Mediendossier (von Matthias Hui & Maike Lex) Kontakt: Schlachthaus Theater Bern Elisabeth Blättler, Kommunikation & Öffentlichkeitsarbeit 031 312 96 47 | [email protected] „Parallele Zeit“ Ein Palästinenser, der einen israelischen Soldaten getötet haben soll, wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Trotzdem gibt er, der sich als Pazifist bezeichnet, die Hoffnung nicht auf und träumt von der Hochzeit mit seiner Verlobten. Das palästinensische Al Midan Theater aus Israel stellt in «Parallele Zeit» die Frage nach einem würdevollen Leben trotz Gefangenschaft. Im Zentrum steht die Situation palästinensischer politischer Häftlinge: ihr Alltag, ihre Hoffnungen und Konflikte. Das Stück wird auf Arabisch aufgeführt und deutsch übertitelt. Am Freitag, 4. März, ist nach der Vorstellung ein Publikumsgespräch mit dem Regisseur und den Schauspielern geplant. Von: Bashar Murkus Mit: Shaden Kanboura, Ebaa Monder, Aiman Nahas, Morad Hassan, Shadi Fakher Eldeen, Doraïd Liddawi, Henry Andrawes Bühne: Majdala Khoury Musik: Farag Sleman Lichtkonzept: Firas Tarabshi Foto: Wael Wakim 2 Inhalt Wadia, ein palästinensischer Gefangener, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, träumt von seiner Hochzeit mit seiner Verlobten Fida und von einer künftigen Familie. Um die Zeit zu vertreiben, baut er gemeinsam mit fünf Mithäftlingen für die Hochzeit eine arabische Laute, eine "Oud". Ein Ausschnitt aus dem Stück (Monolog der Hauptperson Wadia): Ich schreibe dem Säugling, der noch nicht geboren wurde, ich schreibe also einer Idee oder einem Traum, was den Gefängniswärter erschüttern mag, ohne Vorwarnung. Ich schreibe jedem ungeborenem Säugling, ich schreibe meinem Sohn, der noch nicht geboren wurde…, ich schreibe dem Zukunftsfinder, so jedenfalls wollten wir ihn nennen, denn ich wollte, dass die Zukunft uns anerkenne. Teurer Sohn! Heute bin ich fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis, 9131 und ein Viertel Tage. Es ist eine Zahl, die nirgendwo endet. Es ist ein Leben eines Gefangenen, das noch nicht richtig begonnen und noch nicht geendet hat. Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, die Hälfte meines Lebens „lebte“ ich, und die andere Hälfte – hier. Und jeder Tag, der vergeht, ist schwieriger, als der Vorige. Ich versuche, die Erinnerung aus dem grossen Sack herauszuholen, wo sie langsam versickert. Das Gefängnis ist ein Feuer, das die Erinnerung auffrisst, meine Erinnerung wurde zu Heu, in dem die Blumen verwelkt sind. Ich schreibe auf diesem Papier, damit wenigstens dieses übrigbleibt. Und Du, kleiner süsser Säugling, Du bist das Schönste, das ich aus dem Gefängnis bisher herausgeschmuggelt habe, Du bist meine Nachricht an die Zukunft. Glaubst Du, dass ich verrückt geworden bin? Weil ich einem ungeborenen Säugling schreibe? Wer ist hier der Verrückte? Ein nuklear bewaffneter Staat, der gegen ein ungeborenes Kind kämpft und in ihm eine akute Staatsgefahr sieht, so dass es in den Rapporten des Geheimdienstes erscheint? Oder ich, weil ich diesen Traum habe? Wer ist hier der Verrückte? Ha, mein ungeborener Sohn, Du bist eine Staatsgefahr, tief unten im Archiv des israelischen Geheimdienstes festgehalten! Was sagst Du dazu? Soll ich aufhören zu träumen und auf meinen Traum verzichten? Ich werde weiterträumen, trotz der Bitterkeit der Realität, und nach einer Bedeutung in diesem Leben suchen, trotz allem, was ich verloren habe. Sie buddeln in den Gräben der Ahnen und suchen dort nach einer Wahrheit. Wir aber suchen nach einer besseren Zukunft, und zweifellos wird sie kommen. Sei gegrüsst, Milad, mein Teurer! Foto: Wael Wakim Uri Shani, israelischer Theaterregisseur und -pädagoge, zum Stück: Das Stück ist ein Gefängnisstück, es handelt von Gefangenen in einem Gefängnis und von ihrem Leben dort. Insofern ist es eines in einer langen Reihe von Stücken, Filmen, Romanen, die wir schon gelesen, gesehen und gehört haben. Aber dieses Stück ist besonders. Erstens ist es besonders, weil es ästhetisch-theatralisch eine bemerkenswerte Leistung ist, von der Regie, der Dramaturgie, dem Schauspiel und der Musik über die Bewegung und die Beleuchtung bis hin zum Bühnenbild und jeder anderen Einzelheit. Die theatralischen Lösungen sind überraschend, schön, beeindruckend. Aber ausserdem ist das Stück vom Inhaltlichen her besonders. Es geht nicht um Fluchtversuche, wie in den meisten dieser Stücke. Nein, die Gefangenen haben sich damit abgefunden, dass sie eingesperrt sind. Aber sie haben sich nicht damit abgefunden, dass dies bedeutet, dass ihre Lebenszeit deswegen an ihnen vorbeiginge. Das Stück stellt sehr radikal die Frage, ob ein verurteilter Gefangener, der „seine Strafe absitzt“, ein Recht auf ein vollwertiges Leben hat. Wenn ja, warum soll ein Mensch, auch wenn er hinter Gittern sitzt, nicht auch studieren können, einen Universitätsabschluss machen, heiraten und Kinder haben? Ist der Sinn dieser Institution, des Gefängnisses, eine Strafe, oder soll sie diese Menschen schliesslich der Gesellschaft als ihre Mitglieder wieder zurückgeben? Dies ist die universelle Seite des Stückes. Der spezifische Kontext in diesem Stück: Es sind palästinensische Gefangene in einem israelischen Gefängnis. Im israelischen Gefängnissystem gibt es zwei verschiedene Sorten von Gefangenen: die Verbrecher und „die Sicherheitsgefangenen“, ein spezifisch israelische sprachliche Erfindung. Der Begriff impliziert, dass jeder dieser Tausender Gefangenen eine akute Gefahr für die Sicherheit des israelischen Staates bedeutet und deswegen unvergleichlich schlimmer behandelt werden muss als ein Verbrecher. Die Vergehen dieser „Sicherheitsgefangenen“ stehen auf einer völlig andern Skala im israelischen Rechtswesen. Es sitzen in israelischen Gefängnissen seit Jahrzehnten zu jedem Zeitpunkt Tausende von palästinensischen Gefangenen. Es sind Kinder und Frauen dabei, und sie werden alle paar Jahre mit einem oder drei israelischen Soldaten oder sogar drei Leichen israelischer Soldaten ausgetauscht. Die israelische Regierung braucht zu jedem Zeitpunkt Tausende palästinensische Gefangene zum Austausch. Zu diesem Zweck werden jede Nacht Palästinenser in der Westbank aus dem Bett heraus gekidnappt. Eine solche Aktion wurde letztes Jahr organisiert nach der Entführung und Ermordung von drei israelischen Jugendlichen, was dann zu dem Gemetzel im Gazastreifen führte. Die Beschuldigungen bei diesen Nacht-und-Nebel-Entführungsaktionen sind zum Teil ziemlich fadenscheinig. Walid Daka ist ein sehr berühmter palästinensischer Gefangener, alle Palästinenser kennen ihn. Er sitzt schon 30 Jahre im Gefängnis, ihm wurde die Mitbeteiligung an der Entführung und Ermordung des israelischen Soldaten Moshe Tamam vorgeworfen. Bashar Murkus, ein sehr junger Regisseur, wollte ein Stück über die palästinensischen Gefangenen machen, und er wurde auf Walid Daka aufmerksam gemacht. Der Text, den Bashar schrieb, ist zum Teil von Texten von Walid Daka inspiriert. Wenn also ein Stück auf die Bühne kommt, das irgendwie mit Walid Daka zu tun hat oder auch nur mit ihm assoziiert werden kann, ist das ein starker Anziehungspunkt für das palästinensische Publikum. Das Stück ist nun, ein Jahr nach seiner Premiere, israelischen Faschisten plötzlich ein Dorn im Auge. Sie haben vom Inhalt erfahren und die Familie von Moshe Tamam aufgehetzt; dass dies funktionierte, ist nicht selbstverständlich, längst nicht alle Terroropfer sind automatisch rechtsextrem. Nicht einmal in Israel. Seit zwei Monaten tobt das Land wegen dieser Angelegenheit. Keiner nimmt das Stück selber mehr wahr. Gemäss Regisseur Bashar Murkus ist „Parellele Zeit“ zwar auch durch den Fall Daka inspiriert, im Mittelpunkt steht für ihn jedoch die menschliche Situation palästinensischer politischer Häftlinge: ihr Alltag, ihre Träume, ihre Hoffnungen und Streitigkeiten. Mit der 4 parllelen Zeit bezieht sich Murkus auf die Zeit der Gefangenen, die nur während der kurzen Besuche mit der Zeit ausserhalb des Gefängnisses korrespondiert und sonst parallel und unverbunden zu ihr verläuft, wie der Gefangene Walid Daka schrieb. Video zum Stück (arabisch): https://www.youtube.com/watch?v=pQ1mOofERJM Das Al Midan Theater Das Theater Al Midan (Arabisch für "das Zentrum, der zentrale Platz") in der Stadt Haifa im Norden Israels wurde 1995 in der Zeit der Regierung Rabin gegründet als Ort der kulturellen Auseinandersetzung für die palästinensische Bevölkerung in Israel. "Wir zeigen jährlich drei neue Produktionen, mit denen wir das ganze Land bereisen, auch mit Stücken für Kinder und Jugendliche", sagt Salwa Nakkara, künstlerische Leiterin des AlMidan-Theaters.Nakkara. "Zudem organisieren wir Theater- und Filmfestivals und eine Buchmesse." Geleitet wird das Theater von Adnan Tarabshi. Er ist Regisseur, Schriftsteller und Schauspieler (unzählige Rollen im Theater in hebräisch und arabisch, Spielfilme wie "Die syrische Braut", 2004, und "Miral", 2010). Regisseur Bashar Murkus Bashar Murkus, 23, studierte Theater an der Universität Haifa. Er spielt Theater und führt Regie, seit er ein Kind ist. Neben seiner Regiearbeit lehrt er an der Universität Haifa und an der Drama Academy in Ramallah. „Das Ziel von Theater besteht darin, dass die Menschen im Publikum Zeugen von etwas werden. So arbeite ich, daran glaube ich.“ Interview mit Bashar Murkus in Haaretz: http://www.haaretz.com/life/musictheater/.premium-1.660591 Hintergrund Das Schlachthaus Theater Bern kam über Uri Shani und Matthias Hui mit dem Theater Al Midan in Haifa in Kontakt. Uri Shani ist Theaterregisseur und -pädagoge in Tiv’on/Israel. Er ist Mitglied jener Fachkommission des israelischen Erziehungsministeriums, welche entschied, das Stück „Parallele Zeit“ in den sogenannten „Kulturkorb“ aufzunehmen und damit für Schulen und Gemeinden zu empfehlen. Der israelische Erziehungsminister Naftali Bennett setzte sich im Juni 2015 regelwidrig über seine eigene Kommission hinweg und entzog dem Stück aus politischen Gründen die Unterstützung seines Ministeriums. Uri Shani steht mit dem Regisseur Bashar Murkus und den Verantwortlichen des Al Midan Theaters in Haifa seit Jahren im Kontakt. Matthias Hui vermittelte den Kontakt zwischen Uri Shani und dem Schlachthaus Theater Bern. Er ist Redaktor der Zeitschrift „Neue Wege“ und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation „humanrights.ch“. 2012 war er für die Nakba-Ausstellung im Kornhausforum Bern verantwortlich, in dessen Zusammenhang das Stück „Ich bin Yusef, und das ist mein Bruder“ des palästinensischen Autors Amir Nizar Zuabi am Schlachthaus Theater Bern auf die Bühne kam. Mit dem Stück des palästinensischen Regisseurs Bashar Murkus geriet das Theater im Frühjahr 2015 ins Kreuzfeuer israelischer Politik. Aufgrund von Recherchen und Kampagnen rechtsnationaler Kreise wurden von der Stadt Haifa und vom israelischen Kulturministerium ohne jede fachliche oder sachgemässe Begründung beziehungsweise mit einer rein politischen Argumentation unvermittelt die Subventionen ausgesetzt und damit die Existenz des Theaters in Frage gestellt. Das Theater, die Theaterschaffenden und das Stück wurden mit zerstörerischen und völlig haltlosen Vorwürfen in die Nähe zu Landesverrat und Terrorismus gerückt. Die Kampagne gegen das Al Midan Theater ist Teil einer beispiellosen Attacke gegen die Kulturfreiheit in Israel, welche die neue Kulturministerin Miri Regev, früher Chefzensorin der Armee, führt. Medien in Israel und weltweit (New York Times, The Independent, FAZ, NZZ u.a.) haben über das Stück „A Parallel Time (Parallele Zeit)“ und die Auseinandersetzungen rund um das Al Midan Theater in Haifa berichtet. Die renommierte israelische Tageszeitung Haaretz sprach bereits im Mai in einem Editorial davon, dass dieser „Akt administrativer Zensur besonders besorgniserregend ist, weil er in einer Anti-Minderheiten-Atmosphäre im heutigen Israel geschieht, welche speziell die Araber zum Ziel hat und Forderungen von Politikern nach einer Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit bei kontroversen Themen einschliesst.“ Gemäss Haaretz kommen „in der Art, wie dem politisch nonkonformistischen Al Midan Theater Gelder entzogen werden, Faschismus-ähnliche Tendenzen zum Ausdruck“. Das Schlachthaus Theater Bern versteht seine Einladung an das Al Midan Theater Haifa als eine Erklärung der Solidarität mit den Theaterschaffenden und ihrem Theater und als Votum für die Freiheit der Kunst. 6
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