sterbehilfegesetz wirft viele fragen auf

STERBEHILFEGESETZ WIRFT
VIELE FRAGEN AUF
Rechtsrat. Anfang November hat der Bundestag entschieden, dass geschäftsmäßige Sterbehilfe künftig verboten ist. Das novellierte Sterbehilfegesetz sorgt
unnötigerweise für eine große Verunsicherung. Die Pflege ist ein mehrfacher
Hinsicht von der Neuregelung betroffen.
Von Prof. Hans Böhme
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Die Schwester Der Pfleger 54. Jahrg. 12|15
Führen + Entscheiden
B
isher sah die Rechtslage so
aus: Im Strafgesetzbuch war
lediglich die aktive Sterbehilfe durch
Tötung auf Verlangen geregelt. Bis
zu fünf Jahre Gefängnis ist für diese
Straftat vorgesehen. Sterbebegleitung und Sterbehilfe im Übrigen –
in Form von Behandlungsabbruch,
unterlassener Rettungsmaßnahmen
und Hilfestellung bei der Selbsttötung – war bislang straffrei.
In der bisherigen Rechtslage sind
darüber hinaus die sogenannten
Selbstbestimmungsvorschriften von
Bedeutung, die im Bürgerlichen Gesetzbuch zum einen im Betreuungsrecht (§§ 1901 a und b BGB, gültig
seit 2009) und zum anderen im Behandlungsvertrag (§§ 630 a bis 630 h
BGB, gültig seit 2010) festgeschrieben sind. Im Betreuungsrecht sind
die Grundzüge der Patientenverfügung bei Erwachsenen und der Ermittlung des wahren Willens des Patienten geregelt; im Behandlungsvertrag sind die Patientenrechte der
Information, Aufklärung, Einwilligung und Dokumentation geregelt,
die geprägt sind vom Selbstbestimmungsrecht des Patienten.
Mit Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes im Jahr 2009
wurde die sogenannte Reichweitenbegrenzung fallengelassen – es
kommt demnach nicht mehr darauf
an, dass ein Arzt im Rahmen des Diagnose- und Therapievorbehalts feststellt, ob eine irreversible Schädigung
mit infauster Prognose beim Patienten
vorliegt. Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass der Arzt das letzte Wort hat, und nicht der Patient.
Was das für unterlassene Rettungsmaßnahmen bedeutet, wurde nicht
geregelt. Die Staatsanwaltschaft beim
Landgericht München hat in einem
Fall, in dem die Mutter vor den Augen ihrer Kinder eine totbringende
Flüssigkeit schluckte, die unterlassenen Rettungsmaßnahmen der Kinder
als nicht strafwürdig angesehen und
das Ermittlungsverfahren eingestellt.
Foto: dpa
Auch Pflege gerät ins Visier
Bei assistierter Selbsttötung war bisher die Rechtslage eindeutig: Wer das
totbringende Mittel reicht, macht
sich nicht strafbar, weil Beihilfe zur
straffreien Selbsttötung nicht strafbar
ist. Das ändert sich jetzt insoweit, dass
bei geschäftsmäßiger Hilfestellung
das Reichen des todbringenden Mittels strafbar ist mit einer Freiheitstrafe
von bis zu drei Jahren.
Damit sind Sterbevereine, die auf
diese Weise ihr Geld verdienen wollen, auf jeden Fall ausgegrenzt. Das
Gesetz betrifft aber auch Sterbevereine, die nicht auf Gewinn angelegt
sind. Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist mit dem
mehrmaligen – also nicht einmaligen
– Beschaffen eines totbringenden
Mittels das Kriterium „geschäftsmä-
ßig“ erfüllt. Die betroffenen Vereine
haben bereits Verfassungsbeschwerde angedroht.
Mit der neuen Regelung geraten
aber auch Ärzte und Pflegende in
das Visier von Ermittlern. Die Befürworter des Gesetzentwurfs haben
zwar immer wieder betont, dass es
allein um die Sterbevereine geht –
wie Ermittlungsverantwortliche und
Gerichte entscheiden werden, ist jedoch offen. Nur wer das Helfen an
der Selbsttötung im Gesundheitsberuf ablehnt, ist auf der sicheren Seite.
Wer den Mut hat, dem Patienten zu
helfen, muss mit erheblichen Problemen rechnen.
Die Befürworter der Neuregelung berufen sich auf den modernen
Stand der medizinischen Wissenschaft und gehen davon aus, dass
dem Patienten durch Hospizarbeit
und Palliativversorgung geholfen
werden kann. Aus Sicht des Autors
muss jedoch beachtet werden, dass
dies nicht in allen Fällen ausreichend
gelingt. Zudem stellt sich die Frage,
ob der Patient Hospiz- und Palliativleistungen annehmen muss oder
ob er selbst entscheiden kann, was er
möchte. Rechtsanwalt Wolfgang
Putz hat kürzlich in einem Interview
mit der „Süddeutschen Zeitung“ zu
Recht hervorgehoben: „Gott hat uns
die Fähigkeit gegeben, selbst zu entscheiden.“ Der Autor geht noch einen Schritt weiter: Wir brauchen
weder Theologen noch Ärzte noch
andere Personen aus den Sozial- und
Gesundheitsberufen, die uns vorschreiben, wie wir zu leben haben.“
Die Neuregelung ist nach Auffassung des Autors und weiterer Rechtsexperten grundgesetzwidrig und verstößt gegen das Grundrecht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit nach
Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes. Rechte anderer werden dadurch
nicht verletzt, ebenso wenig die
verfassungsmäßige Grundordnung.
Auch liegt kein Verstoß gegen das
Sittengesetz vor, nachdem über 70
Prozent der Bevölkerung so denken
wie der Autor. Sittenwidrig handelt
nur, wer gegen das Anstandsgefühl
aller billig und gerecht Denkenden
verstößt. Genau hierfür gibt es aber
keine Mehrheit. Im Gegenteil ist die
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Mehrheit in der Bevölkerung emanzipiert und braucht keine gesetzgeberische Bevormundung.
Was bedeutet das
für die Pflege?
Die Pflege ist in dreifacher Weise
von der Neuregelung betroffen:
n Während der pflegerischen Versorgung stellt der Patient Fragen zum
Thema und wünscht eine Antwort.
n Der todkranke Patient bittet die
Pflegeperson um Hilfe.
n Die Pflegeperson findet einen
Patienten vor, der sich ein todbringendes Mittel verabreicht hat. Sie ist
sich nun unsicher, ob sie den Notarzt
rufen soll oder das Ableben zulassen
darf – insbesondere dann, wenn der
Patient in der Lage ist, mündlich
oder schriftlich darum zu bitten, dass
kein Arzt gerufen wird.
Beratung des Patienten: Die Pflegeperson wird auf die Frage des Patienten antworten müssen, dass weder
aktive Sterbehilfe noch Beihilfe zum
Ableben erlaubt ist – es sei denn,
dass der Arzt, der hinzugezogen
wird, zur Assistenz bereit ist. Die
ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung
ist übrigens in acht von fünfzehn
Bundesländern berufsrechtlich verboten, weil die dortigen Landesärztekammern diese Assistenz in den
Berufsordnungen als unärztlich verbieten. Ob das einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhält,
ist eine andere Frage und bisher
nicht geklärt. Jedenfalls riskiert der
Arzt seine Approbation, wenn er in
Brandenburg, Bremen, Hamburg,
Hessen, Mecklenburg-Vorpommern,
Niedersachsen, Sachsen oder Thüringen einem Patienten beim Suizid
assistiert und dabei erwischt wird.
In Baden-Württemberg, Bayern,
Berlin, Rheinland-Pfalz, Saarland,
Sachsen-Anhalt und SchleswigHolstein dagegen existiert kein explizites Verbot des ärztlich assistierten Suizids. Folglich riskieren Ärzte
dort auch keine berufsrechtlichen
Konsequenzen, wenn sie entsprechend helfen. In Nordrhein-Westfalen gibt es zwei Ärztekammern, die
unterschiedliche Berufsregelungen
haben: die Ärztekammer Nordrhein
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verbietet die Assistenz, die Ärztekammer Westfalen-Lippe nicht.
Dass sich Verwandte helfen, geht
hingegen in Ordnung, wenn sich die
Hilfe etwa auf die Beschaffung des
todbringenden Mittels beschränkt,
das der Patient selbst einnimmt. Wie
gesagt – aktive Sterbehilfe ist und
bleibt verboten. Es geht nur um die
Hilfe zur Selbsttötung.
Aktives Mitwirken: Die Pflegeperson darf zwar Wege zum Suizid aufzeigen, aber nicht selbst aktiv werden. Ohne Arzt geht das zur Zeit in
Deutschland nicht, es sei denn, man
ist Angehöriger. Die Pflegeperson
muss demzufolge ein aktives Mitwirken ablehnen.
Selbstverabreichung eines todbringenden Mittels: Bis 2009 hatte ein
Arzt festzustellen, ob beim Patienten
eine irreversible Schädigung mit infauster Prognose vorliegt. Zwischenzeitlich sind beim Menschen, der
sterben will, keine Rettungsmaßnahmen mehr durchzuführen. Hiergegen
wird in zahlreichen Fällen noch immer verstoßen. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Grundsatzurteil
vom 25. Juni 2010 (Aktenzeichen: 2
StR 454/09) ausdrücklich entschieden, dass wer keine Behandlungsmaßnahmen will, darauf vertrauen
kann, dass auch keine durchgeführt
werden und die Fortsetzung der Behandlung strafbar ist. Das wurde
aber nur zum nicht durchgeführten
Behandlungsabbruch entschieden.
Wie ist das aber mit der Hilfeleistungspflicht, die in Paragraf 323 c
Strafgesetzbuch (unterlassene Hilfeleistung) strafbewehrt ist? Selbstmord gilt als Unglücksfall, bei dem
Hilfeleistungspflicht besteht. Hier
geht es aber um den sogenannten
Bilanzselbstmord – das heißt, der
Mensch, der sich das Leben nehmen
will, hat sich in einem zum Teil mehrjährigen Dialog, was dafür spricht
und was dagegen gilt, mit anderen
Personen seine Entscheidung vorbereitet und wohlüberlegt, dass er nicht
weiter leben will. Er lässt sich auch
nicht mehr vom Gegenteil überzeugen und steht sogar vor der Überlegung, gegen den erfolgreichen Helfer
Strafantrag wegen vorsätzlicher Kör-
perverletzung zu stellen. Hier besteht
keine Hilfeleistungspflicht – im Gegenteil besteht hier die Pflicht, dem
Willen des Menschen zu entsprechen. Allerdings sind dabei zwei Vorkehrungen unumgänglich:
n Wenn zwei alleine sind, wird es
schwierig zu beurteilen, ob der Mitarbeiter nur die Rettungsmaßnahme
unterlassen oder die Tötung selbst
durchgeführt hat. Hier ist eine ausführliche Dokumentation und das
Hinzuziehen von Zeugen unumgänglich, damit der Zurückgebliebene nicht in Erklärungsnöte und in
falschen Verdacht gerät.
n In allen von der Gerichtsbarkeit
und den Ermittlern entschiedenen
Fällen war als ein Beteiligter ein
Arzt dabei. Da auch immer unsicher
ist, inwieweit beim Patienten eine
Entscheidungsfähigkeit noch vorliegt und wie man im Einzelfall verfahren sollte, ist es dringend anzuraten, einen Arzt mit hinzuzuziehen,
der letztlich entscheidet, ob eine
Hilfeleistung erfolgt oder nicht. Eigenmächtiges Handeln sollte tunlichst vermieden werden. In der Regel kennen die Mitarbeiter in der
Pflege die Einstellung des jeweiligen
Arztes und können durch das Rufen
des „richtigen“ Arztes Gutes tun.
Gelegenheit vertan
Viele Experten haben dringend davor gewarnt, überhaupt eine Regelung zu treffen. So hatte Rechtsanwalt Wolfgang Putz im oben erwähnten Interview dafür plädiert, alle vier Gesetzesentwürfe abzulehnen
und es bei der bisherigen Rechtslage
zu belassen. Diese Gelegenheit haben die Bundestagsabgeordneten
vertan. Jetzt wird die Rechtsprechung gefragt sein und mal wieder
Korrekturen an der Gesetzgebung
vornehmen. Aus der scheinbar sicheren Rechtslage wird eine große Verunsicherung – schade.
Prof. Hans Böhme, Jurist und Soziologe,
Honorarprofessor an der Ernst Abbé
Hochschule Jena, Georg-Streiter-Institut
für Pflegewissenschaft, sowie
Wissenschaftlicher Berater vom
Institut für Gesundheitsrecht und -politik
Schumacherstraße 27,
26419 Schortens-Upjever
[email protected]
Die Schwester Der Pfleger 54. Jahrg. 12|15