Vom Glück des Unglücklichseins Wilhelm Schmid Dass es im Leben auf und ab geht, ist eine Binsenweisheit. Dennoch akzeptieren wir nur die Höhen, aus Tiefs wollen wir möglichst schnell herauskommen. Dabei sind gerade die Melancholiker mit ihrer Sensibilität ein Geschenk an die Gesellschaft. Was ist der wahre Weg zum Glück? Die hysterische Beschwörung des Glücks sicher nicht. Menschen machen sich unglücklich, wenn sie glauben, immer glücklich sein zu müssen. Denn Glück bedeutet nicht, nur eine Seite des Lebens, nämlich die des Angenehmen, Lustvollen und Positiven anzuerkennen und allein zu betonen. Wer immer nur auf diese Weise glücklich sein will, versteht nichts vom Glück. Das grössere Glück, das Glück der Fülle, umfasst immer auch die andere Seite, das Unangenehme, Schmerzliche und Negative, mit dem zurechtzukommen ist. Niemand sucht dieses andere, aber auszuschliessen ist es nicht. Im besten Fall lässt es sich mässigen, und die beste Voraussetzung dafür ist, das andere des Lebens in seinem Recht auf Existenz grundsätzlich anzuerkennen. Zu beobachten ist, dass das Leben sich grundsätzlich in Polarität abspielt, zwischen Gegensätzen und Widersprüchen. Das moderne Welt- und Menschenbild ging davon aus, dass immer alles nur positiv sein kann, aber es ist nun mal so, dass es negative Dinge gibt, die nicht verschwinden, unabhängig davon, wie viele Schönheitsoperationen unternommen, Medikamente erfunden, politische Massnahmen ergriffen werden. Hartnäckig fordert das Leben seine Polarität ein, denn so entsteht die Spannung, die es braucht. Entscheidend ist die Frage: Ist es mir möglich, die Polarität des Lebens grundsätzlich zu akzeptieren? Kann ich einverstanden sein mit dem gesamten Leben? Erscheint mir das Leben in aller Gegensätzlichkeit dennoch von Grund auf schön und bejahenswert? Dann kann ich mich eingebettet wissen in einen grösseren Zusammenhang, in dem das eine wie das andere Platz hat. Das erfüllte Leben ist dann gleichsam ein Atmen zwischen den Polen des Positiven und Negativen: Mit dem, was guttut, neuen Atem zu schöpfen, gerade in einer problematischen Zeit, in der das Leben eng wird - und auf einer Höhe des Lebens darauf vorbereitet zu sein, dass es noch andere Zeiten geben wird. Die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen vermittelt erst den Eindruck, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren. Es ist nicht die Bestimmung des Menschen, immer nur zufrieden zu sein, sonst sässen wir noch immer zufrieden auf den Bäumen. Die Geschichte der Künste und der Wis- senschaften zeigt hinreichend, zu welch bemerkenswerten Entwicklungen Menschen in der Lage sind, aber viele von denen, die dazu beitrugen, haben nicht aus Zufriedenheit ihre Werke geschaffen und ihre Entdeckungen gemacht. Was wäre gewesen, wenn Entdecker wie Galilei und Einstein nicht immer wieder tief ins Grübeln verfallen wären, Forscherinnen wie Madame Curie nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten? Hätte Vincent van Gogh den Pinsel so heftig über die Leinwände geschwungen, wenn er sich und seine Kunst entspannt betrachtet hätte? Der Maler farbenfroher Bilder, Emil Nolde, bemerkte einmal, dass ,,Künstlernaturen“ eben ,,nie glücklich“ sein könnten. Edith Piaf die zum Weinen schöne Lieder sang, führte kein glückliches Leben. Astrid Lindgren, der so lebensfrohe Gestalten wie Pippi Langstrumpf zu verdanken sind, kämpfte lebenslang mit Depressionen. Das andere Glück umfasst sogar das Unglücklichsein. Das ist die Paradoxie des Glücks der Fülle: Dass ein Glücklichsein möglich ist, bei dem das Unglücklichsein nicht ausgeschlossen werden muss, sondern einbezogen werden kann. Das ist ja auch der Kontrast, der ein Glücklichsein überhaupt erst fühlbar macht. Daher können diejenigen am glücklichsten sein, die ein Unglücklichsein erfahren haben. Häufig geht das Unglücklichsein da- mit einher, traurig zu sein, bedrückt und niedergedrückt, depressiv zu sein. Aber das ist keine Krankheit, sondern eine Art und Weise des menschlichen Seins, die wesentlich zur Existenz des Menschen gehört. Wohlbegründet ist das Traurigsein, wenn ein Mensch angesichts dessen, was sich jetzt und künftig nicht mehr ändern lässt, traurig wird: Was vergangen ist, lässt sich nicht mehr zurückholen. Dass überhaupt alles vergeht, lässt sich nicht ändern. Diese Vergegenwärtigung der Vergänglichkeit, sei es allgemein oder bezogen auf eine bestimmte Situation, erschüttert das Leben bis in seine Grundfeste: Nichts hat Bestand, alles ist vergänglich, brüchig ist der Boden, auf dem wir leben, auf Schritt und Tritt tun sich Abgründe auf. Und es gibt das scheinbar grundlose Traurigsein, das mit Aussagen verbunden ist wie: ,,Eigentlich stimmt bei mir alles, ich weiss gar nicht, was mit mir los ist.“ Vielleicht geht dieses Traurigsein gerade daraus hervor, dass alles stimmt: Das Leben, das nur noch die Stimmigkeit kennt, verlangt nach dem Gegenpol der Unstimmigkeit. Auch die unentwegte Lebensfreude kann erschöpfend sein und bedarf einer Erholung, wie das Traurigsein sie ermöglicht. Moderne Menschen suchen das GIück vorzugsweise in der guten Stimmung - bei einer traurigen Verstimmung müssen sie sich von dieser lästigen Störung alsbald wieder befreien. Was aber, wenn das Traurigsein nicht mehr vorübergeht, nicht mehr einfach nur eine Reaktion auf Belastungssituationen ist? Ein treffendes Wort für das Traurigsein und Deprimiertsein ist Melancholie, ein Zustand, in dem das Glücklichsein vielleicht wünschbar, aber nicht wirklich möglich erscheint. Meiancholie ist die Seinsweise einer Seele, die immerzu schmerzt und sich ängstigt, ohne dass dies in irgendeiner Weise als ,,pathologisch“ gelten könnte. Sie wird begleitet, vielleicht auch angeleitet von einem höchst reflektierten Bewusstsein, das um die Ungewissheit von allem weiss, was den Eindruck von Gewissheit macht, und die Fragwürdigkeit aller Dinge kennt, deren mögliche Grundlosigkeit wohl kaum bestritten werden kann. Das Bewusstsein der Abgründigkeit ist für den Melancholiker ein Teil seines Glücks, denn er entkommt damit der Gefahr blosser Oberflächlichkeit. Die Melancholie bewahrt eine Ahnung davon, wie nichtig die menschliche Existenz ist und dass ihr der Boden jederzeit unter den Füssen weggezogen werden kann. Urtrauer empfindet der melancholische Mensch über die Entfremdung von einem zeitlosen Ursprung, über die unaufhebbare Kluft zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, über das unmögliche, allenfalls zeitweilige Einssein mit anderen. Er ist sich der Zweifelhaftigkeit der Zeit, der möglichen Sinnlosigkeit allen Tuns, der potenziellen Bedeutungslosigkeit der menschlichen Existenz bewusst. Anders als die Krankheit Depression, deren Kennzeichen erstarrte Gefühle und die Unfähigkeit zur Reflexion sind, ist Traurig- und Melancholischsein von bewegten Gefühlen und Gedanken geprägt, von übergrosser Sensibilität und nicht mehr endender Besinnung und Selbstbesinnung. Es gibt daran nichts zu heilen, eher ist diese Seite des Menschseins zu pflegen. Die Melancholie kann zu einer Lebensphilosophie werden, die das Traurigsein nicht ausschliesst, sondern hervorhebt, und es müsste möglich sein, gerade dies zur Grundlage eines schönen und bejahenswerten Lebens zu machen. Melancholiker denken über alles nach, daher sind seit jeher so viele Philosophen und Künstler unter ihnen zu finden. Psychologische Untersuchungen bestätigen, dass Menschen mit depressiver Verstimmung Denkaufgaben gründlicher angehen und klügere Entscheidungen treffen. Sie sehen länger und genauer hin und lassen sich den Blick nicht von einer rosaroten Brille trüben: Traurigkeit schärft die Sinne. Die entscheidende Frage ist die nach der Lebbarkeit des Unglücklichseins. Sie hängt ab von einer Befreundung mit der Melancholie, die sowohl den praktischen Bedürfnissen des Menschen als auch seiner unpraktischen Melancholie Rechnung trägt. Das Quälende, Selbstzerstörerische der Melancholie lässt sich mildern, wenn ein Mensch sich um ein pragmatisches Arrangement mit ihr bemüht. Zeiten des Selbst und Zeiten der Melancholie wären festzulegen: Zeiten des Selbst, in denen die Pragmatik des Alltags Vorrang hat, schon um dem endlosen Grübeln auch mal Pausen zu gewähren. Ansonsten besteht die Gefahr, in der Verzweiflung unterzugehen, sofern ein Mensch sich nicht gerade hierfür entschieden hat. Und Zeiten der Melancholie, die allein diesem Zustand gehören, mit Gewohnheiten, in deren Umfeld das Traurigsein gepflegt werden kann. Wenn es möglich ist, das Leben zeitweilig den Gewohnheiten anzuvertrauen, gewinnt ein Mensch den Rahmen, innerhalb dessen es sich besser traurig sein lässt, da er mit äusserem Halt seinem inneren Zustand zusehen kann. Er mag sich nun ganz dem Traurigsein überlassen, in der Gewissheit nicht gänzlich zu fallen. Kann man auch vorsätzlich traurig sein? Zweifellos, indem man sich etwa an schmerzliche Erfahrungen wieder erinnert. Schmerzen verlieren sich im Grunde nie, etwa der Schmerz der Trennung von einem geliebten Menschen. Und „Weltschmerz“ ist zu jeder Zeit spürbar, Schmerz über die Vergänglichkeit des Lebens und aller Dinge, wenn auch nicht wirklich „der Welt“ selbst. Um aber ein Übermass des Traurigseins wieder zu mässigen, sollte ein Mensch sich, seinem Körper und seiner Seele im alltäglich gelebten Leben, wo immer es möglich ist, Gutes tun: Bei regelmässigen Spaziergängen kann er seinen melancholischen Gedanken nachhängen. Beim Hören von Musik können melancholische Gefühle zelebriert werden. Im Tanz können sie Ausdruck finden, und eine Beschäftigung mit Werken der Malerei und Dichtung zeigt, wie häufig die Melancholie in der Geschichte bereits Ausdruck gefunden hat. Sinnvoll ist eine Pflege der Kunst der Erotik, die mit sinnlichen Reizen (hormonell gesehen: kleinen Schüben an Dopamin und Betaendorphin) dafür sorgt, dass die Melancholie austariert wird und den Faden des Lebens nicht verliert. Es ist kein Zufall, dass Darstellungen der Melancholie so häufig mit erotischen Attributen ausgestattet sind. Ausgerechnet dann, wenn die Traurigkeit am größten wird, wird der erotische Gedanke, das erotische Empfinden am stärksten. Auch auf diese Weise wird die Polarität des Lebens wiederhergestellt: indem der positive Pol gestärkt wird. Und hilfreich ist die Pflege eines Gartens oder auch nur eines Balkons oder einer Fensterbank, wo etwas wächst, denn das zyklische Werden und Vergehen der Natur repräsentiert eine Form von Zeit, in der ein Melancholiker sich eher beheimatet fühlt, als in der linearen Zeit ohne Wiederkehr, wie sie typisch ist für die moderne Kultur. Das Unglücklichsein wird somit selbst zu einem Bestandteil des Glücks und bestärkt dessen Nachhaltigkeit. Wenn es unter diesen Vorzeichen sogar um so etwas wie Heiterkeit gehen kann, dann in einem durch Melancholie geläuterten Sinne, um zu einer heiteren Gelassenheit zu kommen. Die Gelassenheit kommt vom Lassen, vom Gewährenlassen auch des Abgründigen und Widersprüchlichen, der Angst im Kontrast zum Freisein von ihr, des Ärgers im Kontrast zur Freude, des Schmerzes im Kontrast zur Lust, des Todes im Kontrast zum Leben. Die Gelassenheit ermöglicht, sich der grundlegenden Tragik von Leben und Welt nicht zu entziehen, darin jedoch auch nicht unterzugehen. Gerade das tragische Bewusstsein entspricht dem Leben viel mehr als jede törichte Leugnung von Tragik. Auf dieser Grundlage wird eine gelassene, heitere Lebenshaltung erst möglich. Die Heiterkeit ist eine geistige Haltung, die der Fröhlichkeit ebenso viel Bedeutung zumisst wie der Traurigkeit. Sie ermöglicht ein Leben mit den Gegensätzen, ein ,,symmetrisches Leben“ wie Demokrit, der Begründer der philosophischen Heiterkeit, dies im 5./4. Jahrhundert v. Chr. nannte. Heitere Gelassenheit ist das Bewusstsein davon, dass in allem, was ist, auch noch etwas anderes möglich ist; dass Höhen und Tiefen sich abwechseln wie Tag und Nacht, wie Ein- und Ausatmen; dass die der Takt des Lebens ist, das aus der Polarität in allen Dingen seine Spannung bezieht. Ausdruck des symmetrischen Lebens kann Harmonie sein, jedoch eine, die voller Spannung ist, bis hin zu einem Glück der Fülle, das unvereinbare Gegensätze in sich zusammenspannt. Es schliesst auch die Kontrasterfahrung der Verzweiflung nicht aus, durch die das Leben immer wieder hindurchmuss. Aber es verhindert die letzte Verzweiflung, die keinen Halt mehr im Leben findet. Die Bedeutung, die der Melancholie in einer kommenden Zeit zuwächst, kann wie schon in früheren Zeiten darin liegen, eine grössere Fähigkeit zur Reflexion zu gewinnen und die gefährlichen Selbstverständlichkeiten zu verlieren, in denen Menschen leben, ohne es recht zu bemerken. Die Stärke der Melancholiker ist ihre Sensibilität, ihr Gespür für Sinn und dessen Fehlen; darin besteht ihr Geschenk an die Gesellschaft. Die Schattenseiten des Glücks sind schon aus diesem Grund nicht sinnlos: Erheblich früher als die Glücklichen bemerken die Unglücklichen eine Gefahr, eine Fehlentwicklung, ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit. Eher als bei den Optimisten, von denen nicht wenige den Anblick eines problembeladenen Menschen bereits als Behinderung ihrer positiven Weltsicht empfinden, findet sich Mitgefühl bei den Melancholikern. Schon aus diesem Grund ist es nicht akzeptabel, dass bei all dem Reden über Glück die Unglücklichen immer mehr ins Abseits gestellt werden. Eher gibt es gute Gründe für eine Ermutigung zum Unglücklichsein. Literaturangabe Literaturangabe: Schmid, W. (2015). Vom Glück des Unglücklichseins. Psychologie Heute, 4, 26-29. INHABERIN GLÜCKSSCHMIEDE GMBH Als Arbeits- und Organisationspsychologin sowie als Klinische Psychologin M. Sc. verfüge ich über wissenschaftlich fundiertes Know-how im Bereich der Psychologie. Sowohl als Leiterin Produkte/Entwicklung wie auch als Mitglied der Geschäftsleitung beim Coachingzentrum Olten setze ich mich ständig mit dem Themenschwerpunkt Resilienz auseinander – Forschungen zu diesem Thema interessieren mich sehr: Welche Ressourcen Menschen in schwierigen Situationen aktivieren können, überrascht und berührt mich immer wieder. Daher sehe ich meine Aufgabe darin, Menschen in herausfordernden Lebenssituationen als Coach (dipl. Coach SCA / CAS Coaching) und Psychotherapeutin (Fachpsychologin für Psychotherapie FSP) zu begleiten. KONTAKTANGABEN Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie Dorfstrasse 21 3084 Wabern E-Mail-Adresse: [email protected]
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