Melancholie – Anatomie einer produktiven

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Freistil
Melancholie –
Anatomie einer produktiven Stimmung
Von Michael Reitz
Produktion: Deutschlandfunk 2013
Redaktion: Klaus Pilger
Sendung: Sonntag, 12.02.2017 , 20:05-21:00 Uhr
Regie: Robert Steudtner
Sprecher:
Edda Fischer
Gregor Höppner
Tom Jacobs
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©
- unkorrigiertes Exemplar -
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(Musik: Kap. Wlodek: 46 Titel Reform-Musik)
Collage: Gelebte Melancholie würde auch heißen, dass wir wesentliche Eigenschaften der
Melancholie in den Alltag einfließen lassen. (Zehentbauer)
Wenn ich melancholisch bin, dann habe ich das Gefühl, ich ziehe mich für eine Weile zurück. Zum
einen um auszusteigen von den ganzen Reizen, die außen so sind, weil das mir persönlich oft viel
zu viel ist. (Seifert)
Sie kann (…) allzu großem Schmerz oder allzu großer Trauer die Schärfe nehmen. Warum? Sie
schaut differenziert hin auf die Dinge. (Sartorius)
Die klassischen Eigenschaften: Die Melancholiker sind Erdmenschen. Sie sind
Nachmittagsmenschen. Sie sind Menschen, die den Herbst lieben. (Sillem)
Und wenn dann der Mensch nach innen geht (…) das wird oft mit ‚Dunkel, in der Höhle, in die
Tiefe hinein gehend’ beschrieben. Aber da kann Transformation stattfinden. (Moravia)
Das Leben atmet, wenn ich das mal so poetisch sagen darf. Und die entscheidende Frage ist, ob
wir bereit sind, mitzuatmen mit dem Leben. (Schmid)
Musik hoch
Titelansage:
Melancholie – Anatomie einer produktiven Stimmung
Ein Feature von Michael Reitz
Erzählerin: „Melan cholia“ – die Schwarzgalligkeit. Mit ihr bezeichneten die alten Griechen – neben
dem Choleriker, Phlegmatiker und Sanguiniker – einen der vier Charaktertypen: schwermütig,
grübelnd, nachdenklich und unproduktiv. Verantwortlich dafür – so die antiken Mediziner
Hippokrates und Galenos – sei die Gallenflüssigkeit, die bei dem Melancholiker allzu üppig flösse
und ihm jede gute Stimmung verhagele oder – vergälle. Der Schwarzgallige wurde als der
philosophischste unter den Charakteren, als hochbegabter Künstler und Denker gesehen. Zwar war
er wohl nur zum Schreiben, Dichten und Philosophieren geeignet, aber damals orientierten sich die
Maßstäbe für ein produktives Dasein nicht an Umsatz, Menge oder Geschwindigkeit des
Geleisteten: Ein schwer grübelnder Sokrates, der vor dem berühmten Gastmahl wie angewurzelt
auf der Straße steht, weil er einem Gedanken nachhängt; Diogenes, in der Tonne lebend und den
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großen Alexander verblüffend, indem er ihn bat, ihm aus der Sonne zu gehen – kein Grieche wär
auf die Idee gekommen, hierin etwas Unnormales zu sehen. Und heute? Ein Zeitgenosse:
O-Ton (1) Mann: Das ist irgendwie so ein bedrückendes Gefühl. Ich werd dann auch meistens
etwas stiller, bisschen nachdenklich. Drückt sich dann manchmal auch aus, was für Musik ich höre.
Musik: Tom Waits „Innocent when you dream“ (erst hoch, dann unter Text)
Erzähler: Den Melancholischen kriegen, schwermütig werden, oder – wie eine Redewendung aus
dem Rheinland sagt – das arme Tier bekommen: in unserer durchtherapierten Gesellschaft sind
das schon fast Anzeichen für eine klinische Diagnose. Denn das zeichnet die Melancholie
heutzutage vor allem aus: ihre ständige Verwechslung mit dem überaus gefährlichen Krankheitsbild
der seelischen Depression.
Wie kam die Melancholie zu ihrem schlechten Ruf? Was wurde über die Jahrhunderte verschlampt,
verfälscht oder gar verteufelt?
Erzählerin: Hat Melancholie heute noch eine Chance, in unseren Maximierungs- und
Beschleunigungsgesellschaften?
O-Ton (2) Sillem: Die Melancholie ist eigentlich von Anfang an etwas (...) das zwei verschiedene
Pole hat. Und das zeichnet die Melancholie bis heute aus.
Zitator: Peter Sillem, Germanist. Herausgeber und Autor mehrerer Bücher zum Thema
Melancholie.
O-Ton (3) Sillem: Also man kann an der Melancholie extrem leiden (…) Es gibt eine schwarze Form
und eine weiße Form. Und die schwarze Form ist wahrscheinlich am ehesten zu beschreiben als
eine Depression. Die weiße Form – das hat ein Grieche zuerst beschrieben.
Zitator: Wenn nun die schwarzgallige Mischung zu kalt wird, ruft sie verschiedenartige
Schwermütigkeiten hervor. Wird sie aber wärmer, Heiterkeit. Daher sind auch die Kinder fröhlicher,
die Greise aber missgestimmter, denn die sind warm, die anderen aber kalt. Altern ist nämlich eine
Art Abkühlung.
Erzählerin: Aus einem anonymen antiken Text, der wahrscheinlich von dem Philosophen
Theophrast stammt. Viertes vorchristliches Jahrhundert.
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O-Ton (4) Sillem: Ich bin ein moderater Melancholiker. Und insofern habe ich meine Mittel und
Wege, z.B. über die Melancholie zu schreiben oder Bücher darüber herauszugeben und mich
immer wieder damit zu beschäftigen. Auch das, kann ich sagen, ist für mich ein Lebensthema.
O-Ton (5) Sillem: Die klassischen Eigenschaften: Die Melancholiker sind Erdmenschen. Sie sind
Nachmittagsmenschen. Sie sind Menschen, die den Herbst lieben. Sie kleiden sich schwarz. Sie
sind blass. Man muss sich ja auch vorstellen: Es war ja wirklich die Überzeugung, dass es eine
Krankheit ist, also eine übergroße Milz, die zu viel schwarze Galle produziert, die Dämpfe
vernebeln den Geist. Es gibt eine wirklich physiologische, klar physiologische Vorstellung von der
Melancholie als Krankheit.
Erzählerin: Doch diese Vorstellung war nur ein Teil des Steckbriefs der Melancholie. Theophrast
verglich sie mit dem Genuss von Wein: die einen reagieren darauf aggressiv, selbstanklagend und
streitsüchtig. Die anderen weinerlich, sanft oder fröhlich. Mit einer bemerkenswerten
medizinischen Beweisführung machte Theophrast klar, woran das liegt: denn Wein enthalte Luft,
und die bringt den normalen Säftehaushalt durcheinander. Sie blähe auf, und zwar nicht nur Galle
und Milz:
Zitator: Auch sind die meisten Melancholiker wollüstig. Denn der Geschlechtsakt ist mit der
Erzeugung von Luft verbunden. Ein Zeichen dafür ist, dass das männliche Glied aus einem kleinen
Umfang schnell anwächst, weil es aufgebläht wird.
Erzählerin: Lässt man beiseite, dass Theophrast das Weibliche bei dem Vorgang, der ihm so
wichtig erscheint, sträflich vernachlässigt, so kann man sagen: Von wegen depressiv! Die
Melancholie hat offenbar viele Gesichter und Erscheinungsformen. Himmelhochjauchzend und zu
Tode betrübt, sexuell erregt oder gerade gar nicht.
Musik: Astor Piazzola „Sur“ (erst hoch, dann unter Text)
Erzählerin: Bereits den antiken Menschen fiel auf, dass ein lückenloses Bild des Melancholikers,
eine eindeutige Beschreibung seines Erscheinungsbildes, nicht möglich ist. Anders als der
Choleriker, dessen rote Galle ihn zum Explodieren bringt, neigt der Schwarzgallige augenscheinlich
zum Versteckspiel. Er entzieht sich jeder Zuordnung, jeglicher Reduzierung auf nur eine oder zwei
charakterliche Merkmale.
Erzähler: An der Schwelle zur Moderne geriet die Melancholie deshalb zunächst auf die
Fahndungsliste des Klerus. Die mönchische Tradition nannte sie die Acedia, den Mittagsdämon,
der in den Ruhestunden nach dem Essen die schwarzen Gedanken bringt, Ordensbrüder in
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destruktive Betrachtungen versetzt und schließlich von sinnvoller Arbeit abhält. Melancholie wurde
als eine Versuchung Satans betrachtet, des großen Verwirrers, der nichts anderes im Sinn hat, als
seine Opfer durch endlose Debatten mit sich selbst in den Wahnsinn zu treiben. Übersehen wurde
dabei eine wichtige Frage, die schon Theophrast interessiert hatte und die noch heute in der
Kreativitätsforschung eine große Rolle spielt:
Zitator: Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder
Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?
O-Ton (7) Zehentbauer: Es kann zum Lächeln bringen, aber auch gleichzeitig Nachdenklichkeit,
einen süßen Schmerz, die Vergänglichkeit spüren, ähnlich wie der Mai als typischer Monat der
Melancholie.
Zitator: Der Münchner Psychotherapeut und Schriftsteller Josef Zehentbauer. Moderner
Melancholiker und Autor des Buches „Melancholie – Die traurige Leichtigkeit des Seins“.
O-Ton (8) Zehentbauer: Einerseits blüht es auf. Es hat ja unwahrscheinlich viel Kreatives,
Mächtiges, Geheimnisvolles, Mystisches und gleichzeitig etwas sehr, sehr Vergängliches und
eigentlich damit auch Traurig-Machendes, weil man weiß, die Blumen, die da blühen oder der
Jasmin, der da blüht, blüht in einer Woche nicht mehr. Und wir müssen ein ganzes Jahr warten, bis
er wieder blüht – wenn wir das Jahr überhaupt erleben. Das wissen wir auch nicht. Und all das,
denke ich mir, gehört zur Melancholie. Und Melancholie ist für mich eine maximale Erweiterung
von Wahrnehmung.
O-Ton (9) Zehentbauer: Im Winter ist es: mich zurückziehen in ein Haus am See, wo ein großer
offener Kamin ist, den ich dann an mache, und wo ich dann meistens klassische Musik höre oder
Francesco Guccini aus Italien, und Wehmut, Ernsthaftigkeit, Tiefgang spüre und dann eigentlich
auch viel schreibe in dieser Zeit. Und ich würde sagen, es geht mir dabei gut. Für die Umgebung ist
es dann manchmal etwas schwierig, mich zu verstehen. Auch deshalb, weil ich durchaus auch sehr
anders sein kann. Das gehört eigentlich auch zur Melancholie – das ist eben nur ein Teil der
Charaktereigenschaft.
Erzähler: Die Erkenntnis dieser Erweiterung fand unter anderem in der Renaissance statt. In jener
Epoche, die in kürzester Zeit alles ausbuddelte, was es an interessanten antiken Texten zur
Persönlichkeit des Künstlers oder Philosophen gab, feierte auch die Melancholie ihre
Wiederauferstehung. Albrecht Dürer setzte ihr mit seinem berühmten Kupferstich „Melencolia“ ein
Denkmal: zu sehen ist ein nachdenklich in die Ferne blickendes Wesen mit Engelsflügeln –
vermutlich Wissenschaftler oder Künstler, denn es hält einen Zirkel in der Hand – im Hintergrund
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das Stundenglas sowie eine Fledermaus, die aus dem gleißenden Licht zu kommen scheint. Dürer
artikulierte damit eine sich langsam durchsetzende Meinung unter seinen Künstlerkollegen: die
schwarze Galle ist nicht nur dunkel, sondern auch licht und produktiv. Marsilio Ficino, einer der
maßgeblichen Philosophen der Renaissance, schrieb zur Melancholie:
Zitator: Die natürliche Ursache scheint folgende zu sein: dass die Seele, insbesondere beim
Studium der schwierigen Wissenschaften, sich von den äußeren Dingen abwenden und ins Innere
zurückziehen muss, gleichsam vom Äußeren ins Zentrum hinein, und während sie sich der
Spekulation widmet, muss sie völlig reglos ganz im Zentrum des Menschen verharren. Sich aber
im Zentrum zu sammeln und dort zu verharren, ist vor allem eine Eigenschaft der Erde selbst,
welche ja auch Ähnlichkeiten der schwarzen Galle besitzt.
O-Ton (11) Sillem: Und damit war die Melancholie etwas in ihrer weißen Form, in ihrer hellen
Form, was den Menschen adelt. Was ihm etwas Geniales verleiht und eben damit den übrigen
Menschen überlegen ist. Und ich glaube, zwischen diesen beiden Polen (…) da oszilliert ganz viel.
Deswegen wird der Melancholiebegriff auch immer wieder bis heute umgedeutet und neu gedeutet.
Erzähler: Eine wahre Flut melancholischer Literatur entstand im späten 16. und frühen 17.
Jahrhundert in England. Vorläufer dieser Exaltierten, die sich heute als Grufties oder Gothics
bezeichnen, waren junge Männer aus dem Bürgertum. Gut ausgebildet und mit reichlich Geld
versehen, blieben ihnen in der aristokratischen Gesellschaft wenige Möglichkeiten des Aufstiegs.
Diese Schwermut suchte sich nicht nur literarische Kanäle, sondern kreierte einen extravaganten
Lebensstil: die ersten neuzeitlichen Melancholiker kleideten sich schwarz, gingen leicht gebeugt
und hatten eine Hand meist auf den Bauch gelegt. Die Engländer glaubten von daher, dass diese
Männer krank sein müssten, und zwar an der Milz. Das englische Wort für dieses Organ setzte sich
im internationalen Sprachgebrauch für die Charakterisierung nicht ganz konformer Menschen
durch: Spleen.
Erzähler: Einer dieser spleenigen Literaten war Robert Burton, der das bis heute umfangreichste
Werk über die Melancholie schrieb. In ihm findet sich jene Polarität, die für die Melancholie so
charakteristisch ist: auf der einen Seite wird eine ungeheure Belesenheit und Intelligenz sichtbar;
auf der anderen jedoch auch ein Selbstmitleid.
Zitator: Viele Bücher habe ich gelesen, aber in Ermangelung der richtigen Methode mit wenig
Nutzen. In meiner Verwirrung bin ich unserer Bibliothek über die unterschiedlichsten Autoren
gestolpert und habe doch stümperhaft, unsystematisch, vergesslich und urteilsunfähig wie ich bin,
nur wenig damit anfangen können. Gereist bin ich immer nur mit dem Finger auf der Landkarte.
Unter der Herrschaft des Saturns wurde ich geboren. Da mir nie ein hohes Amt zuteilwurde, stehe
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ich dafür in niemandes Schuld. Fern halte ich mich den Händeln und Prozessen. Als bloßer
Beobachter der Geschicke anderer Menschen kommt es mir vor, als spielten sie ihre Rolle in einem
unserer Theater.
Erzählerin: Der Melancholiker als Totalverweigerer, als ebenso wohlhabender wie zweiflerischer
Zaungast. Und das in einer Epoche, die von Tatendurst und Expansionsdrang gekennzeichnet war
und in der das britische Weltreich entstand. Doch Robert Burton spricht auch noch etwas anderes
an: den Planeten Saturn, unter dessen Zeichen er geboren wurde. Der Himmelskörper gilt, wie
Peter Sillem beschreibt, als Sinnbild der Melancholiker:
O-Ton (12) Sillem: Saturn ist ein Gott sowohl der Fruchtbarkeit, des Blühens, der Saturnalien – also
der richtig ausufernden Festivitäten –, des Überschwangs, der Umkehrung all dessen, was ist. Im
Grunde sozusagen der Ahnherr des Karnevals. Und gleichzeitig ist er der Gott der Saturnkinder, der
Melancholiker, also derer eben, die an der Welt leiden. Und da haben wir wieder dieses Bipolare:
Der totale Überschwang und das Leiden an der Welt.
Erzähler: Gerade die populäre Musik der jüngeren Vergangenheit thematisiert immer wieder
melancholische Stimmungen; die Beatles komponierten nicht nur „Twist and shout“, sondern auch
„Let it be“, die Rolling Stones wurden mit „Satisfaction“ ebenso bekannt wie durch „As tears go by“
– einem Stück, in dem es genaugenommen um nichts anderes geht, als dass jemand in
melancholischer Stimmung aus dem Fenster sieht. Und die Doors schließlich ließen es mit „Road
House Blues“ so richtig krachen – um dann mit „Riders on the storm“ fast schon philosophische
Dimensionen zu erreichen.
Musik: Doors “Riders on the storm”
Into this house we are born
Into this world we are thrown
Like a dog without a bone
An actor out of loan
Zitator: Wir sind Reiter auf dem Sturm des Lebens. In diese Welt geworfen wie ein Hund ohne
Knochen oder wie ein Schauspieler ohne Bühne.
Erzählerin: Diese Beispiele aus der Moderne zeigen: Melancholie ist nicht an eine bestimmte
Epoche oder kulturelle Umgebung gebunden, wie Peter Sillem beschreibt:
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O-Ton (13) Sillem: Es wird immer neu erfunden sozusagen oder gefunden, was die Melancholie für
ihre Zeit ist. Und das, finde ich, macht diesen Begriff der Melancholie so faszinierend. Die
Verhaltensmuster von Cholerikern – also ich will jetzt nicht die Temperamente gegeneinander
ausspielen – sind relativ klar beschreibbar, während die Melancholie – und das macht das
Faszinosum auch für nicht-melancholische Menschen aus – (…) es ist wie so eine sich wandelnde
Gestalt. Ja? Und das macht das Nachdenken über die Melancholie so reizvoll und interessant. Und
deswegen glaube ich, erfindet sich jede Generation sozusagen ihre Melancholiker neu.
Erzähler: Niemand hat uns vorher gefragt, ob wir auf diese Welt wollten. Und trotzdem sind wir da.
Wir leben. Aber existieren wir auch? Dieser Zweifel klingt in dem Stück „Riders on the storm“ an.
Und die „Doors“ fragen weiter: Füllen wir unser Leben mit eigenem Sinn oder machen wir nur das
nach, was die Mehrheit für richtig hält?
Musik: Doors “Riders on the storm”
Erzähler: Fragen, die sich irgendwann einmal wahrscheinlich jeder stellt. Aber nicht immer werden
sie als bedrohlich empfunden. Schon gar nicht von einem Melancholiker – so sieht es die Malerin
Mariela Sartorius.
O-Ton (14) Sartorius: Der Melancholiker will vor allem eines: Er will seine Ruhe. Er will nicht
behelligt werden, und er will nicht gestört werden in, ja, man kann fast sagen, in seinen luxuriösen
Phasen wollüstiger Wehmut, wenn ich direkt so übertreibend sagen darf. Denn es ist auch eine
Wollust, sich hinzugeben der Melancholie. Es ist eine Stimmungslage, die ... tja, die großes
Vergnügen bereiten kann. Die Melancholie verlangt ja Alleinsein und Ruhe. Aber nun dieser Spaß,
diese Spaßgesellschaft, dieses grölende Getöse – das vertreibt die Ruhe natürlich ganz schnell und
damit auch die Melancholie.
Erzähler: Unter dem Titel „Die hohe Kunst der Melancholie“ hat Mariela Sartorius ein Buch
verfasst, dass der „schwarzen Galle“ nicht nur ihre Schrecken nimmt, sondern in dem auch Humor
und Erotik nicht zu kurz kommen. Doch: Warum ist Melancholie eine „hohe Kunst“?
O-Ton (15) Sartorius: Weil sie neben Talent und Übung eigentlich auch Hingabe erfordert und Mut.
Und dann natürlich diese wirklich schwierige Übung des Balancierens zwischen Melancholie und
Depression. Das muss sie hinkriegen. Aber mit einiger Erfahrung spürt man den Abgrund und die
Gefahr sehr schnell. Melancholie weitet die Seele – das Gefühl habe ich jedenfalls. Und Depression
engt sie ein, erstickt sie. Da bedarf es schon der Kunstfertigkeit, das im Griff zu haben, dieses
Balancieren.
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Man ist feinfühlig. Man fühlt intensiver. Und dadurch will man sich ja auch ausweiten. Man will es
ja rauslassen, dieses Gefühl, an die Grenzen gehen. Und da bietet sich natürlich an, sich
auszudrücken in Farben, in Tönen, in Worten, letztlich in Kreativität. Denn vorgeschaltet ist ja dann
der Einfallsreichtum, die Fantasie, die Schöpferkraft. Das drängt sich auf. Ja eben, man kann sogar
sagen, die Betrachtung der Welt durch die melancholische Stimmung ist eigentlich eine
Initialzündung für Kreativität.
O-Ton (17) Sartorius: Wenn ich melancholisch bin, fallen mir mit Abstand die besten Themen ein
und die besten Formulierungen. Wenn ich melancholisch bin, sage ich Einladungen ab – ich sage
sowieso die Hälfte aller Einladungen ab. Diese ganze Oberflächlichkeit, die langweilt mich
grenzenlos. Das gesellschaftliche Gedöns – ich halte es nicht aus. Ja. Und ich lebe allein. Ich habe
einen Hund, ich habe eine schöne Wohnung (…) Ich gehe ein- oder zweimal jährlich in ein
gemietetes kleines Chalet in die Schweiz, in die Berge (…) Aus dem Fenster schauen, die
Mundharmonika hervorholen und irgendeinen Blues spielen. Klingt furchtbar kitschig – ich weiß.
Aber dennoch. Ja… Die Abenddämmerung.
Erzähler: Doch wenn die Welt zu einem einzigen Rätsel wird, zu einem Ort, der nicht als Heimat,
sondern nur als Bedrohung empfunden werden kann, trifft unter Umständen das ein, was mit dem
Terminus „Depression“ bezeichnet und schon in früheren Zeiten oft mit der Melancholie
verwechselt wurde.
Erzählerin: Mechthild Seifert-Kuhrau fiel vor einigen Jahren in dieses dunkle Loch, verbrachte lange
Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus – und legt heute Wert darauf, die schwarze oder weiße
Galle nicht mit der dunklen, depressiven Nacht der Krankheit gleichzusetzen.
O-Ton (18) Seifert: Es war erst einmal eine Verweigerungshaltung, nicht mehr das weiterzumachen,
was vorher war. Und auch ne Schutzhaltung (…) Man weiß das vorher nicht, wenn man drinsteckt
(…) ob man da überhaupt wieder rauskommt. Aber es ist auch ein guter Schutz, weil, es kommt
auch kaum noch was rein (…) Ich habe mich nur mit meinen Unzulänglichkeiten beschäftigt und
wie ich den Tag überstehe und alles andere war unwichtig (…) Und es war eigentlich eine große
Erleichterung zu merken, ich kann gerade mal gar nichts erfüllen. (…) Es war eine Zwangspause.
Wenn ich melancholisch bin, dann habe ich das Gefühl, ich ziehe mich für mich eine Weile zurück.
Zum einen um auszusteigen von den ganzen Reizen, die außen so sind, weil das mir persönlich oft
viel zu viel ist. Da fühle ich mich auch an Stellen überfordert. Und einfach mal für mich selber, wie
so ein Seele-baumeln-Lassen, einfach zu gucken, welches Repertoire habe ich da so und in welche
Ecken würde ich auch mal wollen, wenn ich nicht gerade funktionieren muss? Und das ist für mich
einfach ein angenehmes Moment, einfach mal so sein zu können, mit allen Facetten.
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Erzähler: Wer dermaßen tief und grausam in die Verließe der eigenen Seele abgestiegen ist wie
Mechthild Seifert-Kuhrau, entwickelt ein ausgeprägtes Alarmsystem für psychische Gefährdungen.
Doch melancholische Stimmungen sind weder bedrohlich noch lähmend – im Unterschied zur
Depression.
O-Ton (20) Seifert: Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Melancholie ist was total
Lebendiges (…) Wenn man sich Sachen abschneidet, die eigentlich dazu gehören – das ist Vorstufe
zur Depression. Wenn man funktionieren will oder brav angepasst lebt, wie ich das vorher gemacht
habe – das ist Vorstufe zur Depression (…)
Erzähler: Der Autor und Seelenbegleiter Josef Zehentbauer definiert es so:
O-Ton (21) Zehentbauer: Der grundsätzliche Unterschied zwischen Melancholie und Depression ist
der, dass Melancholie eine, ich würde sagen, gesunde Charaktereigenschaft ist. Depression wird
von den Betroffenen als Krankheit erlebt und ist unerwünscht – man leidet darunter. Wenn
Melancholiker leiden, dann ist es eher ein Leidenschaft und ein bisschen selbst herbeigeführt (…)
Und einen Melancholiker kannst du mit ein paar Hilfsmitteln, mit Musik und Rotwein oder
Kaminfeuer, in eine Stimmung bringen – freiwillig –, aus der er auch wieder raussteigen kann. Ein
Brunnen, in den er hinabsteigt, freiwillig, nicht hinabfällt und auch nicht hinabgestürzt wird und ihn
auch wieder verlassen kann.
Erzähler: Ein Depressiver fällt, ohne dass er es will, in diesen Brunnen – oder wird hineingestoßen
durch tragische Ereignisse und auch durch schwierige zwischenmenschliche Beziehungen.
Während der Melancholiker gerne alleine ist – Josef Zehentbauer spricht hier von „All-Einigkeit“ –
ist der Depressive einsam. Der Melancholiker ist in seinen Bewegungen langsam, getragen,
beschaulich. Der Depressive leidet unter Lethargie und Antriebslosigkeit. In der Melancholie wird
die Ernsthaftigkeit eingeladen, sie wird bewusst herbeigerufen und willkommen geheißen. Der
Depressive wird hineingestoßen in dieses dunkle Loch und ist unglücklich. Er möchte da raus. Der
Melancholiker nimmt ein Bad, aber er kann es auch wieder verlassen. Der Depressive droht zu
ertrinken.
Erzählerin: Ein Melancholiker ist also nicht immer traurig und strahlt auch nicht permanent etwas
Unergründbares aus. Gerade der melancholische Tango ist trotz seiner zeitweisen Schwere ein
hoch erotischer Tanz, Ausdruck der sexuellen Anziehungskraft zwischen Mann und Frau.
Erzähler: Melancholie ist eine verborgene Ahnung, deren plötzliches Auftauchen sich niemand
erklären kann. Ein junger Vater erzählt:
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O-Ton (22) Vater: Dass ich melancholisch werde, merke ich daran, dass ich heulen muss, wenn ich
meiner Tochter die „Loreley“ vorlese.
Zitator:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldnes Haar.
Sie kämmt es mit goldnem Kamme,
Und singt ein Lied dabey;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodey.
Den Schiffer, im kleinen Schiffe,
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Loreley getan.
O-Ton (23) Seifert: Es gibt Menschen, die weniger nachdenken. Manchmal denke ich, die sind
vielleicht glücklicher dran. Weiß ich nicht. Aber wenn Menschen dazu neigen, viel zu beobachten,
viel mitzukriegen – und ich glaube, das ist oft eine Kombination von sehr aufmerksam sein, von
dem, was um einen herum passiert, sehr viel mitkriegen, ob man das jetzt will oder nicht.
Erzählerin: Galt die Melancholie in der Antike als produktive Kraft, so wird sie heute eher skeptisch
betrachtet. Grund dafür ist eine gesellschaftliche Grundhaltung, die sich als Glücksimperativ
bezeichnen lässt: wer unglücklich ist, sollte einfach nur mehr teilnehmen an den Segnungen der
hochentwickelten Industriegesellschaften, die für jede Störung ein „Mehr desgleichen“ bereithalten.
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O-Ton (24) Seifert: Ich halte das persönlich für fatal, weil, das funktioniert nicht. Man bindet
irgendwas ab, und das kann nur ein Schuss nach hinten werden. Und ich kriege viele junge Leute
mit, auch junge Kollegen im Moment, die das Gefühl haben, immer alles im Griff haben zu
müssen, immer gut drauf sein zu müssen und wie schnell die bei den Arbeiten, die sie machen
müssen, mit chronisch psychisch Kranken in dem Fall und Abhängigen, das Handtuch schmeißen
müssen. Weil, da kommen die so an ihre persönlichen Grenzen oder an ihre persönlichen Themen,
die sie vorher nicht angeguckt haben. Und dann kommen die total aus dem Gleichgewicht. Ich
finde die ganze Facette gehört dazu. Und das ist wie eine Waage und nur Glück? (…) So
funktioniert Leben nicht.
Erzähler: Mehr konsumieren, häufiger auf Partys gehen, möglichst oft den Partner wechseln und
vor allem ausgiebig Ratgeberliteratur konsultieren, die für jedes Wehwehchen eine Lösung hat.
Ärgerlich ist dann nur, wenn man dann an Bücher gerät, die einen nicht an die Hand nehmen,
sondern mit ihrem Tiefgang und ihrer Aufforderung zum Selbstdenken an die Substanz gehen
können. Als „Glücksguru“ oder „Wellnessdenker“ apostrophiert, hat der Berliner Philosoph
Wilhelm Schmid die Erfahrung gemacht, dass Menschen nach Fertiggerichten suchen, wo sie
besser selber kochen sollten. In seinem kleinen Buch „Unglücklich sein – Eine Ermutigung“
schreibt er:
Zitator: Eine drohende Diktatur des Glücks lässt keinen Raum dafür übrig, unglücklich zu sein. Ein
scharfer Gegenwind schlägt jedem entgegen, der an der Fähigkeit des Glücks zur Alleinherrschaft
über das menschliche Leben zweifelt. Was sind die Gründe für die Glückshysterie, die immer
wieder ausbricht? Ein Grund dafür ist die Flucht ins Glück. Je größer der Druck der äußeren
Verhältnisse, desto heftiger fragen Menschen nach ihrem inneren Glück.
O-Ton (25) Schmid: Der, der Melancholie und im weiteren Sinne das Unglücklichsein nicht kennt,
der kann auch das Glücklichsein nicht kennen. Denn alle Zustände werden nur als solche erfahrbar,
wenn wir das Gegenteil erfahren. Der, der Lust hat, weiß nicht, dass er Lust hat, wenn er nicht
weiß, was Nicht-Lust oder sogar Schmerz ist. Wir alle kennen die Erfahrung, dass wir manchmal,
gerade im Winter, flachliegen wegen einer kleinen Grippe und dann nach ein paar Tagen wieder
rauskönnen an die frische Luft. Was ist das für eine Wohltat, wieder tief durchzuatmen. Können wir
jeden Tag haben. Interessiert aber niemanden, weil, es ist normal.
O-Ton (26) Schmid: Melancholie ist einfach erkennbar daran, dass man sich nicht übermäßig toll
fühlt, möglicherweise nicht wohlfühlt (…) Ich weiß schon, wovon ich rede, und ich muss gestehen,
ich fühle mich nicht immer unwohl mit meiner Melancholie. Des Öfteren fühle ich mich wohl. Aber
es ist auch ein Zustand von leichtem Schmerz – nicht tiefem Schmerz. Ein Zustand von
Unglücklichsein, nicht gewaltiges Unglücklichsein, aber so ein Schmerz z.B. darüber, dass dieses
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Leben eine Grenze hat und dass ich doch mit meinen liebsten Menschen gerne zusammen lebe,
eines Tages aber gehen muss. Das ist noch nicht präsent, aber es wirft schon einen Schatten
voraus.
Erzähler: In der Spaßgesellschaft hat der Melancholiker es schwer. Nicht etwa deshalb, weil er
humorlos wäre. Sondern eher, weil sich seine Auffassung des Lebens von dem ewig originell sein
müssen deutlich abhebt. Der Witz des Melancholikers schmeckt bittersüß, geht unter die Haut und
regt zum Nachdenken an. Für Josef Zehentbauer eine wohltuende Eigenschaft, die den
Melancholiker von den meisten seiner Zeitgenossen unterscheidet:
O-Ton (27) Zehentbauer: Die Aufgabe der Melancholiker ist eher eine andere Art von Fröhlichkeit
und Spaß bringen. Eher die des ernsthaften Komikers oder des klassischen Clowns. Der klassische
Clown bringt die Leute auch zum Lachen, aber oft mit einem Schuss von Wehmut, Traurigkeit und
Nachdenklichkeit. Und es gibt auch Clown-geschminkte Gesichter mit einer Träne. Und das ist
keine Träne des Lachens, sondern eigentlich auch eine Träne von Wehmut und Vergänglichkeit.
Das Lachen ist jetzt und die Fröhlichkeit. Und eine Stunde später ist wieder eine ganz andere,
vielleicht ganz harte Welt.
O-Ton (28) Sartorius: Ich glaube, dass Humor und Melancholie sich gut vertragen (…) Die
befruchten sich gegenseitig, glaube ich. Schauen Sie den Loriot an, natürlich. Das ist ein
Paradebeispiel. Der war jetzt nicht larmoyant oder trist oder was, was oft mit Melancholie
fälschlicherweise verbunden wird. Der hatte immer ein Lächeln im Gesicht – zumindest auf der
Bühne – und war einer der humorvollsten für mich überhaupt (…) ich habe einen Hang zum
Humor, ich lache wahnsinnig gerne, auch wenn ich betone, einen großen Hang zur Melancholie zu
haben.
Erzählerin: Die antiken Denker wie Theophrast, Sokrates oder Platon sahen als Ursache der
Melancholie nicht nur das Wirken verschiedener Körpersäfte wie Blut, Schleim oder Galle. In fast all
ihren Texten schwingt ein Wissen mit, das der Mensch allen anderen Lebewesen voraushat – und
auf das er wahrscheinlich gerne verzichten würde: wir sind die einzigen Geschöpfe, die wissen,
dass sie sterblich sind.
Erzähler: In der melancholischen Haltung, dem Fragen nach dem Sinn des Lebens, danach, wo wir
herkommen und wohin wir gehen, spiegelt sich diese grauenvolle Ahnung. Die Moderne hat diese
Gewissheit zugekleistert mit den Segnungen der Zivilisation, mit den beständig geöffneten
Fluchtwegen aus der Gewissheit der Endlichkeit. In den 1920er Jahren fiel dies vor allem dem
Philosophen Martin Heidegger auf. In seinem Text „Was ist Metaphysik?“ geht es nur um eines:
die existenzielle Angst und ihre Verdrängung.
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Zitator: Die ursprüngliche Angst kann jeden Augenblick im Dasein erwachen. Sie bedarf dazu
keiner Weckung durch ein ungewöhnliches Ereignis. Der Tiefe ihres Waltens entspricht das
Geringfügige ihrer möglichen Veranlassung. Sie ist ständig auf dem Sprunge und kommt doch nur
selten zum Springen, um uns ins Schweben zu reißen.
Erzähler: Im Hyperaktivismus der Turbomoderne will jeder die Kontrolle behalten. Bloß nicht
abrutschen ins Bodenlose der melancholischen Reflexion. Die Grenzen müssen gewahrt bleiben.
Doch ständig einzäunen lässt sich keine Existenz.
Erzählerin: In der astrologischen Interpretation des Planeten Saturn drückt sich das aus: er war
lange Zeit der äußerste bekannte Trabant unseres Sonnensystems und stand deshalb für die
Warnung vor den extremen und externen Gefühlszuständen. Doch gleichzeitig symbolisierte er
auch das Experimentieren, das Austesten neuer Möglichkeiten, die Fähigkeit des Menschen zur
Entdeckung verborgener Dimensionen – immer unter Wahrung einer gewissen Sicherheitslinie.
Denn Expeditionen brauchen Planung. Der Melancholiker weiß sehr wohl, dass er sich auf’s
Glatteis begibt, seine alten Konstanten verlässt. Aber gerade deshalb tut er es ja.
O-Ton (29) Schmid: Wenn Sie mit eingefleischten Melancholikern sprechen – ich spreche jetzt
nicht nur von mir, denn ich kenne das auch von anderen –, und Sie würden dem anbieten: Ich habe
hier eine Pille; du kannst diesen Zustand wegmachen. Keiner würde diese Pille nehmen, möchte ich
fast schwören. Denn es würde ja ein wesentlicher Teil des Lebens dann weg sein.
Erzähler: Heutzutage neigen die Menschen oft dazu, bei den Forschungsreisen zu ihrem Leben
überall Sicherungshaken einzuschlagen: keine Öffnung des inneren Fensters ohne Sicherheiten.
Für Melancholikerinnen wie die Kölner Malerin Eliana Moravia ist das eine Untat gegen die eigene
emotionale Vielfalt.
O-Ton (30) Moravia: Wichtig ist eben die Kontrolle – Saturn – die Grenzen aufzulösen und sich da
einzulassen auf das, was kommt. Das kann immer mal positiv und negativ sein (…) Ich denke, viele
Menschen sind emotional behindert. Dass sie auch einfach gar nicht wissen, was sie fühlen und
auch gar nicht merken, wie sie dann von der Werbung und so weiter manipuliert werden, weil sie
ihre Gefühle gar nicht kennen. Sie wissen ja gar nicht, wo habe ich Ängste? Wo bin ich? Wo sind
meine Bedürfnisse? Wo kann ich auch was geben?
Musik: Emerson, Lake and Palmer „Take a pebble“
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O-Ton (31) Moravia: Ich nenne das ein bisschen so ein geistiges, ein intellektuelles Zurückziehen.
Ich habe beim Malen auch keine Vorstellung, was ich malen will (…) Und alles das, was dann
passiert, ist eben mit den Farben und was auf der Leinwand dann sozusagen passieren wird.
Erzählerin: In der Vier-Charaktere-Lehre der Antike stand die Melancholie für eine Wut, die nach
innen geht: jemanden geht die Galle über, aber er geht mit dieser Wut nicht nach außen, sondern
behält sie im Unterscheid zum Choleriker für sich.
Erzähler: Doch was ist mit diesem Bild in der Sprache moderner Medizin gemeint?
Magenschmerzen vor lauter Frustschieben? Gallensteine? Schmerzen sind unvermeidbar, schon
bei der Geburt werden sowohl die Mutter als auch das Neugeborene mit ihnen konfrontiert. Kein
Mensch bekommt Zähne, ohne dass er Schmerzen dabei hätte und oft endet das erste Verliebtsein
in einem Tal der Tränen.
Erzählerin: Trotzdem versucht der moderne Mensch den Schmerz zu ignorieren, ihn
auszuklammern aus seinem Leben. Und das nicht selten, bevor er überhaupt eingetreten ist. So
sind nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums fünf bis sieben Millionen Menschen
in Deutschland alkohol- und medikamentenabhängig. Betäubung der Seele statt Pflege und
Fürsorge. Wegdrücken der Angst und der Wut darüber, dass man Angst hat. Statt Herangehen an
das, was sie verursacht. Eliana Moravia begrüßt die Wut:
O-Ton (32) Moravia: Wut ist ja erst einmal etwas Positives. Es gibt mir ja die Lebenskraft, um
Dinge vorwärts zu bringen – Aggression, voranschreiten (…) Die schwarze Wut ist eben nicht die
rote, die ausgelebt wird, sondern die zurück gehalten wird. Und wenn dann der Mensch nach innen
geht (…) das wird oft mit ‚Dunkel, in der Höhle, in die Tiefe hinein gehend’ beschrieben. Aber da
kann Transformation stattfinden. Also man muss Wut nicht ausagieren, man kann da auch Freude
draus machen.
Erzählerin: In der Antike und der Renaissance, erst recht in der Romantik, gehörte Melancholie
zum wesentlichen Repertoire der Lebenskunst, sie war Teil der Seelenlandschaft des Menschen.
Gelebte Melancholie – das waren nicht nur die Philosophen in ihren Akademien und Regentonnen.
Sondern auch der Kaufmann, der sich Zeit nahm für die Dinge außerhalb des Geldverdienens,
Hetären, die nicht nur Kenntnisse der Liebeskunst besaßen, sondern auch mindestens ein
Musikinstrument beherrschten. Maler wie Michelangelo oder Dürer, Schriftsteller wie Lukian,
Seneca oder Petrarca hätten nicht leben können ohne eine ausgeprägte Neigung ihrer
Mitmenschen zur Melancholie.
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Erzähler: Zweckfreiheit, aber nicht Sinnlosigkeit – eine Forderung an unsere Zeit. So sieht es
jedenfalls Josef Zehntbauer.
O-Ton (33) Zehentbauer: Gelebte Melancholie würde auch heißen, dass wir wesentliche
Eigenschaften der Melancholie in den Alltag einfließen lassen. Das heißt, Friede, auch Liebe,
Nächstenliebe, Selbstliebe, Mitgefühl, Empathie. All das gehört zur Melancholie. Tiefgang gehört
zur Melancholie. Dass wir hinter den Ereignissen, die wir erleben und scheinbar auch banalen
Ereignissen oder Nachrichten, die wir hören, nicht nur an der Oberfläche bleiben und
schulterklopfend sagen, da muss man durch, sondern Hintergründe sehen.
Ich finde immer faszinierend, dass Tränen vom ph-Wert, also vom Salzgehalt her, identisch sind
mit dem des Meeres. Da kommen wir halt aus der Unendlichkeit und stellen wieder – das klingt
jetzt auch pathetisch – mittels unserer Tränen eine Verbindung her zu etwas Unendlichem, was wir
nie begreifen werden.
Erzähler: Die heutige Abwehrhaltung gegen Melancholie hat auch etwas mit der Angst vor Schmerz
zu tun – wobei der Unterschied aufschlussreich ist, was heute als Schmerz definiert wird und wie er
vor mehr als zweitausend Jahren gesehen wurde.
Erzählerin: „Lysis“ lautet das altgriechische Wort dafür und bezeichnet eine Loslösung, ein
befreiendes Weinen oder Brüllen, dass die Organe reinigt und Luft in die Gedärme bläst. Den vor
allem seelischen Schmerz zuzulassen – Bestandteil melancholischer Lebenspraxis. Das war es
auch, was den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche – ein Melancholiker der reinsten Sorte –
in seinem Buch „Die fröhliche Wissenschaft“ zu folgender Sequenz veranlasste:
Zitator: Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivier- und Registrierapparate mit kalt
gestellten Eingeweiden – wir müssen beständig unsere Gedanken aus dem Schmerz gebären und
mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir in uns haben. Leben – das heißt für uns, alles, was wir
sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch alles, was uns trifft, wir können gar nicht
anders. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz verbessert, aber ich weiß, dass er uns vertieft. Selbst
die Lieb zum Leben ist noch möglich – nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das
uns Zweifel macht. Wir kennen ein neues Glück.
O-Ton (35) Schmid: Heute zu behaupten, der Schmerz sei auf jeden Fall zu vermeiden, weil das ein
Zustand ist, der nichts bringt – modernen Menschen muss ja immer alles etwas bringen –, da kann
man nur sagen, also die Lebenserfahrung spricht da sehr, sehr eindeutig. Gerade Schmerz,
Verzweiflung, nicht mehr weiterwissen, Misserfolg – das können die Zeiten sein, in denen die
starken Ideen kommen. Auch hier kann ich nur aus eigener Erfahrung sprechen.
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Musik: Emerson, Lake and Palmer „Take a pebble“ (als Zäsur)
Erzähler: Just take a pebble – einen Kieselstein in die Hand nehmen, ihn ins Wasser werfen und
sehen, wie er dort Kreise zieht – eine Empfehlung der britischen Rockgruppe „Emerson, Lake and
Palmer“.
Erzählerin: Es ist an der Zeit, zu fragen, was aus der alten Dame Melancholie geworden ist. Worin
das Glück besteht, unglücklich zu sein. Worin liegt ihre kultur- und zeitkritische Sprengkraft? Was
würde geschehen, wenn wir eine moderne Gesellschaft von Melancholikern wären – misstrauisch
gegenüber den Segnungen der Oberflächlichkeit, aber dennoch fest verankert im Leben? Was kann
Melancholie? Und wo liegt ihr eventuell nervtötendes Element?
O-Ton (36) Zehentbauer: Bei allen Lobliedern über die Melancholie muss man schon auch sagen,
dass, sage ich mal, hundertprozentige Melancholiker auch schon mal sehr anstrengend sein
können, auch Spielverderber sein können. Ein kleines Beispiel, das ich tatsächlich auch mal erlebt
habe mit einer sehr, sehr melancholischen Frau: Eine wunderbare Gebirgswanderung. Man kommt
an einen stillen See, mitten in den Bergen. Die Sonne geht unter. Romantik pur. Dann entdeckt
diese Frau einen Plastikbeutel, den irgendjemand liegen gelassen hat. Und sofort bricht in ihr die
Stimmung zusammen und sie denkt an Umweltverschmutzung, denkt an die Müllberge von Sao
Paulo und die hungernden Kinder und erzählt es auch noch.
Erzähler: Positives erleben, aber sich mit großer Hingabe das Negative heranholen – eine
vereinzelte Verhaltensweise, maßgebend für das verbreitete Vorurteil zu Melancholie, sie sehe
immer nur schwarz. Schließlich können auch die Alpen einen traurigen Anblick bieten, wenn man
sich vorstellt, die Berge wären nicht mehr da. Was Melancholie noch kann außer schwarzmalen,
weiß Mariela Sartorius:
O-Ton (37) Sartorius: Sie kann (…) allzu großem Schmerz oder allzu großer Trauer die Schärfe
nehmen. Warum? Sie schaut differenziert hin auf die Dinge. Und sie wägt ab und sieht auch immer
die dunklen Seiten. Sie hat was Tröstliches, wie ein Wiegenlied.
Erzähler: Seit einigen Jahren taucht eine Ratgeberliteratur auf, die den Menschen erzählen will, dass
das Glück an der Oberfläche zu finden ist: sieh immer alles nur positiv. Unbemerkt bleibt dabei,
dass damit die Hälfte des Lebens verloren geht, wenn die weniger prickelnden Momente des
Daseins am besten gar nicht erst zur Kenntnis genommen werden. Happyness, gut drauf sein,
seinen Spaß haben zu wollen, kann ein durchaus legitimer Lebenszweck sein. Wenn allerdings
diejenigen dabei auf der Strecke bleiben, die dieses Spiel nicht mitspielen können oder wollen, wird
es zu einer Norm, der zwar jeder gehorchen muss, aber nur wenige folgen können.
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O-Ton (38) Moravia: Wenn man sich einer Sache verschreibt (…) da hat man überhaupt keine Zeit
mehr, an sich zu denken, weil, man ist ja mit den tollen Dingen beschäftigt, die Welt zu retten. Also
wenn man ein bestimmtes Ziel hat oder eine bestimmte Idee, der man folgen will (…) dann sitzt
man da und arbeitet wie blöde (…)
Erzähler: Das wäre nicht weiter tragisch, so der Philosoph Wilhelm Schmid, wenn in unserer
Gesellschaft nicht gleichzeitig eine permanente Gleichsetzung der Begriffe von Glück und Sinn
stattfinden würde:
O-Ton (39) Schmid: Die Verwechslung geschieht ganz einfach, weil Menschen (…) suchen immer
stärker nach Sinn, denn die Moderne ist leider eine Zeit, die zwar viele Errungenschaften mit sich
gebracht hat, auf die wir nicht verzichten wollen und auch nicht sollten. Aber Moderne zerstört
systematisch Sinn. Das muss man so hart sagen. Wo ist Sinn? Sinn ist z.B. in Beziehungen (…)
Aber die Moderne ist die Zeit, die Beziehungen systematisch zerschlägt.
O-Ton (40) Schmid: Das Leben atmet, wenn ich das mal so poetisch sagen darf. Und die
entscheidende Frage ist, ob wir bereit sind, mitzuatmen mit dem Leben. Soll heißen, das Leben
geht hin und her zwischen unterschiedlichen und gegensätzlichen Zuständen. Mal erfahren wir
Liebe, mal erfahren wir keine Liebe. Mal erfahren wir Glück, und mal erfahren wir kein Glück. Es hat
keinen Sinn, auf einer Seite das Leben anhalten zu wollen. Das wäre ungefähr so sinnvoll wie: ich
will immer nur einatmen.
Erzähler: Melancholie ist eine Art und Weise des menschlichen Seins – so Wilhelm Schmid. Kein
Mensch kennt nur Freude, keiner nur Lust. Weder der Kranke noch der Gesunde sind glücklich,
sondern nur der Genesende. Die Frage ist nur, ob und wie diese unterschiedlichen Zustände
anerkannt werden. In unserem tiefsten Inneren wollen wir beide Seiten leben, denn wir spüren,
dass wir dadurch vollständiger werden könnten. Friedrich Schelling, Philosoph der deutschen
Romantik und für heutige Ohren ausgesprochen sperrig, sah das als Kennzeichen der
menschlichen Freiheit:
Zitator: Dies ist die allem Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt,
sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der
über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens. Nur in der
Persönlichkeit ist Leben. Und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch
Grund der Erkenntnis sein muss.
Musik: Tom Waits
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O-Ton (41) Schmid: Ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht, noch tiefer einzutauchen –
gerade nicht den Zustand zu fliehen. Das ist noch nie gutgegangen. Nein, tiefer einzutauchen in
den Zustand. Dann geht er in der Regel auch schneller vorbei. Tiefer eintauchen heißt, mir Musik
zu suchen – muss man übrigens nicht lange suchen. Das Meiste der klassischen Musik ist
melancholische Musik, und übrigens auch ein guter Teil der Popmusik ist melancholische Musik
(…) Musik zu hören, die diesen Zustand (…) ummantelt, umgibt – kann einem zeigen, du bist nicht
allein, sondern das ist ein gewöhnlicher menschlicher Zustand.
O-Ton (42) Schmid: Ich möchte den Menschen Mut zusprechen, die sich unglücklich fühlen und
melancholisch sind, diesen Zustand zu schätzen, geradezu. Warum schätzen? Weil dieser Zustand
verschiedene Dinge an sich hat. Er macht Menschen sensibel. Nicht nur sensibel für sich selbst,
sondern auch sensibel für andere. Ein Mensch, der weiß, was Unglücklichsein ist, der hat ein Auge
dafür, ob das bei anderen Menschen auch der Fall ist und kann dann eher auf nen anderen
Menschen zugehen, z.B. am Arbeitsplatz, und kann sagen: Du, ich ahne, wie dir ist; wollen wir mal
einen Kaffee zusammen trinken? Also melancholische Menschen, unglückliche Menschen haben
eine größere soziale Sensibilität.
Erzähler: Bei dem, was auf uns zukommen könnte – so die Prognose Wilhelm Schmids – könnten
wir soziale Kompetenz und erhöhte Sensibilität nötiger haben als jemals zuvor in der
Menschheitsgeschichte. Dann nämlich, wenn Erderwärmung, Überflutungen, Dauerhitze und
Permanentfrost unser Leben und damit unser Miteinander radikal auf eine andere Stufe stellen, als
wir es bisher gewohnt waren. Nachdenklichkeit und nicht das schnelle Entscheiden könnte zu einer
wichtigen Tugend werden.
O-Ton (43) Schmid: Ich befürchte, dass eine Epoche der Melancholie kommt, die es niemals
gegeben hat auf diesem Planeten. Das kann strittig sein, aber ich beschäftige mich seit Jahrzehnten
mit der Entwicklung der ökologischen Problematik. Und ich muss konstatieren, was 1990 schon
befürchtet worden ist, ist genauso eingetreten (…) Ich kann nur hoffen und wünschen, dass diese
Herausforderung zu bewältigen sein wird. Aber sie wird so groß sein, dass Menschen, wie bei
einem Krieg oder Bürgerkrieg, mit nichts anderem mehr beschäftigt sind als nur noch damit, das
Überleben zu sichern. Das wird Menschen sehr, sehr traurig machen und melancholisch machen.
Insofern wird die Melancholie, das Menschsein der Zukunft sein. Ich hoffe sehr, dass es nach
dieser Zukunft noch eine andere Zukunft geben wird.
Erzählerin: Schon im Altertum waren die Melancholiker nicht automatisch die besseren Menschen.
Sie ließen nur mehr Fragen an sich heran. Und den unangenehmen Gedanken, dass wir in diesem
Leben ständig mit unserer Endlichkeit konfrontiert werden.
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Erzähler: Der heutige Melancholiker leidet genauso wie seine seelenverwandten Brüder und
Schwestern in der Antike – aber er genießt auch. Von dem Philosophen Friedrich Nietzsche
stammt der Gedanke, dass man dort, wo man steht, tief nach unten graben sollte und keine Angst
haben muss vor dieser Tiefe. Denn unten ist nicht immer Hölle, sondern auch Erkenntnis und
Lebensweisheit.
Musik: Rolling Stones „As tears go by“
Absage:
„Melancholie – Anatomie einer produktiven Stimmung“
Ein Feature von Michael Reitz
Es sprachen Edda Fischer, Gregor Höppner und Tom Jacobs
Ton und Technik: Gunter Rose und Beate Braun.
Regie: Robert Steudtner
Redaktion: Klaus Pilger
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2013
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