Beispiel Presseschau Delinquenz und

Presseschau
Delinquenz und Kriminalprävention
Woche 48 / 20. – 26. November 2015
Thematische Schwerpunkte
Gewalt im sozialen Nahraum, Jugendkriminalität und Jugendgewalt, Resozialisierung von
Straffälligen
Wenn es eskaliert
«Viele Paarbeziehungen werden trotz oftmals eskalierender Gewaltproblematik weitergeführt» ......1
Ehefrau wollte keine Strafe für Mann
80 Prozent wollen Sistierung - Widerruf sechs Monate möglich .........................................................5
«Sie können nicht anders Dampf ablassen, als zuzuschlagen»
Marlène Hübscher Ryser leitet Kurse für gewalttätige Männer ...........................................................8
Wie sich ein Ex-Soldat in Winterthur radikalisierte
«Er wirkte wie eine verlorene Seele.» ...............................................................................................11
Wie berechtigt ist die Angst?
Ein Winterthurer Prediger soll im Dienste des IS stehen ..................................................................14
Tages-Anzeiger - Seite 17
20. November 2015
Wenn es eskaliert
«Viele Paarbeziehungen werden trotz oftmals eskalierender Gewaltproblematik weitergeführt»
Bisher empfahl man Paaren bei häuslicher Gewalt getrennte Therapien. Das ändert sich
jetzt: Im Kanton Zürich finden erste Beratungen für Paare statt, die zusammenbleiben wollen. Trotz allem.
Peter und Yue Müller wollen versuchen, in eine gemeinsame Zukunft zu gehen; Schritt für Schritt. Foto: Sabina Bobst
Simone Rau. Fünf Tage vor dem Geburtstermin des gemeinsamen Kindes kommt es zum Streit.
Mal wieder. Beleidigungen hier, es wird laut, Anschuldigungen da, es wird lauter, Vorwürfe überall,
wie so oft in letzter Zeit. Und dann schlägt Peter Müller* zum ersten Mal zu. Seine Hand trifft mit
voller Wucht das Bein seiner schwangeren Frau. Für Yue Müller*, die neben ihrem Mann im Auto
sitzt, kommt der Schlag unerwartet. Reflexartig schlägt sie zurück, sie trifft ihren Mann im Gesicht.
Und er schlägt nochmals zu, mitten ins Gesicht seiner Frau. Jetzt blutet Yue Müller, jetzt blutet sie
stark, überall ist Blut. Polizei für ihn. Spital für sie. Untersuchungshaft. Frauenhaus. Wegweisung
aus der Wohnung. Kontaktverbot. Ein Jahr später sitzen die beiden am Esstisch ihrer Wohnung irgendwo im Kanton Zürich. Auf dem Schoss von Yue Müller Sohn Flavio, bald wird er ein Jahr alt,
ein fröhlicher, aufgeweckter Junge. «Seinetwegen sind wir noch zusammen », sagt seine Mutter.
«Wir sind doch jetzt Eltern.» Ihr Mann ergänzt: «Flavio ist unsere grösste Freude.»
Aus Liebe zum Sohn
Es ist nicht nur die Liebe zu ihrem Sohn, die das Ehepaar Müller zusammenhält. Aber doch, sagen
beide, es sei ein wichtiger Grund. Sie wollen versuchen, gemeinsam weiterzugehen, sie wollen an
sich arbeiten, eine Familie sein. Deshalb haben sie sich für eine Paarberatung entschieden. Dieser
Ansatz ist im Bereich der häuslichen Gewalt neu. Üblich und seit Jahren erprobt ist, dass man die
Paare trennt und gesondert betreut − als Täter oder Täterin, als Opfer. Es gibt zahlreiche Beratungsstellen für Frauen, die von ihren Ehemännern, Ex-Partnern und Liebhabern körperliche oder
psychische Gewalt erleben. Das Angebot umfasst die psychologische, juristische und soziale Beratung. Zudem erhalten die Frauen Informationen zu allfälligen Leistungen der Opferhilfe sowie –
falls Kinder da sind − Unterstützung bei Sorgerechtsstreitigkeiten. Auch für die Männer, die nicht
immer, aber oft die Täter sind, gibt es Hilfe – in Form von Beratungen, Therapien und Programmen
aller Art.
Presseschau Delinquenz und Kriminalprävention
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Nicht für alle geeignet
Aber eine Beratung für beide Partner zusammen? Im selben Raum? Das ist heute noch sehr selten, wie Marc Mildner sagt, der diesen Frühling die Fachberatung Häusliche Gewalt gegründet hat,
ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen spezialisiert auf Interventionen und Beratungen für
gewaltbetroffene Paare.
Ähnliche Angebote gibt es in der Schweiz erst ganz wenige, etwa in St. Gallen und Lausanne, solche, die sich ausschliesslich mit häuslicher Gewalt beschäftigen, bisher keine. Das hat laut Mildner
in erster Linie mit der Entwicklung des Opferschutzes zu tun. «Die zentrale Frage bei häuslicher
Gewalt lautete bisher stets: Wie bringen wir die Frau von diesem gewalttätigen Mann weg?»
Für gewisse Fälle, sagt Mildner, sei diese Haltung auch nach wie vor sinnvoll. Nämlich dann, wenn
die Paarbeziehung von Macht geprägt und damit «asymmetrisch», also nicht gleichberechtigt sei.
Wenn etwa ein Mann seine Frau regelmässig und ohne Grund verprügle. «In diesen Fällen passiert die Gewalt nicht aus einer Situation heraus, beispielsweise weil ein Streit eskaliert, sondern
weil er ihr zeigen will, wer der Chef im Haus ist», sagt Mildner. In diesen Fällen müsse man die
Frau schützen – oder natürlich den Mann, falls die Frau die Täterin sei. Eine gemeinsame Paarberatung sei dann nicht nur sinnlos, sondern schlicht zu gefährlich. Ebenso unmöglich seien Paarberatungen bei sexueller Gewalt oder wenn gravierende Suchtprobleme oder psychische Probleme
im Vordergrund stünden.
Paarberatung kann sich laut Mildner jedoch für all diejenigen Paare eignen, bei denen Gewalt situativ – also im Rahmen eines eskalierenden Streits – stattfindet. Die Gewalt kann einseitig oder
beidseitig angewendet werden, sie kann körperlich, psychisch sein oder beides. Daneben muss
der Wunsch beider Partner vorhanden sein, an sich selber und − vor allem − der Beziehung arbeiten zu wollen. «Vereinfacht könnte man sagen: Bei der asymmetrischen Gewalt ist der Täter das
Problem, bei der situativen Gewalt die Beziehung», sagt Mildner. Beide involvierten Personen würden ihren Teil zum Eskalieren des Konflikts beitragen.
Damit sei nicht gemeint, dass der eine Partner zuschlagen dürfe, nur weil der andere ihn provoziere. Wer Gewalt ausübe, müsse dafür in jedem Fall die Verantwortung übernehmen – eine der
zwingenden Voraussetzungen für eine Paarberatung. Gemeint sei, dass die Beziehung und die
damit verbundenen Konflikte «stets eine eigene Dynamik» hätten, die sich «nur aufgrund der involvierten Partner so und nicht anders» entwickle.
Im Fall von Yue und Peter Müller etwa ist eines der Probleme, dass er seiner Frau helfen will, sich
in der Schweiz zurechtzufinden. Die Chinesin ist seit gut drei Jahren hier, spricht bereits recht gut
Deutsch – aber für viele Besorgungen reicht es trotzdem nicht. Findet ihr Mann. Oder sie habe
«einfach Mühe, die Schweizer Eigenheiten zu verstehen», etwa den Waschplan im Mehrfamilienhaus, wie er im Gespräch sagt. Yue Müller wiederum, eine stolze Frau, fühlt sich in ihrer Autonomie beschnitten, beobachtet, kontrolliert. Dann nimmt die Streitspirale ihren Lauf: Er weist sie zurecht. Sie kritisiert ihn. Er ist verletzt, korrigiert seine Frau noch mehr. Sie kritisiert ihn erneut. Er
wird wütend. Der Streit eskaliert. Wer angefangen hat, spielt keine Rolle. Und sowieso sei es mal
sie, mal er, sagen beide. «Das zeigt, dass der Konflikt in der Beziehung liegt und nicht zwingend in
den Personen selber», sagt Mildner.
Auch Einzelberatung muss sein
Was bedeutet das für die Paarberatung? Zum einen, dass es für die Teilnahme das Interesse und
den Willen beider Partner braucht. Das Ziel ist es, die Intensität und die Häufigkeit der gewalthaltiPresseschau Delinquenz und Kriminalprävention
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gen Konflikte zu reduzieren. Oder besser noch: die Gewalt ganz zu stoppen. «Das Paar kann in
der Auseinandersetzung mit der Konfliktdynamik auch zum Schluss kommen, dass eine Trennung
die beste Lösung ist», sagt Mildner.
Zum anderen bedeutet es, dass es ohne Einzelberatungen auch bei der Paarberatung nicht geht.
Im Fall der Müllers haben Mildner und eine weibliche Kollegin neben den Paargesprächen je acht
(Peter Müller) respektive vier (Yue Müller) Einzelgespräche mit den Ehepartnern durchgeführt, in
denen das persönliche Verhalten analysiert wurde. Die beiden suchten zudem einzeln Psychologen auf, und Peter Müller bereitete sich mithilfe eines Beraters des Mannebüro Züri auf die
Paarberatung vor.
Auch dieses unterstützt die neuen Bestrebungen, genau wie auch Frauenhaus und Beratungsstelle
Zürcher Oberland. Die beiden Fachstellen haben kürzlich eine Tagung zum Thema organisiert. Sie
war mit über 100 Fachpersonen restlos ausgebucht; sogar Expertinnen aus Deutschland reisten
an. «Erfahrungen aus Forschung und Praxis zeigen deutlich, dass viele Paarbeziehungen trotz bestehender und oftmals eskalierender Gewaltproblematik weitergeführt werden», sagt Mike Mottl,
Geschäftsleiter des Mannebüro Züri. Die Paare würden in der Regel zusammenbleiben oder zueinander zurückkehren.
Laut Mottl hat man mit der Fachtagung nicht zuletzt auf ein wachsendes Bedürfnis nach Paarberatungen reagiert. «Es scheint, als hätten viele Paare geradezu darauf gewartet, dass es diese gibt.»
Umso wichtiger sei es, das «Tabu» auch bei den Fachpersonen aufzubrechen: «Bisher war man
mit Paarberatungen bei häuslicher Gewalt zurückhaltend, weil man Angst hatte, dass etwas passiert», sagt Mottl. Noch mehr habe man vermutlich das Gefühl gehabt, es sei «aus Opferschutz
nicht angebracht». Mottl betont, dass Paarberatungen nicht ein Ersatz für Täter- und Opferberatungen seien, sondern vielmehr «Weiterentwicklung oder Ergänzung».
Für Brigitte Kämpf von der Beratungsstelle Frauen-Nottelefon ist Paarberatung bei häuslicher Gewalt «dann ein adäquates Mittel, wenn sie die richtige Zielgruppe erreicht». In allen anderen Fällen
– ihres Erachtens den meisten – sei sie «gefährlich», weil die Gewaltsituation möglicherweise noch
mehr eskaliere. Auch Berater, die sich zu wenig eindeutig gegen Gewalt positionierten, könnten
«verheerende Auswirkungen» haben. Kämpf hegt die Befürchtung, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden sowie die Gerichte dem «Hype» verfallen, der um Paarberatungen derzeit
gemacht werde – und sie «flächendeckend bei Sorgerechtsstreitigkeiten» anordnen: «Paarberatungen sind effizient und günstig. Doch das darf nicht dazu verleiten, sie als Allheilmittel anzusehen.»
«Das war so schlimm!»
Für Yue und Peter Müller hat sich seit dem ersten Paargespräch bei Mildner vor fünf Monaten «viel
verändert». Sie beschreibt es so: «Mein Mann explodiert nicht mehr so wie . . . eine Atombombe.»
Er antwortet: «Ja, das stimmt» – «Das war so schlimm. Bummmmm!» – «Du bist jetzt aber auch
anders.» – «Also ich glaube, ich bin noch gleich.» – «Nein. Du bist gelassener.» – «Ich habe mehr
Luft.» Die beiden zählen auf, was sie gelernt haben: einander zuhören, auch wenn die gemeinsame Muttersprache fehlt. Sich weniger aufregen über den anderen. Sachlich und anständig argumentieren. Aufeinander zugehen. Es gehe ihnen «sehr gut», sagt Peter Müller, der geradezu euphorisch wirkt. Yue Müller wirkt zurückhaltender, sagt aber auch: «Doch, doch, es ist gut.»
Auf Nachfrage bestätigen die beiden: Einfach ist es nicht. Das Gelernte will angewendet, die Theorie in die Praxis umgesetzt sein. Und sie geraten immer wieder aneinander. Nach einer ersten Zusammenführung im Sommer, die scheiterte, weil es erneut zu einem heftigen (und gewaltfreien)
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Streit kam, wohnt Yue Müller mit Flavio erst seit Ende Oktober wieder bei ihrem Mann. Und bereits
haben sie wieder gestritten, was besonders für Yue Müller schwierig zu verdauen ist: Ihr Mann
packte sie mit «zu viel Kraft» an der Hand, das sei «sehr stark» gewesen, erzählt die Chinesin. Er
wiederum sagt, er habe «sicher keine Gewalt angewendet». So anstrengend es für die beiden
scheint: Sie wollen zusammen weitergehen. Oder es zumindest versuchen, Schritt für Schritt. Die
Paarberatung ist vorerst abgeschlossen – aber das Ziel noch nicht erreicht. «Wir sind auf dem
Weg», sagt Peter Müller. «Auf einem guten Weg». * Namen geändert
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Gewaltschutzmassnahmen
Was der Kanton Zürich macht
Seit dem 1. April 2007 besteht im Kanton Zürich ein Gewaltschutzgesetz (GSG). Es bezweckt den
kurzfristigen Schutz von Personen, die durch häusliche Gewalt betroffen oder gefährdet sind, sei
es in bestehenden oder aufgelösten Beziehungen. Konkret fallen unter das GSG drei Schutzmassnahmen: die Wegweisung aus der Wohnung oder dem Haus, das Betret- oder Rayonverbot sowie
das Kontaktverbot. Ordnet die Polizei eine solche Massnahme an, gilt sie für 14 Tage; sie kann um
maximal 3 Monate verlängert werden. Überdies kann die Polizei gefährdende Personen für maximal 24 Stunden inhaftieren. Sie informiert je eine Täter- und Opferberatungsstelle über die
Schutzmassnahmen, damit diese die Betroffenen für kostenlose Beratungsgespräche kontaktieren
können. Falls Kinder im Haushalt leben, wird auch die Kindesund Erwachsenenschutzbehörde
(Kesb) informiert. Ähnliche Gesetze gibt es auch in anderen Kantonen.
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Tages-Anzeiger - Seite 10
21. November 2015
Ehefrau wollte keine Strafe für Mann
80 Prozent wollen Sistierung - Widerruf sechs Monate möglich
Eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau erklärt vor Bezirksgericht ihr Desinteresse an
einer Strafverfolgung ihres Gatten. Der Staatsanwalt akzeptierte dies nicht, ist vor Obergericht aber abgeblitzt.
Ein weibliches Opfer häuslicher Gewalt. Foto: Dr. P. Marazzi (Science Photo Library, Keystone)
Thomas Hasler. Die Anklage listete eine ganze Reihe von Gewaltdelikten auf, welche die 36jährige Frau von ihrem Lebenspartner, späteren Ehemann und Vater des gemeinsamen Sohnes
erdulden musste. Ab Sommer 2009 bis zu seiner Verhaftung im Frühjahr 2014 soll der 43-Jährige
seiner Partnerin wiederholt die Faust ins Gesicht geschlagen haben. Mehrfach habe er sie gewürgt, von ihr verlangt, eine Zigarette zu «fressen», ihr gedroht, er werde sie umbringen oder ihr
eine Flasche über den Kopf schlagen. Zu seiner Verhaftung führte schliesslich sein Versuch, die
Frau in der Toilette sexuell zu nötigen. Es blieb nur deshalb beim Versuch, weil der fünfjährige
Sohn sich unter die Badezimmertür stellte und seinen Vater aufforderte, damit aufzuhören. Bereits
während der laufenden Strafuntersuchung gab es offenbar Anhaltspunkte, dass die Frau unsicher
war, ob sie ihren Mann, von dem sie inzwischen gerichtlich getrennt lebt, bestraft sehen will. Konkret wurde sie aber erst an der Hauptverhandlung vor Bezirksgericht. Auch mit Blick auf die Interessen ihres Sohnes erklärte sie ihr Desinteresse an einer Strafverfolgung. Sie wolle nicht, dass der
Mann bestraft werde. Diese Möglichkeit sieht das Strafgesetzbuch in Artikel 55a ausdrücklich vor.
Ankläger focht Sistierung an
Im Zusammenhang mit den Delikten gegenüber seiner Frau wurde der Mann schliesslich bloss
wegen versuchter sexueller Nötigung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Das Verfahren wegen versuchter Nötigung, mehrfacher Drohung und mehrfacher einfacher
Körperverletzung sistierte das Gericht, so, wie es das Gesetz vorsieht. Eine Sistierung bedeutet,
dass das Verfahren vorübergehend nicht weiterverfolgt wird.
Die Staatsanwaltschaft akzeptierte die Sistierung nicht und focht das Urteil vor Obergericht an. Das
Gesetz schreibe eine Sistierung nicht zwingend vor, es sei eine «Kann»-Bestimmung, sagte der
Staatsanwalt vor Obergericht. Zudem sei in diesem Fall das Interesse der Öffentlichkeit höher zu
gewichten als das Interesse des Opfers. Der Mann sei deshalb auch wegen der weiteren Delikte,
die er übrigens bestritt, zu verurteilen und mit insgesamt dreissig Monaten zu bestrafen.
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Doch auch das Obergericht bestätigte die Sistierung. Es verwies auf ein Urteil des Bundesgerichts
vom Dezember 2009. Zwar hielt das höchste Schweizer Gericht dort fest, die zuständige Behörde
habe «im Einzelfall eine Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem Strafverfolgungsinteresse und den Interessen des Opfers». Doch nur einen Satz später heisst es: «Grundsätzlich kann
die Behörde allerdings nur an der Strafverfolgung festhalten, wenn sie zum Schluss kommt, der
Antrag auf Verfahrenseinstellung entspreche nicht dem freien Willen des Opfers». Im konkreten
Fall gab es aber keine Hinweise, dass die Frau bei ihrer Desinteresse- Erklärung durch Gewalt,
Täuschung oder Drohung beeinflusst und nicht über Hilfs- und Handlungsalternativen informiert
worden wäre.
Wohl als Zeichen ihres mittlerweile wieder guten Einvernehmens mit dem Nochehemann verfolgte
die Frau die Verhandlung vor dem Obergericht. Ihr Verhältnis hat sich auch nach Meinung des Gerichts «entspannt». Deshalb «leuchtet es nicht ein, dass hier der Staat mit strafrechtlichen Mitteln
eingreifen soll». Beim 43-Jährigen handle es sich ja auch nicht um einen «hartnäckigen Gewalttäter».
Widerruf sechs Monate möglich
Sollte die Frau im Laufe der nächsten sechs Monate die Sistierung widerrufen, wird das Verfahren
wieder aufgenommen. Dann müsste das erstinstanzliche Bezirksgericht auch über die übrigen Anklagepunkte entscheiden. Ehefrau wollte keine Strafe für Mann Eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau erklärt vor Bezirksgericht ihr Desinteresse an einer Strafverfolgung ihres Gatten. Der
Staatsanwalt akzeptierte dies nicht, ist vor Obergericht aber abgeblitzt.
«Das Verhältnis hat sich entspannt. Es leuchtet nicht ein, dass hier der Staat mit strafrechtlichen
Mitteln eingreifen soll.» Gerichtspräsident Christoph Spiess
Körperverletzungen, wiederholte Tätlichkeiten, Drohungen und Nötigungen werden seit April 2004
von Amtes wegen verfolgt, wenn sie im Rahmen von häuslicher Gewalt erfolgen. Dass der Staat
solche Delikte verfolgt, kann aber dem Interesse des Opfers zuwiderlaufen. Deshalb wurde im
Strafgesetzbuch eine Art Kompensationsmechanismus eingebaut: Das Opfer kann die Nichtverfolgung dieser Delikte verlangen. Wird diese Sistierung innerhalb von sechs Monaten nicht widerrufen, wird das entsprechende Strafverfahren eingestellt.
80 Prozent wollen Sistierung
Die auf Gewaltdelikte spezialisierte Staatsanwaltschaft IV ist im Kanton Zürich für häusliche Gewalt
zuständig, wenn es sich um einen Wiederholungstäter handelt und/oder schwere Delikte wie Vergewaltigung, Gefährdung des Lebens oder schwere Körperverletzung begangen wurden. Staatsanwältin Bettina Groth, Fachverantwortliche häusliche Gewalt, schätzt, dass in einem Viertel bis
einem Drittel aller Fälle das Opfer die Sistierung des Strafverfahrens verlangt. Handle es sich
«nur» um einfache Körperverletzungen, wiederholte Tätlichkeiten, Drohungen oder Nötigungen
würden sogar etwa achtzig Prozent der Betroffenen eine sogenannte Desinteresse- Erklärung abgeben.
Möglicherweise können solche Fälle in Zukunft nicht mehr eingestellt werden. Die Motion der Walliser CVP-Nationalrätin Viola Amherd verlangt, dass eine Sistierung des Verfahrens wegen häuslicher Gewalt nur noch bei Ersttätern möglich ist. «Es ist nachvollziehbar, dass ein Opfer dem Täter
eine zweite Chance geben will. Wer als Täter diese Chance nicht nutzt, darf aber nicht mehr geschont werden.»
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Dem Anliegen will der Bundesrat Rechnung tragen. Er hat kürzlich Änderungen im Zivil- und Strafrecht in die Vernehmlassung geschickt. Unter anderem soll der Entscheid über den Fortgang des
Verfahrens nicht mehr allein in die Verantwortung des Opfers gestellt sein. Und bei Tätern, die bereits gewalttätig waren, soll das Strafverfahren zwingend fortgesetzt werden.
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Der Bund - Seite 17
25. November 2015
«Sie können nicht anders Dampf ablassen, als zuzuschlagen»
Marlène Hübscher Ryser leitet Kurse für gewalttätige Männer
Im Täterprogramm lernen diese, mit ihrer Wut besser umzugehen
Marlène Hübscher Ryser weiss, was echte Kerle sind. In ihrem Kurs lässt sie die Männer zu diesem Thema malen. Foto:
Adrian Moser
Interview: Janina Gehrig
Was sind das für Männer, die ihre Frauen schlagen?
Es sind Hilfsarbeiter, IV_Rentner, aber auch Computerfachmänner, Ärzte, Lehrer. Wir arbeiten mit
Männern zwischen 20 bis 67 Jahren. Sie kommen aus der Schweiz, Deutschland, Sri Lanka, aus
Afrika oder aus dem Osten. Gewalt auszuüben ist alters- und bildungsunabhängig. Die Männer haben alle das gleiche Problem. Ihnen fehlt die Sprache. Wenn sie in Bedrängnis sind, können sie
nicht anders Dampf ablassen, als zuzuschlagen oder psychisch Gewalt auszuüben. Viele haben
früher selber Gewalt erlebt.
Das klingt, als würden Ihnen diese Männer leidtun.
Nein. Ich versuche, nachzuvollziehen, wie die Taten abgelaufen sind, aber ich toleriere sie keineswegs.
Was muss passieren, damit Männer einen Kurs bei Ihnen besuchen?
Sie kommen, nachdem sie psychisch oder physisch Gewalt angewendet haben. Sie haben etwa ihre Frauen gegen die Wand gedrückt, geschubst oder geschlagen. Oft gibt es Geldprobleme in der
Familie oder Stress am Arbeitsplatz. Die Männer fühlen sich von ihren Frauen provoziert. Sie sind
konfliktscheu und schweigen, bis die Situation eskaliert. Dann entschuldigen sie sich und versuchen, den Frieden zu bewahren, bis sie erneut ausrasten. So beginnt die Gewaltspirale. Die Kurse
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richten sich nicht an Männer, die psychisch krank sind und therapiert werden müssen, sondern an
jene, die etwas verändern wollen.
Kommen die Männer also freiwillig?
Einige kommen freiwillig. Andere müssen den Kurs besuchen, weil das ein Richter, Regierungsstatthalter oder die Kesb verfügt hat. Jene die zugewiesen werden, geben anfangs oft ihren Frauen
die Schuld, dass sie hier sind. Fragt man genauer nach, merkt man: Sie wissen, dass etwas nicht
in Ordnung ist und wollen eine Veränderung.
Wie sieht Lektion eins aus?
Es gibt keine Lektion eins. Wir arbeiten in verschiedenen Modulen, insgesamt dauert der Kurs ein
halbes Jahr. Wir haben rollende Gruppen, jeden Montag könnte ein neuer Mann dazustossen. Die
Neuen setzen sich am ersten Abend in den Kreis, stellen sich vor und erzählen, warum sie da sind.
In den Pausen klären jene, die schon länger da sind, die Neuen auf und geben ihr Vertrauen in den
Kurs weiter.
Besteht nicht die Gefahr, dass sie sich untereinander verbrüdern und es plötzlich toll finden, hier zu sein?
Es kommt vor, dass die Männer anfangs gemeinsam über ihre Frauen schimpfen. Dann greifen wir
Kursleiter aber sofort ein und sagen: Stopp! Ihr seid hier wegen euch, weil ihr etwas verändern
wollt.
Was lernen die Männer bei Ihnen?
Die Anerkennung der Tat steht im Mittelpunkt. Die Männer sollen reflektieren und verstehen, warum sie so handeln. Viele leiden unter einem schlechten Selbstwertgefühl. Daran arbeiten wir. Wir
besprechen und üben andere Arten der Konfliktbewältigung oder machen Rollenspiele. Im Modul
Mannsein etwa zeichnen sie gemeinsam ein Bild zum Thema: Was ist ein echter Kerl?
Wie sieht dieses Bild aus?
Sie malen Männer, die gross sind und Muskeln haben, Geld, ein Auto. Aber auch Tränen in den
Augen, ein grosses Herz. Mit dem Bild arbeiten wir weiter.
Wie wichtig sind bei der Bewältigung der Tat traditionelle Geschlechterrollen?
Ich möchte nicht über Rollenverteilungen urteilen. Wir wollen den Männern vermitteln, dass Macht
ausüben immer schlecht ist, egal ob sie aus einer patriachalen Kultur stammen oder nicht.
Kann es sein, dass Sie Leute aus dem Kurs werfen?
Einmal haben wir einen Mann nicht aufgenommen, der sagte, Gott habe ihn dazu ermächtigt, seine
Frau zu züchtigen. Ein anderer hat konsequent seine Tat abgestritten.
Werden Sie als Frau ernst genommen?
Ich bin natürlich eine Projektionsfläche für sie. Selten gibt es Männer, die mir zu spüren geben,
dass es ihnen nicht passt, dass sie nebst einem weiteren Kursleiter auch mit mir Vorlieb nehmen
müssen. Ich spreche das direkt an. Zudem habe ich vielleicht altersmässig einen kleinen Vorteil.
Ich bin 66-jährig und habe weisse Haare, viele Männer bringen mir einen Grundrespekt entgegen.
In gewissen Kulturkreisen werden ältere Menschen als weise angesehen.
Entlassen Sie die Männer als fromme Schäfchen aus dem Kurs?
Sechs Monate ist eine kurze Zeit, um das Verhalten zu ändern. Aber es kann ein wichtiger Prozess
stattfinden. Bisher haben wir keine Meldungen über Rückfälle bekommen, aber ausschliessen
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können wir diese natürlich nicht. Manche Männer verlängern den Kurs freiwillig, andere treffen sich
später weiterhin von sich aus.
Marlène Hübscher Ryser
Die 66-Jährige arbeitet seit zwölf Jahren als Familien- und Schulmediatorin und hat eine eigene Praxis für
Konfliktberatung und Mediation in Worb. Seit 2004 ist sie bei der Polizei- und Militärdirektion des Kantons
Bern als Kursleiterin des Lernprogramms gegen Häusliche Gewalt angestellt. (jan)
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Wanderausstellung
Kampagne gegen häusliche Gewalt
Der Mann wurde stärker geboren, um seine Frau zu schützen und nicht zu schlagen. Diesen Satz
haben zwei Schülerinnen der Gewerblich-Industriellen Berufsschule Bern (GIBB) auf einen Zettel
geschrieben und an einem Klämmerchen aufgehängt. Soeben sind sie zusammen mit anderen
Schülern von einem Polizisten durch die Wanderausstellung «Willkommen zu Hause» geführt worden. Die interaktive Ausstellung wird im Rahmen der internationalen Kampagne «16 Tage gegen
Gewalt an Frauen» gezeigt und thematisiert häusliche Gewalt. Gestern informierten die Verantwortlichen von verschiedenen Fachstellen und die Kantonspolizei Bern sowie Polizei- und Militärdirektor Hans- Jürg Käser die Medien darüber.
Drei Polizeieinsätze täglich
Die Kantonspolizei Bern rückt jährlich rund 1000 Mal aus, um gegen häusliche Gewalt vorzugehen.
Gabriele Berger, Chefin der Spezialfahndung, führte aus, welche Mittel der Polizei zur Verfügung
stehen. Sie könne Personen aus der Wohnung weisen, vorübergehend festnehmen und betroffene
Kinder bei Verwandten oder speziellen Institutionen unterbringen, sagte sie. Die Polizei melde jeden Fall häuslicher Gewalt dem zuständigen Regierungsstatthalteramt sowie – in der Stadt Bern –
der spezifischen Fachstelle für häusliche Gewalt. Diese berät die Opfer, leitet die Meldung an das
Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz weiter und gibt der Polizei eine Rückmeldung. «Unser
oberstes Ziel ist es, häuslicher Gewalt entgegenzutreten, sie zu stoppen und zu verhindern», sagte
Berger. Nach den polizeilichen Interventionen müssten die Opfer geschützt und die Gewaltausübenden zur Verantwortung gezogen werden, sagte Hans-Jürg Käser. Dafür sei auf kantonaler
Ebene 2003 die Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt geschaffen worden. Die Fachstelle
bietet etwa Lernprogramme für gewaltausübende Männer an (Interview links). Für Frauen wird derzeit kein solcher Kurs angeboten. (jan)
Die Ausstellung «Willkommen zu Hause» wird ab heute bis am 4. 12. in Bern gezeigt (GIBB) und
vom 5. bis am 11.12. in Thun im Berufsbildungszentrum IDM. Infos: www.be.ch/big und
www.16tage.ch
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Der Landbote - Seite 3
21. November 2015
Wie sich ein Ex-Soldat in Winterthur radikalisierte
«Er wirkte wie eine verlorene Seele.»
Vor drei Jahren verschwand ein damals32-jähriger Mann. Zuvor bewegte er sich im Umfeld der
An’Nur-Moschee und der Koran-Verteilaktion «Lies!».Damit wären es bereits sieben Winterthurer
Jihad-Fälle.
Mirko Plüss und Jigme Garne. «Möge Allah uns stark machen vor der Prüfung, die wir bekommen.» Diese Zeilen stammen vom 27. Juni 2012. Noch heute prangen sie zuoberst auf dem Facebook- Profil von G. F. Es ist der letzte Eintrag, welchen der Deutsche mit kosovarischen Wurzeln
auf dem Onlineportal verfasst hat. Damals lebte G. F. noch in Winterthur, in einer Wohnung am
Oberwinterthurer Stadtrand. Nur zwei Monate später war er spurlos verschwunden. Bei der Winterthurer Einwohnerkontrolle hat er sich abgemeldet. Das bestätigen die Behörden. In einem Eintrag vom 31. August 2012 gab er an, in eine deutsche Stadt zu ziehen, in der er früher einmal zu
Hause war. Dort wohnhafte Familienmitglieder wissen allerdings von nichts.
«Er bereitete sich vor»
In der Winterthurer Transportfirma, in der er als Fahrer tätig war, ging nie eine offizielle Kündigung
ein. Er kam einfach nicht mehr zur Arbeit, von einem Tag auf den anderen. Ehemalige Mitarbeiter
glauben keineswegs, dass er nach Deutschland zurückkehrte. Sie haben vielmehr die Hoffnung
aufgegeben, ihren Kollegen noch einmal lebend zu sehen. Nach seinem plötzlichen Verschwinden
wurde ihnen rasch klar: G. F. ist nach Syrien gereist, zum Islamischen Staat. Und es dauerte nur
wenige Monate, da hörten sie von mehreren Seiten, unter anderem von Familienmitgliedern, das
immer gleiche Gerücht: Er sei im syrischen Bürgerkrieg gestorben, in die Luft gejagt in einem
Krankenwagen, den er gesteuert hatte. Er soll seinen Tod bei der Explosion einer Landmine gefunden haben. In der Firma wird noch heute um den verschwundenen Arbeitskollegen getrauert.
Ein Fahrer sagt: «Er war ein herzensguter Mensch, er wusste nicht, auf was er sich da einlässt.»
Er habe nicht kämpfen wollen. «Er wollte helfen. » Die Bilder vom syrischen Bürgerkrieg, den toten
Frauen und Kindern hätten ihm keine Ruhe gelassen. «Als er das Elend in Syrien nicht mehr hinnehmen wollte, begann er, sich vorzubereiten. »
Nato-Aufträge in Europa
G. F. wurde 1980 geboren und verbrachte die ersten Jahre seines Lebens in Kosovo. Vor dem
Schuleintritt emigrierte die Familie nach Deutschland, in eine mittelgrosse Stadt zwischen Dortmund und Hannover. Nach der obligatorischen Schulzeit trat er in den deutschen Militärdienst ein
und arbeitete mehrere Jahre lang als Lastwagenfahrer. Er blieb während dieser Zeit in Deutschland, fuhr nur im Rahmen einzelner Nato-Aufträge in die Niederlande oder nach Belgien. Kampferfahrung sammelte er offenbar keine. Vor fünf Jahren kam er wegen eines Jobangebots in die
Schweiz. Verwandte vermittelten ihm eine Stelle als Lastwagenfahrer bei der Winterthurer Transportfirma, in der er bis im Sommer 2012 angestellt blieb. Während der zwei Jahre in der Schweiz
wechselte G.F. mindestens einmal den Wohnort. Vor dem Bezug seiner Oberwinterthurer Wohnung war er im thurgauischen Aadorf gemeldet. Ein Nachbar aus dieser Zeit sagt heute über ihn:
«Er wirkte wie eine verlorene Seele.» G. F. habe viel Schichtarbeit leisten müssen und sei nur selten zu Hause gewesen. «Er war ein klarer Einzelgänger.» 2011 heiratete er, doch die Ehe hielt nur
wenige Monate. Nur mit den Arbeitskollegen der Winterthurer Firma ging der Lastwagenfahrer
auch mal in den Ausgang, man trank Alkohol in Altstadtbars und schaute den Frauen nach. Doch
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eines Tages wollte G. F. das alles nicht mehr. «Die Radikalisierung kam ganz langsam, aber stetig», erzählt ein Arbeitskollege. Der Ex-Soldat habe sich einen Bart wachsen lassen, kam nicht
mehr in den Ausgang mit und ging extra nach Basel, um dort Halal-Fleisch zu kaufen. Auf einem
Firmenbild sieht man ihn lächelnd, mit einem rötlichen Bart und kantigen Backen. «Er wurde immer
kräftiger, machte viel Karate.» Ab Frühling 2012 erzählte er in der Firma immer öfter von der
An’Nur-Moschee in Hegi. Dort verkehrte er regelmässig. Zudem begann er, in der Altstadt sowie in
Zürich und Basel Koran-Exemplare für die salafistische Aktion «Lies!» zu verteilen. Auch die Arbeitskollegen erhielten eine Gratisausgabe. Leute aus dem Umfeld der An’Nur-Moschee hätten zudem ebenfalls von seinem Tod in Syrien gewusst und diesen betrauert. Der Kulturverein An’Nur
sagt auf Anfrage, noch nie von dem Namen gehört zu haben.
Mysteriöser Telefonanruf
In den Sommerferien 2012 zog sich G. F. immer mehr zurück. Er meldete sich krank, gab eine
Fussverletzung als Grund an. Er kam nicht mehr zurück. Ein leitender Angestellter der Firma sagt,
man habe damals bewusst keine Behördenmeldung gemacht, weil dies die Familie im Ausland
selber erledigen wollte. Nach wenigen Tagen habe man zudem einen mysteriösen Telefonanruf
erhalten. Ein angeblicher Bekannter habe den offenen Lohn des Verschwundenen verlangt. Die
Firma zahlte nicht. Kantons- und Stadtpolizei geben auf Anfragen keine Auskunft. Die Bundesanwaltschaft äussert sich ebenfalls nicht. Den Mitarbeitern der Firma lässt der Fall indes keine Ruhe.
«Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke», sagt ein Arbeitskollege verbittert. «Er wurde
mit falschen Versprechen in den Krieg gelockt.»
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An’Nur-Moschee will wachsamer sein und führt Ausweiskontrollen ein
Der Kulturverein in Hegi reagiert auf die Radikalisierungen im Umfeld der Moschee. Das
Freitagsgebet stand gestern im Zeichen der Anschläge in Paris.
Mirko Plüss. Neue Besucher, die in der An’Nur- Moschee in Hegi verkehren, müssen einen Ausweis vorzeigen. Dieser wird von der Moscheeleitung abfotografiert und gespeichert. Die Massnahme ist laut Atef Sahnoun, Präsident des Kulturvereins An’Nur, seit dem letzten Wochenende in
Kraft, also seit der Anschlagsserie in Paris. Bisherige Besucher und bestehende Mitglieder des
Kulturvereins sind von der Massnahme nicht betroffen. Die Moschee geriet vor einigen Monaten
und erneut in den letzten Tagen in die Schlagzeilen, da im Umfeld und teils auch in Räumlichkeiten
der Moschee junge Muslime radikalisiert würden. Die Vertreter betonten wiederholt, davon nichts
mitbekommen zu haben. Sie bezweifeln zudem den Wahrheitsgehalt einzelner Medienberichte.
Immer ein Mitglied des Vorstands anwesend
Laut Sahnoun wurden zudem weitere Sicherheitsmassnahmen getroffen: «Wir haben neu die Regel, dass zu jeder Zeit ein Mitglied des Vereinsvorstands in den Räumlichkeiten der Moschee anwesend sein muss.» Damit soll verhindert werden, dass sich Extremisten in kleinen Zirkeln austauschen. In einer Stellungnahme verurteilte der Verein zudem gestern die Attentate von Paris. Man
stehe «solidarisch zum französischen Volk» und teile «tiefstes Mitleid mit den Opfern und allen Betroffenen». Am Donnerstag fanden in der Moschee zudem Gespräche zwischen der Moscheeleitung und Integrationsfachstellen, der Kantons- und der Stadtpolizei statt. Zu den Inhalten des Treffens ist nichts bekannt. Im gestrigen Freitagsgebet wurde der Terror in Paris thematisiert. Im grossen, mit grünen Teppichen ausgelegten Gebetsraum in Industriequartier in Hegi sprach ein Prediger zu etwa 50 Männern. Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun, sagte der Imam. Mehrere
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Medienvertreter verfolgten die Ansprache mit Übersetzungsgeräten. Indirekt wurden auch die Berichte über Radikalisierungen im Umfeld der Moschee angesprochen. Wer den Islam praktiziere,
solle dies immer freiwillig und niemals unter Druck tun. Zum Schluss der halbstündigen Predigt
wendete sich der Imam an die Medien. Diese hätten die Verantwortung, über die Toten in arabischen Ländern wie Syrien und Libanon oder in Palästina so ausführlich zu berichten wie über jene
in Paris.
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Aargauer Zeitung - Seite 8
26. November 2015
Wie berechtigt ist die Angst?
Ein Winterthurer Prediger soll im Dienste des IS stehen
Welche Rolle Imame spielen und wie richtig ihre Ausbildung in der Schweiz wäre
Wird in den hiesigen Moscheen nicht nur gebetet? Alessandor della Bella/Keystone
Daniel Fuchs. Rund 180 Imame sind in den Schweizer Moscheen tätig. Einer von ihnen ist A.E.,
bekannt aus «Weltwoche» und Sonntagszeitungen. Gemäss Recherchen soll er in der Winterthurer An’Nur-Moschee nicht nur radikales Gedankengut verbreitet, sondern im Dienste des IS
Schweizer Dschihadisten für den Krieg in Syrien rekrutiert haben. Im Interview mit dem OnlineNewsportal «Watson» wehrte sich A.E. gegen die Vorwürfe, räumte aber ein, hin und wieder in
seine Heimat Libyen zu reisen. In Libyen hatte er gegen Diktator Gaddafi für die Einrichtung eines
Islamischen Staats «mit demokratischen Mitteln» gekämpft und war Mitglied der al Kaida-nahen
Libyan Islamic Fighting Group gewesen. Später hat der Mann in der Schweiz Asyl erhalten. Viele
Fragen bleiben offen, darunter auch die, weshalb ein Kämpfer einer radikal-islamischen Organisation in der Schweiz Asyl bekommt. Und: warum einer wie er Imam wird.
Der Verdacht: Hassprediger
Klar ist: Imame stehen unter Generalverdacht, eine Rolle im weltweiten IS-Terror zu spielen. Muslimenvereine, Sozialarbeiter, Forscher und andere Experten weisen immer wieder auf die Vorteile
einer Imam- Ausbildung in der Schweiz hin. Den Moscheevereinen mangelt es an ausgebildetem
Personal, und so kommen viele der Imame häufig aus dem Ausland, besonders aus Ägypten oder
aus der Türkei. Sie würden weder die hiesigen Verhältnisse, geschweige denn Sprachen kennen,
so das Credo. Andere wiederum weisen Imamen beim Thema Radikalisierung eine untergeordnete
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Rolle zu. So etwa die Islamforscherin von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
(ZHAW) Miryam Eser-Davolio, die in ihrem Forschungsprojekt mit Rückkehrern aus dem IS-Gebiet
gesprochen hat. In der heute erschienenen Ausgabe des «Beobachters» sagt sie, Schweizer
Dschihad-Reisende radikalisierten sich vor allem via Internet. Moscheen und Imame hätten wenig
damit zu tun. Anders ist es bei der Prävention: Können Imame Jugendliche vor der Radikalisierung
schützen oder sie zurück in die Gesellschaft holen? Im Gespräch mit der «Nordwestschweiz »
nach den Attentaten in Paris wies die ZHAW-Forscherin Eser auf ein wichtiges Problem hin: Aus
Sorge um ihren Ruf würden Moscheevereine Jugendliche häufig ausschliessen, die sich radikalisiert haben. Das sei aber gerade falsch, denn dort könnten die Jugendlichen doch noch von ihrem
Weg abgebracht werden. Imame können dabei eine wichtige Rolle übernehmen. Laut Eser ist es
entscheidend, wie eng die Imame und Moscheevereine mit den Behörden zusammenarbeiteten.
Das ist von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich: An einem Weiterbildungsangebot der ZHAW
zum Thema Radikalisierung, das sich kürzlich an Imame richtete, nahmen gerade einmal sieben
Imame teil. Alle kamen sie aus dem Kanton St. Gallen.
Die Lösung: Integrieren und Bilden
Weiterbildungsangebote für Imame, Lehrer, Sozialarbeiter bietet seit einem Jahr auch die Universität Freiburg an. Der Leiter Hansjörg Schmid ist nicht etwa Islamwissenschafter, sondern katholischer Theologe. Er warnt davor, in Imamen das Allerheilmittel zu sehen. Schmid sagt: «Viele Jugendliche gehen gar nie in die Moschee, verbringen aber viel Zeit im Internet. » Dort seien Kontrolle und Prävention viel schwieriger. Moschee und Imam seien nicht die einzigen möglichen Berührungspunkte mit radikalem Gedankengut. «Junge Muslime haben mehr soziale Bezugsfelder:
Wichtiger sind oft Freunde, die Familie, die Schule und die berufliche Integration. » Es brauche gute Angebote in der Schule und in der Berufsbildung. Stimme dort alles, sei die Gefahr einer Radikalisierung viel geringer. Schmid ist dafür, dass sich Imame in der Schweiz weiterbilden. Eine Ausbildung der Imame kann die Universität nicht bieten: «Dort wird auch nur katholische oder evangelische Theologie gelehrt, die Ausbildung zum Pfarrer erfolgt in den Landeskirchen. » Letztlich sei
zentral, dass Imame gut qualifiziert und in der Schweiz integriert sind. «Auch dass sie die Sprache
sprechen. Das ist wichtig für die Seelsorge in Spitälern oder Gefängnissen und letztlich in Moscheen.» Schmid weist gerne auf Länder wie Österreich und Deutschland hin. Auch dort bilden
Unis keine Imame aus. Aber sie bieten Studiengänge zur islamischen Theologie an. Im Juni soll
auch an der Universität Freiburg ein Weiterbildungskurs zum Thema Radikalisierung stattfinden.
«Die Imame sind nicht das Allerheilmittel. »
Hansjörg Schmid, Leiter des Schweizer Zentrums für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg
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