Homo collector, homo lector, homo corrector / Für eine kurze

Homo collector, homo lector, homo corrector /
Für eine kurze Geschichte des Lektorats
Anreden
m. D. u. H.,
ohne Zweifel haben Sie es bemerkt: ich reihe mich mit der Wahl des Untertitels für
diese Rede anläßlich des heutigen feierlichen Ereignisses in die Schar derer ein, die
ihre Eifersucht auf Stephen W. Hawking nicht verbergen können. Bekanntlich hatte
dieser mit seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit“( A Brief History of Time)
von 1988 einen Weltbestseller lanciert, den alle sofort lesen wollten, weil der Titel
versprach die lang erwartete Kurzfassung der Theorie von allem zu liefern – so daß
man sich, wenn man ein aufmerksamer Leser war, nie wieder dafür würde schämen
müßen, daß man nicht weiß, wie alles kam. Hawking war ein phänomenaler Coup
gelungen, selbst wenn seither kaum jemand besser wußte, wie es zu allem kommen
konnte und zu uns inmitten des Ganzen. In publizistischer Hinsicht ging der Schock
tief. Seither wollen viele Autoren auch einmal mit einer durchschlagenden kurzen
Geschichte Aufsehen erregen – so auch ich heute, obschon nicht in eigener Sache,
sondern um dem Anlaß gerecht zu werden, indem es gilt, einige angemessene Worte
zu Ehren des Graduandus zu sagen.
Da es sich um eine akademische Ehrung handelt, die ich durch und durch bejahe,
möchte ich, bevor ich der Frage nach der kurzen Geschichte nachgehe, einige
Gratulationen aussprechen: an erster Stelle eine, die sich an die Fakultät dieser
Universität richtet, für ihre weise Entscheidung, einen der belesensten und
kenntnisreichsten Menschen deutscher Sprache mit dem Grad eines Doktors h.c. der
Philosophie auszustatten;
sodann an den Empfänger der Ehrenpromotion selbst – R. F., meinen Lektor bei
Suhrkamp seit so vielen Jahren, daß man fast Hawking bräuchte, um eine kurze
Geschichte dieser Autor-Lektor-Beziehung aufzustellen –
und schließlich an mich selbst, da ich die Ehre zu schätzen weiß, hier zugunsten des
Ehrendoktoranden einige Bemerkungen vorbringen zu dürfen. Mir ist dabei zumute,
als ob eine okkulte Regie darauf gerechnet hätte, daß es eine alte Schwäche von mir
ist, in Momenten festlicher Nachdenklichkeit das Wort zu ergreifen und die
zeremoniellen Augenblicke, seien sie akademisch oder nichtakademisch, mit einigen
zarten Übertreibungen zu verschönern. R. F. hat übrigens vor vielen Jahren – ich
glaube, es war in München – anläßlich einer literarischen Preisverleihung seinerseits
eine Lobrede zu meinem Vorteil gehalten, in der er mich als einen Hyperboliker
schilderte, einen Verfasser von Übertreibungen, der gleichsam das philosophische
Gegenstück zu dem gewaltigen Polterer Thomas Bernhard darstelle – indessen er mir,
soweit ich mich erinnere, nur dessen cholerisches Temperament absprach. Im Grunde
bleibt mir heute nichts anderes übrig, als meinem Lektor coram publico recht zu
geben, und ich tue dies widerwillig – da eine Gelegenheit wie diese nicht leicht
wiederkehrt, mich öffentlich dafür zu rächen, daß er auch sonst immer recht hat. Doch
die Würde der Situation verbietet die private Abrechnung, und so betrete ich, weil
Fellinger wieder einmal recht hatte, meine Übertreibungswerkstatt und nehme eine
schöne, fast fertige Übertreibung von der Staffelei, die sich möglicherweise nach
einigen Retouchen als Festgabe für den heutigen Anlaß eignet.
Ich liefere also eine kurze Geschichte des Lektorats – mit Schwerpunkt auf der
Frühgeschichte, wie sich versteht. Dabei schöpfe ich, außer bei Hawking, wichtige
Anregungen beim Museum of Natural History in Cape Cod, Massachusetts – Sie
wissen, m. D. u. H., das ist der Ort, an dem die ersten Schiffe der frommen englischen
Pilgerväter an Land gingen, aus denen später aufgrund undurchschauter Gesetze des
Gestaltwandels die Amerikaner wurden. An dieser denkwürdigen Stätte errichtete man
mit klarem Sinn für Symbolik ein Museum, in dem jedem Besucher die wahre
Finalität der Evolution klargemacht wird. Man sieht dort die kurze Geschichte von
allem für Amerikaner und Jugendliche in bildlicher Anschaulichkeit ablaufen. Wer
das Gebäude verläßt, weiß ein für alle Mal, wie zielstrebig die Evolution ablief – in
einer pfeilgeraden Linie vom Urknall über die Farne und die Mammiferen bis zur
Unabhängigkeitserklärung.
Etwas Ähnliches bräuchten wir hier jetzt auch in unserer Sache. Freilich damit wird
der Vorgang aus psychologischen Gründen etwas kompliziert. R. F. ist ein diskreter
und bescheidener Mensch, der niemals eine Universalgeschichte würde lesen oder
hören wollen, die auf ihn selber zuläuft, obschon er von Berufs wegen mit Menschen
zu tun hat, die solche Hemmungen nicht kennen. Darum ist es heute doppelt traurig,
daß Siegfried Unseld nicht mehr unter uns ist, zum einen, weil er sich von Herzen über
die Auszeichnung seines unersetzlichen Lektors und langjährigen Schachgegners
gefreut hätte, zum anderen, weil er in Sachen „kurze Geschichte“ zu viel
unkomplizierteren Empfindungen neigte. Er hätte sich ohne weiteres eine Darstellung
der Evolution vom Urknall bis Unseld vorstellen können – schon die Alliteration hätte
ihm eine tiefe Genugtuung bereitet, ja, er hätte sie als eine Art Vorzeichen, um nicht
zu sagen eine Verpflichtung empfunden, so wie er auch seinen Vornamen schon früh
als einen Wink aus den kabalistischen Tiefen der Sprache aufgefaßt hatte. Überdies
wußte er aus der Zeit, als er selber noch Lektor war, den Charme der dunklen Vokale
und der Anfangsreime in Buchtiteln zu schätzen.
Kurzum, verehrte Festgemeinde, die Frage, ohne Umschweife gestellt, konkret und
hyperbolisch zugleich, lautet, wie kommt der Lektor in die Welt? Die Antwort auf
diese Frage, deren Aktualität niemand leugnet, kann nur in zwei Teilen gegeben
werden, einem prinzipiellen und einem historischen. Im prinzipiellen Teil ist
festzustellen, daß die Entstehung von Lektoren evolutionär gesehen zum
Unwahrscheinlichsten gehört, was die Geschichte des Universums zu bieten hat, egal
ob man sie in der langen oder kurzen Fassung erzählt – sie übertrifft an
Unwahrscheinlichkeit sogar die Entstehungsgeschichte des Giraffenhalses und des
Pfauenaugenflügels, obgleich auch schon diese Gebilde hart an der Grenze zum
Unmöglichen angesiedelt sind. Dennoch haben wir unter Zugrundelegung des
anthropischen Prinzips guten Grund, zu behaupten, daß „unwahrscheinlich“ nicht
„unmöglich“ bedeutet, und da der reale Lektor nun einmal da ist, und zwar als Eidos
und als Individuum im Saal, muß es im Gang der Dinge etwas gegeben haben, was auf
den verwirklichten Lektor hinauslief. Die bizarre Dynamik der Abarbeitung der
Unwahrscheinlichkeit bis zum Verwirklichungspunkt kann mit dem britischen
Biologen Richard Dawkins als Klettern auf dem Berg des Unwahrscheinlichen
umschrieben werden – wie er es im Titel eines seiner unnachnahmlich populären
Bücher ausgedrückt hat: Evolution ist nach Dawkins eine alpine Disziplin, und ihr
wahrer Name ist: Climbing Mount Improbable. Den Berg der Unwahrscheinlichkeit
besteigen. Daraus folgt nun: Weil es den Lektor wirklich gibt, muß es in den
Nordwänden des Seins irgendwo einen wie auch immer fast unmöglichen und
wahrscheinlich lebengefährdenden Aufstiegskamin gegeben haben, durch den einige
frühe Pioniere der späteren Lesefähigkeit den Weg zum Gipfel gefunden haben.
Damit können wir von der Ebene des Prinzipiellen zu jener der historischen
Entwicklungslinien übergehen. Da wir früh anfangen wollten, müssen wir zunächst
nach der Naturgeschichte des sammelnden Verhaltens fragen, denn was man eines
Tages das Lesen nennen wird, ist in historischer und anthropologischer Sicht ein
Sproß am Stamm der zusammentragenden Tätigkeiten, die weit in die animalische
Sphäre zurückreichen. Ich verzichte hier darauf, die Ansätze hierzu im Tierreich
aufzuspüren, so reizvoll es auch wäre, den späteren humanen Lektor bei den Elstern
und anderen Lebewesen mit sammelnden Talenten vorgebildet zu sehen.
Wir halten uns also an die menschlichen Anfänge des sammelnden Verhaltens. Diese
Ausrichtung des Blicks in frühe Stadien der Kultur katapultiert uns umgehend in einen
ganz entschieden vorsokratischen Raum. Bekanntlich war Martin Heidegger, der NeuVorsokratiker aus dem südlichen Schwarzwald, soweit gegangen zu behaupten, das
philosophische Urwort Logos könne unmöglich verstanden werden, wenn man es
nicht in die Verbform legein zurückübersetzt, so daß aus dem steifen Allgemeinbegriff
ein bewegliches Tätigkeitswort wird, aus der aufragenden Abstraktion ein Gewimmel
von Mikroereignissen. Wenn Logos eigentlich legein ist, die Summe der lesenden,
auflesenden, zusammenlesenden Gesten, dann meint es letztlich nichts anderes als das
Zusammentragen all der Dinge, die die Welt bedeuten in der Rede. Französische
Heideggerianer haben geradewegs vom Sein-zum-Text gesprochen. Legein heißt im
klassischen Griechisch zwar soviel wie erzählen aufzählen reden sprechen
aufschreiben – aber Heidegger wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er nicht unter
der klassischen oder olympischen Schicht eine ältere, gleichsam elementare oder
titanische freigelegt hätte, eine semantische Schicht, in der das Erzählen, Reden und
Aufschreiben noch etwas Grundsätzlicheres bedeutete: Das alte legein wäre nämlich
das Ernten, das Zusammenlesen, das Zusammenbringen, das Heimholen des
Lebenswichtigen und Wissenswichtigen in eine existentielle Zentrale, mochte man
diese als Speicher oder als Tempel oder als Schatz begreifen, warum nicht zuletzt auch
als Buch. Kornhäuser, Tempel, Schätze, Erinnerungen, Papyri, Codices, Folianten,
Enzyklopädien – das alles wären Belege dafür, daß die höhere Kultur aus dem Instinkt
der Anhäufung oder der Kollekte hervorgeht. In dem Titel „Sein und Zeit“ ist schon
die Formel Sein und Sammlung versteckt. Denn wo solche Verdichtungen sich bilden,
dort beginnt die menschliche, die existentielle Zeit zu laufen. Der Mensch wird erst
angesichts der Sammlung zu dem Wesen, das vom Vorrat lebt – nicht von der Hand in
den Mund, sondern von der Kollekte: rückwärts in die Geschichte und vorwärts ins
Projekt.
Die deutsche Sprache kommt solchen Erwägungen weit entgegen, da sie die Lese und
das Lesen aus derselben Silbenquelle fließen läßt. Kurzum, wer den Lektor von weit
her kommen sehen will, muß sich mit der Natur- und Frühgeschichte der Kollekte
befassen und im sprechenden Menschen selbst, dem zoon logon echon, schon das
Geschöpf bemerken, das dank des Logos an einem ontologischen Sammeltrieb teilhat.
Da sehen wir ihn also erstmals noch sehr konfus und funktional ungeschieden um die
evolutionäre Kurve kommen – den späteren Lektor, allerdings noch in einer sehr
vagen und vorläufigen Ausprägung. Wo viel zusammengetragen wird, in der Zeit der
ersten Vorratsbildungen, der ersten Mittelpunktaufstellungen, der ersten Urbi-et-orbiRegungen, da gibt es viel zu hüten, zu sichten, zu prüfen, zu evaluieren, zu
emendieren, zu restaurieren. Das erste Leseamt, vorerst noch ganz prä-literarisch, ist in
der Schatzwächterfunktion embryonal enthalten – weswegen es eine
Familienähnlichkeit zwischen Lektoren, Drachen und Schweizergardisten gibt, die
man im Licht der evolutionären Analyse mit einem Mal viel besser versteht. Im
übrigen ist in dem Feld der ersten Kollekten auch schon die Autorfunktion keimhaft
angelegt, und was später als ausdifferenzierter Autor deprimiert über die Frankfurter
Messe läuft, war im archaischen Stadium noch ein großsprecherischer Schatzbildner,
ein stolzer Plünderer, ein ruhmlüsterner Herr der Sammlung – ein Mann, den die
archaische Gewißheit erfüllte, daß Schatzaufhäufung und Urheberschaft ein und
dasselbe seien.
Im übrigen hatte Heidegger bei seiner hyperbolischen Herleitung der Lese aus der
landwirtschaftlichen Erntefunktion einen antiken Vorgänger, dem erstmals die
Analogie zwischen Schrift und Ackerbau aufgefallen war – ich meine Cicero. Wir
verdanken dem großen Orator ja nicht nur die Musterstücke gutgebauter Reden, mit
denen man noch nach 1945 die gymnasiale Jugend in der Kunst, gegen Catilina zu
polemisieren, unterrichtete. Auch ist er nicht nur für die Einführung der griechischen
Lebensform Philosophie ins postrepublikanische Rom verantwortlich – denn
Philosophie beginnt bekanntlich dort, wo die polis und die res publica aufhören, er war
auch der Mann, dem wir das schicksalhafte Grundwort des europäischen
Bildungsvokabulars verdanken, nämlich den Ausdruck „Kultur“ in seiner
allgemeinsten wie seiner konkretesten Bedeutung. Obendrein war Cicero der erste, der
über die Verben des Lesens nachgedacht hatte, wobei ihm wie nebenbei eine kleine
Phänomenologie des kultivierten Daseins gelang.
Das lateinische Wort cultura bedeutete vor Cicero unmißverständlich den Ackerbau.
Ebendiese für Römer irreversibel festgeschriebene Prägung des Begriffs erkannte
Cicero als seine Chance. Da nämlich die Römer es sich auch in der Zeit ihrer höchsten
Urbanität nicht nehmen lassen wollten, sich als Leute mit Bezug zum altväterlichen
Landbau zu verstehen, konnte man ihnen die neue Lesekultur, die Philosophie und die
literarische humanitas, mit keinem besseren Argument nahebringen als mit der
Behauptung, der lesende Mensch betreibe eben so etwas wie cultura animi, sprich
Ackerbau und Bodenbestellung der Seele. Von da aus war es nicht mehr weit zur
Analogie zwischen der Furche und der Zeile und zwischen dem Acker und der Seite.
Man kann geradewegs behaupten, daß das, was wir heute Europa nennen, dieser
Kontinent des Individualismus und der Sorge um sich selbst, eine Nebenwirkung
dieser fabelhaften ciceronischen Übertreibung darstellt. Mit ihr gab der römische
Intellektuelle dem Imperativ des Lesens das wirkungsvollste Werkzeug in die Hand.
Denn wie der wohlhabende Römer gewohnheitsmäßig im Sommer auf die Landgüter
fuhr, um dort noch einmal den Bauern zu spielen, der aus purer Agrarromantik selber
noch da und dort selber Hand nd Hand anlegte, so konnte der gebildete lesende
Mensch künftig die Villegiatura der Seele aufsuchen – sogar mitten in der Stadt,
unabhängig von der Jahreszeit. Auf einmal konnte man mit dem Pflug der Lektüre
den Innenweltboden bestellen und auf dem Acker der Seele Früchte ernten,
Lesefrüchte, Askesefrüchte, vielleicht auch Worthülsenfrüchte, die keinem Rustikalen
je in die Hände gefallen waren.
M. D. u. H, die nebulöse Figur des homo lector nimmt an der Schwelle zu der Zeit,
die wir im Rückblick die der silbernen Latinität nennen, etwas deutlichere Konturen
an, auch wenn er dem heutigen Lektor noch sehr wenig gleicht. Nebenbei erinnere ich
nochmals daran, daß es Cicero war, der den Verben des Lesens einen folgenreichen
Moment des Nachdenkens widmete, als er in einer Erörterung über den Ursprung des
Worts religio in seinem Traktat de natura deorum die These aufstellte, es gehöre in die
Familie der verba legendi – die von Ferne mit den verba dicendi verwandt sind. Die
sogenannte Religion wäre demnach ein Modus von legere. Denn so wie man die
Menschen, die sich aufs eligere verstehen, das Auslesen und Bevorzugen, die
Eleganten nennt, so wie man die Menschen, die dem diligere zugeneigt sind, dem
sorgfältigen Unterscheiden der Nuancen, die Diligenten, die Sorgfältigen, die wissend
Liebenden, die Dilettierenden nennt, so wie man die Menschen, die das intelligere
praktizieren, die Intelligenten, die zwischen den Zeilen zu lesen Fähigen, nennt, so
nenne man eben auch die Menschen, die sich das religere, das Aufmerken und das
behutsame Vergleichen von Vorschrift und Ausführung, zu eigen machen, die
Religiösen. So entsteht bei Cicero auf weniger als einer halben Seite eine veritable
Zivilisationstheorie in nuce – ein Traktat von der Geburt der zivilisierten Seele aus den
Konjugationen der lesenden Psyche.
Doch wie immer anregend diese Reminiszenzen sein mögen, wir sind damit noch
immer nicht bei unserem zeitgenössischen Lektor angekommen. Zu ihm gelangen wir
tatsächlich erst in der letzten Minute der kurzen Geschichte, denn nach allem, was wir
von ihm wissen, ist er erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts so in Erscheinung getreten,
daß wir von ihm sagen könnten, wir erkennen ihn wieder, ohne auf anthropologische
und philosophische Umwege ausweichen zu müssen. Max Weber, dem wir die beiden
großen Essays „Politik als Beruf“, 1919, und „Wissenschaft als Beruf“, 1917,
verdanken, ist uns den dritten Teil seiner Reflexionen über schicksalhafte
Professionalisierungen mit Last- und Pflichtcharakter schuldig geblieben. Dieser hätte
vom „Lesen als Beruf“ handeln müssen. Tatsächlich hätte Weber die einschlägigen
Phänomene in seiner Lebenszeit deutlich wahrnehmen können, denn Lektoren im
modernen Sinn des Wortes gibt es erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert,
als die Verleger auf breiter Front begannen, ihre Beziehungen zu den Autoren über
Dritte laufen zu lassen – wie denn auch anders in einer Lage, als bei den
Literaturverlagen um 1930 schon bis zu 1000 unangeforderte Romanmanuskripte
eingereicht wurden. Ute Schneider, der wir die umfangreichste Aufarbeitung der
deutschen Lektorengeschichte seit 1900 verdanken, nannte ihre Studie
beziehungsreich „Der unsichtbare Zweite“ – und dies nicht ganz zu Unrecht. Denn
wenn sie auch alle Materialien bereitstellt, um die neuerdings voll entfaltete triadische
Struktur des editorischen Feldes aus Verleger, Lektor und Autor zu begreifen, so weist
sie doch völlig triftig darauf hin, daß den Autoren selbst in der Figur des Lektor mit
der Zeit ein Alter ego heranwuchs, ohne das man sich das Spiel der neueren Literatur
seit geraumer Zeit nicht mehr vorstellen kann. Wenn man weiß, wie viele Lektoren in
der Frühzeit des professionalisierten Lektorats in Deutschland selbst namhafte
Autoren waren oder wurden – ich nenne nur Oskar Loerke, Franz Werfel, Christian
Morgenstern, Hermann Kasack –, so erkennt man das kreative Potential der
Lektoratsfunktion, das da und dort weit über die Rolle des unsichtbaren Zweiten
hinauswies.
M. D. u. H., ich komme zum Schluß. Natürlich hatte ich Ihnen zuviel versprochen, als
ich eine kurze Geschichte des Lektorats ankündigte. In einem Punkt jedoch werde ich
Wort halten, was die Kürze betrifft. Kurz ist ja auch die Geschichte des Lektors im
buchstäblichen Sinn. Der Lektor in der aktuellen Bedeutung des Worts ist, wie eben
angedeutet, ein relativ junges, ein emergentes Phänomen, das die Ausdifferenzierung
des literarischen und verlegerischen Feldes im 20. Jahrhundert unter Beweis stellt.
Seine Herleitung aus dem Alten und Allerältesten war, wie von Anfang an erklärt, eine
hyperbolische Übung, die dem festlichen Anlaß dieses Tages geschuldet ist.
Die beste Definition des aktuellen Berufsbilds finde ich in einem Passus der
Erinnerungen, die der Ullstein-Lektor Max Krell 1961 unter dem Titel „Das alles gab
es einmal“ herausbrachte: „Der Lektor muß in sich die Eigenschaften eines
Spezialarztes, eines Beichtvaters, eines Detektivs vereinigen. Er muß Mut zusprechen,
unter Umständen den Hoffnungsstrahl einer finanziellen Hilfe aufleuchten lassen. Wer
schon in engerem Kontakt zum Verlag steht, soll zu neuen Taten angestiftet werden;
wer noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erfahren hat, soll aufgespürt werden, man
muß ihn zum Verrat seiner Geheimnisse reizen.“
Lieber R., ich vermute, Du kannst mit den Charakterisierungen des älteren Kollegen
sehr viel anfangen – und die technischen Hinweise auf Geheimnisverrat und
Hoffnungsstrahlerzeugung dürften für dich tägliche Evidenzen sein. Wer wie Du mit
so vielen heiligen Monstren der Literatur so enge Berührungen erlebte – mit Wolfgang
Koeppen, mit Uwe Johnson, mit Thomas Bernhard, mit Peter Handke, mit Siegfried
Unseld – um nur sie zu nennen, wie sollte der nicht auch Detektiv und Beichtvater
sein? Krells drittes Berufsmerkmal, den Spezialarzt, können wir getrost durch den
Ausdruck Psychiater ersetzen. Glücklicherweise unterliegst Du nicht der ärztlichen
Schweigepflicht. Bei einigen der Genannten hast du in den letzten Jahren die
Krankenakten geöffnet, und große Literatur erschien vor den Augen einer staunenden
Öffentlichkeit. Nur eine Nuance wäre an dem von Krell gezeichneten Bild zu
ergänzen. Der große Lektor verfügt über eine Fähigkeit, die nur erwirbt, wer viele
Jahre über die Gipfel des Mount Improbable geklettert ist – ich meine die seltene, allzu
seltene Kunst, den Autoren zugleich ein selbstloser Komplice und ein intimer Gegner
zu sein. In dieser Kunst, laß es mich sagen, bist du der unerreichte Meister.
M. D. u. H., seit mindestens 25 Jahren beenden R. F. und ich unsere Telefongespräche
mit dem Satz: Arbeiten wir weiter! gleichgültig, wovon davor die Rede war. Ich
nehme an, das wird nach dieser Greifswalder Zeremonie nicht anders sein. Nur werden
wir vielleicht dann und wann etwas deutlicher spüren, daß „weiterarbeiten“ nichts
anderes ist als ein Codewort für immer neue Aufstiege auf die Gipfel des
Unwahrscheinlichen.