir uns vom Jugendamt das Sorgerecht und bringen das Kind in unsere Kinderdörfer. In den Kinderdörfern erhalten die Kinder eine Schulausbildung, Verpflegung und Unterkunft. Erzieher sind 24 Stunden vor Ort und kümmern sich um die teils schwer traumatisierten Kinder. Es gibt dort einen Swimmingpool, Freizeiträume und Sportangebote. Die Kinder leben dann bei uns wie in einer neuen Familie. Viele Kinder sagen zu meinem Bruder Bernardo, der selber im Kinderdorf in Maranguape (Fortaleza) lebt „Pai“- also Papa. Mit 14 Jahren fangen dann alle Kinder eine Berufsausbildung in unserem Berufsausbildungszentrum an. In diesem Berufsausbildungszentrum läuft dann die Arbeit mit den Kindern und deren Familien zusammen. Die Geschwister der Straßenkinder erhalten auch eine Berufsausbildung und die Eltern werden mit Erwachsenenbildungsmaßnahmen geschult. Unser Mittelpunkt ist das Kind, welches auf der Straße gelebt hat, aber das ganze Umfeld des Kindes wird in unsere Maßnahmen mit eingebunden, denn nur so können wir auch gewährleisten, dass die Chancen auf ein menschenwürdiges Leben der Kinder sehr sehr gut sind. Durch sehr gute Kontakte mit der Wirtschaft und unserer sehr guten Ausbildung schaffen wir es, dass wir alle mittlerweile jungen Erwachsenen anschließend eine Arbeitsstelle vermitteln können und dann nimmt der Kontakt zum „Kleinen Nazareno“ von Jahr zu Jahr ab. Ein weiterer Hauptaugenmerk unserer Arbeit ist die allgemeine Situationsverbesserung der Menschen in den Favelas und die Arbeit auf politischer Ebene. So gründete mein Bruder Bernardo 2005 die Nationale Kampagne „Criança Não é de Rua“ - Kinder gehören nicht auf die Straße. Diese Nationale Kampagne hat die Aufgabe alle Hilfsorganisationen für Straßenkinder an einen Tisch zu bringen und gemeinsam auf politischer Ebene für die Kinder und Jugendlichen zu kämpfen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben. Über 600 Hilfsorganisationen für Straßenkinder sind derzeit Mitglied in diesem Verbund. Mit der Kampagne haben wir landesweite Erfolge. Die ganze Arbeit musste aber auch in den letzten 23 Jahren finanziert werden. An der Finanzierung bin ich aus Deutschland maßgeblich beteiligt. Hier halte ich Vorträge, erstelle Werbe- und Informationsmaterialien, pflege die Internet- und Facebookseiten und versuche die Finanzierung durch Spenden und Patenschaften aufrecht zu erhalten. Natürlich alles ehrenamtlich neben meinem Beruf. Wir haben in Brasilien nie Probleme gehabt abgeschlossene Projekte, wie z.B. den Bau einer Schule oder eines Wohnhauses in unseren Dörfern zu finanzieren. Es gibt viele Hilfsorganisationen, die uns die Infrastruktur finanziert haben. Die laufenden Kosten werden dadurch aber nicht abgedeckt und die kamen in den ersten 10-15 Jahren fast ausschließlich durch Spenden aus Deutschland vom Kleinen Nazareno. Frage: Fürchten Sie nicht, dass die „eigentlich“ Verantwortlichen, die „zuständig“ wären, die Situation der Straßenkinder zu verändern, zu verbessern, durch Ihr Engagement entlastet, gar aus ihrer Verantwortung entlassen werden? Dazu müsste man sich doch erst einmal die Frage stellen, wer denn die eigentlich Verantwortlichen wären? Wer hat es denn zu verantworten, dass Kinder und Jugendlichen auf der Straße leben, Drogen nehmen, Gewalt erfahren und verwahrlosen. Sind es die Eltern, die ihre Kinder vielleicht nicht die nötige Fürsorge entgegen bringen, sind es die Drogendealer, die aus reiner Profitgier minderjährige Kinder mit 6, 7 oder 8 Jahren zum Crack-Konsum verleiten? Ist es der Staat, der es nicht schafft mit ausreichend finanziellen Mitteln das Drogen, Gewalt und Elendsproblem in den Griff zu bekommen? Man sieht, die Frage nach den eigentlich Verantwortlichen ist gar nicht so einfach. Wenn man danach fragt, ob es denn nicht möglich wäre, dass der Staat die Kinder in geeignete Heime unterbringen sollte und wir dem Staat sozusagen durch unsere Arbeit entlasten, dann muss man ein ganz klares „Nein“ sagen. Wenn es um „einfache“ Kinder gehen würde, die in armen Verhältnissen aufwuchsen, die vielleicht Weisen sind und Hilfe brauchen, dann ist der Staat in seiner Verantwortung und nimmt diese auch wahr. Diese Kinder nehmen wir definitiv nicht auf. Gerade jetzt im August hat uns eine Richterin mit einer Gefängnisstrafe gedroht, wenn wir ein von ihr vorgeschlagenes Kind nicht aufnehmen würden. Dieses Kind war aber ein „normale“ Kind, was in jedem Kinderheim gut aufgehoben wäre. Wir haben es abgelehnt und hätte es in Kauf genommen dafür ins Gefängnis zu kommen. Vom Gesetzt her wären wir verpflichtet die Kinder aufzunehmen. Die Richterin hat dann aber eingelenkt und wir haben das Kind für einige Tage aufgenommen, bis ein geeigneter Platz gefunden wurde. Unsere Kinder kann keine staatliche Organisation in Obhut nehmen, weil wir es mit den absoluten Härtefällen zu tun haben. Keines unserer Kinder würde es in einem staatlichen Heim aushalten. Unsere Kinder fallen durch jedes bekannte soziale Raster. Frage: Was „gibt“ Ihnen und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern das Engagement für den „Kleinen Nazareno“? Was gibt es einem Vater oder einer Mutter Kinder zu haben? Wir hatten nie geplant, dass der Kleine Nazareno sich so entwickelt, sind aber sehr froh darüber. In meinem ersten Prospekt, als ich Spenden für ein Haus gesammelt habe, habe ich geschrieben, „dies ist KEIN Fass ohne Boden“. Ich dachte mir, nach dieser Aktion vor 23 Jahren sei alles vorbei und dann hätten wir schon ganz gut Hilfe für die Straßenkinder geleistet. Aber ab diesem Zeitpunkt hatten wir Verantwortung übernommen. Verantwortung für unsere Kinder, die ihr Leben in unsere Obhut geben. Verantwortung für die Spender, die an uns glauben und Geld dafür geben, dass wir den Kindern helfen. Wie in einer Familie haben wir plötzlich Kinder gehabt, die auf uns angewiesen waren und sind. Wenn wir nicht wären, wenn wir nicht sind, sterben dort noch mehr Kinder auf der Straße als jetzt schon. Und genau wie in einer Familie wünschen wir uns für jedes uns aufgenommene Kind das es an einem sicheren Ort, in einer sicheren Umgebung mit lieben fürsorglichen Menschen aufwächst und groß wird. Wir erwarten und erhalten auch von unseren Kindern nicht die große Dankbarkeit. So sind Kinder nicht. Das brauchen wir auch nicht. Auch bei den Kindern, wo wir es nicht schaffen, dass sie bei uns bleiben. Wenn jemand abgehauen ist und wieder auf der Straße lebt, Drogen nimmt und nach einigen Jahren oder Monaten getötet wird. Selbst dann war das Kind für eine gewisse Zeit in unseren Kinderdörfern und wir haben es geschafft, dass für eine gewisse Zeit dieses Kind als Kind unter Kindern sorglos und unbeschwert, ja (verdammt nochmal) menschenwürdig und glücklich leben konnte und Zuneigung erfuhr. Ich kann Ihnen nicht sagen, was uns das „gibt“. Ich kann Ihnen aber sagen, dass es irgendwas sein muss, was uns unsere Arbeit bis an unser Lebensende machen lässt.
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