Die Sterbende , das Bildnis der sterbenden

38 KULTUR
BASEL | BASELLANDSCHAFTLICHE
SAMSTAG, 25. JULI 2015
Ein neuer Versuch, der Zeit etwas zu entlocken
Literatur Auch als Nobelpreisträger bleibt Patrick Modiano seinem Konzept im neuesten Roman treu
VON ANDREAS WIRTHENSOHN
Als der Franzose Patrick Modiano im
vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, da war sich
die literarische Öffentlichkeit einerseits
weitgehend einig, dass dieser Autor
diese Auszeichnung absolut verdient
hat. Zugleich aber war vielfach ein gewisses Unbehagen darüber zu spüren,
ob hier nicht eine Literatur prämiert
worden war, die fest in der Moderne
des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist und
nicht unbedingt den «Stand der Dinge»
im Jahr 2014 widerspiegelt.
In der Tat atmen die inzwischen über
zwanzig Romane des 1945 geborenen
Modiano einen Geist, der stets in die
Vergangenheit zurückreicht: in die Zeit
des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung in Frankreich, in das
Paris der 1950er- und 1960er-Jahre, in
Bereiche der Kindheit, die von Autobiographischem durchdrungen, aber doch
nie im eigentlichen Sinne autobiografisch sind. Die Gegenwart ist allenfalls
Ausgangspunkt für die tastende Erkundung der Vergangenheit, für ein Verwischen der Zeiten und Orte, für einen
Prozess des Erinnerns, der bei Modiano stets ganz stark mit seinem Gegenstück, dem Vergessen, verwoben ist.
Auch in anderer Hinsicht ist der bald
70-jährige Modiano ein moderner (und
Unerhörte Sucht nach Schatten
ätherischen Begleiterin, sich für einige
der Namen im Verzeichnis stark interessiert. Denn sie stimmen mit Namen
überein, auf die er im Zuge der Beschäftigung über einen Kriminalfall von
Anfang der 1950er-Jahre gestossen ist.
Darüber möchte er ein Buch schreiben,
und Daragane soll ihm dabei helfen.
eben kein post- oder nachpostmoderner) Autor: Er schreibt im Grunde beharrlich an einem einzigen grossen
Buch, zu dem jeder neue Roman wieder ein Stück hinzufügt, ohne aber am
Grundcharakter dieses Werks etwas zu
ändern.
«Damit du dich im Viertel nicht verirrst» stand auf einem Zettel, den Annie
dem «kleinen Jean» einst mitgegeben
hatte und auf dem die Adresse ihrer Pariser Wohnung notiert war. Und solche
Adressen sind es auch, die in diesem
Roman dem Gedächtnis Orientierung
geben. Trotzdem bleibt, wie immer bei
Modiano, vieles aus dieser Vergangenheit nebulös, unaufgelöst, rätselhaft.
Das Motto von Stendhal, das dem Roman vorangestellt ist, könnte Modianos
gesamtes literarisches Schaffen charakterisieren: «Ich kann die Wirklichkeit
des Geschehenen nicht darstellen, ich
kann nur seinen Schatten zeigen.» Und
vielleicht macht gerade diese unerhörte «Schattensucht», dieses unendlich
mühevolle Herantasten an das Vergangene, das sich nie zu einer durcherzählten Geschichte rundet, diesen Pariser
Flaneur zu einem so unerhört zeitlosen
Schriftsteller. Oder genauer: zu einem
Autor, der in einer ganz eigenen Zeitrechnung schreibt.
Suche nach verlorener Zeit
Insofern ist es mit einem «neuen»
Modiano immer ein wenig wie mit
einer Krimiserie à la Wallander: Man
braucht nur ein paar Sätze, ein paar
Seiten, und schon ist man wieder drin
in einer Welt, die einem längst vertraut
und vielleicht gerade deshalb so etwas
wie eine literarische Heimat geworden
ist. Sofort spürt man wieder das Geheimnisvolle, das Modianos Helden
umgibt, das Paris der bürgerlichen
Arrondissements und den Sog, den
das Ringen mit Erinnerung und damals
entfaltete. Insofern ist auch der neue
Roman keine Überraschung, sondern
der Versuch, dieser eindringlichen Suche nach der verlorenen Zeit wieder
eine neue Facette zu entlocken.
Jean Daragane ist ein typisch modianoscher Held: in etwa so alt wie sein
Schöpfer, Schriftsteller, mit den modernen Kommunikationsmedien nur ansatzweise vertraut, aber ein Liebhaber
von Adressen, Namen, Strassen, die
allesamt als Orientierungspunkte im
Alles dreht sich um einen Namen
Gilles und Chantal – so heissen die
zwei – sind so etwas wie Katalysatoren
eines Prozesses, bei dem für Jean Daragane schon bald die vergangenen Zeiten und Orte wieder lebendig werden,
zugleich aber auch verschwimmen zu
einem «Dunst, der sich auflöste in der
Sonne». Im Zentrum des Erinnerns
steht ein Name: Annie Astrand. Bei ihr
hat Jean als Siebenjähriger einige Zeit
verbracht, weggegeben von den Eltern
und hineingeworfen in die etwas zwielichtige Welt von Variété-Tänzerinnen
und Nachtclubbesitzern.
Zugleich aber war es die Zeit im Leben
des nunmehr fast Siebzigjährigen, in der
er sich zu Hause gefühlt hat – bis er eines
Morgens von Annie in einem Hotelzimmer an der Côte d’Azur zurückgelassen
wurde, weil sie nach Italien fliehen wollte. Kein Wunder also, dass die Erinnerung an diese traumatische Erfahrung
weitgehend dem Vergessen anheimgegeben wurde.
«Damit du dich im Viertel nicht verirrst»:
Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano bleibt sich in seinem neuesten Roman
FRANCK COURTES/KEY
treu.
Meer der Erinnerung dienen. Er erhält
eines Tages den Anruf eines Mannes,
der sein verlorenes Adressbuch gefunden hat.
Bei der Übergabe des Fundstücks
stellt sich freilich heraus, dass der junge Mann, begleitet von einer etwas
Patrick Modiano Damit du
dich im Viertel nicht verirrst.
Aus dem Französischen von
Elisabeth Edl. Hanser, München 2015. 160 S., Fr. 27.90.
«Das Bild hat mich schockiert und zugleich fasziniert»
Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum (25) Jürg Henneberger, Pianist, Dirigent und Leiter des Ensembles Phoenix Basel, wählt Ferdinand Hodlers «Die
Sterbende», das Bildnis der sterbenden Valentine Godé-Darel vom Januar 1915.
«
Ferdinand Hodler ist vor allem als
Maler monumentaler Ölgemälde
und Wandbilder bekannt und – zumindest mir selbst – wegen seiner symbolistischen, zur Idealisierung neigenden Darstellung des Menschen immer etwas suspekt geblieben. Dass er phänomenale,
zukunftsweisende Landschaftsgemälde
und äusserst lebensgetreue Porträts malen konnte, wurde mir erst später bewusst.
Zu Beginn meines Musikstudiums in
Basel besuchte ich im Herbst 1976 im
Kunstmuseum Bern die Ausstellung «Ein
Maler von Liebe und Tod. Ferdinand
Hodler und Valentine Godé-Darel» – ein
Werkzyklus 1908–1915, die mich nachhaltig beeindruckte.
Im Jahr 1908 lernte der damals 55-jährige Hodler die 20 Jahre jüngere Pariser
Tänzerin Valentine Godé-Darel kennen,
die seine Geliebte wurde. Im Oktober
1913, kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Pauline-Valentine, wurde bei Godé-Darel ein Krebsleiden diagnostiziert, dem sie am 25. Januar 1915
erlag. Hodler malte über ein Dutzend
Gemälde und mehr als 100 Zeichnungen
seiner Geliebten und dokumentierte damit den Verfall einer lebenslustigen
Frau von jugendlicher Schönheit bis zu
ihrem Tod.
Das Bild, das mich 1976 in der Berner
Ausstellung am meisten schockiert und
gleichzeitig fasziniert hat und das ich mit
grosser Freude viele Jahre später im
Kunstmuseum Basel wieder entdeckt habe, ist das mittelgrosse Ölgemälde «Die
Sterbende», auf dem die todkranke Valentine Godé-Darel am Tag vor ihrem Tod
abgebildet ist. Der Blick des Betrachters
wird vom Gesicht der Kranken in der
rechten Bildhälfte geradezu magisch angezogen. Man fühlt sich unangenehm berührt, kommt sich vor wie ein Voyeur,
der einen indiskreten Blick wagt.
Aber Hodler schaut sehr genau hin und
lässt uns quasi in seine Rolle schlüpfen.
Er zeichnet schonungslos die eingefallenen Gesichtszüge, die markante Nase,
den offenen Mund, ohne Beschönigung,
absolut realistisch, plastisch wie eine
Skulptur. Alles Weitere – Nachthemd, Kissen, Bettlaken, Hintergrund – ist mit wenigen Pinselstrichen angedeutet.
MARTIN P. BÜHLER / KUNSTMUSEUM BASEL
Ferdinand Hodler: «Die Sterbende», 1915, Öl auf Leinwand, 60,1×90,3 cm, Ankauf 1942 mit einem Beitrag aus dem Birmann-Fonds.
Was ich damals schon geahnt habe, als
ich als 19-Jähriger dieses Bild zum ersten
Mal betrachtete: Diese Detailversessenheit
ist Hodlers Art, seinen Schmerz und die
Trauer zu verarbeiten. Es wurde mir klar,
dass Valentine Godé-Darel mehr als nur
eine Geliebte war.
Jürg Henneberger.
ROS
Sie war wohl die Frau, die Hodler zeit
seines Lebens am meisten geliebt hatte.
Das musste auch seine zweite Ehefrau
Berthe Jacques gespürt haben, denn nach
Godé-Darels Tod adoptierte sie deren
Tochter Pauline-Valentine und nahm sie
somit in die Familie auf.»
SERIE
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Mein Lieblingswerk
Mit der bz-Serie «Mein Lieblingswerk aus dem
Kunstmuseum» wollen wir während der Zeit
der Schliessung des Basler Kunstmuseums
dessen Schätze in unser Bewusstsein rufen.
Dies, obwohl einige Meisterwerke im Museum der Gegenwartskunst (Moderne) und im
Museum der Kulturen (Alte Meister) zugänglich sind. Jede Woche stellt eine bekannte
Persönlichkeit aus der Region ihr Lieblingswerk aus der Sammlung vor. Am 4. Juli wählte
der Basler Designer und Grafiker Jean
Jacques Schaffner Paul Klees Bild «Reicher
Hafen» von 1938. Am 11. Juli erklärte SPGrossrat Leonhard Burckhardt, der Präsident der Freunde des Kunstmuseums,
weshalb ihm Marc Chagalls Bild «La prisée
(Der Rabbiner)» (1923–26) besonders gefällt. Am 18. Juli entschied sich der Basler
Künstler Kilian Rüthemann für Martha
Roslers sechsminütige Videoarbeit «Semiotics of the Kitchen» in Schwarz-Weiss von
1975. (FLU)
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