Dirk Walter Kurt Tucholsky: Der Graben Reclam Kurt Tucholsky: Der Graben Versöhnung – die Sache der kleinen Leute Von Dirk Walter Kurt Tucholsky: »Der Graben« Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen? Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält? Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen, und du hast ihm leise was erzählt? Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Mutter, für den Graben. Junge, kannst du noch an Vater denken? Vater nahm dich oft auf seinen Arm. Und er wollt dir einen Groschen schenken, und er spielte mit dir Räuber und Gendarm. Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Junge, für den Graben. Drüben die französischen Genossen lagen dicht bei Englands Arbeitsmann. Alle haben sie ihr Blut vergossen, und zerschossen ruht heut Mann bei Mann. 1 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. 5 10 15 Reclam Dirk Walter Kurt Tucholsky: Der Graben Alte Leute, Männer, mancher Knabe in dem einen großen Massengrabe. Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker! Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit! In die Gräben schickten euch die Junker, Staatswahn und der Fabrikantenneid. Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben, für das Grab, Kamraden, für den Graben! Werft die Fahnen fort! Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz. Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen – das ist dann der Dank des Vaterlands. Denkt an Todesröcheln und Gestöhne. Drüben stehen Vater, Mütter, Söhne, schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben. Wollt ihr denen nicht die Hände geben? Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben übern Graben, Leute, übern Graben –! 20 25 30 35 Abdruck nach: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. 3 Bde. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. 2 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Dirk Walter Kurt Tucholsky: Der Graben Reclam Raddatz. Hamburg: Rowohlt, 1972. Bd. 2. S. 573 f. © 1960 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Erstdruck: Das Andere Deutschland. Hagen i. W. / Berlin. 20.11.1926. Versöhnung – die Sache der kleinen Leute. Zu Kurt Tucholskys Gedicht »Der Graben« Der Erste Weltkrieg ist ein Ereignis, das zur Zeit der Weimarer Republik eine Fülle von Autoren beschäftigte. Die Versuche literarischer Aufarbeitung oder – psychologisch gesehen – Bewältigung sind Legion und finden sich in allen dichterischen Gattungen. Dabei zeigen die Schriftsteller noch oder gerade in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre ein Engagement und stößt dieses wiederum auf Öffentlichkeitsreaktionen, als ob es sich um einen Gegenstand von ausgesprochener Tagesaktualität handelte. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich bewusst macht, dass der Krieg die eigentliche historische Hypothek der ersten deutschen Republik bildet, deren Lasten sich u. A. mit Stichworten wie Versailles, Reparationen, Ruhrbesetzung benennen lassen. Das – je nach Perspektive – »große Stahlbad« oder auch der »Massenmord« wird zum Reizthema Nummer 1 für die politischen Parteien und Gruppierungen; hier stoßen Auffassungen und daraus gezogene Folgerungen in äußerster Schärfe aufeinander. Obwohl zum Verständnis dieser Auseinandersetzungen die Formeln »militaristisch«/»antimilitaristisch« nur grobe Kategorien darstellen, besitzen sie bei der Betrachtung der Kriegsliteratur jener Jahre dennoch heuristischen Ausgangswert. Einer der prominentesten Vertreter des so genannten antimilitaristischen Flügels der Intellektuellen ist Kurt Tucholsky. Zwar hat er nicht das große Antikriegsbuch 3 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Dirk Walter Kurt Tucholsky: Der Graben Reclam geschrieben, aber sein publizistischer Einsatz im Bereich literarischer Kleinformen, die sich mit dem Krieg beschäftigen, ist quantitativ und qualitativ außergewöhnlich. Das Gedicht Der Graben ist in diesem Zusammenhang einer seiner bekanntesten Texte; an ihm lassen sich die Einstellung des Verfassers und seine Wirkungsabsicht beispielhaft ablesen. Die Brisanz der Tagesaktualität, von der die Rede war, ist auch hier spürbar. Obwohl die Ereignisse zwischen August 1914 und November 1918 im Präteritum angesprochen werden, wirkt der Graben im Schlussappell des Gedichtes doch als etwas noch immer Vorhandenes, und der Text ruft vor dem Hintergrund eines auch im Jahre 1926 noch schwelenden Konfliktes zur Versöhnung auf. Macht man sich bewusst, dass in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung eine militaristische und nationalrevanchistische Grundströmung in den Zwanzigerjahren herrscht, dann scheint dieser Aufruf Tucholskys zu jedem beliebigen Zeitpunkt motiviert, eine Frage nach Erscheinungsjahr oder genauerem -datum also nicht unbedingt notwendig. Und doch lässt sich auch nach mehrfachem Lesen das Gefühl nicht verdrängen, dass es sich hier um eine Art ›Gelegenheitsgedicht‹ handeln könnte. Zunächst: 1926 ist Tucholsky bereits im dritten Jahr in Paris, betrachtet und kommentiert die Situation Deutschlands teilweise von außen, teilweise aufgrund von Erfahrungen, die er bei regelmäßigen Aufenthalten in Berlin macht. Frankreich ist für ihn zu einem Ort geworden, an dem er sich »von seinem Vaterlande ausruht« (vgl. Park Monceau, I,1152); der liberalere Geist des öffentlichen Lebens zieht ihn an, und obwohl er sich über ebenso vorhandene deutschfeindliche Chauvinismen rechter politischer Gruppierungen des Landes nicht hinwegtäuscht, schlummert in ihm die Wunschvorstellung, es könne zumindest ansatzweise so etwas wie eine geistige Annäherung der ehemaligen Kriegsgegner geben (I,1157). 4 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Dirk Walter Kurt Tucholsky: Der Graben Reclam In demselben Jahr ist aber, vor Drucklegung des Gedichtes, etwas Entscheidendes geschehen: Am 8. September 1926 ist Deutschland dem Völkerbund beigetreten. Das Gedicht Der Graben erscheint nun, zwei Monate später, am 20. November in der Zeitung Das Andere Deutschland, nur drei Tage bevor im deutschen Reichstag die Debatte über diesen Schritt erfolgen wird. Der Eintritt in die Genfer Vereinigung, deren Hauptaufgabe eine dauerhafte Erhaltung des Weltfriedens sein sollte, ist ein Ergebnis der Stresemann’schen Politik des Ausgleichs und der Versöhnung. Und wenn Tucholsky auch nie eine positive Einstellung zum »Realpolitiker« Stresemann gewinnen konnte (Schulz, S. 90), so maß er doch dieser Entscheidung einen gewissen Wert bei: »Genf ist gut –: weil sich Stresemann und Briand überhaupt gesprochen haben.« Zugleich aber warnt er vor Illusionen: »Genf wird überschätzt –: die Kluft zwischen diesen beiden Völkern [Deutschland und Frankreich] ist sehr, sehr groß« (II,1179). Für Tucholsky findet die Völkerversöhnung nicht auf dem roten Teppich der offiziellen Politik statt, für ihn sind die eigentlichen Adressaten das Volk selbst, die »kleinen Leute«, oder – wie er an anderer Stelle ausdrückt – nicht die ehemaligen »Vorbereiter« des Krieges, sondern die »Vorbereiteten« (III,145). Und so wendet er sich unter seinem Lyrikerpseudonym Theobald Tiger gewissermaßen in einem dichterischen Kommentar zum Tage direkt an sie. In den ersten beiden Strophen spricht er zu den Familienmitgliedern der Kriegsopfer. Ein vertraulicher Ton herrscht, verstärkt durch die Du-Anrede (1: »Mutter«, 7: »Junge«), die den Eindruck vermittelt, dass hier einer spricht, der sich mit den einfachen Leuten solidarisiert, nicht ein ›Dichter‹, ein ›Olympier‹. Das einfühlsame Sprechen dient dazu, Erinnerungen wachzurufen, es entwirft empfindsame und zugleich sehr alltäglich einfache Bilder des Friedens, der Aggressionsfreiheit, der Verbundenheit, deren man sich oft erst dann bewusst wird, wenn man einen Menschen 5 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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