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JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 52
Erinnerungslücken
V
ielleicht bin ich ja medienmäßig auch einfach überversorgt oder ich
habe die falschen Freunde bei Facebook. Aber die Hysterie unserer Zeit
nimmt mich doch ein wenig gegen sie ein (also gegen die Zeit, nicht
gegen die Freunde). Es fällt mir zunehmend schwer, mich in dieser
Welt zurecht zu finden. Es ist mir einfach zu viel Welt. Dauernd
passiert etwas. Das war natürlich schon immer so, aber früher hat man
das Weltgeschehen nicht so intensiv zur Kenntnis nehmen müssen.
Wenn in China der berühmte Sack Reis umfiel, dann fiel er halt. Heute
fällt er in irgendeinem sozialen Netzwerk und man wird Zeuge von etwas, das einen weder
interessiert noch berührt und natürlich kein bisschen betrifft.
Wir alle sind also ununterbrochen von der Zeit überforderte Zeitzeugen und das sind die
schlechtesten Zeugen, die es gibt. Das erzählte mir mal ein Dokumentarfilmer. Er machte
Filme, in denen es um die Machtergreifung Hitlers und um den Beginn des zweiten
Weltkrieges und die Ostfront und die Westfront und um die Niederlage Deutschlands ging.
Seine betagten Zeitzeugen saßen in der Regel vor einem milchig-braunen Hintergrund und
erzählten, was sie so erlebt hatten. Häufig hielten ihre Aussagen jedoch den redaktionellen
Überprüfungen nicht stand und man konnte ihre Interviews nicht verwenden.
Woran das lag, fragte ich. Der Dokumentarfilmer sagte, dass die Menschen sich sehr
häufig so erinnerten, wie es von ihnen erwartet würde und wie es am besten ankomme. Von
Zeitzeugen könne also meistenteils nicht gesprochen werden, eher von Zeitverbiegern. Ich
habe den starken Eindruck, dass die gerade wieder sehr gefragt sind, ein Vierteljahrhundert
nach der Wiedervereinigung. In meiner Erinnerung war das jedenfalls gar nicht so
einträchtig, freudig und harmonisch, wie es vor ein paar Wochen im Fernsehen gezeigt
wurde. Da gab es wieder vielfach die Aufnahmen von euphorisierten Ostberlinern zu sehen,
die in Marmorjeans und mit wehenden Pudelfrisuren über die Berliner Bösebrücke stürmen
und jenseits des Grenzübergangs Rotkäppchensekt trinken. Ihr Empfang durch weitgehend
verstörte Westler wird dabei irgendwie immer ausgeklammert.
Bis zum 9. November 1989 waren alleine in jenem Jahr bereits 50 000 Bürger aus der DDR
abgehauen. Für sie und die vielen, die nach der Maueröffnung in den Westen kamen, wurden
Turnhallen geräumt, Wohncontainer aufgestellt und sogar Hotelschiffe auf dem Rhein
umfunktioniert. Dort saßen die Flüchtlinge aus dem Osten, von denen nicht Wenige
behaupteten, es handele sich bei ihnen lediglich um Wirtschaftsflüchtlinge, die massenhaft
in das westdeutsche Sozialsystem einwandern wollten. Oskar Lafontaine, damals
Ministerpräsident des Saarlandes und rein kilometermäßig am weitesten weg vom
Geschehen, machte den Vorschlag, den Ostdeutschen die ihnen nach dem Grundgesetz
zustehende westdeutsche Staatsbürgerschaft nicht automatisch zu erteilen, um den Zuzug
aus der DDR zu begrenzen. Ob er sich daran noch erinnert?
Ich weiß noch, dass ich 1990 auf dem Weg zur Arbeit immer an einer Not-Siedlung für
Ostdeutsche vorbeifuhr. Auf einem der weißen Container stand in blauer Schrift: „Hier
wohnt das Volk.“ Die Menschen im Westen waren ihrer Landsleute aus der nicht mehr
existierenden DDR ein Jahr nach der Wende ziemlich überdrüssig geworden. Ständig wurde
gemeckert: „Die da drüben bekommen schicke Autobahnen, neue Telefonleitungen, da wird
renoviert, die bekommen es hinten und vorne reingesteckt. Und wer muss das bezahlen? Wir,
wer sonst.“
Wenn es also dieser Tage heißt, die Bewohner der fünf jüngeren Bundesländer seien
besonders hässlich zu Flüchtlingen, dann sollte man sich im Westen mal ehrlich an die Zeit
von vor 25 Jahren erinnern. Und diejenigen, die sich als sächsische Flüchtlinge in Hessen oder
Rheinland-Pfalz eine neue Existenz aufgebaut haben, mögen sich bitte noch einmal vor
Augen halten, wie es war, damals im Auffanglager ohne Geld, Klopapier und Perspektive.
Damals ist am Ende alles gut gegangen. Wenn sich daran bitte mal Alle ein kleines bisschen
genauer erinnern würden, wäre uns allen gedient. Es würde uns im Umgang mit Flüchtlingen
sehr helfen. Das sind übrigens auch Zeitzeugen. •
7. DEZEMBER 2015