Die Welt zu Füßen

JAN/FEB 2016
www.blix.info
DAS MAGAZIN
FÜR OBERSCHWABEN
Die Welt zu Füßen
DER NEUE
DER ALTE
DIE FÜNF
in Ulm
Seite 5
zum Weltklimagipfel
Seite 8
vom Handwerk
Seite 14
1
is
Grat
TITELTHEMA
R o l a n d
R e c k
„Die Welt ist nicht so böse“
STEINHAUSEN. Beim Abschied weinte der Himmel, bei der Heimkehr
lacht die Sonne. Das entspricht exakt den Gefühlen der Mutter, erzählt
sie. Es ist Samstag, der 12. Dezember, als bei frühlingshaftem Wetter
ihr Sohn Michael nach drei Jahren, drei Monaten und elf Tagen auf
der Walz wieder nach Hause kommt. Empfangen vom ganzen Dorf, mit
großem Bahnhof, Musik und einem Fest.
Carmen Vollmer strahlt noch immer, während ihr
Jüngster bereits schon wieder den Rucksack packt.
Urlaub nach der Walz: drei Wochen Thailand, denn
dorthin hat ihn sein Gesellenstück, als „rechtschaffener, fremder Zimmermannsgeselle“ durch
die Welt zu ziehen, nicht geführt. Einem Wanderer
auf der Spur.
Legendär. Manfred Krug als der Brigadeleiter Han-
in Steinhausen bei Schussenried auf. Dort half er
seinem Onkel als 13-Jähriger beim Hausbau, wie er
sich erinnert, und fing Feuer bei den Zimmerleuten. Sein Berufswunsch war geboren und nach der
Mittleren Reife begann er seine Lehre. Was ist es,
was diesen Beruf so besonders macht?
Sieht man Manfred Krug als Hannes Balla mit
seinen Kumpanen, in ihrer unverkennbaren Kluft
Michael Vollmer (rechts) gegen Ende seiner Walz bei einem Abstecher auf Husum.
nes Balla, Anführer einer Horde Zimmerleute auf
einer Großbaustelle in der DDR der 60-er Jahre.
„Spur der Steine“ lautete sowohl der Titel des ausgezeichneten Buches als auch der Film von Frank
Beyer, der kurz nach seiner Erstaufführung 1966
der SED-Zensur zum Opfer fiel. Antisozialistisch
und „ein Machwerk in jeder Beziehung“, so das
unverrückbare Parteiurteil. 23 Jahre war der Film
über einen Zimmermann und seine Gesellen, zerrieben zwischen Arbeitsethos, Parteidiktat, Kameradschaft und Liebe, im Giftschrank der Zensoren
verschwunden. Als der Streifen im Jahr der Wende
1989 wieder auftauchte und 1990 gefeiert wurde,
war Manfred Krug schon längst ein ganz Großer
im Westfernsehen, aber Michael Vollmer immer
noch nicht geboren.
Letzteres geschah erst 1991 und Michael wuchs
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und mit ihren breitkrempigen schwarzen Hüten,
als „die glorreichen Sieben“ nebeneinander die
Baustelle abschreiten, um Unmögliches möglich
zu machen, dann spürt man die Faszination, die
von solchem Handwerk ausgeht. Handfeste Praxis eben. Doch Michaels Elternhaus steht nicht im
Sozialismus, sondern im Schatten „der schönsten
Dorfkirche der Welt“, und Michael Vollmer ist nicht
Parteimitglied, sondern Vereinsmensch durch und
durch. Was treibt einen, der Trompete im Musikverein und Theater spielt, Skilehrer und bei der
Feuerwehr ist, sich mit einem „Stenz“ in der Hand
und einem „Charlottenburger“ über der Schulter
für mindestens drei Jahre und einem Tag aus dem
Staub zu machen? Ich bin dann mal weg!
Der Junge war gerade mal 20 und hatte trotzdem
„Angst, dass ich was verpasse“. Die Vorstellung,
„irgendwann bist du 30 und es ist immer noch
alles gleich“, schürte seinen Entschluss, etwas zu
tun, das zwar 600 Jahre Tradition hat, aber völlig
aus der Zeit gefallen ist. Per pedes und als Tramp
von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Land
zu Land, von Kontinent zu Kontinent zu tippeln,
immer auf der Suche nach Lebenserfahrung und
Arbeit, letzteres um ersteres zu ermöglichen. Am
2. September 2012 regnete es, als Michael Vollmer
begleitet von einem bereits erfahrenen Wandergesell sich von Steinhausen auf den Weg nach
München machte. Allen Warnungen zum Trotz.
Von nun an durfte er seinem Heimatort mindestens drei Jahre und einen Tag nicht mehr näher als
50 Kilometer kommen.
Seine Eltern ließen ihn schweren Herzens ziehen
und standen seinem Wunsch nicht im Wege. Der
Sohn: „Das macht es schon einfacher.“ Ebenso,
dass es eine Freundin gerade nicht gab und seine
Vereinskameraden mussten eben warten. Doch
was hilft heute im Zeitalter von Industrie 4.0, im
Rausch der Geschwindigkeit und Effizienz noch
eine Arbeitsuche zu Fuß? Hallo, digital nicht per
pedes steigern wir das Bruttosozialprodukt! „So
ein Lotterleben!“, unkten Kollegen und der Onkel warnte: „Du findest dich nicht mehr zurecht.“
Stimmt ja auch: Es ist ein Lotterleben! Heute
hier, morgen dort und übermorgen ist noch
lange hin. Damit der „rechtschaffen, fremde
Geselle“ sich bei so viel Freiheit zurechtfindet,
wird er zunächst geprüft. Von erfahrenen Wandergesellen, die wissen, um was es geht. Dazu
haben sie sich in Gesellschaften organisiert. Michael Vollmer erhielt die „Ehrbarkeit“, die Mitgliedschaft, in Weingarten im „Rössle“ von der
dort ansässigen „Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen Deutschlands“. Voraussetzung dafür
war, dass er den Gesellenbrief in der Tasche
und keine Schulden, keine Frau und keine Kinder hatte und noch keine 30 Jahre alt ist. Man
wolle verhindern, „dass man vor irgendetwas
wegrennt und sich drücken will“, erklärt Michael
Vollmer. Für den 20-jährigen Zimmermann aus
Steinhausen alles kein Problem.
„Es war die beste Zeit“, eröffnet der inzwischen
24-Jährige das Gespräch im Wohnzimmer seiner
Eltern. Und eigentlich ist damit schon alles gesagt.
Der großgewachsene Handwerker ist wahrlich
keine Plaudertasche. Über Fragen sinniert er, zum
Nachdenken geht er gelegentlich zum Rauchen an
die Terrassentür. Dabei könnte er ein Buch schreiben. Tagebuch habe er geführt. Immerhin. Wer
kein Erzähler ist, weiß, wie schwer es ist, von den
Bergen an Erlebtem die richtigen Brocken zum
richtigen Zeitpunkt herauszubrechen und den Zuhörern zum Staunen vor die Füße zu rollen. Wo
anfangen, wo aufhören?
Kids, hört her – echt zum Staunen! Dieser Bursche
war fast dreieinhalb Jahre in der Welt unterwegs:
Berlin, Hamburg, New York, Kanada, Argentinien,
TITELTHEMA
Brasilien – ohne Handy,
Tablet oder Laptop. Das
einzige, was netzmäßig ging,
waren Internetcafés. Echt
Steinzeit! Und das freiwillig! Das heißt, der Verrückte
wusste vor seinem Abenteuer,
dass er sich darauf einlassen musste, so
verlangt es seine Vereinigung – schließlich gab es die längste Zeit der Menschheitsgeschichte diesen ganzen digitalen
Schnickschnack nicht.
Und Michael Vollmer ist begeistert. Die Kameradschaft unter den Wandergesellen sei
sagenhaft, sagt der erfahrene Vereinsmensch.
Man vertraue blind. „Das ist ein schönes Gefühl.“
Und der hautnahe Kontakt mit vielen ganz unterschiedlichen Menschen, mit Fremden, deren Sprache man nicht spricht, die Offenheit und Hilfsbereitschaft, seien Lebenserfahrungen, „die einem
schon ein paar Jahre nach vorne schmeißen“. Als
Fremder unterwegs kommt Michael Vollmer zu
dem Schluss: „Die Welt ist nicht so böse, wie sie
in den Medien dargestellt wird“, ermahnt er den
Journalisten. Und sie sei auch anders, als sie an den
Stammtischen schlecht gemacht werde. Früher
habe er sich das Geschwätz noch anhören können,
heute falle ihm das schwer.
Sie nennen sich Fremde und sind es auch. Selbst im
eigenen Land ist es „Fremdentum“, wie sie es nennen, wenn man sich außerhalb der Norm bewegt.
Was zählt ist nicht das Haben, sondern das Sein
gepaart mit dem Können einer Handwerkskunst.
„Die in der ganzen Welt geschätzt wird“, berichtet
Vollmer stolz.
Nun sieht die Welt auch anders aus, wenn man
sie zu Fuß als Tippelbruder begreift und nicht allinclusiv reist und nicht mehr dabei hat als in einen
„Charlottenburger“ (Sacktuch, 80x80 Zentimeter) passt, sommers häufig im Freien bei „Mutter
Grün“ übernachtet und sonst auf Herbergssuche
ist. Und selbst bei zeitweise fester Arbeit sei die
Unterbringung oft sehr spartanisch. „Wir sind da
relativ simpel eingestellt“, kommentiert der Wandergesell. Nicht umsonst hat er „keine Lust mehr
auf das Jammern“. „Ich hab‘ schätzen gelernt, was
wir haben.“ Und Menschen kennen gelernt, „die
viel weniger haben und zufriedener sind“. Es ist die
menschliche Offenheit, die den jungen Schwaben
am meisten beeindruckte. „Scheißerfahrungen“
inklusive, wenn zum Beispiel ein Chef nicht zahlt.
„Es gibt Tiefs, dass man keinen Bock mehr hat.“
Aber danach kommt wieder ein Hoch. Bei der Basler Fasnet lernte er seine jetzige Freundin kennen
und freut sich auf „was Festes“. Als nächstes –
nach Thailand – wird er den Meister anpacken. Es
sei doch viel passiert in den dreieinhalb Jahren,
sinniert der Heimgekehrte nach zwei Stunden.
Viele seien gestorben, darunter auch sein Opa, andere, viel jüngere auch an Krankheit. Er hat mit viel
Glück während seiner Reise einen schweren Autounfall fast schadlos überstanden. Seine Schwester
habe zwei Kinder bekommen und er sei Patenonkel geworden, schmunzelt Michael Vollmer.
Bis 30 hat der Weltenbummler noch sechs Jahre,
und wenn er auch in jugendlichem Überschwang
glaubt, „die beste Zeit“ schon hinter sich zu haben, weiß er, die Verbundenheit zu seinen Wandergesellen „gilt bis zum Tod“.
Weihnachtsfeier in St. Gallen, Schweiz, 2012: In den Herbergen der Wandergesellen geht es immer
gesellig und „zünftig“ zu. Michael Vollmer stehend zweiter von links.
Fotos: Privat
Bloß kein „Harzgänger“
Der Begriff Wanderjahre (auch Wanderschaft, Walz, Tippelei, Gesellenwanderung) bezeichnet die Zeit der Wanderschaft zünftiger Gesellen nach dem Abschluss ihrer Lehrzeit
(Freisprechung). Sie war seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung eine
der Voraussetzungen der Zulassung zur Meisterprüfung. Die Gesellen sollten vor allem neue
Arbeitspraktiken, fremde Orte, Regionen und Länder kennen lernen sowie Lebenserfahrung
sammeln. Ein Handwerker, der sich auf dieser traditionellen Wanderschaft befindet, wird
als Fremdgeschriebener oder Fremder bezeichnet. Dazu organisiert er sich meist in einer
Vereinigung, deren Regeln er folgt, dafür aber auch deren Unterstützung erfährt.
Die Geschichte der Wanderschaft als Teil der
Handwerks- und Industriegeschichte sowie
der Migrationsforschung ist bislang nur in
Bruchstücken rekonstruiert.
Im Dezember 2014 verkündete die
Kultusministerkonferenz in Deutschland, dass
die Handwerksgesellenwanderschaft Walz als
eine von 27 Kulturformen in die Bewerbungsliste
Bundesweite Verzeichnis des immateriellen
Kulturerbes aufgenommen wird.[1] Am 16. März
2015 erfolgte die Auszeichnung im Sinne des
Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen
Kulturerbes der UNESCO
Die Zahl der reisenden Gesellen unterlag ständigen und großen Schwankungen. So war Anfang
des 20. Jahrhunderts die Fremdenzahl im vierstelligen Bereich und gegen Ende der 1920er
Jahre besonders hoch. Während der Weltkriege
und in der Zeit der Hitler-Diktatur ging die Zahl
der Fremdschreibungen sehr zurück. Während
des Nationalsozialismus waren die Vereinigungen
verboten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs mit Beginn
der 1950er Jahre das Interesse an der traditionellen Walz rasch, erreichte aber nie die
Dimensionen der 1920er. Mit dem wachsenden
Wohlstand im Wirtschaftswunderland BRD ging
die Motivation, für drei Jahre auf die Straße
zu gehen, rapide zurück, so dass in den 1970er
Jahren die reisenden Handwerksburschen mit
dem schwarzen Hut eine Seltenheit waren. Man
hatte die mehrjährige Zeit der Entbehrungen
nicht mehr nötig.
Um 1980 wuchs das Traditionsbewusstsein,
gleichzeitig aber auch die Emanzipation
der Frauen und der Geist der „alternativen“
Lebensweise. Es wurden zwei neue Vereinigungen
gegründet, deren Strukturen stark von den
„alten“ Traditionsvereinigungen abwichen und
die auch Frauen aufnahmen. Außerdem gingen vermehrt Gesellen beiderlei Geschlechts auf
Wanderschaft, ohne einem der Vereinigungen
beizutreten. Diese nennen sich Freireisende,
um ihre Ungebundenheit gegenüber den
Gesellenvereinigungen zu unterstreichen.
Im Jahr 2005 waren zwischen 600 und
800 Gesellen entweder freireisend oder in
Vereinigungen organisiert auf der Walz. Der
Anteil der Frauen liegt insgesamt bei etwa zehn
Prozent. 2010 zählte man in Deutschland noch
wenig mehr als 450 Tippelbrüder, weltweit sollen
es etwa 10.000 sein.
Da ein hoher Prozentsatz der Fremden
Zimmerleute sind, ist es kaum bekannt, dass
auch Gesellen anderer Handwerksberufe wie zum
Beispiel Tischler, Maurer, Dachdecker, Betonbauer,
Bootsbauer, Töpfer, Schmiede, Spengler,
Steinmetze, Holzbildhauer, Buchbinder, Schneider,
Goldschmiede, Instrumentenbauer, Kirchenmaler
und viele mehr auf der Wanderschaft sind.
Die Wanderschaft darf nur aufgrund wirklich
zwingender Gründe abgebrochen werden, etwa
bei einer schweren Krankheit. Andernfalls wäre
eine Unterbrechung „unehrbar“, das Wanderbuch
würde eingezogen und die Kluft „an den Nagel
gehängt“. Wandergesellen, die ihre Wanderschaft
„unehrbar“ beenden, werden als „Harzgänger“
bezeichnet. (Quelle: wikipedia)
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