Fälle und Lösungen

KESR-Fälle
Fall 1
Sachverhalt
Ein 18 Monate altes Kind verunglückt mit seinen Eltern bei einem Ausflug in den Schweizer Bergen.
Beide Eltern versterben an den Folgen des Unfalls, das Kind überlebt verletzt. Das Kind hat die
schweizerische und eine ausländische Staatsangehörigkeit. Die Eltern verbrachten mit dem Kind ihre
Ferien in der Schweiz zwecks Verwandtenbesuchs, hatten aber ihren Wohnsitz im Ausland.
Verwandte des Kindes leben in der Schweiz und im Ausland. Beide Familien möchten das Kind zu sich
nehmen. Wie weiter, wenn a) die Eltern sich vor ihrem Tod geäussert haben, wo das Kind in einem
solchen Fall leben soll, b) die Eltern sich vor ihrem Tod nicht dazu geäussert haben?
Lösungsstichworte:
Sachliche und örtliche Zuständigkeit:
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Internationaler Sachverhalt: Art. 5 HKsÜ (Haager Kindesschutzübereinkommen [SR
0.211.231.011]). Zuständigkeit des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt
hat. Ausnahmsweise: Zuständigkeit gem. Art. 8 oder 9 HKsÜ. Da das Kind nur ferienhalber in
der Schweiz war, kann nicht von „gewöhnlichem Aufenthalt“ i.S.d. Abkommens gesprochen
werden. Austausch mit den Behörden am (ausländischen) Ort des gewöhnlichen Aufenthalts
des Kindes.
Notzuständigkeit der Behörde am aktuellen Aufenthaltsort des Kindes (Art. 11 HKsÜ, Art. 315
Abs. 2 ZGB; eher Ort des Spitals als des Unfalls).
Beide Eltern sind verstorben: Zuständigkeit der KESB (Art. 315 Abs. 1, Art. 327a ZGB).
Vorgehen der KESB:
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Notplatzierung des Kindes. Grds. in der Schweiz, bis definitive Entscheidung gefällt ist, wo das
Kind dauerhaft platziert werden kann. Notplatzierung kann bei Verwandten oder Bekannten
erfolgen, ohne damit spätere definitive Platzierung vorwegzunehmen (s. aber Art. 310 Abs. 3
ZGB). Verhältnisse am Ort der Notplatzierung sind abzuklären (ev. Pflegeplatzbewilligung,
wenn länger als ein Monat entgeltlich oder länger als zwei Monate unentgeltlich; vgl. Art. 4
PAVO [SR 211.222.338]).
Vormundschaft, da keine elterliche Sorge mehr: Art. 327a ff. ZGB.
Wahl des Mandatsträgers: Infolge Interessenkonflikt neutrale Person (professioneller
Mandatsträger), zumindest momentan keine Person aus dem Verwandten- oder
Bekanntenkreis. Geeignetheit des Mandatsträgers gem. Art. 327c Abs. 2 i.V.m. Art. 400 ZGB.
Abklärung der Verhältnisse durch Vormund und KESB. Allenfalls Abklärung durch
Internationalen Sozialdienst im Ausland. Ev. Überweisung an zuständige ausländische
Behörde (HKsÜ).
Nach Ende der Abklärung definitive Platzierung. Ausschlaggebend: Platzierung an welchem
Ort/bei welcher Familie entspricht dem Kindeswohl am besten? Möglich, dass keine
Platzierung bei Verwandten erfolgt, falls eine solche nicht dem Kindeswohl entsprechen
sollte (Art. 310 Abs. 3 ZGB kann bei langwierigen Abklärungen ein „Risiko“ sein und
Präliminarstreitigkeiten akzentuieren). Internationale Verhältnisse: Wer ist zuständig für eine
definitive Platzierung? S. Art. 5, 8, 9 HKsÜ.
Ev. zu einem späteren Zeitpunkt Adoption.
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Fall 2
Sachverhalt
Jeff (16 ½) schlängelt sich mit einem rechten Mass Bier, dem Geruch von etwas Marihuana und
zunehmend schlechteren Noten durch den Schulalltag; dem Familienalltag entflieht er weitgehend,
übernachtet bei Kollegen oder an unbekannten Orten. Wie geht es weiter (abgesehen von einem
weiter fallenden Notenschnitt)?
Lösungsstichworte:
Sachliche und örtliche Zuständigkeit:
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Art. 315 Abs. 1 ZGB: KESB am Wohnsitz des Kindes (SV enthält keine Hinweise auf
eherechtliches Verfahren). Wohnsitz des Kindes bestimmt sich nach Art. 25 ZGB.
Vorgehen:
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Vorab Gespräche Schule/Schulsozialarbeitende mit Eltern und Kind.
Allenfalls disziplinarische Massnahmen (§ 52 Volksschulgesetz Zürich).
Ev. Verweisung an Suchtberatungsstelle/Jugendberatungsstelle.
Ursachenabklärung: z.B. Freundeskreis? Familiäre Probleme? Persönliche Probleme?
Meldung an die KESB, wenn keine Lösungen auf freiwilliger Basis mit Schülerin und Eltern
gefunden werden (Art. 307 Abs. 1 ZGB: Kindesschutzmassnahmen). Meldung kann durch
Eltern oder durch Schule erfolgen (s. z.B. § 51 Volksschulgesetz ZH; § 58
Volksschulverordnung ZH; Gesetz über die Information und den Datenschutz ZH, LS 170.4;
Melderecht/Meldepflicht gem. Art. 443 ZGB)? Seitens Schule ist i.d.R. Schulpflege zuständig.
Schüler kann sich auch selbst an KESB wenden.
Ev. stationärer Entzug (freiwillig, allenfalls FU, Art. 314b i.V.m. Art. 310 ZGB); Psychotherapie;
Therapieprogramm in betreuter Institution (u.U. von mehreren Monaten); strukturierte
Nachbetreuung.
KESB: Gespräche mit Schüler und Eltern (Anhörung, Art. 314a, Art. 447 ZGB) und ggf.
weiteren involvierten Personen (Lehrpersonen, Ärzte etc.). Ev. Beistandschaft für
Koordination, Organisation, Unterstützung, Beratung (Art. 308 ZGB). Allenfalls Platzierung bei
Pflegefamilie/in Heim (Art. 310 ZGB; ggf. Kindesverfahrensvertretung, Art. 314abis ZGB).
Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen der Schule und den zuständigen KESB bei
Gefährdung des Kindeswohls:
http://www.vsa.zh.ch/internet/bildungsdirektion/vsa/de/schulrecht_finanzen/schulrecht/_jc
r_content/contentPar/downloadlist/downloaditems/766_1455093330813.spooler.download
.1455092731507.pdf/grundsaetze_kesb_schulen_vsa_def_ohne_unterschriften.pdf (zuletzt
besucht am 2.3.2016)
Fall 3
Sachverhalt
Ein 13-jähriges Mädchen wird bei einem Autounfall schwer verletzt. In der Folge kommt es zu einem
grossen Blutverlust; die Ärzte schlagen eine Bluttransfusion als lebenserhaltende Massnahme vor.
Die Eltern des Kindes gehören den Zeugen Jehovas an. Sie erklären gegenüber den behandelnden
Ärzten, Bluttransfusionen seien in ihrer Religion untersagt. Die Zustimmung zu einer entsprechenden
Behandlung ihrer Tochter verweigern sie daher. Die Ärzte sind überzeugt, das Leben des Kindes mit
einer Bluttransfusion retten zu können. Was ist zu tun?
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Lösungsstichworte:
- Minderjährige Kinder stehen unter elterlicher Sorge (Art. 296 ZGB). Die gesetzliche
Vertretung des Kindes kommt den Eltern zu (Art. 304 ZGB).
- Die körperliche Integrität ist ein höchstpersönliches Recht des Kindes (s. auch Fall B.2); bei
Urteilsfähigkeit (Art. 16 ZGB) entscheidet es selbst über die Ausübung höchstpersönlicher
Rechte (Art. 305 Abs. 1, Art. 19c ZGB). Ist das Kind urteilsunfähig, handelt der gesetzliche
Vertreter, sofern nicht ein absolut höchstpersönliches Recht vorliegt (vertretungsfeindlich, so
eng mit der Persönlichkeit verknüpft, dass eine Vertretung ausgeschlossen ist; Art. 19c Abs. 2
ZGB). Entscheide über medizinische Massnahmen/Behandlungen werden grds. den relativ
höchstpersönlichen, d.h. den der Vertretung zugänglichen Rechten zugerechnet. Bei
Urteilsunfähigkeit des Kindes ist damit eine Vertretung durch die Eltern als gesetzliche
Vertreter zulässig. Ist das Kind urteilsfähig, kann es sich in einer Patientenverfügung (Art. 370
ff. ZGB) dazu äussern, welchen medizinischen Massnahmen es im Falle seiner
Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.
- Art. 303 Abs. 1 und 3 ZGB: Über die religiöse Erziehung des Kindes bis zum vollendeten 16.
Altersjahr entscheiden die Eltern. Dabei gilt grds. die Religionsfreiheit der Eltern (Art. 15 BV).
Allerdings handelt es sich bei Entscheiden über die religiöse Zugehörigkeit grs. um ein
höchstpersönliches Recht auch des Kindes. Bei Urteilsfähigkeit ist daher das Kind schon
früher in die Entscheidung einzubeziehen und es ist auf seine Meinung Rücksicht zu nehmen
(s. auch Art. 301 Abs. 2 ZGB).
- Oberste Maxime ist das Kindeswohl; dieses ist Massstab und Schranke der gesetzlichen
Vertretung sowie der religiösen Erziehung (MICHEL, Rechte von Kindern in medizinischen
Heilbehandlungen, 153 m.w.H.; BSK ZGB I-SCHWENZER/COTTIER, Art. 303 N 6). Verweigern die
Eltern die Zustimmung zu einer lebenserhaltenden Massnahme (z.B. Bluttransfusion), ist
diese Weigerung grds. nicht bindend für die Ärzteschaft. Allerdings müssen zuvor alle
anderen (durch die Eltern zugelassenen), allenfalls zielführenden Behandlungsmöglichkeiten
ausgeschöpft resp. geprüft worden sein.
- Es ist davon auszugehen, dass 13-Jährige i.d.R. urteilsfähig sind bzgl. Bluttransfusionen und
der Folgen, wenn eine solche unterlassen wird. Ist das Mädchen bei Bewusstsein, ist es über
die Bluttransfusion und deren Konsequenzen (bei Vornahme wie bei Unterlassen)
aufzuklären; seine Zustimmung ist einzuholen („informed consent“). Ist das Mädchen
bewusstlos und kann seine Zustimmung deswegen nicht eingeholt werden, ist zu prüfen, ob
eine Patientenverfügung gegeben ist. Sofern keine Patientenverfügung vorliegt und eine
Bluttransfusion die einzige resp. letzte Möglichkeit ist, das Leben des Kindes zu retten, ist die
KESB am Wohnsitz des Kindes zu informieren (Art. 315 Abs. 1 ZGB; Art. 314 Abs. 1 i.V.m. Art.
443 ZGB; in Notfällen ergreift die Ärzteschaft sofort medizinische Massnahmen nach dem
Kindeswohl, dem mutmasslichen Willen und den Interessen des Kindes, Art. 379 ZGB); sie hat
kurzfristig selbst die Zustimmung zu der medizinischen Massnahme zu erteilen oder zu
verweigern und allenfalls längerfristig eine Vertretungsbeistandschaft für das Kind zu
errichten (Art. 306 Abs. 2, 3 ZGB). Der Entscheid über die Zustimmung oder Verweigerung zur
Bluttransfusion richtet sich nach dem Kindeswohl, den Interessen und dem mutmasslichen
Willen des Kindes (Art. 378 Abs. 3 ZGB analog).
- S. auch: http://www.ethikkomitee.de/leitlinien/index.html (Ethikleitlinie zur Behandlung von
Zeugen Jehovas und deren Kindern).
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Fall 4 (Variante zu Fall 3)
Sachverhalt
Sie haben ein zehn Jahre älteres, geistig behindertes Geschwister (G). Es lebt nach wie vor bei den
Eltern. Sie überlegen sich:
(a) Wer trägt die Verantwortung für G?
(b) Können Sie selbst die Verantwortung für G übernehmen?
Lösungsstichworte:
a)
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Minderjährige Kinder stehen unter elterlicher Sorge (Art. 296 ZGB). Das alte Recht sah
ausserdem die Möglichkeit der erstreckten elterlichen Sorge gem. aArt. 385 Abs. 3 ZGB für
entmündigte Erwachsene (aArt. 396 ff. ZGB) vor.
Zu prüfen ist, ob G unter altem Recht entmündigt und unter die erstreckte elterliche Sorge
(ev. unter Vormundschaft) gestellt oder ob eine Beistandschaft (aArt. 392 i.V.m. aArt. 393
ZGB) errichtet worden war. Z.T. wurden solche Fälle den Vormundschaftsbehörden gar nicht
gemeldet, die Vertretung des behinderten volljährigen Kindes erfolgte im Alltag, bei
Bankgeschäften etc. ohne Probleme (und ohne vormundschaftliche Massnahme) weiterhin
durch die Eltern. Bei offenkundiger geistiger Behinderung entfällt die Vermutung der
Urteilsfähigkeit und die Beweislast wird umgekehrt.
Wurde G entmündigt und unter die erstreckte elterliche Sorge oder unter Vormundschaft
gestellt, steht er seit 1.1.13 gem. Art. 14 Abs. 2 SchlT ZGB unter umfassender Beistandschaft
gem. Art. 398 ZGB (Anpassungen ans neue Recht von Amtes wegen durch die KESB sobald
wie möglich). Mandatsträger sind weiterhin die Eltern resp. ist der bisherige Vormund (neu
Beistand), sofern kein Mandatsträgerwechsel stattgefunden hat. Wurde für G eine
Beistandschaft errichtet, bleibt diese in der bisherigen Form aufrechterhalten und ist gem.
Art. 14 Abs. 3 SchlT ZGB innert drei Jahren seit Inkrafttreten des neuen Rechts (per 1.1.13),
d.h. per 31.12.2015, in eine Massnahme des neuen Rechts zu überführen, sofern sie nicht
aufgehoben werden kann.
Die Verantwortung für G tragen also entweder die Eltern (nach neuem Recht als Beistände
oder ohne Massnahme) oder ein anderer Vormund resp. (seit 1.1.13) Beistand.
b)
-
-
Geschwister können unter den Voraussetzungen von Art. 400 ff. ZGB Beistand werden. Sie
haben indes keinen Anspruch auf Ernennung als Beistand (Art. 401 Abs. 1 ZGB). Besteht
bereits eine Beistandschaft, könnte eine Ernennung als Beistandsperson im Rahmen eines
Mandatsträgerwechsels erfolgen. Angehörige können gem. Art. 420 ZGB von der Inventar-,
Berichterstattungs- und Rechnungspflicht befreit werden.
Zuständig ist die KESB am Wohnsitz der betroffenen Person, Art. 442 ZGB.
Es ist im Hinblick auf das Älterwerden der Eltern sinnvoll, die Aufgabe auf jüngere Angehörige
zu übertragen; zu beachten ist allerdings das Risiko von Interessenkonflikten (z.B. bei
Erbgang/Erbteilung; s. auch Art. 403 ZGB bei Interessenkonflikten im Rahmen einer
Beistandschaft).
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Familienrechtsfälle
Fall 1
Sachverhalt
Balz (11) und Sophia (8)
2003 Heirat der Eltern, 2005 Geburt von Balz (mit ersten Problemen in der elterlichen Beziehung)
und 2008 Geburt von Sophia, ab 2009 ernst-hafte Beziehungsprobleme der Eltern, im März 2010
eheschutzgericht-liche Organisation des Getrenntlebens mit mütterlicher Obhut und väterlichem
Besuchsrecht. 2011-2012 „trötzlet“ Balz und will den Vater nur widerwillig besuchen, wird aber von
der Mutter zu den Besuchen angehalten. 2013, nach den Frühlingsferien beim Vater, weigert sich
Balz allerdings, zur Mutter zurückzukehren. Das Eheschutzgericht passt die Regelung den
Verhältnissen an, teilt die Obhut über Balz dem Vater zu und organisiert das Besuchsrecht so, dass
jedes zweite Wochenende Balz bei der Mutter bzw. Sophia beim Vater ist, womit die Geschwister
jedes Wochenende entweder bei Vater oder Mutter zusammen wären. Balz weigert sich indes, seine
Mutter zu besuchen, während Sophia jedes zweite Wochenende beim Vater verbringt (und dann
auch mit Balz zusammen ist). Die Mutter versucht zwar kontinuierlich, mit Balz Kontakt zu haben und
ihn zu Besuchen zu animieren – indes erfolglos. Sie wendet sich Ende 2014 an die Behörde – was
unternimmt diese Behörde?
Lösungsstichworte
Zuständigkeit
Sachliche Zuständigkeit:
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Eheschutzgerichtliche Regelung der Obhut und des Besuchsrechts, zuletzt 2013
Art. 176 Abs. 3 ZGB, Art. 315a ZGB
Abänderungen: Art. 179 Abs. 1 ZGB, Art. 315b Abs. 1 Ziff. 3 ZGB Verweis auf Art. 134 ZGB
Nur persönlicher Verkehr: Art. 134 Abs. 4 ZGB
KSB entscheidet über die Änderung des
persönlichen Verkehrs
Örtliche Zuständigkeit der KSB:
Art. 315 Abs. 1 ZGB am Wohnsitz des Kindes (s. für den persönlichen Verkehr, der hier aber grs.
schon geregelt wurde, auch Art. 275 Abs. 1 u. 2 ZGB)
Wohnsitz des Kindes bestimmt sich nach Art. 25 Abs. 1 ZGB: Wohnsitz des Elternteils, unter dessen
Obhut das Kind steht (sog. abgeleiteter Wohnsitz) Balz steht unter der (faktischen) Obhut des
Vaters KSB am Wohnsitz von Balz und seinem Vater ist örtlich zuständig
Hinweis: Ein Urteil, das nach altem Recht gefällt wurde, bleibt auch mit Inkrafttreten des neuen
Rechts (1.7.2014) bestehen. Die Begrifflichkeiten sind dem neuen Recht entsprechend zu verstehen,
d.h., die gemeinsame elterliche Sorge, die nach altem Recht „entstand“, entspricht seit 1.7.2014
inhaltlich der gemeinsamen elterlichen Sorge nach neuem Recht (FASSBIND, AJP 2014 692 ff., 694).
Umstritten ist seit Inkrafttreten des neuen Rechts über die elterliche Sorge, ob der Begriff der Obhut
unter neuem Recht anders zu verstehen ist als unter altem Recht (s. dazu GLOOR, FamPra.ch 2015 331
ff. mit zahlreichen Hinweisen; FASSBIND, AJP 2014 692 ff.; HAUSHEER/GEISER/AEBI-MÜLLER, N 17.105 ff.).
Unklar ist auch, ob das Aufenthaltsbestimmungsrecht (Art. 301a ZGB) untrennbar mit der elterlichen
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Sorge verbunden ist (s. dazu auch Fall „Lea und Tim“). Ist diese Frage zu bejahen, wäre es generell
nicht zulässig, bei gemeinsamer elterlicher Sorge einem Elternteil das Aufenthaltsbestimmungsrecht
zu entziehen und dieses alleine beim andern Elternteil zu belassen. Bei einer Kindeswohlgefährdung,
die in einem konkreten Fall hauptsächlich mit dem Aufenthaltsort des Kindes zusammenhängt und
von nur einem Elternteil ausgeht, wäre es demnach nicht zulässig, diesem das
Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entziehen und es dem andern, mit ihm gemeinsam
sorgeberechtigten Elternteil zu belassen. Entweder müsste dieses beiden Elternteilen entzogen
werden oder dem betreffenden Elternteil wäre die elterliche Sorge zu entziehen (bei diesem
Begriffsverständnis Verstoss gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip?).
Vorgehen der KSB
Mutter wendet sich an die KSB
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was wird die KSB tun?
Einleitung eines Abklärungsverfahrens, Offizial- und Untersuchungsmaxime (Art. 446 ZGB)
Ziele?
- Normale Wahrnehmung des Besuchsrechts durch Balz
Abklärung des Sachverhalts:
- Anhörung der Mutter, Art. 447 ZGB
- Anhörung des Vaters, Art. 447 ZGB
- Anhörung von Balz, Art. 314a ZGB; Anhörung von Kindern gem. BGer grs. ab 6 Jahren
möglich (im Scheidungsverfahren BGE 131 III 553; zum Kindesschutzverfahren BGer
5C.149/2006 vom 10.7.2006, dazu SCHWEIGHAUSER, FamPra.ch 2006 977 ff.; BGer
5A_397/2011 vom 14.7.2011).
Lösungsmöglichkeiten?
- Besuchsrecht ist geregelt, Gericht erachtete diese („übliche“) Lösung als dem Kindswohl
gerecht was hat sich seither geändert?
- Bevor eine Änderung des gerichtlich geregelten Besuchsrechts ins Auge gefasst wird,
sollte versucht werden, das Besuchsrecht so umzusetzen.
- Behelfsmöglichkeiten: Weisungen (Art. 307 Abs. 3 ZGB), Ermahnungen (Art. 307 Abs. 3
ZGB; Art. 273 Abs. 2 ZGB), Besuchsrechtsbeistand (Art. 308 Abs. 2 ZGB), zwangsweise
Durchsetzung bei gerichtlicher Anordnung nach ZPO; Entscheid KSB: Art. 450g und nach
kant. Vollstreckungsrecht
Weshalb verweigert Balz den Kontakt zur Mutter? Ist etwas vorgefallen? Was hat damals zur
Verweigerung der Besuche beim Vater geführt? Weshalb wollte er plötzlich beim Vater
wohnen? Was war die Ursache für diesen Sinneswandel? Wie verhält sich der Vater?
Ermuntert er Balz, Kontakt mit der Mutter (zunächst: in irgendeiner Form) aufzunehmen?
Was vermittelt er Balz? Gefährdet eine Durchführung der Besuche das Kindeswohl?
Inwiefern? Blosse Unlust/wirkliche Belastung?
Kommunikation zwischen den Eltern?
Art. 273 ZGB
gegenseitiger Anspruch auf persönlichen Verkehr
grs. ist das Kind zu
ermuntern und aufzufordern, die Besuchswochenenden durchzuführen
er ist mit 11 noch
in einem Alter, in dem er zwar eine eigene Meinung hat, jedoch auch noch positiv, aber auch
negativ (u.U. stark) beeinflussbar ist
Nutzen der möglichen Massnahmen?
- Wenn keine Kindeswohlgefährdung bei Durchführung des Besuchsrechts zu befürchten
ist: Ermahnung des Vaters, alles zu tun, damit Balz die Besuche bei der Mutter
wahrnimmt. Allenfalls Androhung der Ungehorsamsstrafe nach Art. 292 StGB.
Wenn
der Vater Balz kein positives Gefühl vermittelt und ihn nicht ermuntert, sind auch
Ermahnungen nicht sonderlich wirksam; Überprüfung, ob der Vater dieser Aufforderung
nachkommt, ist schwierig.
- Ermahnung von Balz, die Besuche durchzuführen. Fragwürdig, wie wirksam eine solche
Ermahnung ist.
- Welche Aufgabe hätte ein Besuchsrechtsbeistand? Der Sachverhalt besagt nichts
darüber, ob Probleme bei der Ausarbeitung eines Besuchsplans bestehen. Müssen
Modalitäten festgelegt werden? Er könnte allenfalls (schlichtende und beratende)
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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-
Gespräche mit Balz und den Eltern führen. Förderung anderer Formen des persönlichen
Verkehrs: E-Mails, Briefe, Telefonate, SMS. Anwesenheit bei der Übergabe, Ermunterung
des Kindes, zur Mutter auf Besuch zu gehen, „Kontakt-Anbahnung“ (Teilnahme der
Mutter an z.B. schulischen Veranstaltungen, an denen das Kind beteiligt ist, „begleitetes
Besuchsrecht“?).
Ein adäquat ausgeübtes Besuchsrecht ist für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
unabdingbar.
Würde Balz allenfalls freiwillig auf Besuch gehen, wenn er nicht übernachten müsste?
Leichte Modifizierung des Besuchsrechts? Nur stundenweise?
Zwangsweise Durchsetzung nur, wenn dadurch nicht eine Gefährdung des Kindeswohls
zu befürchten ist
grs. zu vermeiden, da nicht förderlich für die Beziehung und i.d.R.
nicht für das Kind, v.a. wenn das Kind den Kontakt selbst verweigert.
Fall 2
Sachverhalt
Tamara (10)
Vater und Mutter von Tamara sind unverheiratet und hatten Ende 2005 nur kurze Zeit zusammen
gelebt. Während der Schwangerschaft drängte der Vater die Mutter zur Abtreibung, was die Mutter
ablehnte. 2015 verlangt der Vater die Übertragung der elterlichen Sorge, da sich die Mutter einer
Sekte zugewandt habe, ihr Verhalten insgesamt eigentümlich und eine Gefährdung für die
Entwicklung von Tamara sei. – Was ist zu klären und was ist beim Entscheid zu erwägen?
Variante: Tamara ist am 1.7.2014 geboren. Die Eltern haben die gemeinsame elterliche Sorge. Seit
der Geburt von Tamara haben sie sich immer stärker auseinandergelebt und lösen nun den
gemeinsamen Haushalt auf. Wie geht es für Tamara weiter?
Lösungsstichworte
Zuständigkeit
Sachliche Zuständigkeit:
Eltern unverheiratet
Zuständigkeit der KSB (keine gerichtliche Zuständigkeit)
Örtliche Zuständigkeit:
Art. 315 Abs. 1 ZGB
KSB am Wohnsitz des Kindes
Vorgehen der KSB
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Einleitung eines Abklärungsverfahrens, Offizial- und Untersuchungsmaxime (Art. 446 ZGB)
Anhörung von Vater, Mutter, Kind (Art. 447 ZGB, Art. 314a ZGB). Anhörung von Kindern gem.
BGer grs. ab 6 Jahren möglich (im Scheidungsverfahren BGE 131 III 553; zum
Kindesschutzverfahren BGer 5C.149/2006 vom 10.7.2006, dazu SCHWEIGHAUSER, FamPra.ch
2006 977 ff.; BGer 5A_397/2011 vom 14.7.2011).
Situation von Mutter und Kind? Hat sich die Mutter tatsächlich einer Sekte zugewandt?
Wenn ja: Welcher? Grds. Religionsfreiheit. Welche Auswirkungen hat die Zugehörigkeit zu
dieser Sekte auf die Mutter-Kind-Beziehung resp. auf das Kind? Wie war die Situation vor der
Sektenzugehörigkeit? Auffälligkeiten in der Schule? Eindrücke Lehrpersonen/andere
Familienangehörige/ev. Nachbarn/Tagesmutter/Hort/Arzt etc.? Ist eine Gefährdung des
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Kindswohls zu befürchten? Wenn ja, inwiefern? Wie könnte einer solchen Gefährdung
entgegengewirkt werden?
Lässt sich Mutter auf Gespräche ein? Ist sie kooperativ? Allenfalls Herstellung Kontakt zu
einer Beratungsstelle.
Entzug der elterlichen Sorge gem. Art. 311 f. als ultima ratio, wenn keine mildere
Kindesschutzmassnahme geeignet ist und ausreicht, um der Kindswohlgefährdung adäquat
zu begegnen. Nach Art. 298b Abs. 1 und 2 ZGB könnte der Vater (bis ein Jahr nach
Inkrafttreten, Art. 12 Abs. 4 SchlT ZGB; diese Frist ist abgelaufen) einseitig die Übertragung
der gemeinsamen elterlichen Sorge bei der KSB verlangen.
Kontakte zum Vater? Beziehung Vater-Kind? Situation des Vaters?
Wenn eine Gefährdung des Kindeswohls besteht/zu befürchten ist und dieser nur wirksam
begegnet werden kann, indem das Kind nicht mehr bei der Mutter lebt, ist vor einem Entzug
der elterlichen Sorge ein Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB) als
mildere Massnahme zu prüfen. Allenfalls wäre die Mutter sogar bereit, das Kind freiwillig in
fremde Obhut oder die faktische Obhut des Vaters zu geben.
Ist ein Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts unumgänglich, ist zu prüfen, ob das Kind
beim Vater platziert werden kann. Gem. Sachverhalt hatte er die Mutter während der
Schwangerschaft zu einer Abtreibung gedrängt; dies sagt allerdings nichts darüber aus, wie
sein Kontakt resp. seine Beziehung zu Tamara heute ist. Es ist zu prüfen, welcher
Platzierungsort dem Kindswohl am besten gerecht wird. Platzierung beim Vater, wenn guter
Kontakt, wenn er bereit ist, Kontakt mit der Mutter aufrechtzuerhalten, zu fördern, wenn er
(aufgrund seiner heutigen Lebenssituation, ggf. inkl. Partnerin) in der Lage ist, Tamara zu
betreuen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Falls nicht schon eine gute Beziehung
zum Vater besteht, sind kurzfristig eher Pflegeeltern (u.U. die Familie eines
„Klassengspöndli“) geeignet.
Prüfung Kindesverfahrensvertretung, Art. 314abisZGB
Variante:
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Sachliche und örtliche Zuständigkeit bleibt gleich.
Eltern haben die gemeinsame elterliche Sorge
grs. haben sie sich abzusprechen und
darüber zu einigen, bei welchem Elternteil Tamara lebt, wie und von wem sie betreut wird
etc.
Sie können auch die alternierende Obhut vereinbaren.
Inhalt der elterlichen Sorge: Art- 301 ff. ZGB.
Entscheidungskompetenzen werden bei gemeinsamer elterlicher Sorge grs. durch die Eltern
gemeinsam ausgeübt
gem. Art. 301 Abs. 1bis ZGB Alleinentscheidungskompetenz des
betreuenden Elternteils für gewisse Bereiche: alltägliche oder dringliche Angelegenheiten;
wenn der andere Elternteil nicht mit vernünftigem Aufwand zu erreichen ist.
Aufenthaltsbestimmungsrecht als Teil der elterlichen Sorge: Art. 301a ZGB „Zügelartikel“
Veränderung der Verhältnisse: Art. 298d ZGB. Die KESB kann die Zuteilung der elterlichen
Sorge neu regeln, wenn dies wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse zur Wahrung
des Kindeswohls nötig ist. Regelfall ist aber die gemeinsame elterliche Sorge (Art. 296 Abs. 2
ZGB); die Alleinsorge soll der Ausnahmefall sein (s. dazu die Entscheide des BGer [bei
unverheirateten Eltern u. in Zsh. mit Scheidung]: BGE 141 III 472; 5A_926/2014 vom
28.8.2015; 5A_202/2015 vom 26.11.2015 [zur Publikation vorgesehen]; 5A_412/2015 vom
26.11.2015; 5A_331/2015 vom 20.1.2016 [zur Publikation vorgesehen]).
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Fall 3
Sachverhalt
Lea (3) und Tim (7)
Die Mutter wohnt mit Lea und Tim von ihrem Ehemann getrennt in einer Dreizimmerwohnung in der
Stadt. Das Mädchen besucht an drei Tagen in der Woche eine Krippe, der Junge die erste Klasse. Der
Ehemann bezahlt regelmässig Unterhalt für Mutter und Kinder. Sowohl in der Krippe als auch in der
Schule fällt auf, dass die Kinder in letzter Zeit immer dieselben (ungewaschenen) Kleider tragen, dass
sie ungepflegt sind und keinen Znüni mehr dabei haben. Die Mutter wirkt ebenfalls ungepflegt, wenn
sie die Kinder abholt. Sie verweigert Gespräche und macht teilweise einen verwirrten Eindruck. Seit
einigen Wochen sind die Kinder auch nicht mehr auf dem Spielplatz anzutreffen. Auf Nachfrage beim
Vater erklärt dieser, seine Frau lasse ihn nicht mehr in die Wohnung, wenn er die Kinder abhole oder
nach Hause bringe. Die Fenster-läden seien immer geschlossen und sie wirke auf ihn verstört. Er
wisse nicht, was er tun solle. Wie weiter?
Lösungsstichworte
Zuständigkeit
Sachliche Zuständigkeit:
Verheiratet, getrennt (Annahme: wohl nicht gerichtlich, da keine Angaben im SV, ausserdem keine
Hinweise auf Eheschutz) kein Gerichtsverfahren hängig oder abgeschlossen Zuständigkeit der
KSB, Art. 315 Abs. 1 ZGB
Wird ein Eheschutzverfahren eingeleitet (Art. 172 ff. ZGB), ist das Eheschutzgericht grs. auch für die
Regelung der Kinderbelange, d.h. (faktische) Obhut/elterliche Sorge/Unterhalt/pers.
Verkehr/Betreuungsanteile zuständig (Art. 176 Abs. 3, Art. 315a Abs. 1 ZGB); die KSB bleibt gem. Art.
315a Abs. 3 Ziff. 1 ZGB befugt, ein vor dem gerichtlichen Verfahren eingeleitetes
Kindesschutzverfahren weiterzuführen eine Zusammenführung der beiden Verfahren ist i.d.R.
zweckmässig, d.h., Gericht führt das Verfahren grs. weiter.
(Variante: Löst die kontroverse Anpassung von Obhut/elterlicher Sorge auch eine Anpassung der
Unterhaltsregelung aus, besteht gerichtliche Zuständigkeit, Art. 176 Abs. 1 Ziff. 1 [i.V.m. Art. 278
ZGB], Art. 176 Abs. 3 ZGB)
Örtliche Zuständigkeit:
Art. 315 Abs. 1 ZGB am Wohnsitz des Kindes; grs. abgeleiteter Wohnsitz gem. Art. 25 Abs. 1 ZGB
keine Hinweise, dass Aufenthaltsbestimmungsrecht od. elterliche Sorge der Eltern an
Trennungssituation angepasst wurde verheiratete Eltern haben gemeinsame elterliche Sorge, die
auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht mitumfasst (Art. 301a Abs. 1 ZGB) hier nicht hoheitlich
geregelte/zugeteilte faktische Obhut der Mutter wenn die Eltern im konkreten Fall nicht
denselben Wohnsitz (i.S.v. dieselbe Ortschaft, wenn auch getrennte Wohnungen) haben, ist der
Aufenthaltsort der Kinder ausschlaggebend (Art. 25 Abs. 1 i.f. ZGB; BSK ZGB I-STAEHELIN, Art. 25 N 8 f.;
FASSBIND, AJP 2014 692 ff., 694, geht davon aus, dass Art. 25 Abs. 1 ZGB sich neu auf die
hauptsächliche Obhutsberechtigung [faktische Obhut] und nicht mehr auf die rechtliche Obhut
bezieht).
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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Vorgehen der KSB
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Einleitung eines Abklärungsverfahrens, Offizial- und Untersuchungsmaxime (Art. 314 Abs. 1
i.V.m. Art. 446 ZGB).
Eltern haben, da verheiratet, gemeinsame elterliche Sorge (Art. 296 Abs. 2 ZGB). Über die
Obhut haben sie sich vermutungsweise bilateral geeinigt. Ausübung des Besuchsrechts
scheint zu funktionieren.
Anhörung Vater, Mutter, Tim (Art. 447, Art. 314a ZGB). Anhörung von Kindern gem. BGer
grds. ab 6 Jahren möglich (im Scheidungsverfahren BGE 131 III 553; zum
Kindesschutzverfahren BGer 5C.149/2006 vom 10.7.2006, dazu SCHWEIGHAUSER, FamPra.ch
2006 977 ff.; BGer 5A_397/2011 vom 14.7.2011).
Ev. Hausbesuch, Beobachtung Interaktion Mutter-Kinder.
Gespräche mit Schule und Krippe; weitere Verwandte, Bekannte, Nachbarn? Arzt? Familiäres
Umfeld, Grosseltern etc.?
Arbeitet die Mutter? Wenn ja, geht sie noch zur Arbeit? Hat sie einen strukturierten
Tagesablauf?
Gab es ein Ereignis, infolgedessen sich das Verhalten der Mutter änderte?
Ist die Mutter in ärztlicher oder psychologischer Behandlung/Betreuung? Allenfalls
medizinische Abklärung
Mögliche Gründe für Veränderung: Überforderung? Somatische oder psychische Erkrankung?
Leidet sie unter der Trennung vom Kindsvater? Was waren Gründe der Trennung? Wie lange
ist die Trennung her?
Gibt es Probleme im finanziellen Bereich, obwohl der Vater Unterhalt bezahlt?
Kooperation der Mutter? Unterstützungsmöglichkeiten? Empfänglichkeit der Mutter für
Unterstützungsangebote?
Mütterberatungsstellen, Jugend- und Familienberatung.
Benötigt die Mutter Unterstützung im Alltag (z.B. sozialpädagogische Familienbegleitung, je
nach Ursache Psychiatriespitex)?
Kindesschutzmassnahmen (Art. 307 ff. ZGB)? Erwachsenenschutzmassnahmen (Art. 393 ff.
ZGB)?
Falls Kindesschutzmassnahme: Mildeste geeignete Massnahme. Falls eine Gefährdung des
Kindeswohls zu befürchten ist, wenn die Kinder weiterhin bei der Mutter leben, Prüfung
eines Entzugs des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB) als ultima ratio. Prüfung
Kindesverfahrensvertretung, Art. 314abis ZGB (Verfahren vor KESB), Art. 299 f. ZPO
(gerichtliches Verfahren). Wird nur der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen,
kommt diese als Teilgehalt der elterlichen Sorge alleine dem Vater zu (umstritten ist, ob
unter neuem Recht bei gemeinsamer elterlicher Sorge überhaupt nur einem Elternteil allein
das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und dem andern belassen werden kann oder ob
es in solchen Fällen, aufgrund seiner angeblichen Untrennbarkeit von der elterlichen Sorge,
zwingend beiden Elternteilen zu entziehen ist, s. z.B. FASSBIND, AJP 2014 692 ff., 694 f, FN 12
u. 13 [für Untrennbarkeit]; HAUSHEER/GEISER/AEBI-MÜLLER, Familienrecht, N 17.101, 17.105
[für Trennbarkeit]).
Wie ist die Beziehung der Kinder zum Vater? Wäre er bereit, die Obhut zu übernehmen?
Wäre die Mutter einverstanden, wenn die Kinder beim Vater leben würden? Wie könnte der
Vater die Übertragung der Obhut gegen den Willen der Mutter bewirken?
Mutter: bei psychischer Störung/Verwahrlosung ultima ratio FU (falls die nötige Betreuung
oder Behandlung nicht anders erbracht werden kann; Art. 426 ff. ZGB). Achtung (ausserhalb
des Stoffbereichs des Kindesschutzes): Sind Erwachsenenschutzmassnahmen zu prüfen, ist
immer auch zu prüfen, ob die betroffene Person für abhängige Personen verantwortlich ist.
17.3.2016 Individuen, Familien, Generationen (LLBM 2016) Prof. Dr. iur. Peter Breitschmid
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